Eco, Umberto - Vier Moralische Schriften

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    Umberto Eco

    Vier moralische

    Schriften

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    darkwingquack

    Mit seinen vier provozierenden Streitschriften analysiert Umberto Eco das

    Tagesgeschehen und geht doch immer einen Schritt ber das Aktuelle hinaus.Damit sind seine Moralischen Schriften Musterbeispiele fr das Denkeneines Schriftstellers und Intellektuellen, der sich nie mit dem Wiederholenalter Rezepte begngte. Umberto Eco whlt nie den sicheren Weg derIdeologie, sondern reagiert mit neuen, ungewohnten Gedanken auf dieVernderungen in einer neuen, unbersichtlich gewordenen Gegenwart.

    ISBN: 3-446-19283-2Original: Cinque scritti morali

    Aus dem Italienischen von Burkhart KroeberVerlag: Carl Hanser Verlag

    Erscheinungsjahr: 1998Umschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, Mnchen

    Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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    Buch

    Umberto Eco ist ein Phnomen: Berhmt als Autor mitreienderRomane, als international gefragter Wissenschaftler, als Semio-tiker und Philosoph. Zugleich aber hat Umberto Eco immer indie tglichen, aktuellen Auseinandersetzungen zu Fragen derPolitik, Moral oder Kultur eingegriffen, mit brillanten, klarenStellungnahmen. Was glaubt einer, der nicht glubig ist? DieFrage des italienischen Kardinals Martini nutzt Eco zu einerprgnanten Darstellung ethischer Prinzipien in einer Welt, in derdie Religion ihre Verbindlichkeit lngst verloren hat. Derimmerwhrende Faschismus und Die Migration, die Toleranzund das Untolerierbare machen die Probe aufs Exempel, indemEco eines der brennendsten Probleme der multinationalenZukunftsgesellschaft untersucht. Kann heute noch Krieg gefhrtwerden? Nach dem Schock des fast schon wieder vergessenenGolfkrieges fragte Eco illusionslos nach der Funktion und den

    Folgen eines Krieges in einer durch elektronische Bilder undInformationen fast vllig transparent gewordenen Welt.

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    Autor

    Umberto Eco, 1932 in Alessandria geboren, lehrt als Professorfr Semiotik an der Universitt Bologna.

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    Inhalt

    Buch.........................................................................................................2Autor........................................................................................................3Inhalt........................................................................................................4Einleitung.................................................................................................5

    Nachdenken ber den Krieg ....................................................................8Der immerwhrende Faschismus ..........................................................22Wenn der andere ins Spiel kommt..........................................................43

    Die Migrationen, die Toleranz und das Untolerierbare ........................53

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    Einleitung

    Die hier versammelten Schriften haben zweierlei gemeinsam.Sie sind erstens Gelegenheitsschriften, entstanden als Vortrgeoder Artikel zu aktuellen Ereignissen. Und sie behandeln trotzder Verschiedenheit ihrer Themen ethische Fragen, das heit, siebetreffen das, was man tun mte, was man nicht tun sollte undwas man auf keinen Fall tun darf.

    Wegen ihres Charakters als Gelegenheitsschriften halte ich esfr geboten, kurz zu erklren, unter welchen Umstnden siegeschrieben wurden, da sonst einiges unverstndlich erscheinenknnte.

    Nachdenken ber den Krieg (Pensare la guerra) wurde in denTagen des Golfkriegs geschrieben und ist am 1. April 1991 inder MonatszeitschriftLa Rivista dei Libri erschienen.

    Der immerwhrende Faschismus ( Il fascismo eterno) wurdeals Vortrag in englischer Sprache am 25. April 1995 in NewYork gehalten; Anla war ein von den italienischen und franz-sischen Departments der Columbia University veranstaltetesSymposium zum 50. Jahrestag der Befreiung Europas vomFaschismus. Der Text ist dann unter dem Titel Eternal Fas-

    cism in derNew York Review of Books Nr. 42/11 vom 22. Juni1995 erschienen und in italienischer bersetzung unter demTitel Totalitarismo fuzzy e Ur-Fascismo in der Rivista dei

    Libri vom Juli/August 1995; die hier verffentlichte Fassungunterscheidet sich von der dortigen nur durch einige formaleAngleichungen. [Zusatz des bersetzers: Fr die deutscheVersion wurde neben der italienischen auch die ursprnglicheenglische Fassung bercksichtigt.]

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    Man sollte jedoch im Gedchtnis behalten, da der Vortrag frein amerikanisches Studentenpublikum gedacht war und in denTagen vorgetragen wurde, als Amerika, durch das Bombenatten-

    tat von Oklahoma erschttert, entdecken mute, da es in denVereinigten Staaten (was freilich kein Geheimnis war) militri-sche Organisationen der extremen Rechten gab. So bekam dasThema des Antifaschismus fr die Zuhrer eine besondereBedeutung, und der Rckblick in die Geschichte sollte eineReflexion ber aktuelle Probleme in verschiedenen Lndernanregen; der Vortrag ist dann von vielen Zeitungen und Zeit-schriften in andere Sprachen bersetzt worden. Da er

    ursprnglich an junge Amerikaner gerichtet war, erklrt imbrigen auch, wieso darin fast schulmige Informationen undPrzisierungen ber Ereignisse gegeben werden, die italieni-schen Lesern bekannt sein sollten, und warum er Zitate vonRoosevelt, Anspielungen auf den amerikanischen Antifaschis-mus und wiederholte Verweise auf die Begegnung zwischenEuropern und Amerikanern in den Tagen der Befreiung enthlt.

    Wenn der andere ins Spiel kommt (Quando entra in scenalaltro) war eine meiner Antworten an Kardinal Martini imLaufe eines Briefwechsels, den die Zeitschrift Liberal organi-siert und verffentlicht hatte. Der insgesamt acht Texteumfassende Briefwechsel ist anschlieend in einem Bndchenmit dem Titel Woran glaubt, wer nicht glubig ist?

    (In cosa crede chi non crede?, Rom, Atlantide Editoriale,1996) erschienen. Mein Text beantwortet folgende Frage, diemir Kardinal Martini gestellt hatte: Worauf beruht die Gewi-heit und der imperative Charakter Ihres moralischen Handelns,wenn Sie nicht beabsichtigen, zur Begrndung der Absolutheiteiner Ethik an metaphysische Prinzipien oder jedenfalls trans-zendente Werte und auch nicht an allgemeingltige kategorische

    Imperative zu appellieren? Zum Rahmen der Debatte verweise

    ich auf das genannte Bndchen, das auch Beitrge von Emanue-

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    le Severino, Manlio Sgalambro, Eugenio Scalfari, Indro Monta-nelli, Vittorio Foa und Claudio Martelli enthlt.

    Die Migrationen, die Toleranz und das Untolerierbare (LeMigrazioni, la tolleranza e lintollerabile) ist eine Collage. Dererste Teil gibt die erste Hlfte eines Vortrags wieder, den ich am23. Januar 1997 zur Erffnung eines von der Stadt Valenciaveranstalteten Kongresses ber die Perspektiven des DrittenJahrtausends gehalten habe. Der zweite Teil ist eine Adaptationmeines auf franzsisch gehaltenen Einfhrungsvortrags zu dem

    von der Pariser Acadmie Universelle des Cultures am 26. und27. Mrz 1997 veranstalteten Internationalen Forum berIntoleranz. Der dritte Teil war ursprnglich ein Artikel in derTageszeitung La Repubblica, der im August 1996 unter demTitel Fragen wir uns nicht, wem die Stunde schlgt anllichdes Urteils im ersten Militrgerichtsproze gegen Priebkeerschienen ist.

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    Nachdenken ber den Krieg

    Dieser Aufsatz handelt vom Krieg, vom wirklichen, heienund mit ausdrcklicher Zustimmung der Nationen gefhrtenSchiekrieg, wie er sich in der heutigen Welt darstellt. Da ichdies zu der Zeit schreibe, als die alliierten Truppen nach Kuweiteinmarschiert sind, steht zu vermuten, da es wenn keinegravierenden Umschwnge eintreten zu einer Zeit gelesenwird, in welcher alle der Meinung sein werden, da der Golf-

    krieg ein befriedigendes Ergebnis erreicht habe, befriedigend,weil den Zielen entsprechend, um derentwillen er gefhrtworden ist. In einem solchen Fall von der Unmglichkeit undNutzlosigkeit des Krieges zu sprechen wrde dann als widersin-nig erscheinen, da niemand mehr bereit wre, eineUnternehmung als nutzlos oder unmglich zu betrachten, dieihre gesetzten Ziele erreicht hat. Dennoch mssen die folgendenberlegungen gltig bleiben, gleich wie sich die Dinge entwik-keln. Ja, sie mssen sogar erst recht gltig bleiben, wenn derKrieg erlaubt haben sollte, vorteilhafte Ergebnisse zu erzielen,weil sonst alle Welt berzeugt sein knnte, da Krieg inmanchen Fllen doch noch eine vernnftige Mglichkeit sei.Was jedoch entschieden bestritten werden mu.

    Seit Beginn des Krieges waren diverse Appelle zu lesen undzu hren, die den Intellektuellen vorwarfen, angesichts dieses

    Dramas nicht gebhrend Stellung zu beziehen. Da die tnendeMehrheit, die so sprach oder schrieb, in der Regel von Intellek-tuellen (im berufsstndischen Sinne des Wortes) reprsentiertwurde, fragt man sich, wer dann der schweigenden Minderheitangehrte, von der eine Stellungnahme verlangt wurde. Offen-sichtlich handelte es sich um diejenigen, die sich nicht in derrichtigen Weise geuert, also nicht fr eine der beidenParteien ausgesprochen hatten. Was man daran sehen konnte,

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    da jeder, der sich entgegen den Erwartungen eines anderenuerte, als verrterischer Intellektueller gebrandmarkt wurde abwechselnd als prokapitalistischer Bellizist oder als proiraki-

    scher Pazifist.Die massenmedial ausgetragene Konfrontation innerhalb der

    tnenden Mehrheit fhrte dazu, da jeder sich die Anklagen deranderen selber zuzog. Die Verfechter der Notwendigkeit undUnausweichlichkeit des Konflikts erschienen als Interventioni-sten alten Schlages; die Pazifisten, die groenteils unfhigwaren, sich von den Parolen und Ritualen der vergangenenJahrzehnte zu lsen, zogen sich auf Schritt und Tritt die Anklagezu, die Kapitulation der einen zu wollen, um die Kriegstreibereider anderen zu belohnen. Als exorzistisches Ritual mute, werden Konflikt bejahte, immer zuerst betonen, wie grausam derKrieg ist, und wer ihn ablehnte, wie brutal Saddam ist.

    In jedem dieser Flle haben wir gewi einer Debatte zwischenprofessionellen Intellektuellen beigewohnt, nicht aber einerAusbung der intellektuellen Funktion. Die Intellektuellen als

    Kategorie sind bekanntlich etwas sehr Diffuses, das sich nurschwer definieren lt. Anders steht es dagegen mit der intel-lektuellen Funktion. Sie besteht in der kritischen Sichtung undBestimmung dessen, was als hinreichende Annherung an deneigenen Begriff der Wahrheit angesehen werden kann und siekann von jedem Beliebigen ausgebt werden, auch von einemUnterprivilegierten oder Ausgestoenen, der ber seine Lagenachdenkt und sie auf irgendeine Weise zum Ausdruck bringt.Whrend sie von einem hochprivilegierten Schriftstellerverraten werden kann, wenn er auf die Ereignisse nur mitLeidenschaft reagiert, ohne sich der Mhe des nchtern abw-genden Nachdenkens zu unterziehen.

    Deswegen, sagte Vittorini, darf der Intellektuelle nicht zurRevolution blasen. Nicht um sich vor der Verantwortung einerWahl zu drcken (die er als Individuum treffen kann), sondern

    weil der Moment des Handelns verlangt, da die Nuancen und

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    Zwiespltigkeiten beseitigt werden (dies ist die unersetzlicheFunktion des decision makers in jeder Institution), whrend dieintellektuelle Funktion gerade darin besteht, die Zwiespltigkei-

    ten auszugraben und ans Licht zu bringen. Erste Pflicht desIntellektuellen ist immer, die eigenen Weggefhrten zu kritisie-ren (denken heit, die Rolle der Sprechenden Grille beiPinocchio zu spielen). Es kann vorkommen, da der Intellektu-elle das Schweigen whlt, weil er frchtet, sonst diejenigen zuverraten, mit denen er sich identifiziert in der berzeugung, dasie jenseits ihrer nebenschlichen Fehler schlielich doch dasBeste fr alle verfolgen. Eine tragische Wahl, von der die

    Geschichte voll ist und fr die manche in den Tod gegangensind, indem sie sich in einen Kampf strzten, an den sie nichtglaubten, da sie meinten, da man die Loyalitt nicht gegen dieWahrheit eintauschen knne. Aber Loyalitt ist eine moralischeKategorie und Wahrheit eine theoretische.

    Nicht, da die intellektuelle Funktion von der moralischengetrennt wre. Der Beschlu, sie auszuben, ist eine moralische

    Entscheidung, so wie der Beschlu des Chirurgen, ins lebendeFleisch zu schneiden, um ein Leben zu retten, eine moralischeEntscheidung ist. Aber wenn er dann schneidet, darf der Chirurgkein Mitleid empfinden, ebensowenig wie wenn er beschliet,den Schnitt wieder zuzunhen, weil eine Fortsetzung derOperation die Mhe nicht lohnt. Die intellektuelle Funktionkann auch zu emotional unertrglichen Resultaten fhren, dennmanche Probleme mssen dadurch gelst werden, da man ihre

    Unlsbarkeit beweist. Es ist eine moralische Entscheidung, dieeigene Schlufolgerung zum Ausdruck zu bringen oder sie zuverschweigen (womglich in der Hoffnung, da sie falsch ist).Dies ist das Drama derer, die sich, sei es auch nur fr einenMoment, die Aufgabe eines Funktionrs der Menschheitaufladen.

    Viel bespttelt wurde, sogar von katholischer Seite, die Hal-

    tung des Papstes, der gesagt hat, da niemals Krieg gefhrt

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    werden drfe, der gebetet und Ersatzlsungen angeboten hat, dieim Vergleich zur Komplexitt des Geschehens drftig erschie-nen. Um ihn zu rechtfertigen, haben Freunde und Feinde gesagt,

    der arme Mann habe nur seine Pflicht getan, da er nichts andereshtte sagen knnen. Das ist richtig. Der Papst hat (aus seinerSicht der Wahrheit) die intellektuelle Funktion ausgebt undgesagt, da man nicht Krieg fhren darf. Der Papst mu sagen,da wir, wenn wir das Evangelium ernstlich praktizieren wollen,auch die andere Backe hinhalten mssen. Aber was mache ich,wenn mich einer umbringen will? La dir was einfallen,mte der Papst sagen, das ist deine Sache und die Kasui-

    stik ber legitime Verteidigung oder Notwehr wrde dann nurdazu dienen, die menschliche Schwche zu kompensieren,derentwegen niemand zur heroischen Tugendausbung ver-pflichtet sein kann. Diese Position ist derart unangreifbar, dader Papst, wenn und sobald er noch etwas anderes hinzufgt,was als praktischer Hinweis verstanden werden knnte, seineintellektuelle Funktion aufgibt und politische Entscheidungen

    trifft (und die sind dann seine Sache).Wenn es sich so verhlt, mu man sagen, da die intellektuelleGemeinschaft in den letzten fnfundvierzig Jahren nicht berdas Problem des Krieges geschwiegen hat. Sie hat sogar mitsolch missionarischem Eifer darber gesprochen, da sie dieArt, wie die Welt den Krieg sieht, radikal verndert hat. Niehaben die Menschen so sehr wie diesmal das ganze Grauen unddie Zwiespltigkeit des Geschehens empfunden. Abgesehen von

    wenigen Rasenden hatte niemand Schwarzweivorstellungen.Da der Krieg trotzdem ausgebrochen ist, zeigt, da die Argu-mentation der Intellektuellen noch keinen vollen Erfolg gehabthat, nicht berzeugend genug war, nicht gengend historischenSpielraum hatte. Aber das ist nur ein Migeschick. Die Weltsieht den Krieg heute mit anderen Augen als zu Beginn desJahrhunderts, und wenn heute jemand von der Schnheit desKrieges als einziger Hygiene der Welt reden wrde, ginge er

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    nicht in die Geschichte der Literatur ein, sondern in die derPsychiatrie. Mit dem Krieg ist das gleiche passiert wie mit demEhrendelikt oder dem Gesetz der Vergeltung von Gleichem mit

    Gleichem: nicht, da keiner sie mehr praktiziert, aber dieGemeinschaft beurteilt sie als ein bel, whrend sie frher alsetwas Gutes galten.

    Dies alles sind freilich noch moralische und emotionale Reak-tionen (und manchmal kann selbst die Moral bestimmteAusnahmen vom Ttungsverbot akzeptieren, so wie daskollektive Empfinden Greuel und Opfer hinnehmen kann, wennsie ein hheres Gut sichern). Es gibt jedoch eine radikalere Art,den Krieg in rein formalen Begriffen zu denken, in solchen derinneren Kohrenz. Nmlich indem man ber die Bedingungenseiner Mglichkeit nachdenkt, um zu dem Schlu zu gelangen,da der Krieg deswegen nicht gefhrt werden darf, weil dieExistenz einer Gesellschaft der Instant-Information und derschnellen Transporte, der stndigen interkontinentalen Migra-tionen, vereint mit dem Wesen der neuen Waffentechnologien,

    den Krieg unmglich und widersinnig gemacht hat. Der Kriegsteht heutzutage im Widerspruch zu den innersten Grnden, ausdenen er gefhrt worden ist.

    Was war jahrhundertelang das Ziel eines Krieges gewesen?Man fhrte Krieg, um den Gegner so zu besiegen, da man ausseiner Niederlage einen Gewinn ziehen konnte und da unsereIntentionen in einer bestimmten Weise zu handeln, um einbestimmtes Resultat zu erzielen taktisch oder strategisch soverwirklicht wurden, da sie die Intentionen des Gegnersdurchkreuzten. Fr diese Ziele mute man alle verfgbarenKrfte ins Feld fhren knnen. Auerdem wurde das Spiel nurzwischen uns und dem Gegner gespielt. Die Neutralitt deranderen, die Tatsache, da unser Krieg sie nicht weiter strte (jaihnen in einem gewissen Ma erlaubte, daraus Profit zu ziehen),war eine notwendige Bedingung unserer Handlungsfreiheit.

    Auch der absolute Krieg von Clausewitz entging diesen

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    Einschrnkungen nicht.

    Erst in unserem Jahrhundert ist der Begriff des Weltkriegsentstanden als Bezeichnung eines so weltumspannenden

    Krieges, da er auch geschichtslose Gesellschaften wie diepolynesischen Stmme in Mitleidenschaft ziehen knnte. Mitder Entdeckung der Atomkraft, der Erfindung des Fernsehens,der Ausbreitung des Luftverkehrs und der Entstehung verschie-dener Formen von multinationalem Kapitalismus haben sich nuneinige Bedingungen fr die Unmglichkeit des Krieges heraus-gebildet.

    1. Die Atomwaffen haben alle davon berzeugt, da ein ato-marer Konflikt keine Sieger, sondern nur einen einzigenVerlierer htte: den Planeten. Doch wenn man in einer erstenPhase erkannt hatte, da ein Atomkrieg die Bewohnbarkeit desPlaneten zerstren wrde, hat man sich spter davon berzeugt,da jeder Krieg gegen die Bewohnbarkeit des Planeten einAtomkrieg ist und da letztlich jeder Krieg heutzutage nichtanders als gegen die Bewohnbarkeit des Planeten gerichtet sein

    kann. Wer die Atombombe wirft (oder das Meer verseucht),erklrt den Krieg nicht nur allen Neutralen, sondern der ganzenErde.

    2. Krieg verluft heute nicht mehr zwischen zwei klar getrenn-ten Fronten. Dem Skandal der Anwesenheit amerikanischerJournalisten in Bagdad entspricht die ebenso skandalse, dabeizahlenmig noch viel grere Anwesenheit von Millionenproirakischer Muslime in den Lndern der antiirakischenAllianz. In den Kriegen frherer Zeiten wurden die potentiellenFeinde im Lande interniert (oder massakriert), und ein Lands-mann der vom feindlichen Territorium aus ber die gutenGrnde des Gegners sprach, wurde am Ende des Kriegesgehngt. Aufgrund der Natur des multinationalen Kapitalismuskann der Krieg aber heute nicht mehr frontal sein. Da der Irakvon den westlichen Industrien bewaffnet wurde, ist kein Zufall.

    Es entspricht der Logik des reifen Kapitalismus, der sich der

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    Kontrolle der Einzelstaaten entzieht. Wenn die amerikanischeRegierung findet, da die Fernsehgesellschaften das Spiel desFeindes spielen, glaubt sie noch, sie habe es mit einem Komplott

    prokommunistischer Eierkpfe zu tun; in symmetrischerEntsprechung bilden die Fernsehgesellschaften sich ein, sieverkrperten die heroische Figur Humphrey Bogarts, der denGangster am Telefon das Rattern der Rotationspressen hrenlt und dazu sagt: Das ist die Presse, mein Guter, die kannstdu nicht stoppen. Es ist die Logik der Nachrichtenindustrie,Nachrichten zu verkaufen, mglichst dramatische Nachrichten.Nicht, da die Medien sich weigerten, die Kriegstrompete zu

    blasen: Sie sind blo einfach ein Rollenklavier, das eine Musikabspielt, die ihm vorher auf die Rolle gespielt worden ist. So hatim Krieg heute jeder den Feind im eigenen Hinterland einZustand, den kein Clausewitz je htte hinnehmen knnen.

    3. Auch wenn die Medien zum Schweigen gebracht wren,ermglichen die neuen Kommunikationstechnologien einenunaufhaltsamen Informationsflu und nicht einmal ein

    Diktator kann sie blockieren, da sie sich elementarer technischerInfrastrukturen bedienen, auf die auch er nicht verzichten kann.Dieser Informationsflu erfllt die Funktion, die in den traditio-nellen Kriegen die Geheimdienste hatten: er neutralisiert jedeberraschungsaktion und Krieg ist unmglich, wenn man denGegner nicht berraschen kann. Der Krieg produziert einverallgemeinertes Einverstndnis mit dem Feind. Aber dieInformation macht noch mehr: sie erteilt dem Gegner stndig

    das Wort (whrend das Ziel jeder Kriegspolitik darin besteht,die gegnerische Propaganda zu blockieren), und sie demorali-siert die Brger der kriegfhrenden Parteien in ihrem Verhltniszur eigenen Regierung (whrend, wie Clausewitz hervorhob, dieBedingung des Sieges der moralische Zusammenhalt allerKombattanten ist). Jeder Krieg der Vergangenheit basierte aufdem Prinzip, da die Brger im Glauben, er sei ein gerechterKrieg, den Feind zu vernichten trachteten. Heute dagegen bringt

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    die Information nicht nur den Glauben der Brger ins Wanken,sondern macht sie auch empfindlich fr den Tod der Feinde der kein fernes, undeutliches Ereignis mehr ist. sondern eine

    unertrgliche visuelle Evidenz.4. All dies wirkt mit dem Umstand zusammen, da die Macht

    heutzutage, ich erinnere an Foucault, nicht mehr monolithischund monokratisch ist, sondern diffus, parzelliert, Ergebnispermanenter Zusammenballungen und Zersetzungen vonKonsensprozessen. Der Krieg stellt nicht mehr zwei Vaterlnderfrontal gegenber. Er bringt unendlich viele Mchte in Konkur-renz zueinander. In diesem Spiel tun sich einzelne Machtzentrenals Profiteure hervor, aber auf Kosten der anderen. Wenn deralte Krieg die Kanonenhndler dick werden lie und ihr Profitden vorbergehenden Stillstand einiger kommerzieller Tausch-prozesse in den Hintergrund drngte, so strzt der neue Krieg,wenn er die Kanonenhndler reich macht, eine Vielzahl vonIndustrien in die Krise (und das auf dem ganzen Globus),nmlich die des Luftverkehrs, der Unterhaltung und des Touris-

    mus, der Medien selbst (die Werbeeinnahmen verlieren) undallgemein die gesamte Industrie des berflssigen dasKnochengerst des Systems , vom Baumarkt bis zum Automo-bil. Bei der Nachricht vom Ausbruch eines Krieges hat dieBrse zwar einen Sprung nach oben getan, aber einen Monatspter ist sie bei den ersten Anzeichen eines mglichen Friedensebenso hoch gesprungen. Das war kein Zynismus im erstenFall und keine tugendhaftpazifistische Regung im zweiten. Die

    Brse registriert die Schwankungen im Spiel der Mchte.Whrend des Krieges befinden sich einige konomische Mchtein Konkurrenz zueinander, und die Logik ihres Konfliktsberlagert die Logik der nationalen Mchte. Wenn die Industri-en des staatlichen Konsums (wie die Rstungsindustrie) einenSpannungszustand bentigen, brauchen die des individuellenKonsums einen Glcks- und Friedenszustand. Der Konflikt wirdin konomischen Termini ausgetragen.

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    5. Aus all diesen und anderen Grnden hnelt der Krieg heutenicht mehr, wie frher, einem seriellen intelligenten System,sondern einem parallelen intelligenten System. Ein serielles

    intelligentes System, wie es zum Beispiel fr die Konstruktionvon Maschinen gebraucht wird, die bersetzen oder aus einergegebenen Reihe von Informationsdaten Schlsse ziehenknnen, wird vom Programmierer so instruiert, da es auf derBasis einer endlichen Zahl von Regeln sukzessive Entscheidun-gen treffen kann, deren jede von einer Einschtzung dervorangegangenen abhngt, wobei sie einer Baumstruktur folgt,die sich aus einer Reihe binrer Disjunktionen zusammensetzt.

    Die alte Kriegsstrategie ging folgendermaen vor: Hat der Feindseine Truppen nach Osten bewegt, mu ich voraussehen, da eranschlieend nach Sden vorrcken will. In diesem Fall werdeich, derselben Logik folgend, meine Truppen in sdwestlicherRichtung bewegen, um ihm berraschend den Weg abzuschnei-den. Die Regeln des Feindes waren auch die eigenen, und jederkonnte abwechselnd eine Entscheidung treffen, wie in einer

    Schachpartie.Ein paralleles System dagegen berlt den einzelnenElementen oder Zellen eines Netzes die Entscheidung, sich ineiner bestimmten Konfiguration anzuordnen, und zwar gemeiner Disposition von Gewichten, die der Operateur nicht vorherbeschlieen oder voraussehen kann, weil das Netz Regelnfindet, die es nicht vorher bekommen hat. Es verndert sichselbstndig, um die Lsung zu finden, und dabei macht es

    keinen Unterschied zwischen Regeln und Daten. Zwar kann manein solches System (man nennt es neuverknpfend oder wieein Nervengewebe organisiert) dadurch kontrollieren, da mandie gegebene Antwort mit der erwarteten vergleicht und dieGewichte durch sukzessive Experimente neu ordnet. Das abererfordert 1. da der Operateur Zeit hat, 2. da nicht zweiOperateure konkurrieren und die Gewichte in widersprchlicherWeise verteilen und 3. da die einzelnen Zellen des Netzes als

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    Zellen denken und nicht wie die Operateure, also keineEntscheidungen treffen, die sich aus Schlssen ber das Verhal-ten der Operateure ableiten, und da sie vor allem keine

    Interessen haben, die der Logik des Netzes selbst fremd sind.Wogegen in einem System der parzellierten Macht jede Zellegem ihren eigenen Interessen reagiert, die nicht die desOperateurs sind und nichts mit den autodynamischen Tendenzendes Netzes zu tun haben. Daher kann man sagen, da der Krieg,wenn er sei es auch nur als Metapher ein neuverknpfendesSystem ist, sich unabhngig vom Willen der beiden Kontrahen-ten entwickelt und reguliert. Es ist interessant zu sehen, wie der

    Physiker Arno Penzias in seiner populrwissenschaftlichenErklrung der Funktionsweise eines Nervengewebes* eineKriegsmetapher benutzt: Man wute, da die einzelnenNeuronen elektrisch aktiv wurden (sie schossen ), wenn siedurch ihre fein verzweigten Input-Kabel (die sogenannten

    Dendriten) stimuliert wurden. Im Moment des Schieenssendet ein Neuron elektrische Signale lngs einer Reihe von

    Output-Kabeln (sogenannten Neuriten) aus. [ ] Da dasSchieen jedes Neurons von der Aktivitt vieler andererabhngt, gibt es keine einfache Methode, zu berechnen, waswann passieren mte. [ ] Je nach der besonderen Dispositionder Synapsenverbindungen definierte jede Simulation einesNervengewebes von hundert Neuronen ihre eigene Anzahlmglicher Gleichgewichtszustnde (bei einer Gesamtzahlabsoluter Mglichkeiten von tausend Milliarden Milliarden

    Milliarden oder 1030

    ).Wenn Krieg ein neuverknpfendes System ist, dann ist er kein

    Phnomen mehr, in dem Kalkl und Absicht der Gegner nochetwas zhlen. Zur Multiplikation der im Spiel befindlichenMchte verteilt er sich nach unvorhersehbaren Gewichtsanord-

    *Ideas and Information: Managing in a High-Tech World, New York, W. W.Norton, 1989, hier zitiert nach der italienischen Ausgabe Come vivere in un

    mondo High-Tech, Mailand, Bompiani, 1989, S. 107 f.

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    nungen. Daher ist es auch mglich, da er endet und da diedann eingetretene Ordnung fr einen der Kontrahenten vorteil-haft ist, aber im Prinzip ist er, insofern er jedes

    Entscheidungskalkl herausfordert, fr beide Seiten verloren.Um es in unserer Metapher auszudrcken: Die frenetischeBemhung der Operateure um die Kontrolle des Netzes, dasfortwhrend gegenstzliche Impulse erhlt, lt es schlielichzerreien. Das wahrscheinliche Ende eines Krieges ist heute derBetriebsstillstand, der Tilt. Der alte Krieg war wie eine Schach-partie, bei der nicht nur jeder Spieler darauf abzielen konnte,mglichst viele Figuren des Gegners zu schlagen oder zu

    fressen, wie wir Italiener sagen, sondern vor allem (durchSpekulation auf die Art, wie der Gegner die Regeln befolgte) ihnSchachmatt zu setzen. Der heutige Krieg ist dagegen wie eineSchachpartie, in der beide Spieler (die am selben Netz operie-ren) Figuren derselben Farbe bewegen und fressen (das Spielverluft nicht mehr Schwarz gegen Wei, sondern monochrom).Er ist ein Spiel, das sich selber auffrit.

    Im brigen wrde die Behauptung, ein Konflikt habe sich ineinem bestimmten Moment als vorteilhaft fr einen der Kontra-henten erwiesen, ja implizieren, da man den Vorteil in einembestimmten Moment mit dem Vorteil am Ende gleichsetzt. EinEnde knnte es jedoch nur geben, wenn der Krieg noch, wieClausewitz wollte, die Fortsetzung der Politik mit anderenMitteln wre (so da der Krieg enden wrde, wenn ein Gleich-gewichtszustand erreicht wre, der die Rckkehr zur Politik

    erlaubte).In unserem Jahrhundert ist es jedoch die Politik der Nach-

    kriegszeit, die immer und berall die Fortsetzung (mit allenMitteln) der vom Krieg gesetzten Prmissen bleiben wird. Wieimmer der Krieg auch ausgehen mag, er wird, nachdem er eineallgemeine Neuordnung der Gewichte herbeigefhrt hat, diedem Willen der Kontrahenten nicht vllig entsprechen kann,

    sich fr die kommenden Jahrzehnte in einer politisch, kono-

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    misch und psychologisch dramatischen Instabilitt fortsetzen,die nichts anderes hervorbringen kann als eine kriegsgesteuertePolitik.

    Andererseits, ist es je wirklich anders gewesen? Ist es verbotenzu denken, da Clausewitz unrecht hatte? Die Geschichtsschrei-bung interpretiert Waterloo als einen Zusammensto zweierIntelligenzen (weil es ein Ergebnis gezeitigt hat), aber Stendhalhat es in Begriffen der Zuflligkeit zu interpretieren gewut. DieAnnahme, da die klassischen Kriege zu vernnftigen Ergebnis-sen fhrten zu einem schlielich eingetretenen Gleichgewicht, entspringt einem hegelschen Vorurteil, demzufolge dieGeschichte eine Richtung hat und das Ergebnis einer Vermitt-lung sowohl die These wie die Antithese besttigt. Es gibtkeinen wissenschaftlichen Beweis (auch keinen logischen)dafr, da die Ordnung des Mittelmeerraums nach den Puni-schen Kriegen oder die Ordnung Europas nach denNapoleonischen Kriegen als ein Gleichgewicht definiert werdenmte. Sie knnte auch als ein Ungleichgewichtszustand

    definiert werden, der nicht eingetreten wre, wenn es den Kriegnicht gegeben htte. Die Tatsache, da die Menschheit berZehntausende von Jahren den Krieg als Mittel zur Auflsungvon Ungleichgewichtszustnden praktiziert hat, ist nichtbeweiskrftiger als die Tatsache, da die Menschheit in dersel-ben Zeitspanne beschlossen hat, psychische Ungleichgewichtedurch den Rekurs auf Alkohol oder hnliche zerstrerischeSubstanzen aufzulsen.

    Hier kommt das Tabu-Argument ins Spiel. Schon Moraviahatte den Gedanken nahegelegt, da wir so wie die Mensch-heit erst nach Jahrhunderten beschlossen hatte, das Inzesttabu zuentwickeln, weil sie erkannt hatte, da strikte Endogamie zunegativen Ergebnissen fhrte an den Punkt gelangt seinknnten, an dem die Menschheit das instinktive Bedrfnisversprt, den Krieg mit einem Tabu zu belegen. Darauf ist nicht

    ohne Realismus erwidert worden, da ein Tabu nicht aufgrund

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    einer moralischen oder intellektuellen Entscheidung prokla-miert wird, sondern sich im Verlauf der Jahrtausende in denverborgenen Falten des kollektiven Gewissens bildet (aus den

    gleichen Grnden, aus denen ein Nervengewebe schlielich vonselbst in eine gewisse Gleichgewichtslage findet). Gewi wirdein Tabu nicht proklamiert: es proklamiert sich selbst. Aber mankann die Zeiten des Wachstums beschleunigen. Um sichbewutzumachen, da durch sexuelle Vereinigung mit derMutter oder der Schwester der Austausch zwischen den Grup-pen blockiert wurde, hat die Menschheit Zehntausende vonJahren gebraucht, so wie es vermutlich auch recht lange gedau-

    ert hat, bis die Menschheit entdeckte, da zwischenGeschlechtsakt und Schwangerschaft ein Ursache-Wirkungs-Verhltnis besteht. Um jedoch zu bemerken, da bei einemKrieg die Luftverkehrsgesellschaften ihren Betrieb einstellen,haben zwei Wochen gengt. Es ist also durchaus vereinbar mitder intellektuellen Pflicht und dem Gemeinsinn, die Notwendig-keit eines Tabus zu verknden, auch wenn gewi niemand die

    Autoritt hat, es zu proklamieren und die Zeit seiner Reifungfestzusetzen.

    Es ist heute eine intellektuelle Pflicht, die Unmglichkeit desKrieges zu proklamieren. Auch wenn es keine alternativeLsung gibt. Allenfalls wre daran zu erinnern, da unserJahrhundert eine exzellente Alternative zum Krieg gekannt hat,nmlich den kalten Krieg. Sooft er auch Gelegenheit zuGreueln, Ungerechtigkeit, Intoleranz, lokalen Konflikten und

    diffusem Terror geboten hat am Ende wird die Geschichtezugeben mssen, da der kalte Krieg eine sehr humane undrelativ sanfte Lsung war, bei der es schlielich sogar Siegerund Besiegte gab. Aber es steht der intellektuellen Funktionnicht zu kalte Kriege zu erklren.

    Was einigen als das Schweigen der Intellektuellen ber denKrieg erschienen ist, war vielleicht nur die Furcht, bei laufen-

    dem Geschehen in den Medien von ihm zu sprechen, schon weil

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    die Medien selber ein Teil des Krieges und seiner Instrumentesind und es daher gefhrlich ist, sie als neutrales Gebiet zubetrachten. Auerdem gelten fr die Medien andere Zeiten als

    die der Reflexion. Die Ausbung der intellektuellen Funktiontrifft ihre Aussagen immer entweder im voraus (ber das, wasvielleicht geschehen wird) oder hinterher (ber das, wasgeschehen ist); sie uert sich selten ber das, was geradegeschieht, aus Grnden des Rhythmus, weil die Ereignisseimmer schneller und bedrngender sind als das Nachdenkenber die Ereignisse. Deswegen lebte Calvinos Baron CosimoPiovasco di Rond auf den Bumen; nicht um sich der intellek-

    tuellen Pflicht zu entziehen, die eigene Zeit zu begreifen und anihr teilzunehmen, sondern um sie besser zu begreifen undintensiver an ihr teilzunehmen.

    Aber auch wenn es taktische Rume des Schweigens whlt,erfordert das Nachdenken ber den Krieg am Ende, da diesesSchweigen mit lauter Stimme verkndet wird. Im Bewutseinder Widersprche einer Proklamation des Schweigens, der

    berzeugungskraft eines Aktes der Ohnmacht und der Tatsache,da uns das Nachdenken nicht davon enthebt, individuelleVerantwortung zu bernehmen. Erste Pflicht ist es aber zusagen, da der Krieg heute jede menschliche Initiative zunichtemacht und da sogar sein scheinbares Ende (und der scheinbareSieg einer der beiden Seiten) nicht das inzwischen selbstndiggewordene Spiel der in ihrem eigenen Netz verfangenenGewichte anzuhalten vermag. Denn ein Gewicht, schrieb Carlo

    Michelstaedter in La Persuasione e la rettorica, hngt, sofernes Gewicht ist, herunter, und sofern es herunterhngt, hngt esvon etwas ab [ ] und doch will es immer weiter absinken,denn der nchste Punkt bertrifft an Niedrigkeit immer den, deres gerade hlt [ ]. Das Gewicht kann nie berzeugt werden.

    Dieses stete Absinken kann nicht gerechtfertigt werden, denn in Begriffen des Rechts der Gattung gesagt es ist schlimmer

    als ein Verbrechen: Es ist eine Verschwendung.

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    Der immerwhrende Faschismus

    1942, als ich zehn Jahre alt war, gewann ich den ersten Preis beiden Ludi Juveniles, einem freiwilligen Pflichtwettbewerb fr

    junge italienische Faschisten also fr alle jungen Italiener. Ichhatte mich mit rhetorischer Bravour ber das Thema verbreitet:Sollen wir fr den Ruhm Mussolinis und die unsterblicheBestimmung Italiens sterben? Meine Antwort war positivgewesen. Ich war ein heller Junge.

    1943 entdeckte ich dann die Bedeutung des Wortes Freiheit.Ich werde diese Geschichte am Ende erzhlen. Damals bedeute-te Freiheit noch nicht Befreiung.

    Ich habe zwei meiner frhen Jahre zwischen einander beschie-enden SS-Mnnern, Mussolini-Faschisten und Partisanenverbracht und gelernt, den Kugeln aus dem Wege zu gehen. Daswar keine schlechte bung.

    Im April 1945 nahmen die Partisanen Mailand ein. Zwei Tagespter kamen sie in die kleine Stadt, in der ich damals lebte. Eswar ein Freudentag. Die zentrale Piazza war dichtgedrngtvoller Menschen, die singend und fahnenschwingend nachMimo riefen, dem Partisanenfhrer der Gegend. Mimo, einehemaliger Maresciallo der Carabinieri, hatte sich den Anhn-gern des Mussolini-Nachfolgers Badoglio angeschlossen und ineinem der ersten Gefechte mit Mussolinis verbliebenen Truppenein Bein verloren. Er erschien auf dem Balkon des Rathauses,bla, auf seine Krcke gesttzt, und versuchte mit der freienHand die Menge zu beruhigen. Ich wartete gespannt auf seineRede, denn meine ganze Kindheit war von den groen histori-schen Reden Mussolinis geprgt gewesen, deren bedeutendsteStellen wir in der Schule auswendig lernten. Stille. Mimo sprachmit einer rauhen Stimme, kaum hrbar. Er sagte: Mitbrger,

    Freunde. Nach so vielen leidvollen Opfern da sind wir

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    wieder. Ehre den fr die Freiheit Gefallenen. Das war alles. Erging wieder hinein. Die Menge jubelte, die Partisanen hobenihre Gewehre und feuerten Freudenschsse in die Luft. Wir

    Kinder strzen hin, um die Patronenhlsen aufzusammeln, diekostbare Sammlerobjekte waren, aber ich hatte zugleich gelernt,da Redefreiheit auch Freiheit von Rhetorik bedeutet.

    Einige Tage spter sah ich die ersten amerikanischen Soldaten.Es waren Afroamerikaner. Der erste Yankee, dem ich begegne-te, war ein Schwarzer namens Joseph, der mich mit denWundern von Dick Tracy und Lil Abner bekannt machte. SeineComics waren bunt und hatten einen guten Geruch.

    Einer der Offiziere, Major oder Captain Muddy, war zu Gastin der Villa einer Familie, deren zwei Tchter in meine Klassegingen. Ich begegnete ihm in ihrem Garten, wo ihn einigeDamen umringten und in einem vagen Franzsisch auf ihneinredeten. Captain Muddy hatte eine gute Erziehung genossenund konnte auch ein bichen Franzsisch. So war mein erstesBild von den amerikanischen Befreiern, nach all den Bleichge-

    sichtern in Schwarzhemden, das eines kultivierten Schwarzen ingelbgrner Uniform, der sagte: Oui, merci beaucoup Madame,moi aussi jaime le champagne

    Champagner gab es leider keinen, aber Captain Muddyschenkte mir meinen ersten Kaugummi, auf dem ich den ganzenTag lang herumkaute. Nachts tat ich den Klumpen in ein GlasWasser, um ihn fr den nchsten Tag frisch zu halten.

    Im Mai hrten wir, da der Krieg vorbei war. Der Friedeverursachte mir ein eigenartiges Gefhl. Mir war gesagt worden,permanenter Krieg sei die normale Situation fr einen jungenItaliener. In den folgenden Monaten entdeckte ich, da es dieResistenza den bewaffneten Widerstand nicht nur bei uns,sondern in ganz Europa gegeben hatte. Ich lernte neue, erregen-de Worte wie rseau, maquis, arme secrte, Rote Kapelle,Warschauer Ghetto. Ich sah die ersten Photographien vom

    Holocaust, und so verstand ich seine Bedeutung, bevor ich das

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    Wort kennenlernte. Mir wurde klar, wovon wir befreit wordenwaren.

    Heute gibt es in Italien Leute, die sich fragen, ob die Resisten-

    za wirklich militrischen Einflu auf den Verlauf des Kriegesgehabt hat. Fr meine Generation ist diese Frage irrelevant: Wirbegriffen die moralische und psychologische Bedeutung derResistenza sofort. Es machte uns stolz zu wissen, da wirEuroper die Befreiung nicht passiv erwartet hatten. Und ichdenke, da es auch fr die jungen Amerikaner, die mit ihremBlut fr die Wiederherstellung unserer Freiheit bezahlten, nichtohne Bedeutung war, zu wissen, da es hinter den LinienEuroper gab, die ihre Schulden bereits zurckzahlten.

    Heute gibt es in Italien Leute, die sagen, der Mythos derResistenza sei eine kommunistische Lge gewesen. Wahr ist,da die Kommunisten die Resistenza wie ein persnlichesEigentum ausgebeutet haben, da sie eine fhrende Rolle in ihrspielten.

    Aber ich erinnere mich auch an Partisanen, die Halstcher in

    anderen Farben trugen.Am Radio klebend, horchte ich nachts bei geschlossenen

    Fenstern, whrend die allgemeine Verdunkelung den kleinenRaum um das Gert zum einzigen Lichtkreis machte auf dieBotschaften, die Radio London an die Partisanen sandte. Siewaren dunkel und poetisch zugleich ( Die Sonne geht abermalsauf, Die Rosen werden blhen ), und die meisten waren

    Botschaften fr die Franchi. Jemand flsterte mir zu, daFranchi der Anfhrer einer der schlagkrftigsten Untergrundor-ganisationen in Norditalien war, ein Mann von legendrerTapferkeit. Franchi wurde mein Held. Franchi (sein richtigerName war Edgardo Sogno) war ein Monarchist und so glhendantikommunistisch, da er sich nach dem Krieg rechtsextremenGruppen anschlo und angeklagt wurde, bei der Planung einesreaktionren Staatsstreichs mitgemacht zu haben. Aber wen

    kmmerts? Sogno bleibt der Traumheld meiner Kindheit. Die

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    Befreiung war ein Gemeinschaftswerk von Leuten aus verschie-denen Lagern.

    Heute gibt es in Italien Leute, die sagen, der Befreiungskrieg

    sei eine tragische Zeit der Spaltung gewesen und was wir jetztbrauchten, sei eine nationale Vershnung. Die Erinnerung an

    jene schrecklichen Jahre msse verdrngt werden. Aber Ver-drngung erzeugt Neurosen. Wenn Vershnung heit, Mitgefhlund Respekt fr all jene zu haben, die ihren Krieg in gutemGlauben fhrten, heit Vergeben jedoch nicht Vergessen. Ichkann sogar zugestehen, da Eichmann aufrichtig an seineMission geglaubt hat, aber ich kann nicht sagen: Okay, kommwieder und machs noch mal. Wir sind hier versammelt, um andas zu erinnern, was geschehen ist, und feierlich zu erklren,da sie es nie wieder tun drfen.

    Aber wer sind sie?

    Denken wir hier an die totalitren Regime, die Europa vor demZweiten Weltkrieg beherrschten, so knnen wir in aller Ruhesagen, da sie unter den vernderten historischen Bedingungen

    schwerlich in derselben Form wiederkehren werden. Grndetesich Mussolinis Faschismus auf die Idee eines charismatischenFhrers, auf den Korporativismus, auf die Utopie der schick-salhaften Bestimmung Roms, auf einen imperialistischenWillen zur Eroberung neuer Gebiete, auf einen rabiaten Nationa-lismus, auf das Ideal einer ganzen Nation im Schwarzhemd, aufdie Ablehnung der parlamentarischen Demokratie und auf denAntisemitismus, so habe ich keine Schwierigkeiten zuzugeben,da heute die italienische Alleanza Nazionale, die aus derfaschistischen Nachkriegspartei MSI hervorgegangen und gewieine Partei der Rechten ist, nur noch wenig mit dem altenFaschismus zu tun hat. Aus den gleichen Grnden denke ichnicht auch wenn ich sehr beunruhigt bin ber die verschiede-nen neonazistischen Bewegungen, die sich da und dort inEuropa einschlielich Rulands regen , da der Nationalsozia-

    lismus im Begriff ist, in seiner ursprnglichen Form als eine das

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    ganze Volk mitreiende Bewegung wiederaufzuerstehen.

    Dennoch, auch wenn politische Regime gestrzt, Ideologienkritisiert und demontiert werden knnen hinter jedem Regime

    und seiner Ideologie steht eine Art des Denkens und Fhlens,eine Reihe von kulturellen Gewohnheiten, eine Wolke vondunklen Instinkten und unauslotbaren Trieben. Gibt es also nochein weiteres Gespenst, das in Europa umgeht (um nicht vonanderen Teilen der Welt zu sprechen)?

    Ionesco sagte einmal: Nur die Wrter zhlen, der Rest istbloes Geschwtz. Sprachgewohnheiten sind oft wichtige

    Symptome fr unausgedrckte Gefhle.Es lohnt sich daher zu fragen, warum nicht nur der bewaffnete

    Widerstand, sondern der ganze Zweite Weltkrieg berall in derWelt als ein Kampf gegen den Faschismus definiert worden ist.Wer Hemingways Wem die Stunde schlgt nachliest, wirdfeststellen, da Robert Jordan seine Feinde stets als Faschistenbezeichnet, auch wenn er an die spanischen Falangisten denkt.Und Franklin D. Roosevelt erklrte am 23. September 1944:

    Der Sieg des amerikanischen Volkes und seiner Verbndetenwird ein Sieg ber den Faschismus und das von ihm reprsen-tierte Erbe des Despotismus sein.

    Whrend McCarthys Kommunistenhatz wurden diejenigenAmerikaner, die im Spanischen Brgerkrieg gekmpft hatten,als premature anti-fascists (verfrhte Antifaschisten) be-zeichnet womit gesagt werden sollte, da zwar der Kampf

    gegen Hitler in den vierziger Jahren eine moralische Pflicht fr jeden guten Amerikaner war, aber der Kampf gegen Franco inden dreiiger Jahren einen verdchtigen Beigeschmack hatte,weil er hauptschlich von Kommunisten und anderen Linkengefhrt worden war. Und warum titulierten dreiig Jahre spterlinksradikale Amerikaner einen Polizisten, dem ihre Rauchge-wohnheiten nicht gefielen, als fascist pig? Warum sagten sienichtfalangist pig, cagoulard pig, ustasha pig, nazi pig?

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    Hitlers Mein Kampfist die vollstndige Offenlegung einespolitischen Programms. Der Nationalsozialismus hatte eineTheorie des Rassismus und des Ariertums, einen przisen

    Begriff von degenerierter (entarteter) Kunst, eine Philosophiedes Willens zur Macht und des bermenschen. Der National-sozialismus war entschieden antichristlich und neuheidnisch, sowie Stalins Diamat (die offizielle Version des sowjetischenMarxismus) klar materialistisch und atheistisch war. Verstehtman unter Totalitarismus ein Regime, das alles individuelleHandeln dem Staat und seiner Ideologie unterordnet, so warenNationalsozialismus und Stalinismus totalitre Regime.

    Der italienische Faschismus war zweifellos eine Diktatur, aberer war nicht durchgehend totalitr, nicht wegen seiner Milde,sondern wegen der philosophischen Schwche seiner Ideologie.Entgegen der verbreiteten Meinung hatte der italienischeFaschismus keine eigene Philosophie. Der von Mussoliniunterzeichnete Artikel Fascismo in der Enciclopedia Trecconiwar von Giovanni Gentile verfat oder im wesentlichen inspi-

    riert worden, aber er reflektierte eine spthegelianische Ideevom absoluten sittlichen Staat, die Mussolini nie ganzverwirklicht hat. Mussolini hatte berhaupt keine Philosophie, erhatte nur eine Rhetorik. Er begann als militanter Atheist, aberdann unterzeichnete er das Konkordat mit der Kirche und hiedie Bischfe willkommen, die die faschistischen Fhnchensegneten. In seinen ersten antiklerikalen Jahren soll er einmal,einer glaubwrdigen Legende zufolge, Gott aufgefordert haben,

    ihn auf der Stelle niederzustrecken, um seine Existenz zubeweisen. Gott war offensichtlich zerstreut. In spteren Jahrenrief Mussolini in seinen Reden stndig den Namen Gottes anund hatte nichts dagegen, wenn er als Mann der Vorsehungbezeichnet wurde.

    Man kann sagen, da der italienische Faschismus die ersteRechtsdiktatur war, die ein europisches Land beherrschte, und

    da alle hnlichen Bewegungen, die spter kamen, in Mussolinis

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    Regime eine Art Archetyp sahen. Der italienische Faschismuswar der erste, der sich eine militrische Liturgie, eine Folkloreund sogar eine eigene Kleidermode schuf- womit er im Ausland

    mehr Erfolg als Armani, Benetton oder Versace haben sollte.Erst in den dreiiger Jahren erschienen faschistische Bewegun-gen in England (mit Mosley), in Lettland, Estland, Litauen,Polen, Ungarn, Rumnien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawi-en, Spanien, Portugal, Norwegen und sogar Sdamerika, um vonDeutschland gar nicht zu reden. Es war der italienische Fa-schismus, der viele liberale Politiker in Europa davonberzeugte, da dieses neue Regime interessante soziale

    Reformen durchfhrte, die eine gemigt revolutionre Alterna-tive zur kommunistischen Bedrohung darstellen konnten.

    Dennoch scheint mir die historische Prioritt kein ausreichenderGrund, um zu erklren, warum gerade der Begriff Faschismuszu einer Sammelbezeichnung oder einem Pars pro toto frverschiedene totalitre Bewegungen geworden ist. Es hilft nichts

    zu sagen, der italienische Faschismus habe alle Elemente derspteren Totalitarismen sozusagen als Quintessenz in sichenthalten. Im Gegenteil, der italienische Faschismus besaberhaupt keine Quintessenz, ja nicht einmal eine einzelneEssenz. Er war ein verschwommener Totalitarismus, ver-schwommen im Sinne von fuzzy.* Er war keine monolithischeIdeologie, sondern eher eine Collage aus verschiedenen politi-schen und philosophischen Ideen, ein Bienenkorb vollerWidersprche. Kann man sich eine totalitre Bewegung vorstel-len, die es fertigbringt, Monarchie und Revolution zuvereinigen, Knigliche Armee und Mussolinis Privatmiliz,Garantie der kirchlichen Privilegien und eine gewaltverherrli-chende Staatserziehung, totale Kontrolle und freien Markt? Die

    * Neuerdings in der Logik benutzt, um undeutlich konturierte Ensembles zubezeichnen, knnte der Terminusfuzzy mit faserig, ungenau, ausge-

    franst bersetzt werden.

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    faschistische Partei war mit der Proklamation einer neuenrevolutionren Ordnung auf den Plan getreten, aber finanziertwurde sie von den konservativsten Agrariern, die eine Konterre-

    volution von ihr erwarteten. In seinen Anfngen war derFaschismus republikanisch, doch er berlebte zwanzig Jahre,indem er seine Loyalitt zur Knigsfamilie proklamierte undeinem Dux erlaubte. Arm in Arm mit einem Rex zu gehen,dem er auch noch den Titel Imperator anbot. Als dieser Knigdann schlielich, im Sommer 1943, seinen Ersten MinisterMussolini entlie, trat die Partei zwei Monate spter, mitdeutscher Hilfe, unter dem Banner einer sozialen Republik

    wieder auf den Plan und spielte erneut ihre alte revolutionrePartitur, bereichert um fast jakobinische Obertne.

    Es gab nur eine Nazi-Architektur und nur eine Nazi-Kunst.Wenn Albert Speer Hitlers Architekt war, gab es in Deutschlandkeinen Platz fr Mies van der Rohe. In gleicher Weise gab esunter Stalin, wenn Lamarck recht hatte, keinen Platz fr Darwin.Unter Mussolini dagegen gab es zwar gewi faschistische

    Architekten, aber neben ihren Pseudo-Kolosseen entstandenauch neue Bauten im Geist des modernen Rationalismus nachArt von Gropius.

    Es gab keinen faschistischen Shdanow, der eine strikte kultur-politische Linie vorschrieb. Es gab in Italien zwei bedeutendeKunstpreise: Der Premio Cremona wurde von einem ungebilde-ten und fanatischen Faschisten wie Roberto Farinaccikontrolliert, der eine propagandistische Kunst frderte (icherinnere mich an Bilder mit Titeln wie Beim Anhren einerRadioansprache des Duce oder Vom Faschismus geschaffeneGeisteshaltungen); der Premio Bergamo wurde von demgebildeten und einigermaen toleranten Faschisten GiuseppeBottai finanziert, der sowohl die Lart-pour-1art-Richtungschtzte wie auch die vielen Arten der Avantgardekunst, die inDeutschland als entartet und kryptokommunistisch galten,

    da allein der Germanenkitsch zugelassen war.

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    Der Nationaldichter war DAnnunzio, ein Dandy, der inDeutschland oder Ruland vor ein Exekutionskommandogestellt worden wre. Zum Vate Nazionale, zum Seher oder

    Barden des Regimes ernannt worden war er wegen seinesNationalismus und seiner kultischen Verherrlichung desHeroischen die in Wahrheit eine starke Dosis franzsischerFin-de-sicle-Dekadenz enthielt.

    Oder nehmen wir den Futurismus. Man sollte meinen, er wreals ein Beispiel fr entartete Kunst angesehen worden, so wieder Expressionismus, der Kubismus und der Surrealismus. Aberdie ersten italienischen Futuristen waren Nationalisten, siebefrworteten aus sthetischen Grnden den Eintritt Italiens inden Ersten Weltkrieg, sie verherrlichten die Geschwindigkeit,die Gewalt und das Risiko, und irgendwie schien das alles demfaschistischen Jugendkult nahe. Whrend der Faschismus sichmit dem Rmischen Reich identifizierte und die lndlichenTraditionen wiederentdeckte, wurde Marinetti (der verkndete,ein Auto sei schner als die Nike von Samothrake, und der sogar

    den Mondschein niedermachen wollte) zum Mitglied derItalienischen Akademie ernannt, die den Mondschein sehrrespektvoll behandelte.

    Viele der knftigen Partisanen und knftigen KP-Intellektuellen wurden von den Gruppi Universitari Fascisti(GUF) erzogen, der faschistischen Studentenvereinigung, dieeigentlich die Wiege der neuen faschistischen Kultur sein sollte.Diese Debattierklubs entwickelten sich zu einer Art intellektuel-lem Schmelztiegel, in dem neue Ideen ohne jeglicheideologische Kontrolle zirkulierten, nicht weil die Parteibosse sotolerant gewesen wren, sondern weil nur wenige von ihnenber die intellektuellen Mittel zu ihrer Kontrolle verfgten.

    Whrend jener zwei Jahrzehnte war die Dichtung Montalesund anderer Autoren, die zur Gruppe der sogenannten Hermeti-ker gerechnet wurden, eine Reaktion auf den pompsen Stil des

    Regimes, und doch war es diesen Dichtern erlaubt, ihren

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    literarischen Protest im Innern dessen zu formulieren, was alsihr Elfenbeinturm angesehen wurde. Die Grundstimmung derHermetiker war das genaue Gegenteil des faschistischen

    Optimismus- und Heroismuskults. Das Regime duldete diesenoffenkundigen, wenn auch gesellschaftlich nicht wahrnehmba-ren Dissens einfach deshalb, weil es einer so dunkel-geheimnisvollen Sprache nicht gengend Beachtung schenkte.

    Das soll nicht heien, da der italienische Faschismus tolerantgewesen wre. Gramsci wurde bis zum Tod eingekerkert,Oppositionsfhrer wie Matteotti und die Brder Rosselli wurdenermordet, die Pressefreiheit wurde abgeschafft, die Gewerk-schaften wurden zerschlagen, politische Dissidenten aufentlegene Inseln verbannt. Die Legislative verkam zu einerbloen Fiktion, und die Exekutive (die die Judikative ebensokontrollierte wie die Massenmedien) erlie aus eigener Macht-vollkommenheit neue Gesetze, darunter auch solche zumSchutz der Rassereinheit (die formale italienische Unterstt-zungsgeste fr das, was spter der Holocaust werden sollte).

    Das widersprchliche Bild, das ich hier beschreibe, war nichtdas Ergebnis von Toleranz, sondern von politischer und ideolo-gischer Verwirrung. Allerdings einer geordneten Verwirrung,einer strukturierten Konfusion. Der Faschismus hing zwarphilosophisch in der Luft, aber emotional war er fest in einigenarchetypischen Fundamenten verankert.

    Damit kommen wir zum zweiten Punkt meiner These. Es gabnur einen Nazismus, und wir knnen Francos hyperkatholischenFalangismus nicht als Nazismus etikettieren, denn der Nazismusist zutiefst heidnisch, polytheistisch und antichristlich, oder erist kein Nazismus. Aber das faschistische Spiel lt sich aufvielerlei Weise spielen, und der Name des Spiels bleibt dergleiche. Tatschlich hnelt der Begriff des Faschismus demBegriff des Spiels bei Wittgenstein. Ein Spiel kann kompetitivoder nicht kompetitiv sein, es kann einen oder mehrere Spieler

    involvieren, es kann eine gewisse Geschicklichkeit erfordern

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    oder nicht, es kann um Geld oder nicht um Geld gehen. Spielesind unterschiedliche Aktivitten, die lediglich eine gewisseFamilienhnlichkeit, wie Wittgenstein es nannte, aufweisen.

    Betrachten wir die folgende Sequenz:

    1 2 3 4

    abc bcd cde def

    Angenommen, es gibt eine Reihe politischer Gruppen, in der dieerste durch die Merkmale abc, charakterisiert ist, die zweitedurch die Merkmale bed und so weiter. Die zweite Gruppehnelt der ersten, insofern sie zwei Merkmale mit ihr gemein-sam hat; aus demselben Grund hnelt die dritte Gruppe derzweiten. Man beachte, da die Gruppe drei auch der erstenhnelt (beide haben das Merkmal rgemeinsam). Den eigenartig-sten Fall stellt die Gruppe vier dar, die offensichtlich denGruppen drei und zwei hnelt, aber kein Merkmal mit der

    Gruppe eins gemeinsam hat. Dennoch bleibt, infolge derununterbrochenen Kette abnehmender hnlichkeit von eins bisvier, durch eine Art illusorischer Transitivitt eine Familienhn-lichkeit zwischen vier und eins bestehen.

    Der Begriff Faschismus konnte deshalb zu einer Sammelbe-zeichnung werden, weil ein faschistisches Regime auch dannnoch als faschistisch erkennbar bleibt, wenn man ein odermehrere Merkmale abzieht. Ziehen wir den Imperialismus vom

    Faschismus ab, haben wir immer noch Franco und Salazar.Ziehen wir den Kolonialismus ab, so haben wir noch denBalkanfaschismus der Ustascha. Fgen wir dem italienischenFaschismus einen radikalen Antikapitalismus hinzu (derMussolini nie sehr interessiert hat), so haben wir Ezra Pound.Fgen wir einen Kult der keltischen Mythologie und dieGralsmystik hinzu (die dem offiziellen italienischen Faschismusvllig fremd waren), so haben wir einen der hchstgeachteten

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    faschistischen Gurus: Julius Evola.

    Trotz dieser Verschwommenheit halte ich es jedoch fr mg-lich, eine Liste von Merkmalen aufzustellen, die typisch fr das

    sind, was ich den immerwhrenden oder Ur-Faschismus nennenmchte. Diese Merkmale lassen sich nicht in ein System ordnen;viele von ihnen widersprechen einander und sind auch charakte-ristisch fr andere Arten von Despotismus oder Fanatismus.Doch es gengt, da eines von ihnen prsent ist, und derFaschismus hat einen Kristallisationspunkt, um den herum ersich bilden kann.

    1. Das erste Merkmal des Ur-Faschismus ist ein Kult derberlieferung. Natrlich ist der Traditionalismus viel lter alsder Faschismus. Er war nicht nur typisch fr das gegenrevolu-tionre katholische Denken nach der Franzsischen Revolution,er war bereits in der spthellenistischen Zeit als Reaktion aufden klassisch-griechischen Rationalismus entstanden.

    Im ganzen Mittelmeerraum begannen damals Vlker mitverschiedenen Religionen (deren Gtter meistens bereitwillig in

    das rmische Pantheon aufgenommen wurden) von einer in derMorgendmmerung der Menschheit empfangenen Offenbarungzu trumen. Diese Offenbarung war der berlieferten Mystikzufolge lange Zeit unter dem Schleier vergessener Sprachenverborgen geblieben sie steckte in den gyptischen Hierogly-phen, den keltischen Runen, den Schriftrollen wenig bekannterasiatischer Religionen. Daher mute die neue Kultur zwangslu-fig synkretistisch sein. Synkretismus ist nicht nur, wie in denWrterbchern zu lesen steht, die Vermischung verschiedenerReligionen, Glaubens- oder Kultformen; diese Vermischungmu auch Widersprche ertragen knnen. Jede der ursprngli-chen Botschaften enthlt einen Splitter der Weisheit, und wennsie Unterschiedliches oder Unvereinbares zu besagen scheinen,liegt es nur daran, da sie allesamt allegorisch auf eine Ur-Wahrheit anspielen.

    Infolgedessen kann es keinen Fortschritt des Wissens geben.

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    Mehrheit finden.

    7. Denen, die jeder gesellschaftlichen Identitt beraubt sind,sagt der Ur-Faschismus, da ihr einziges Privileg das allgemein-

    ste von allen ist, nmlich im selben Lande geboren zu sein. Dasist der Ursprung des Nationalismus. Zudem sind die einzigen,die der Nation eine Identitt geben knnen, ihre Feinde. Daherliegt an der Wurzel der urfaschistischen Psychologie dieObsession einer Verschwrung, nach Mglichkeit einer interna-tionalen. Die Anhnger mssen sich belagert fhlen. Ameinfachsten lt sich eine Verschwrung durch einen Appell andie Fremdenfeindlichkeit hervorzaubern. Allerdings mu dieVerschwrung auch von innen kommen; daher sind die Judengewhnlich das beste Ziel, da sie den Vorteil bieten, gleichzeitiginnen und auen zu sein.

    8. Die Anhnger mssen sich vom offen gezeigten Reichtumund der Strke ihrer Feinde gedemtigt fhlen. Als ich ein Jungewar, lehrte man mich, die Englnder seien das Volk der fnfMahlzeiten, weil sie fter aen als die armen, aber nchternen

    Italiener. Die Juden gelten als reich und helfen einander durchein geheimes Untersttzungsnetz. Die Anhnger mssen jedochauch berzeugt sein, da sie die Feinde besiegen knnen. Sokommt es, da die Feinde durch eine stndige Verlagerung desrhetorischen Brennpunkts gleichzeitig zu stark und zu schwachsind. Die Faschismen sind dazu verurteilt, ihre Kriege zuverlieren, weil sie konstitutionell unfhig sind, die Strke desFeindes richtig einzuschtzen.

    9. Fr den Ur-Faschismus gibt es keinen Kampf ums berle-ben, sondern eher ein Leben fr den Kampf. Daher istPazifismus Kollaboration mit dem Feind. Pazifismus istschlecht, weil das Leben ein permanenter Krieg ist. Das erzeugt

    jedoch einen Armageddon-Komplex. Da die Feinde besiegtwerden mssen und knnen, mu es einen Endkampf geben,nach dem die Bewegung die Weltherrschaft antreten wird. Eine

    solche Endlsung impliziert jedoch eine anschlieende Zeit

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    des Friedens, ein Goldenes Zeitalter, das im Widerspruch zumPrinzip des permanenten Krieges steht. Keinem faschistischenFhrer ist es jemals gelungen, diesen Widerspruch aufzulsen.

    10. Elitedenken ist ein typischer Aspekt jeder reaktionrenIdeologie, insofern es seinem Wesen nach aristokratisch ist, und

    jedes aristokratische und militaristische Elitedenken impliziertdie Verachtung der Schwachen. Der Ur-Faschismus kann nurein vlkisches Elitedenken predigen: Jeder Brger gehrt zumbesten Volk der Welt, die Parteimitglieder sind die bestenBrger, und jeder Brger kann (oder sollte) Parteimitgliedwerden. Doch keine Patrizier ohne Plebejer. Da der Fhrer wei,da er die Macht nicht demokratisch verliehen bekommen,sondern gewaltsam an sich gerissen hat, wei er auch, da seineStrke auf der Schwche der Massen beruht sie sind soschwach, da sie einen Herrscher brauchen und verdienen. Dadie Bewegung hierarchisch organisiert ist (nach militrischemVorbild), verachtet jeder Unterfhrer die eigenen Untergebenen,und jeder von diesen verachtet die unter ihm Stehenden. All dies

    strkt das Gefhl einer Massenelite.11. In dieser Perspektive werden alle zum Heldentum erzogen.

    In jeder Mythologie ist der Held ein Ausnahmewesen, aber inder Ideologie des Ur-Faschismus ist Heroismus die Norm.Dieser Kult des Heroismus ist eng mit dem Kult des Todesverbunden; nicht zufllig war das Motto der Falangisten Vivala muerte!. In nichtfaschistischen Gesellschaften wird denLeuten gesagt, der Tod sei etwas Unangenehmes, dem man

    jedoch mit Wrde begegnen msse; den Glubigen wird gesagt,er sei der schmerzliche Weg zu einem bernatrlichen Glck.Der urfaschistische Held dagegen ersehnt den Heldentod, derihm als die beste Belohnung eines heroischen Lebens gepredigtwird. Der urfaschistische Held wartet mit Ungeduld auf denTod. In seiner Ungeduld gelingt es ihm dann nicht selten, anderein den Tod zu schicken.

    12. Da sowohl permanenter Krieg wie Heldentum schwierige

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    Spiele sind, bertrgt der Ur-Faschist seinen Willen zur Machtauf das sexuelle Gebiet. Dies ist der Ursprung des Machismo(der nicht nur Frauenverachtung bedeutet, sondern auch Ableh-

    nung und Verurteilung aller nicht zum Standard gehrigenSexualgewohnheiten, von der Keuschheit bis zur Homosexuali-tt). Da aber auch Sexualitt ein schwieriges Spiel ist, neigt derurfaschistische Held zum Spiel mit Waffen, die dann seinPhallusersatz werden.

    13. Ur-Faschismus beruht auf einem selektiven oder qualitati-ven Populismus. In Demokratien haben die Brger individuelleRechte, aber politischen Einflu knnen sie nur gemeinsamunter einem quantitativen Gesichtspunkt ausben die Mehrheitentscheidet. Fr den Ur-Faschismus dagegen haben Individuenals Individuen keinerlei Rechte, whrend das Volksganze alseine Qualitt begriffen wird, eine monolithische Entitt, die dengemeinsamen Willen aller zum Ausdruck bringt. Da jedoch einegroe Zahl von Menschen keinen gemeinsamen Willen habenkann, wirft sich der Fhrer zu ihrem Interpreten auf. Nachdem

    sie ihre Delegationsmacht verloren haben, handeln die Brgernicht mehr; sie werden nur noch von Zeit zu Zeit pars pro totozusammengerufen, um die Rolle des Volkes zu spielen. DasVolk ist also nur eine Theaterfiktion. Um ein gutes Beispiel frqualitativen Populismus zu haben, brauchen wir nicht mehr diePiazza Venezia in Rom (wo Mussolini seine Reden ans Volkhielt) oder das Nrnberger Reichsparteitagsgelnde zu bemhen.In unserer Zukunft bietet sich ein TV- oder Internet-Populismus

    an, bei dem die emotionale Antwort einer Gruppe ausgewhlterBrger als Stimme des Volkes prsentiert und akzeptiertwerden kann.

    Aufgrund seines qualitativen Populismus mu sich der Ur-Faschismus gegen die verrotteten parlamentarischen Regimestellen. Einer der ersten Stze, die Mussolini im italienischenParlament sagte, war:

    Ich htte diesen trben grauen Ort in einen Biwak fr meine

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    Manipel verwandeln knnen Manipel waren Unterabteilun-gen der rmischen Legionen. Tatschlich fand Mussolini gleichdarauf bessere Unterknfte fr seine Manipel, aber das Parla-

    ment lste er dann trotzdem auf. Wann immer ein Politiker dieLegitimitt des Parlaments in Zweifel zieht, weil es nicht mehrdie Stimme des Volkes reprsentiere, riecht es nach Ur-Faschismus.

    14. Der Ur-Faschismus spricht Newspeak. Orwell hatteNewspeak in 1984 als offizielle Sprache des Ingsoc oderEnglischen Sozialismus erfunden, aber Elemente des Ur-Faschismus sind verschiedenen Formen von Diktatur gemein-sam. Alle nazistischen oder faschistischen Schulbcherbedienten sich eines verarmten Vokabulars und einer versimpel-ten Syntax, um die Mittel zu komplexem und kritischem Denkenzu begrenzen. Aber wir mssen uns bereit halten, auch andereFormen von Newspeak zu identifizieren, selbst wenn sie dieunschuldige Form einer populren Talkshow annehmen.

    Nachdem ich die mglichen Archetypen des Ur-Faschismus

    skizziert habe, sei es mir erlaubt, noch einmal auf meineKindheit zurckzukommen. Am Morgen des 27. Juli 1943hrten wir im Radio, da der Faschismus zusammengebrochenund Mussolini verhaftet worden sei. Meine Mutter schickte michzum Zeitungholen. Ich ging zum nchsten Kiosk und sah, dadie Zeitungen andere Namen hatten. Mehr noch, nach einemkurzen Blick auf die Schlagzeilen machte ich mir bewut, da

    jede Zeitung etwas anderes sagte. Ich kaufte aufs Geratewohleine und las auf der ersten Seite eine Erklrung, die von fnfoder sechs politischen Parteien unterzeichnet war, die Namenwie Democrazia Cristiana, Partito Comunista, Partito Socialista,Partito dAzione und Partito Liberale trugen. Bis zu jenemMoment hatte ich geglaubt, da es in jedem Land nur eine Parteigab und in Italien eben diejenige namens Partito NazionaleFascista. Ich entdeckte, da es in meinem Land mehrere

    verschiedene Parteien gleichzeitig geben konnte. Und da ich ein

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    heller Junge war, sagte ich mir sofort, da diese Parteienunmglich ber Nacht entstanden sein konnten. Ich begriff, dasie bereits als Untergrundorganisationen existiert hatten.

    Die Erklrung auf der Titelseite feierte das Ende der Diktaturund die Rckkehr der Freiheit: Freiheit der Rede, der Presse, derpolitischen Vereinigung. Diese Worte, Freiheit, Diktatur mein Gott! , es war das erste Mal in meinem Leben, da ich sielas. Durch die Kraft dieser Worte wurde ich neu geboren alsfreier westlicher Mensch.

    Wir mssen wachsam bleiben, damit der Sinn dieser Worte

    nicht wieder in Vergessenheit gert. Der Ur-Faschismus istimmer noch um uns, manchmal in gutbrgerlich-ziviler Klei-dung. Es wre so bequem fr uns, wenn jemand auf die Bhneder Welt trte und erklrte: Ich will ein zweites Auschwitz, ichwill, da die Schwarzhemden wieder ber Italiens Pltzemarschieren! Das Leben ist nicht so einfach. Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewndern daherkom-men. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger

    auf jede seiner neuen Formen zu zeigen jeden Tag, berall inder Welt. Die Worte Franklin D. Roosevelts am 4. November1938 sind es wert, in Erinnerung gerufen zu werden: Ich wagezu behaupten: wenn die amerikanische Demokratie aufhrt, alslebendige Kraft voranzuschreiten, um Tag und Nacht mitfriedlichen Mitteln das Los unserer Brger zu verbessern, wirdder Faschismus in unserem Lande an Kraft gewinnen.

    Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe.Unser Motto mu heien: Nicht vergessen.

    Lassen Sie mich mit einem Gedicht von Franco Fortini schlie-en:

    Sulla spalletta del ponte

    Le teste degli impiccati

    Nellacqua della fonte

    La bava degli impiccati.

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    Sul lastrico del mercato

    Le unghie dei fucilati

    Sullerba secca del prato

    I denti dei fucilati.

    Mordere laria mordere i sassi

    La nostra carne non pi duomini

    Mordere laria mordere i sassi

    Il nostro cuore non pi duomini.

    Ma noi s letto negli occhi dei morti

    E sulla terra faremo libert

    Ma lhanno stretta i pugni dei morti

    La giustizia che si far.

    [Zu deutsch ungefhr:

    Auf dem Gelnder der Brcke

    Die Kpfe der Gehenkten

    Im Wasser des Brunnens

    Der Speichel der Gehenkten.

    Auf dem Pflaster des Marktes

    Die Ngel der Erschossenen

    Im drren Gras der Brache

    Die Zhne der Erschossenen.

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    Zu beien die Luft zu beien die Steine

    Unser Fleisch ist nicht mehr von Menschen

    Zu beien die Luft zu beien die Steine

    Unser Herz ist nicht mehr von Menschen.

    Doch wir lasen in den Augen der Toten

    Und werden Freiheit auf Erden schaffen

    Umklammert halten die Fuste der Toten

    Die Gerechtigkeit, die wir schaffen werden.]

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    Wenn der andere ins Spiel kommt

    Lieber Carlo Maria Martini, Ihr Brief zieht mich aus einergroen Verlegenheit, um mich in eine ebenso groe andere zustrzen. Bisher war ich derjenige (nicht aufgrund eigenerEntscheidung), der das Gesprch erffnen mute, und wer zuerstspricht, stellt unweigerlich Fragen in der Erwartung, da derandere antwortet. Daher meine Verlegenheit, wenn ich michinquisitorisch reden hrte. Und sehr bewundert habe ich die

    Entschiedenheit und die Demut, mit der Sie dreimal die Legendewiderlegt haben, derzufolge Jesuiten auf jede Frage mit eineranderen Frage antworten.

    Nun aber macht es mich verlegen, meinerseits auf Ihre Fragezu antworten, denn meine Antwort wre nur von Bedeutung,wenn ich eine areligise Erziehung genossen htte. Ich war

    jedoch bis zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr (um den

    Moment eines Bruchs zu benennen) sehr stark vom Katholizis-mus geprgt. Die agnostische Perspektive ist fr mich keinpassiv aufgenommenes Erbe, sondern das leidvoll erkmpfteErgebnis einer langen und langsamen inneren Wandlung, undich bin mir nie sicher, ob nicht manche meiner moralischenberzeugungen immer noch von der religisen Prgungabhngen, die ich ursprnglich erfahren hatte. In bereits vorge-schrittenem Alter habe ich einmal mitangesehen (in einer

    katholischen Universitt auerhalb Italiens, die auch nichtkatho-lische Professoren einstellt, von denen sie lediglich formaleRespektsbekundungen bei akademisch-religisen Feiernverlangt), wie einige meiner Kollegen zum heiligen Abendmahlgingen, ohne an die Transsubstantiation zu glauben und daherauch ohne vorherige Beichte. Schaudernd versprte ich, nach allden Jahren, noch immer den Schrecken des Sakrilegs.

    Dennoch glaube ich sagen zu knnen, auf welchen Fundamen-

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    ten heute meine weltliche Religiositt beruht denn ich binfest berzeugt, da es Formen von Religiositt gibt, also Sinnfr das Heilige, fr die Grenze, fr die Infragestellung und die

    Erwartung, fr die Kommunion mit etwas, das uns bertrifft,auch wenn wir nicht an einen persnlichen und vorsorgendenGott glauben. Aber das wissen auch Sie, wie ich aus Ihrem Briefentnehme. Ihre Frage ist, was es in diesen weltlichen Formenvon Ethik an Bindendem, Mitreiendem, Unverzichtbarem gibt.

    Ich mchte mich der Frage auf einem Umweg nhern. MancheProbleme sind mir klarer geworden, indem ich ber semantischeProbleme nachdachte und seien Sie unbesorgt, wenn jemanduns vorhlt, wir drckten uns hier ein bichen schwierig aus. Esknnte sein, da er durch die per definitionem voraussehbare massenmediale Enthllung dazu ermuntert worden ist, einbichen zu einfach zu denken. Die Leute sollen lernen, schwie-rige Dinge zu denken, denn weder das Mysterium noch dieEvidenz sind einfach.

    Mein Problem war, ob es semantische Universalien gibt, das

    heit elementare Begriffe, die der ganzen menschlichen Gattunggemeinsam sind und in allen Sprachen ausgedrckt werdenknnen. Das ist durchaus keine Selbstverstndlichkeit, wei mandoch, da viele Kulturen eine Reihe von begrifflichen Vorstel-lungen, die fr uns evident sind, gar nicht kennen; zum Beispieldie Vorstellung, da zu einer Substanz bestimmte Eigenschaftengehren (wie wenn wir sagen: Der Apfel ist rot ) oder die derIdentitt (a = a). Dennoch bin ich zu der berzeugung gelangt,da es begriffliche Vorstellungen gibt, die allen Kulturengemeinsam sind, und da sie sich alle auf die Positionen unseresKrpers im Raum beziehen.

    Wir sind Tiere, die aufrecht gehen, weshalb es fr uns anstren-gend ist, lngere Zeit mit dem Kopf nach unten zu verharren;darum haben wir eine gemeinsame Vorstellung von dem, wasoben und was unten ist, wobei wir das erste dem zweiten

    vorziehen. Desgleichen haben wir eine gemeinsame Vorstellung

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    von einer rechten und einer linken Seite, vom Stehen und vomLiegen, vom Stillstehen und vom Gehen, vom Schleichen undvom Springen, vom Wachsein und vom Schlafen. Da wir

    Gliedmaen haben, wissen wir alle, was es heit, auf etwasHartes zu schlagen, in etwas Weiches oder Flssiges einzudrin-gen, zu kneten, zu trommeln, zu stampfen, Futritte zuversetzen, vielleicht auch zu tanzen. Die Aufzhlung knntenoch lange fortgesetzt werden und das Sehen, das Hren, dasEssen und Trinken, das Hinunterschlucken und das Ausspuckeneinbeziehen. Und gewi hat jeder Mensch Vorstellungen berdas, was wahrnehmen, erinnern, wnschen, Angst haben, traurig

    oder erleichtert sein, Vergngen oder Schmerz empfinden heit;und was es heit, Laute hervorzubringen, die diese Gefhleausdrcken. Darum haben wir (und hier gelangen wir schon indie Sphre des Rechts) universale Begriffsvorstellungen berden Zwang: Wir wnschen nicht, da jemand uns hindert zureden, zu sehen, zu hren, zu schlafen, zu schlucken oderauszuspucken, uns frei zu bewegen, wohin wir wollen. Wir

    leiden, wenn jemand uns fesselt oder einsperrt, uns schlgt,verwundet oder ttet, uns krperlichen Foltern unterzieht oderpsychischen, die unser Denkvermgen beeintrchtigen odervernichten.

    Beachten Sie, da ich bisher nur eine Art tierischen und solit-ren Adam eingefhrt habe, der noch nicht wei, was sexuelleBeziehung, Freude am Gesprch, Liebe zu Kindern oderSchmerz ber den Verlust einer geliebten Person ist; aber schon

    in dieser Phase ist diese Semantik, zumindest fr uns (wennnicht fr ihn oder sie), die Grundlage einer Ethik geworden: Wirmssen in erster Linie die Rechte der Krperlichkeit andererrespektieren, zu denen auch das Recht zu reden und zu denkengehrt. Htten unsere Artgenossen diese Rechte des Krpersrespektiert, htte es keinen Kindermord zu Bethlehem, keine imZirkus den Lwen vorgeworfenen Christen, keine Bartholo-musnacht, keine Ketzerverbrennungen, keine Vernichtungs-

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    lager, keine Kinder in Bergwerken und keine Vergewaltigungenin Bosnien gegeben.

    Aber wie lernt das noch ganz aus Staunen und Wildheit beste-

    hende Adam-(oder Eva-)Tier, das ich hier eingefhrt habe, auchwenn es sein instinktives Repertoire von universalen Begriffs-vorstellungen sofort entwickelt hat wodurch lernt es nicht nurzu begreifen, da es bestimmte Dinge will und von anderennicht mchte, da sie ihm angetan werden, sondern auch, da esden anderen nicht antun darf, was es sich selbst nicht angetanhaben mchte? Dadurch, da sich der Garten Eden zum Glckrasch bevlkert. Die ethische Dimension beginnt, wenn derandere ins Spiel kommt. Jedes Gesetz, ob moralischer oder

    juridischer Art, regelt interpersonelle Beziehungen einschlie-lich derjenigen zu einem Groen Anderen, der es auferlegt.

    Auch Sie schreiben ja dem tugendhaften Nichtglubigen dieberzeugung zu, da wir den anderen in uns haben. Aber beidieser berzeugung handelt es sich nicht um eine vage senti-mentale Neigung, sondern um eine im Wortsinn grundlegende

    Bedingung. Wie uns auch die weltlichsten unter den Humanwis-senschaften lehren, ist es der andere, der Blick des anderen, deruns definiert und formt. Ohne den Blick und die Antwort desanderen knnen wir nicht begreifen, wer wir sind (so wie wirnicht leben knnen, ohne zu essen und zu schlafen). Selbst werandere ttet, vergewaltigt, beraubt, verletzt, tut das nur inMomenten der Ausnahme, und den Rest seines Lebens verbringter damit, von seinesgleichen Anerkennung, Liebe, Achtung undLob zu erbetteln. Sogar von denen, die er demtigt, verlangt erdie Anerkennung der Angst und der Unterwerfung. Ohne denanerkennenden Blick eines anderen kann das Neugeborene, dasim Wald ausgesetzt wird, nicht zu einem Menschen werden(oder es sucht den anderen, wie Tarzan, im Gesicht eines Affen),und wir wrden sterben oder verrckt werden, wenn wir in einerGemeinschaft leben mten, in der ausnahmslos alle beschlos-

    sen htten, uns nie anzusehen und sich so zu benehmen, als ob

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    wir nicht existierten.

    Wieso gibt oder gab es dann aber Kulturen, die das Massaker,den Kannibalismus, die Erniedrigung des Krpers anderer

    billigen? Einfach weil diese Kulturen den Begriff der zurespektierenden anderen auf die Angehrigen des eigenenStammes oder Volkes reduzieren und die nicht dazugehrendenBarbaren als nichtmenschliche Wesen betrachten (aber auchdie Kreuzfahrer empfanden ja die Unglubigen nicht alsNchste, die man besonders lieben mute). Die Anerkennungder Rolle der anderen, die Notwendigkeit, bei den anderen jeneAnsprche zu respektieren, die wir als unverzichtbar fr unsselbst erachten, ist das Ergebnis eines jahrtausendelangenLernprozesses.

    Auch das christliche Liebesgebot wurde erst ausgesprochen(und nur hchst widerstrebend angenommen), als die Zeit dafrreif war.

    Sie werden mich fragen, ob dieses Bewutsein von der Bedeu-tung des anderen gengt, um mir eine absolute Basis, eine

    unverrckbare Grundlage fr ein ethisches Verhalten zu geben.Ich knnte Ihnen darauf antworten, da auch jene Grundlagen,die Sie als absolut definieren, viele Glubige nicht daranhindern, zu sndigen im Wissen, da sie sndigen, und damitwre unser Gesprch zu Ende. Die Versuchung des Bsen istauch in denen gegenwrtig, die einen transzendentalen Begriffdes Guten haben. Aber ich mchte Ihnen zwei Anekdotenerzhlen, die mir sehr zu denken gegeben haben.

    Die erste betrifft einen Schriftsteller, der sich katholisch nennt,wenn auch sui generis, und dessen Namen ich nur deshalb nichtnenne, weil er mir das, was ich zitieren werde, in einem privatenGesprch gesagt hat, und ich bin kein Denunziant. Es war zurZeit von Johannes XXIII., und whrend mein alter Freundenthusiastisch von seinen Tugenden sprach, sagte er (in offen-sichtlich paradoxaler Absicht): Papst Johannes mu atheistisch

    sein. Nur wer nicht an Gott glaubt, kann seinesgleichen so

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    andere, sich von der Pest anstecken zu lassen, um die Pestkran-ken zu heilen. Manchmal ist es auch das einzige, was einenPhilosophen zum Philosophieren treibt oder einen Schriftsteller

    zum Schreiben: eine Flaschenpost zu hinterlassen, damit das,woran man geglaubt hat oder was man schn fand, auch von denNachgeborenen geglaubt oder schn gefunden werden kann.

    Ist dieses Gefhl nun wirklich so stark, da es eine ebensoklare, ebenso unbeugsame und festverwurzelte Ethik begrndenkann wie die derer, die an die geoffenbarte Moral, an dasWeiterleben der Seele, an Belohnung und Bue glauben? Ichhabe versucht, die Prinzipien einer weltlichen Ethik auf dasnatrliche Faktum unserer Krperlichkeit zu grnden (das ja alsnatrliches Faktum auch fr Sie Ergebnis eines gttlichenPlanes ist) und auf den Gedanken, da wir instinktiv wissen, dawir nur durch die Gegenwart anderer eine Seele haben (oderetwas, das an ihrer Stelle steht). Woraus hervorgeht, da das,was ich eine weltliche Ethik genannt habe, im Grunde einenatrliche Ethik ist, die auch der Glubige nicht verkennen

    kann. Ist der natrliche Instinkt, zur richtigen Reifung undBewutheit seiner selbst gebracht, nicht ein Fundament, dasgengend Garantien gibt? Gewi knnen wir denken, da ernicht genug Ansporn zu tugendhaftem Leben ist dennschlielich, kann der Nichtglubige sagen, wird ja keiner dasBse erfahren, das ich im verborgenen tue. Aber bedenken Siewohl: Wer nicht glubig ist, glaubt nicht, da ihn jemand vomHimmel herab beobachtet, und folglich wei er auch, da es

    eben deshalb niemanden gibt, der ihm vergeben kann. Wenner wei, da er Bses getan hat, wird seine Einsamkeit grenzen-los und sein Tod verzweifelt sein. Also wird er lieber, mehr alsder Glubige, die Luterung durch die ffentliche Bue suchen,er wird die Vergebung der anderen erbitten. Das wei er imInnersten seines Wesens, und folglich wei er auch, da er denanderen im voraus vergeben mu. Wie liee sich sonst erklren,da auch die Nichtglubigen Gewissensbisse verspren?

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    Ich mchte nicht, da der Eindruck entsteht, es gbe einenschroffen Gegensatz zwischen denen, die an einen transzenden-ten Gott glauben und denen, die an kein berindividuelles

    Prinzip glauben. Ich mchte daran erinnern, da gerade dieEthik das Thema jenes groen Buches von Spinoza ist, das miteiner Definition Gottes als Ursache seiner selbst beginnt. Nur istdiese Gottheit Spinozas, wie wir sehr wohl wissen, wedertranszendent noch persnlich. Dennoch kann auch aus derVision einer groen und einzigen kosmischen Substanz, in derwir alle eines Tages aufgehen werden, eine Vision der Toleranzund der Gte hervorgehen, gerade weil wir alle am Gleichge-

    wicht und an der Harmonie dieser einzigen Substanz interessiertsind. Und das sind wir, weil wir es in gewisser Weise frunmglich halten, da diese Substanz nicht auch durch das, waswir in den Jahrtausenden angestellt haben, irgendwie angerei-chert oder verunreinigt wird. So da ich zu behaupten wage(nicht als metaphysische Hypothese, nur als zaghafte Konzessi-on an die Hoffnung, die uns nie verlt), da man auch in dieser

    Perspektive das Problem eines irgendwie gearteten Lebens nachdem Tod wieder aufwerfen knnte. Heutzutage legt uns daselektronische Universum nahe, da es Sequenzen von Botschaf-ten geben kann, die sich von einem physischen Trger zumanderen bertragen lassen, ohne dabei ihre unwiederholbarenEigenschaften zu verlieren, und die sogar in dem Augenblick, indem sie den einen Trger verlassen und sich noch nicht auf demanderen festgesetzt haben, als rein immaterielle Algorithmen

    weiterzuleben scheinen. Und wer wei, ob der Tod, anstattImplosion zu sein, nicht Explosion und neue Ausdrucksform,irgendwo zwischen den Wirbeln des Universums, jener Softwareist (andere nennen sie Seele), die wir durch die Art unsererLebensfhrung entwickelt haben, weshalb sie auch aus persnli-chen Erinnerungen und Gewissensbissen besteht und folglichaus unheilbarem Leiden, oder aus dem Gefhl der Befriedigungber vollbrachte Pflicht, und aus Liebe.

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    Aber Sie sagen, ohne das Wort und Beispiel Christi fehle es jeder weltlichen Ethik an einer grundlegenden Rechtfertigung,die eine unausweichliche berzeugungskraft htte. Warum dem

    Nichtglubigen das Recht entziehen, sich das Beispiel desvergebenden Christus zu Herzen zu nehmen? Versuchen Sieeinmal, Carlo Maria Martini, zum Wohle der Diskussion und derGegenberstellung, an die Sie glauben, wenigstens fr einenAugenblick die Hypothese zu akzeptieren, da es Gott nichtgebe. Da der Mensch durch einen Irrtum des tppischen Zufallsauf der Erde erschienen sei, nicht nur seiner Sterblichkeitausgeliefert, sondern auch dazu verurteilt, ein Bewutsein zu

    haben, mithin als das unvollkommenste aller Wesen (gestattenSie mir den Leopardianischen Ton dieser Hypothese). DieserMensch wrde nun, um den Mut zu finden, auf den Tod zuwarten, notgedrungen ein religises Wesen werden, er wrdesich bemhen, Erzhlungen zu ersinnen, die ihm eine Erklrungund ein Modell liefern knnten, ein exemplarisches Bild. Undunter den vielen, die er sich ausdenken knnte manche

    strahlend, manche erschreckend, manche pathetisch trstlich ,htte er in einem bestimmten Moment, wenn er zur Erfllungder Zeit gelangt ist, die religise, moralische und poetischeKraft, das Modell des Christus zu konzipieren, das Modell deruniversalen Liebe, der Vergebung fr die Feinde und des zurRettung der anderen geopferten Lebens. Wenn ich ein Reisenderaus einer fernen. Galaxie wre und vor einer Spezies stnde, diesich dieses Modell zu geben gewut hat, wrde ich berwltigt

    ihre enorme theogone Energie bewundern und wrde diese jmmerliche und niedertrchtige Spezies, die so viele Greuelbegangen hat, allein dadurch als erlst betrachten, da sie esgeschafft hat, sich zu wnschen und zu glauben, dies alles seiWahrheit.

    Geben Sie die Hypothese jetzt ruhig auf und berlassen Sie sieanderen, aber geben Sie zu: Selbst wenn Christus nur das Sujeteiner groen Erzhlung wre die Tatsache, da diese Erzh-

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    lung von ungefiederten Zweibeinern, die nur wissen, da sienichts wissen, erdacht und gewollt werden konnte, wre ebensowunderbar (wunderbar geheimnisvoll), wie da der Sohn eines

    wirklichen Gottes wahrhaftig Mensch geworden sein soll.Dieses natrliche und irdische Mysterium wrde nicht aufhren,die Herzen der Nichtglubigen zu verwirren und zu veredeln.

    Deswegen bin ich der Meinung, da eine natrliche Ethik respektiert man die tiefe Religiositt, die sie beseelt sich inihren zentralen Punkten mit den Prinzipien einer auf denGlauben an die Transzendenz begrndeten Ethik treffen kann,zumal diese ja zugeben mu, da die natrlichen Prinzipienaufgrund eines Heilsprogramms in unsere Herzen gemeieltsind. Wenn dann, wie es sicher der Fall ist, Randzonen bleiben,die nicht deckungsgleich sind, ist das nichts anderes, als was beider Begegnung zwischen verschiedenen Religionen geschieht.Und bei Glaubenskonflikten mssen Caritas und Prudentiaberwiegen.

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    Die Migrationen,die Toleranz und das Untolerierbare

    1. Die Migrationen des Dritten Jahrtausends

    Das Jahr 2000 rckt nher. Ich werde hier nicht diskutieren, obdas neue Jahrtausend nun in der Nacht des 31. Dezembers 1999

    beginnt oder erst in der Nacht des 31. Dezembers 2000, wie esMathematik und Chronologie nahelegen wrden. Auf demGebiet der Symbolik sind Mathematik und Chronologie eineFrage der Meinung, und gewi ist 2000 eine magische Zahl,deren Zauber man sich nicht leicht entziehen kann, nachdem soviele Romane des vergangenen Jahrhunderts die Wunder desJahres 2000 angekndigt haben.

    Andererseits haben wir gelernt, da auch unter chronologi-schem Blickwinkel die Computer mit