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Ist dies wirklich die Nordsee? Verbirgt jenes Meer, das oftmals rau und trüb erscheint, tatsächlich Kreaturen wie diese? Mit feinsten Härchen, Antennen und Tentakeln. Mit ebenso intensiv wie nuanciert gefärbten Panzern, Häuten und Geweben. Fotograf Ingo Arndt bezeugt es mit seinen Porträts typischer Bewohner des Mare Germanicum zum GEO-Tag der Artenvielfalt EIN MEER VOLLER SENSATIONEN 1) Filigran konstruiert und nur vier Zentimeter groß: der Eu- ropäische Hummer. 2) Die Seezunge könnte sogar dann noch mit beiden Augen sehen, wenn sie im Sand vergraben wäre. 3) Wie ein gezacktes Horn sitzt der langgestreckte Fortsatz, das Rostrum, am Kopf der Großen Felsengarnele. 4) Der Langfä- dige Röhrentang hat fein verzweigte Ästchen. 5) Acht rippen- förmige Strukturen bilden das Gerüst der Seestachelbeere. 6) An den Kanten seiner Arme trägt der Nordische Kammstern spitze Stacheln. 7) Durch wellenförmiges Schlagen seiner Seitenflossen schwebt der Gemeine Tintenfisch durchs Was- ser. Zusätzlichen Auftrieb gibt ihm seine mit Luft gefüllte weiße Innenschale, der Schulp. 8) Die Iris im Auge des Seehasen zeigt, wie zutreffend ihr deutscher Name Regenbogenhaut ist 2 3 5 4 6 8 7 1 40 GEO 09|2006

Ein mEEr vollEr sEnsationEn · 2018. 4. 3. · 6) An den Kanten seiner Arme trägt der Nordische Kammstern spitze Stacheln. 7) Durch wellenförmiges Schlagen seiner Seitenflossen

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  • Ist dies wirklich die Nordsee? Verbirgt jenes Meer, das oftmals rau und trüb erscheint, tatsächlich Kreaturen wie diese? Mit feinsten Härchen, Antennen und Tentakeln. Mit ebenso intensiv wie nuanciert gefärbten Panzern, Häuten und Geweben. Fotograf Ingo Arndt bezeugt es mit seinen Porträts typischer Bewohner des Mare Germanicum zum GEO-Tag der Artenvielfalt

    Ein mEEr vollEr sEnsationEn 1) Filigran konstruiert und nur vier Zentimeter groß: der Eu-ropäische Hummer. 2) Die Seezunge könnte sogar dann noch

    mit beiden Augen sehen, wenn sie im Sand vergraben wäre. 3) Wie ein gezacktes Horn sitzt der langgestreckte Fortsatz, das Rostrum, am Kopf der Großen Felsengarnele. 4) Der Langfä-dige Röhrentang hat fein verzweigte Ästchen. 5) Acht rippen-förmige Strukturen bilden das Gerüst der Seestachelbeere. 6) An den Kanten seiner Arme trägt der Nordische Kammstern spitze Stacheln. 7) Durch wellenförmiges Schlagen seiner Seitenflossen schwebt der Gemeine Tintenfisch durchs Was-ser. Zusätzlichen Auftrieb gibt ihm seine mit Luft gefüllte weiße Innenschale, der Schulp. 8) Die Iris im Auge des Seehasen zeigt, wie zutreffend ihr deutscher Name Regenbogenhaut ist

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    1) Der Essbare Seeigel ernährt sich unter anderem von Tangblättern, die er auch als Tarnung nutzt. Die oben in der Spitze des Tieres sitzenden Geschlechtsorgane gelten als kulinarische Spezialität. 2) Wie hauchzartes Seidenpapier schimmern die bis zu 20 Zentimeter langen Blätter des Blutroten Meerampfers. Sie sterben in der kalten Jahreszeit ab. Nur die Mittelrippe überwintert. 3) Typisch für den Butterfisch sind die etwa zehn dunklen Punkte entlang seiner Rückenflosse

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  • 1) Der Seebull tarnt sich üblicherweise zwischen Algen. 2) Un- zählige Stacheln schützen den Gewöhnlichen Sonnenstern vor Fressfeinden. 3) Dicht verpackt in ihrem kugelförmigen Ge-häuse, lässt sich die Essbare Strandschnecke bei Ebbe regel-mäßig trockenfallen. 4 a–c) Sobald die Dickhornige Seerose etwa einen kleinen Fisch gefangen hat, befördert sie diesen mithilfe der Tentakel in ihre Mundhöhle. Dann fährt sie die bis zu 150 Fangarme erneut aus und wartet auf das nächste Opfer

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  • 1) In ihren fingerartigen Anhängen speichert die Breitwarzige Fadenschnecke Nesselzellen ihrer Beutetiere und nutzt die darin enthaltenen Gifte als Waffe. 2) Der Taschenkrebs hat kräftige Scheren, die nicht nur gut Muscheln knacken, son- dern auch als »Knieper« auf der Speisekarte stehen. 3) Mit einer röhrenförmigen Schnauze saugt die Kleine Seenadel ihre Beute ein. 4) Der Langfädige Röhrentang wird bis zu 30 Zentimeter hoch und wächst auf Steinen und Muschelschalen

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  • 1) Beim Seehasen ist die Bauchflosse zu einer kräftigen Haftscheibe umfunktioniert, mit deren Hilfe sich der Fisch am Untergrund festsaugen kann. 2) Die Meerassel Idotea passt ihre Körperfarbe den von ihr besiedelten Algen an. 3) Äußerst beweglich, aber ebenso fragil sind die fünf Arme des Zerbrechlichen Schlangensterns. 4) Zwischen den grün-lich-violetten Stacheln des Strand-Seeigels lugen seine mit Saugnäpfen versehenen Füßchen hervor

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  • 1) Der Einsiedlerkrebs hat sich das Haus einer Wellhornschnecke übergestülpt. Droht Gefahr, verschließt er die Öffnung mit seiner großen Schere. 2) Die Gemeine Wellhornschnecke dagegen verteidigt sich, indem sie ihr Gehäuse blitzschnell dreht. Sie hat einen ausfahrbaren Rüssel, mit dem sie selbst schwer erreichbare Beute fressen kann. 3) Die Seezunge gehört zu den rechtsäugigen Plattfischen. In dieser Familie ist die Augen tragende Seite immer farbig; die »blinde« Rückseite weiß

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  • HELGOLAND. 1) Im Felswatt gedeihen etwa 400 verschiedene Algenarten, darunter der Blasentang. 2) Brutzeit bei den Baßtöl-peln an den steilen Buntsandstein-Klippen. 3) Laetitia Adler (Universität Hamburg) be-stimmt Nesseltiere. 4) Expertinnen der Bio-logischen Anstalt Helgoland suchen nach Schnecken, Seescheiden und Schwämmen

    dIE AKtIoNSortE des achten GEO-Tags der Artenvielfalt: Bremerhaven, Dorum-Neufeld, Helgoland und List auf Sylt

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    auf unbestimmtem kurs Felswatt, Sandwatt, offenes Meer. Wo immer die Experten am GEO-Tag der Arten-vielfalt unterwegs waren, kehrten sie mit der gleichen Botschaft zurück: In der Nord-see, schon von Natur aus ein Lebensraum im Wandel, verändert sich das Artengefüge immer schneller. Noch ist völlig unabsehbar, wohin das System sich entwickelt

    Von Christine Heidemann (TExT) und Solvin Zankl, Heiner Müller-Elsner und Florian Möllers (FOTOS)

    Fischen beizubringen. Durch dieses als Lummen-sprung bekannte Phänomen ersparen sich die erwach- senen Vögel den Nahrungstransport hoch hinauf auf den Fels, der sie wertvolle Energie kosten würde.

    Einer, der dies beobachtet, ist Heinz-Dieter Franke. Er kennt jeden Quadratmeter auf Deutsch-lands einziger Hochseeinsel. Seit 20 Jahren forscht der Meeresökologe hier. Stapft mit Helm durchs Felswatt. Steht im Ölzeug an Deck eines Forschungs-schiffs. Und wenn es Not tut, unterstützt der Profes-sor seine Kollegen und spielt Kindergärtner für 1200 winzige Hummer. Die vollenden in einem Labor voller Minibecken ihr erstes Lebensjahr, bevor die Forscher sie für den Wiederfang markieren und in die Nordsee entlassen. Zu erwarten wäre eigentlich, dass die Minikrebse in den Höhlungen der Bunt-sandsteinfelsen eine Heimat finden. Doch scheinen sie sich merkwürdig schwer damit zu tun.

    Was um den Lummenfelsen von Helgoland herum geschieht, steht für Franke und seine Kolle-gen für den Wandel des Ökosystems Nordsee. Bei-spiel Hummer: Über Jahrhunderte war der bis zu 40 Zentimeter lange Edelkrebs eine wichtige Einnah-mequelle der Insel. Dann, an der Wende zu den 1960er Jahren, brach die Population aus bislang un-erklärlichen Gründen zusammen. Sie hat sich – trotz umfangreicher Schutzmaßnahmen – nie wieder ganz erholt. Seit fünf Jahren hilft die Wissenschaft nun, den Bestand wieder aufzustocken. Die Zucht-anlage der Biologischen Anstalt Helgoland gehört zum Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeres-

    tag und Nacht wehen die Schreie der Vögel von dem roten Sandsteinkliff herüber, das 60 Meter hoch aus der rauen Nordsee ragt. Der Lummenfelsen auf Helgoland ist das kleinste Naturschutzgebiet Deutschlands und von März bis August ausgebucht. Auf

    jedem freien Felsüberhang hocken dann, zur Brut-zeit, Federkleid an Federkleid die Besucher: neben Dreizehenmöwen vor allem Tordalke, Eissturmvögel, Baßtölpel. Und jene Trottellummen, denen der Vogel-felsen seinen Namen und seine Berühmtheit ver-dankt. Die kleinen, noch flugunfähigen Lummen stür-zen sich jedes Jahr todesmutig vom Fels zum Meer hinab, wo ihre Eltern auf sie warten, um ihnen das

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  • »In der nordsee überwIntern Immer mehr eInwanderer aus medIterranen gefIlden«

    Mit Meeresströmungen gelangen Fischarten aus dem Atlantik über den Englischen Kanal oder entlang der Shetland-Inseln in die Nordsee

    Anne Sell, FiSchereibiologin

    forschung (AWI). „Wir überbrücken hier das Lar-venstadium, das die weitaus meisten Hummer im offenen Meer nicht überleben“, erklärt Franke.

    Und der Hummerschwund ist nur eines von vielen Rätseln, die das Ökosystem Nordsee den Wis-senschaftlern noch immer aufgibt. Das an sieben Staaten grenzende, rund 570 000 Quadratkilometer große Schelfmeer ist ein Kosmos für sich. Auf den ersten Blick eine gleichförmige und öde Wasser- und Wattwüste. Auf den zweiten und dritten Blick ein pulsierender Lebensraum, der sich mit seinen von Ebbe und Flut geprägten Gezeitenzonen jeden Tag aufs Neue wandelt. Seine Bewohner haben sich die-sem Rhythmus angepasst und sind von eigentüm-licher Schönheit: bizarre Gestalten mit gefährlichen Stiletten, dicken Schnorcheln und schleimigen Las-sos, die der Fantasie eines Science-Fiction-Autors ent-sprungen sein könnten. Einsiedlerkrebse, die sich leere Schneckengehäuse wie Rüstungen überstül-pen. Grüne Seeringelwürmer, deren Männchen bei der Fortpflanzung wilde Tänze aufführen. Millionen von Vögeln, die hier vielfältige Nahrung finden.

    Dass die Nordsee zugleich ein boomender Wirtschaftsraum ist, auf den Fischer, Reeder und Touristen Ansprüche anmelden, macht sie zu einem Testfall für den Erhalt der Biodiversität. Und dies wiederum war Grund für GEO, die Hauptaktion des achten GEO-Tags der Artenvielfalt an der Nordsee zu veranstalten – in Kooperation mit dem Alfred-We-

    gener-Institut in Bremerhaven und den ihm zuge-hörigen Forschungseinrichtungen auf Helgoland und Sylt. An allen drei Orten kartierten AWI-Wis-senschaftler, Mitarbeiter des Nationalparks Nieder-sächsisches Wattenmeer und der Vogelwarte Helgo-land sowie weitere Experten genau einen Tag lang Flora und Fauna auf, über und unter Wasser. 80 kun-dige Augenpaare, bemüht, in kürzester Zeit ein Ma-ximum an Arten zu entdecken.

    SamStag, 10. Juni 2006, gEO-tag. Statt in den Zuchtbecken des Ökolabors reale Umweltbedin-gungen wie Mondlicht-Zyklen und andere Parame-ter zu simulieren, ist Heinz-Dieter Franke heute vor allem im Felswatt zu finden. Hier sammeln er und sein Team das „Hartsubstrat“ ab. Algen, Schwämme, Würmer, Seescheiden, Schnecken, Muscheln und Kleinkrebse landen in den Eimern.

    Derweil bietet sich Peter Südbeck, der Leiter des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer, an der Wurster Küste, 15 Kilometer nördlich von Bremerhaven, den Besuchern als ornithologischer Führer an – seine Bestimmungsliste für den Tag führt er im nebenbei Kopf. Die Bestände der di-versen Wat-, Wasser- und Zugvögel analysiert Süd-beck auch sonst regelmäßig, etwa um Daten für eine Naturschutzmaßnahme zu gewinnen: die Öffnung des Sommerdeichs nördlich von Dorum.

    Und an der Sylter Küste nimmt Karsten Reise mit Studenten und Mitarbeitern Kurs weit hinaus ins Watt, vorbei an ringförmigen Muschelbänken, die der Meeresbiologe arrangiert hat, um Koexis-tenz und Konkurrenz von Miesmuscheln, Pazi-fischen Austern und Herzmuscheln zu studieren.

    All diese Forschungsprojekte dienen dem-selben Zweck. Nämlich herauszufinden, wie Flora und Fauna der Nordsee auf die fortschreitende Wandlung ihres Lebensraumes reagieren – ob und wie sie sich anpassen können. Bis Mitte der 1980er Jahre machten in erster Linie Einträge von Schad-stoffen aus der Industrie und Nährstoffen aus der Landwirtschaft der Fauna des Meeres zu schaffen.

    Heute gilt die größte Sorge der Wissenschaftler zwei neuen Problemen: der zunehmenden Erwärmung des Meerwassers und der „biologischen Globalisie-rung“, also der unabsichtlichen Verschleppung so-wie auch dem bewussten Einführen fremder Arten.

    „Beide Faktoren verändern die Nordsee drama-tisch“, sagt Karsten Reise. Und natürlich existieren viele weitere Einflussfaktoren, deren Wechselwir-kungen lange noch nicht verstanden sind: Warum etwa kommt der Nachwuchs bei Heringen in der Nordsee nur noch selten über das Larvenstadium hinaus? Warum schrumpfen die Seegraswiesen, die Kinderstuben vieler Fischarten? Und wie kommt es, dass sich Eissturmvogel und Baßtölpel auf Helgo-land angesiedelt haben, wie Ommo Hüppop, der Leiter der Vogelwarte berichtet. Klar ist, dass tief-greifende Veränderungen im Artenspektrum einge-treten sind und weitere bevorstehen. Doch schwierig ist es, echte Trends von kurzfristigen Schwankungen zu unterscheiden.

    Einen eindeutigen Trend zeigen immerhin die seit 1962 regelmäßig fortgeführten Messreihen der Biologischen Anstalt Helgoland. Danach hat sich die Wassertemperatur in der Deutschen Bucht vor Helgoland in den letzten 40 Jahren im Mittel um rund 1,1 Grad Celsius erhöht – mit besonders starken Ausschlägen in den vergangenen 15 Jahren und vor allem in den Wintermonaten: In der für ihr kontinentales Klima bekannten Nordsee herr-schen mitunter eher Bedingungen wie an der mil-den Atlantikküste.

    Die Ursache liegt in der Atmosphäre. Durch die Klimaerwärmung hat sich der Luftdruckunter-schied zwischen Azorenhoch und Islandtief – den Steuerungsgrößen der Nordatlantischen Zirkulation

    – verstärkt. Wärmeres und salzhaltigeres Wasser strömt aus dem Atlantik in die Nordsee. Vor allem in Kombination mit starken Südwest-Stürmen wird das warme Oberflächenwasser aus der Biskaya und dem Englischen Kanal regelrecht in die südliche Nordsee gepresst. Und mit ihm kommen jede Men-ge Immigranten, die sich besonders gern in der Deutschen Bucht anzusiedeln scheinen.

    Das ergab unter anderem eine 1987 gestartete Serie von jährlichen Untersuchungen der Bundes-forschungsanstalt für Fischerei. Danach ist der An-

    teil südlicher Arten in der Deutschen Bucht mit knapp 50 Prozent an der Gesamtvielfalt aller am Bo-den lebenden Fische fast viermal so hoch wie in den kälteren und tieferen Bereichen der zentralen Nord-see. Fischten die Forscher zu Beginn ihrer Aufzeich-nungen im Mittel rund elf südliche Arten aus dem gut 300 Quadratkilometer großen Testgebiet in der Deutschen Bucht, so sind es heute 14.

    Und ein Ende des Zustroms ist laut Anne Sell von der Hamburger Bundesforschungsanstalt nicht in Sicht. Vor allem die vielen milden Winter trügen dazu bei, dass in der südlichen Nordsee immer mehr Einwanderer aus mediterranen Gefilden sogar über-wintern könnten: zum Beispiel der Rote Knurrhahn, den Wissenschaftler mittlerweile in über 80 Prozent ihrer Fänge finden. Dazu kommen Wolfsbarsche aus der Bretagne, Meeräschen aus Spanien, Mandarin-Leierfische, Sardinen, Sardellen – und vor allem die Streifenbarben, die mit 20 Exemplaren auch am GEO-Tag der Artenvielfalt innerhalb von nur einer Stunde im Schleppnetz des Forschungskutters

    „Uthörn“ landen.

    BEkanntE hEimiSchE tiErE dagegen verschwin-den zusehends aus ihrem bisherigen Lebensraum. So sind möglicherweise auch die Helgoländer Hum-mer ein Opfer der Meereserwärmung geworden. Heinz-Dieter Franke spekuliert, dass sich ihre Embryonalentwicklung durch die höhere Tempera-tur des Nordseewassers beschleunigt haben könnte und die Larven statt im Juni/Juli nun schon im Mai schlüpfen – zu einer Zeit, in der sie noch nicht genü-gend Nahrung finden.

    Eindeutiger Verlierer der Erwärmung in der Deutschen Bucht ist der Kabeljau – oder Dorsch, wie er in der Ostsee und um Helgoland herum heißt. Um sich erfolgreich fortpflanzen zu können, benö-tigt er Wassertemperaturen von unter fünf Grad Celsius, eine Temperatur, die in den milden Win-tern der letzten 20 Jahre oft nicht mehr erreicht wor-den ist. So bleibt den Kabeljau-Populationen nur die Flucht in kältere Regionen.

    Zugleich sind die Nordsee-Kabeljau-Bestände dramatisch überfischt. Über Jahrzehnte, bis Mitte der 1990er Jahre, lagen die Anlandungen aller Anrai-nerstaaten noch bei mindestens 100 000 Tonnen

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  • »einen dorsch haben wir hier nur noch ab und zu im netz«

    BREMERHAVEN. 1) Crew-Mitglieder der »Uthörn« beim Einholen eines kleinen Schleppnetzes. 2) Die Probe aus dem Bodengreifer wird nach Arten getrennt. 3) Um die Insekten auf der Sahlenburger Salzwiese identifizieren zu können, müssen die Experten tief in den Kescher schau-en. 4) Mithilfe eines speziellen Röh-ren-Aquariums lässt sich die Lebens-weise der Seeringelwürmer genau studieren. 5) Wolfgang Dormann (Universität Bremen) sucht Spinnen, Milben und sonstige Kleintiere, die er dann mit seinem Exhaustor ein-saugt und anschließend bestimmt

    AssElN kommen ursprünglich aus dem Meer, Christian Schmidt (Museum für Tierkunde, Dres-den) sucht einen Küstenstreifen nach ihnen ab

    Heinz-Dieter Franke, Meeresökologe

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    pro Jahr. Heute belaufen sie sich auf nur noch rund 30 000 Tonnen. „Es ist eine Schande, dass der Fische-reiministerrat der EU für 2006 noch Fangquoten für den Kabeljau vergeben hat und damit wieder die Empfehlungen des ICES ignoriert“, sagt Stephan Lutter, Meeresexperte beim World Wide Fund For Nature (WWF). ICES, das unabhängige Expertengre-mium des Internationalen Rats zur Erforschung der Meere, empfiehlt seit 2003 Jahr für Jahr eine Schon-frist für den begehrten Speisefisch.

    „NUR AB UND zU haben wir noch einen Dorsch im Netz“, bestätigt Heinz-Dieter Franke, für den das Fischen zum wissenschaftlichen Pensum gehört. Es ist kurz vor acht Uhr morgens, als er zusammen mit seinem Mitarbeiter Michael Janke und einem Anhänger voller Wannen und Eimer am AWI- Forschungsschiff „Uthörn“ eintrifft. Regelmäßig fahren die beiden Wissenschaftler hinaus zur Tiefen Rinne. Sie ist eine Art Furche in der ansonsten eher flachen Deutschen Bucht, liegt etwa drei Kilometer südlich von Helgoland, ist rund 50 Meter tief und gehörte einst vermutlich zum Urstromtal der Elbe. Mittlerweile zählt die Tiefe Rinne zu den am besten erforschten Biotopen in der Nordsee und ist eines der letzten Refugien für kälteliebende Arten wie den Dorsch. „Doch selbst hier macht er sich zu-nehmend rar“, sagt Michael Janke.

    Die beiden Biologen interessieren sich bei ih-ren Kurz-Expeditionen nicht nur für den Fischbe-stand, sondern vor allem für Benthos-Organismen, jene Lebewesen, die im und auf dem Meeresboden zu Hause sind. Viele von ihnen können im Gegen-satz zu ihren frei im Wasser schwimmenden Mitbe-wohnern nicht einfach fliehen. Sie müssen sich der neuen Situation anpassen – oder sterben an diesem Standort langfristig aus.

    Die Seilwinde der „Uthörn“ setzt sich in Bewe-gung und zieht die nächste Ladung eines glitschigen, grün-braun-gräulich schimmernden Meeresein-topfs an Deck. Aus der so genannten Baumkurre, einem speziellen Fangnetz, das auf Kufen über den

    Meeresboden gezogen wird, fallen jede Menge Krab-ben, Krebse und Plattfische. Kaum ist der Fang in diverse Wannen verteilt, durchwühlen die Wissen-schaftler mit hochgekrempelten Ärmeln den Haufen aus zappelnden und sich windenden Leibern.

    „Die Halunken kommen in den weißen Behäl-ter, den Rest nehmen wir als Futter für die Hummer mit“, sagt Janke, während er schnell und gekonnt eine Schwimmkrabbe nach der anderen mit der blo-ßen Hand aus den Wannen fischt. Er vermeidet dabei, dass sie mit ihren scharfen Scheren, dem Grund für ihren Spitznamen, in seinen Finger kneifen.

    „Wir suchen die Schwimmkrabbenart Liocarci-nus vernalis, die sich vom Ärmelkanal aus immer weiter in die Nordsee ausgebreitet hat“, erklärt Heinz-Dieter Franke den Sinn der mitunter schmerzlichen Prozedur des Aussortierens. Diese Spezies soll frühzeitig erfasst werden, um sie von Anfang an bei ihrer Einbürgerung studieren zu kön-nen. „Doch dazu müssen wir sie eindeutig identifi-zieren.“ Äußerlich sind die Neulinge nur schwer von alteingesessenen Schwimmkrabben wie etwa Liocarcinus holsatus zu unterscheiden. Daher werden alle „Halunken“ nach dem Aussortieren zunächst eingefroren und dann später im Labor bestimmt.

    In den vergangenen 20 Jahren haben Biologen in der Deutschen Bucht etwa 70 neue Arten entdeckt, die sich dauerhaft etabliert haben, etwa ein Zehntel

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  • »jährlich ziehen zehn bis zwölf millionenzugvögel durchs watt«

    SYLT. 1) Bewohnerwechsel: Scharfkantige Pazi-fische Austern haben sich auf dieser Mies- muschelbank angesiedelt. 2) Spürsinn: Karsten Reise (Wattenmeerstation Sylt) pirscht sich an eine Aalmutter heran. 3) Identifikation: Junger Plattfisch wird mithilfe eines Bestimmungsbuches als Rotzunge erkannt. 4) Recherche: der Orni- thologe Stefan Garthe (Universität Kiel) mit Spektiv bei der morgendlichen Wattexkursion, die auch durch Grünalgenmatten führt

    Peter Südbeck, nationalParkleiter

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    aller Ankömmlinge. Der Rest der Exoten, vor allem diejenigen, die aus völlig anderen Klimazonen kom-men, schaffen die endgültige Einbürgerung nicht. Die meisten kleineren Immigranten gelangen nicht aus eigener Kraft, sondern mit dem Ballastwasser großer Frachtschiffe in ihre neue Umgebung. „Täg-lich reisen mindestens 7000 Arten auf diese Weise durch die Weltmeere“, schätzt der WWF-Experte Stephan Lutter. Und durch die Nordsee führen eini-ge der am stärksten frequentierten Schiffsrouten.

    EInER dER GlOBEtROttER ist die Amerikanische Pantoffelschnecke Crepidula fornicata, benannt nach ihrer von unten wie ein Pantoffel aussehenden Scha-le. Sie stammt von der Ostküste Nordamerikas und wurde vor gut 70 Jahren nach Sylt verfrachtet. Ver-mutlich reiste sie auf den Schalen aus Holland ein-geführter Austern an, blieb jedoch bis vor etwa zehn Jahren eine eher unauffällige Erscheinung im Wat-tenmeer. Ihr Bestand wurde durch die harten Win-ter regelmäßig dezimiert.

    Seit dem Ende der letzten strengen Frostperio-de im Winter 1995/96 jedoch blüht der Fremdling regelrecht auf: „Die Pantoffelschnecken bilden stel-lenweise richtige Rasen, und zwar bevorzugt auf Miesmuschelbänken an der Niedrigwasserlinie“, berichtet AWI-Meeresbiologe David Thieltges, der die Zuwanderer in der Sylt-Rømø-Bucht erforscht hat. In manchen Bereichen fänden sich bis zu 1500 Tiere auf einem Quadratmeter. Die in Ketten auf den Schalentieren sitzenden Schnecken verursachten so viel Ballast, dass die befallenen Muscheln schlechter wachsen und eher sterben als die unbefallenen, so Thieltges. Die heimischen Miesmuscheln würden dadurch zunehmend verdrängt. Das habe wiederum Auswirkungen auf die Meeresvögel, die Miesmu-scheln als Nahrung benötigen. Betroffen sind Mö-wen und Eiderenten, aber auch einige Watvögel.

    Laut Nationalpark-Chef Peter Südbeck sind es „zehn bis zwölf Millionen Vögel, die jährlich durchs Watt ziehen“. Wie hoch aufgetürmte Kumuluswol-ken erscheinen die riesigen Knutt- und Alpenstrand-läuferschwärme im Mai und September am Himmel. Aber auch für große Populationen von Ringel-, Non-nen- und Brandgans, für Kiebitzregenpfeifer, Säbel-schnäbler und Große Brachvögel ist der National-

    park Wattenmeer auf dem Weg in ihre arktischen Brutregionen oder südlichen Überwinterungs-gebiete ein wichtiger Nahrungsplatz.

    Und für die Austernfischer. Die schwarz-weiß gefiederten Vögel mit dem charakteristischen roten Schnabel brüten im Watt und leben das ganze Jahr über an der Nordseeküste. Sie fressen – anders als ihr Name vermuten lässt – keine Austern, sondern Muscheln und Würmer. Unterschiede ihrer Schna-belformen verraten, dass sie sich in verschiedenen Lebensräumen auf eine ganz bestimmte Beute ein-gestellt haben: Pfriemschnabelträger etwa sind auf Würmer spezialisiert, die sie mit Sinneszellen an ihrer Schnabelspitze im Wattboden aufspüren. Exemplare mit Meißelschnabel stoßen blitzschnell in leicht geöffnete Muscheln und meißeln diese regelrecht auf. Und am rigorosesten gehen die Ham-merschnäbel zu Werke, die Muscheln mit gezielten Schlägen gleich komplett zertrümmern.

    MIESMUSchEln sind neben den Herz- und Tellmu-scheln ein Nahrungsbestandteil für alle Arten von Austernfischern. Doch die bisher weit verbreiteten Bestände von Mytilus edulis sind nicht nur von der Amerikanischen Pantoffelschnecke bedroht, son-dern auch von einer anderen Einwanderspezies, der Pazifischen Auster. Und deren scharfkantige, dicke Schalen können Austernfischer nicht knacken.

    Crassostrea gigas wurde nicht versehentlich ein-geschleppt, sondern 1964 in den Niederlanden und 1986 auf Sylt ganz bewusst eingeführt – als Ersatz für die Anfang der 1950er Jahre hier ausgestorbene Europäische Auster Ostrea edulis. Die Züchter gingen davon aus, dass sich die Exoten nicht über die Farmen hinaus ausbreiten würden, da ihnen das Wasser zu kalt sei. Eine Fehleinschätzung, denn ihre winzigen Schwimmlarven fanden einen Weg in die offene See. Unter den sich stetig erhöhenden Temperaturen ge-dieh die wärmeliebende Art prächtig und eroberte zuerst die niederländische Küste: 1975 wurden die ersten frei lebenden Exemplare in der Osterschelde entdeckt; 1991 gab es erste Einzelfunde im Sylter Wattenmeer. Inzwischen sind viele Miesmuschel-bänke im ost- und nordfriesischen Wattenmeer überwuchert. Sylt, der Standort der einzigen deut-schen Zuchtanlage, ist besonders betroffen.

    Von 20 Miesmuschelbänken ist hier heute noch eine einzige übrig geblieben, alle anderen sind bereits von Crassostrea besetzt. Und vieles deutet dar-auf hin, dass die Import-Austern die Miesmuschel-bestände, die aus bislang ungeklärten Gründen im-mer weiter schrumpfen, im Nordseeraum eines Tages vollständig ersetzen könnten. Allerdings bleibt Matthias Strasser, ebenfalls Meeresbiologe am AWI, noch relativ ruhig: „Nur ein einziger ex-trem kalter Winter, und das Verhältnis kann sich schlagartig wieder umdrehen.“ Denn kalte Winter wirken auf Miesmuscheln wie eine Frischzellenkur, sie gedeihen plötzlich prächtig.

    Das Auf und Ab hängt nach Strassers Untersu-chungen vermutlich damit zusammen, dass die Hauptfressfeinde der Miesmuscheln, die Strand-

    krabben, nach strengen Wintern weniger Larven produzieren. Die schlüpfen außerdem zeitlich ver-zögert, etwa sechs bis acht Wochen später als nach milden Wintern. Die Miesmuscheln dagegen blei-ben in ihrem Rhythmus: Es entsteht ein kurzzeitiges Ungleichgewicht – zugunsten der Muscheln.

    WIE KlEInE VERändERUnGEn IM ÖKOSyStEM mit seinen fein abgestimmten jahreszeitlichen Mustern weitreichende Folgen haben können, zeigt sich nicht nur in diesem Fall. Auch manche Plankton- algen-Arten haben einen neuen Zyklus entwickelt, wie die Wissenschaftler beobachten konnten, und wachsen nun zu früh oder zu spät im Jahr. Die Fehl-zeiten solcher „Primärproduzenten“ im Nahrungs-netz führen dazu, dass viele nachfolgende Organis-

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  • »es gibt immer gewinner und verlierer,aber noch stimmt die bilanz«

    Die lister dünen stehen seit 1923 unter Schutz. Hier trotzen Pflanzen wie der buschige Besenginster den Kräften von Wasser und Sturm

    Heinz-Dieter Franke, Meeresökologe

    men, etwa die Kleinkrebse, verhungern. Ohne sie wiederum finden etliche Fische nicht genug zu fres-sen; das gesamte Gefüge verschiebt sich dadurch.

    Zwar stünden mit neu eingeschleppten Algen-arten Alternativen zur Verfügung, wie zum Beispiel die asiatische Kieselalgenart Coscinodiscus wailesii, die sich rasant ausbreitet und zusammen mit zwei weiteren asiatischen Spezies zeitweise über 90 Pro-zent der Primärproduzenten in der Nordsee aus-macht. Doch Coscinodiscus ist für die kleinen Krebse und anderes Kleingetier nicht in jedem Fall eine Al-ternative. Die meisten von ihnen fressen das fremde pflanzliche Plankton nicht besonders gern. Steht ein gewaltiger Artenschwund bevor?

    „Es gibt immer Gewinner und Verlierer“, sagt Heinz-Dieter Franke. Noch stimme zumindest die Bilanz. So haben Langzeitstudien auf dem Helgolän-der Felssockel ergeben, dass zwischen 1984 und 2003 lokal gut ein Drittel aller Arten der Makrofau-na, also der größeren Organismen, verschwunden ist; allerdings eher seltene Spezies. Aber ebenso viele neue haben sich eingefunden. „Die Artenzahl hat sich also nicht wesentlich verändert. Nur die Zusam-mensetzung.“ Diese allerdings gleicht sich infolge der biologischen Globalisierung weltweit immer mehr an. „Wir werden irgendwann vor Neuseeland, Japan oder Kalifornien zu einem großen Teil diesel-ben Arten haben wie hier und umgekehrt“, prognos-

    tiziert Franke. Und verweist darauf, dass in der Bucht von San Francisco auch heutzutage schon Ar-ten schwimmen, die früher nur in der Nordsee an-sässig waren – Multikulti in allen Meeren.

    Dem Ökosystem Nordsee selbst, glaubt Kars-ten Reise, könnten die Neubürger sogar mehr Stabi-lität verleihen. Er vermutet, dass sich die Artenzahl langfristig eher erhöhen dürfte. Im Vergleich mit anderen Meeren sei die Nordsee noch relativ jung und habe „jede Menge Nischen frei. Die meisten neuen Tiere und Pflanzen schaffen sich Platz, ohne dass heimische Arten gleich aussterben.“

    Da sich die großen Zusammenhänge experi-mentell nicht simulieren lassen, versuchen die AWI-Wissenschaftler herauszufinden, welche Bedeutung einzelne typische Nordseevertreter haben. Was wäre zum Beispiel ein Watt ohne Wattwurm? Nils Volkenborn von der Wattenmeerstation Sylt probiert es aus. Auf sechs Flächen von je 400 Quadratmetern hat er Arenicola marina durch Gitternetzmatten, die er in den Wattboden eingegraben hat, dauerhaft vertrieben. Erste Ergebnisse: „Der Boden wird schli-ckiger, es kommt zu Mikroalgenblüten an der Ober-fläche, die Bodenfauna verändert sich.“ So hat sich etwa der bei Seevögeln beliebte Schillernde Seerin-gelwurm Nereis diversicolor auf den ehemaligen Wattwurmflächen ausgebreitet. Wie weitere im und vom Watt lebende Tiere und Pflanzen auf die verän-derten Flächen reagieren, soll in den nächsten Jah-ren eingehend untersucht werden.

    Die Teilnehmer und Zaungäste des GEO-Tages erleben die Wattwürmer dagegen noch in ihrer ganzen Dimension: Auf ihrem Weg durch die un-zähligen gekringelten Sand-Kothaufen der Würmer erfahren sie, dass der obere Zentimeter des Wattbo-dens, auf dem sie stehen, jedes Jahr mehr als 20-mal von Wattwürmern gefressen und durch deren Kör-per geschleust wird, während die Tiere dabei gleich-zeitig sauerstoffreiches Wasser durch ihre Gänge pumpen. Daneben fungieren eine Unmenge von Kleinlebewesen als Putzkolonne im Watt. Abermil-lionen winziger „Sandlückenbewohner“ wie Bär-

    60 GEO 09|2006

  • »unsere fische sind nach norden gewandert.denen ist es hier zu schummerig geworden«Dirk SanDer, FiScher

    80 Experten waren am 10. Juni 2006 bei strahlendem Sonnenschein unterwegs im Watt, auf hoher See, an felsigen Klippen, in Salzwiesen und auf Muschelbänken. Einen Tag lang bestimmten sie möglichst viele der Tier- und Pflanzenarten in der Deutschen Bucht; bei Redaktions-schluss waren 918 Spezies identifiziert. Allein 531 Arten wurden an der Wurster Küste, nördlich von Bremerhaven, entdeckt – darunter die Weißflügelseeschwalbe (Chlidonias leucopterus), ein Exot aus Osteuropa.

    Zu den botanischen Höhepunkten gehörte neben Wasserfenchel (Oenanthe aquatica) und Gelber Wiesenraute (Thalictrum flavum) der seltene Knollenfuchsschwanz (Alopecurus bulbosus). Dieses Gras ist deutschlandweit nur an der Wurster Küste zu finden und Rote-Liste-Art in Niedersachsen. Die meisten Meeresbewohner wurden von den vier Forschungsschiffen „Uthörn“, „Mya“, „Nixe II“ und „Diker“ aus erspäht. Etwa zwei Schweinswale (Phocoena phocoena). Oder die Große Schlangennadel (Entelurus aequoreus), mit den Seepferdchen verwandt und ebenfalls Rote-Liste-Art. Vor Helgoland zeigte sich eine Kegelrobbe (Halichoerus grypus); eine Besonderheit unter den Fischen war die aus mediterranen Gefilden stammende Streifenbarbe (Mullus surmuletus), die vermutlich infolge der klimabedingten Meereserwär-mung nach Norden eingewandert ist. Vor Sylt wurde der Seehase (Cyclopterus lumpus) ausgemacht, ein Fisch der hier nur noch selten gefangen wird. Besonders erfreute die Forscher der Fund einer Ottermuschel (Lutraria lutraria) auf Helgoland. Sie tauchte bei der Natur-Inventur von GEO dort erstmals lebend auf.

    Die komplette Liste aller Artenfunde in der Nordsee finden Sie im GEOextra, das dieser Ausgabe beiliegt.

    BILANZ

    exoten, einwanDerer unD rückkehrer

    vergebens nach Ersatz für Schollen, Seezungen und Kabeljau. „Früher hatten wir bedeutend mehr Fische im Netz. Heute zu 90 Prozent Krabben. Die Fische sind weg“, beklagt Sander, der dem Verband der Kleinen Hochsee- und Küstenfischerei im Landes- fischereiverband Weser-Ems vorsteht. „Ich bin jetzt seit 40 Jahren dabei und hätte nie gedacht, dass sich in 15 Jahren so viel verändern kann.“

    Sinkende Erzeugerpreise für Krabben, schlech-te Erträge beim Fisch, gleichzeitig enorm gestiegene Produktionskosten – dieses Bündel hat einige Be-triebe bereits in den Ruin getrieben, bei den ande-ren fällt der Gewinn mager aus. „Dabei muss unsere Kutterflotte dringend erneuert werden“, sagt San-der. Die durchschnittlich 30 Jahre alten und nur bis zu 17 Meter langen Boote könnten mit der doppelt so großen und PS-stärkeren Konkurrenz aus den Niederlanden nicht mehr mithalten: „Unsere Fische sind 100 Meilen weiter nach Norden gewandert. De-nen ist es hier zu schummerig geworden. Aber mit unseren kleinen Kuttern kommen wir da nicht hin-terher.“ Außerdem wäre es nicht erlaubt; Küsten-fischer in Deutschland dürfen sich nicht viel weiter als 20 bis 30 Meilen vom Ufer entfernen.

    Selbst die Krabben scheinen sich gegen die Fischer verschworen zu haben und sind in direkter Küstennähe seltener zu finden – aus wissenschaft-licher Sicht eine indirekte Folge von Klimawandel und Überfischung. Früher wurden die Krabben von den Fischen Richtung Ufer getrieben und retteten sich ins Seichte. Heute bleiben sie, von ihren Fress-feinden verschont, im offenen Meer.

    Preise, Fangquoten, Gesetze, EU-Politik sind Themen, über die Fischer ausführlich reden. Ein an-deres meiden sie eher, denn dabei geht es um ihren eigenen Anteil am Niedergang ihrer Branche. Mit ihren Schleppnetzen oder Baumkurren ziehen die Kutterbesatzungen nicht nur die laut Quote erlaub-ten Fische oder Krabben an Deck, sondern auch jede Menge anderes Getier, mit dem sie nichts anfangen können: 50 Kilogramm schwere Schweinswale, Ro-chen, Seesterne. Die als „Beifang“ bezeichneten Tiere landen zwar meist wieder in der Nordsee, aber bis das geschieht, sind sie in der Regel verendet.

    Und der Beifang ist nicht nur ein Tierschutz-problem; er trägt massiv zur Überfischung der Nord-

    tierchen, Rädertierchen, Würmer und Krebse filtern organische Schwebstoffe aus dem Wasser und hal-ten dadurch Sand und Strand sauber. Etwa 1500 Ar-ten dieser so genannten Meiofauna tummeln sich allein im Wattenmeer um Sylt, wo sie sich in engen Spalten und Hohlräumen mit Krallen, Haftlappen und Saugnäpfen an den Sandkörnern verankern, um nicht weggeschwemmt zu werden.

    SoLche AkrIBIScheN BILANZIeruNgeN und Be-obachtungen findet ein Nordseefischer wie Dirk Sander aus dem niedersächsischen Neßmersiel zwar eher nebensächlich. Aber auch er macht seine Erfah-rungen mit dem Wandel des Meeres. So sucht er

    62 GEO 09|2006

  • »ich vermisse störe, tunfische, pelikane,flamingos und grauwale«

    Mit viel Aufwand und Geduld rückte GEO-Fotograf Ingo Arndt, 38, in eigens installierten Aquarien in der Biologischen Anstalt Helgoland die Nordseebewohner ins Licht und war selbst überrascht, welche Formen- und Farbenpracht ihm Tiere und Pflanzen dabei boten. Die er übrigens allesamt selbstverständlich lebend entließ. GEO-Autorin Christine Heidemann, 43, lernte derweil von AWI-Mitarbeiter Michael Janke auf dem Forschungskutter „Uthörn“ unter anderem eine Scholle von einer Flunder zu unterscheiden.

    Karsten reise, KüstenÖKologe

    see bei. Denn in den Netzen sterben auch jede Menge viel zu junger Speisefische, die der Popula- tion dann zur Fortpflanzung fehlen. Das liege vor allem daran, dass die üblichen Fanggeräte für meh-rere Fischarten ausgelegt seien, sagt WWF-Mann Stephan Lutter. „Ist eine Quote erfüllt, wechseln die Fischer einfach zur nächsten Art, egal wie viele aus der ersten dabei verenden.“

    Weltweit beträgt der „Ausschuss“ laut Green-peace rund 30 Millionen Tonnen jährlich, das ist etwa ein Drittel des gefangenen Fischs. In der Garnelen- und Krabbenfischerei liege der Beifang sogar noch höher. So werden pro Kilo „Speisekrabben“ in der Nordsee etwa ein Kilogramm Fisch, zwei bis zehn Kilogramm junge Garnelen und 200 Gramm bis ein Kilogramm sonstige Meerestiere mitgefangen.

    Das allerDings soll sich änDern – durch For-schung, von der Fischer, Fisch und Ökosystem glei-chermaßen profitieren. Es geht um neu gestaltete Netze. Wissenschaftler der Bundesforschungsan-stalt für Fischerei in Hamburg haben zum Beispiel eine Variante entwickelt, bei der das Ende des Schleppnetzes verändert wird. Durch um 90 Grad entgegen der Zugrichtung gedrehte Maschen zieht sich das Netz nicht mehr vollends zusammen, son-dern lässt Jungfischen genügend Platz, um wieder zu entkommen. Am Institut für Ostseefischerei in Rostock wird unterdessen mit Trennblättern experi-mentiert, die horizontal in ein Netz eingezogen werden. Dabei nutzen die Forscher die unterschied-

    lichen Verhaltensweisen der Fische aus. Der Kabel-jau etwa schwimmt in der Regel nach oben, die Scholle nach unten. Ein Trennblatt durch den obe-ren Teil des Netzes soll es ermöglichen, dass sich der Kabeljau beim Herausziehen des Schleppnetzes wie-der befreien kann.

    Größere Tiere wie der Schweinswal dagegen sollen gar nicht erst in die Maschen hineinschwim-men, sondern bereits im Vorfeld durch akustische Signale, so genannte „Pinger“, auf Abstand gehalten werden. Ob dieses Warnsystem funktioniert, sollen weitere Tests erweisen.

    Schweinswale oder Kleine Tümmler, wie die nur 1,50 Meter langen und scheuen Säuger auch ge-nannt werden, zeigen sich immer noch viel zu sel-ten vor der Nordseeküste. Am Tag der Artenvielfalt immerhin werden die Rückenflossen zweier Exem-plare gesichtet – eines davon vor Sylt.

    Dort hat Karsten Reise Eimer und Siebe zu-sammenpackt. Die Flut naht, und die Funde müssen ja noch ausgezählt werden, damit die ersten Ergeb-nisse der Arteninventur am Abend per Video-Schal-tung in Bremerhaven präsentiert werden können. Dann wird der 59-jährige Meeresbiologe von Algen, Austern, Seepocken, Einsiedlerkrebsen und einer Aalmutter berichten, die er heute in einem Priel des Sylter Watts entdeckt hat.

    Viel lieber würde er noch von anderen Funden erzählen – von Europäischen Austern, Stören, Tun-fischen, Pelikanen, Flamingos oder den bis zu 13 Me-ter langen Grauwalen, die alle einst hier in der Nord-see zu Hause waren. „Diese Arten vermisse ich sehr. Sie gehören hierher.“

    Doch als Wissenschaftler, der seit 30 Jahren auf Sylt forscht, weiß Karsten Reise, dass sich das Ökosystem Nordsee genauso gut mit Pazifischen Austern, Streifenbarben oder anderen Einwande-rern arrangiert. „Es ist vor allem deswegen befremd-lich, weil es so schnell passiert.“ P

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  • An der Mosquitia-Küste münden Urwaldflüsse über weite Lagunen ins Karibische Meer – und bieten zahlreichen Spezies wie dem Kuhreiher oder der fleischfressenden Aristolochia eine Heimat. Am besten lässt sich das Wald-Wasser-Labyrinth per Boot durchdringen – wie die zum GEO-Tag der Artenvielfalt angereisten Journalisten schon bei ihrer ersten Inspektion erleben

    Fast sieben Prozent der Landesfläche bedeckt das Biosphärenreservat Río Plátano; die streng geschützte Kernzone ist so groß wie das Saarland

    im labyrinth der laguneMosaik der Landschaften, Hotspot der Artenvielfalt: Das Biosphärenreservat Río Plátano in Honduras ist reich an Naturschätzen – und wird geplündert: von Drogendealern, Jägern, Fischern. Neue Projekte sollen das bedrohte Welterbe endlich schützen. Mit sanfter Bewirtschaftung der Mahagoniwälder und Restriktionen für die Leguan-Jagd

    Von Katja Trippel (TexT) und Christian Ziegler (FoToS)

    ie lange ist es wohl her, dass die Schmugg-ler ihre Piste in die Savanne schlagen lie-ßen? Im Schutz der Dunkelheit landeten, die Koks-Pakete vom Flugzeug in ihre

    Schnellboote luden, um dann über den Río Twas und die Lagune von Brus aufs Karibische Meer hinauszu-rasen, Richtung Florida?

    Ein, zwei Monate vielleicht, nicht mehr. Zwi-schen den brandgerodeten Kiefernstümpfen ragt schon wieder Gras aus der roten Erde, das gestutzte Buschwerk am Ufer reckt frische Triebe in die Höhe.

    Don Rafael, der uns mit seinem motorisierten Einbaum durch die Küstenlandschaft des UNESCO-Biosphärenreservats „Río Plátano“ lotst, hatte das schwarz gebrannte Stück Land entdeckt, als er eines Morgens über den Twas zu seinem Feld unterwegs war, und sich gewundert: Welcher Dummkopf will hier einen Acker anlegen, wo der Fluss in der Regen-zeit doch alles überschwemmt? Einige Tage später war er am Ufer über ein Dutzend Leuchtstrahler gestolpert. Da wurde ihm klar: Dies war nicht der Pfusch eines Bauern, sondern ein geheimer Lan-deplatz der narcos; der Drogenhändler, die den Küstenstreifen im Nordosten von Honduras als Umschlagplatz nach Nordamerika nutzen.

    „So nah haben sie sich noch nie herangewagt“, berichtet Rafael Gutierrez verstimmt. Der pensio-

    nierte Lehrer lebt in Brus Laguna; einem 3500-See-len-Dorf mit sandigen Fußwegen, Stelzenhütten aus Holz und rostigen Dieselgeneratoren zur Stromer-zeugung, das von Wasser umzingelt ist – vom Meer, der Lagune, Sümpfen und grün-schlammigen Fluss-spiralen. Alles, was die Natur hier nicht gedeihen lässt, muss per Boot oder Flugzeug antransportiert werden.

    Eilig unterrichtete Don Rafael den Bürger-meister; der seufzte nur, schnipste eine Ameise von seinem Schreibtisch und schickte einen Protokol-lanten zu der wilden Piste – wohl wissend, dass dies die narcos kaum von einer erneuten Landung abhal-ten würde. Was sollte er auch sonst tun?

    In Brus Laguna gibt es weder eine schlagkräf-tige Polizei noch eine Küstenpatrouille – und auch

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    W

  • brandstifter und piratenfischerzerstören die tropenidylle der mosquitia

    Duo auf Leben und Tod: Während sein Partner im maroden Kajak wartet, taucht José Marín mit Primitiv-Ausrüstung in 40 Meter Tiefe nach Langusten. Und hofft, ohne »Kribbeln im Blut«, Dekompressionsschäden, wieder aufzutauchen

    Wo sie ungestört wuchern darf, lässt die Natur Wunderschönes gedeihen – wie diese Schomburkia-Orchidee, die sich vom Ast einer Mangrove räkelt. Umso gravierender erscheinen beim Flug über die Pufferzone des Biosphärenreservats die von Bauern in den Wald gebrannten Schneisen. Wo keine Wurzeln die Erde mehr halten, beginnt die Erosion – und der nächste Regen spült den fruchtbaren Boden über die Flüsse ins Meer. Der Río Plátano ist mancherorts so verschlammt, dass Fische nicht überleben können

    Einbaum über den Twas, vorbei an lichten Kiefern-savannen und dichtem Wald. Dazwischen liegen die Felder der Miskito, gedeihen Kochbananen, Avoca-dos, Papayas. Und Bohnen, das Hauptnahrungsmit-tel. Pink-gelbe Orchideen wachsen von Kakaobäu-men herab, Amazonen flattern über uns hinweg, durchs Wurzelwerk der Mangroven flitzen kleine, bunte Fische. Die Luft duftet nach feuchtem Grün, ist erfüllt von schwirrenden Libellen. Aus der Lagu-ne zweigen wir schließlich ab in einen Kanal – und vorbei ist es mit der Tropenidylle: Abgefackelte Pal-menstämme ragen aus aschebedecktem Sumpfland, so weit das Auge reicht.

    „Das waren Fremde!“, knurrt Don Rafael. „Sie ernten die Palmwedel für ihre Dächer, dann stecken sie alles in Brand, damit die Leguane und Schildkrö-ten in ihre Netze flüchten.“ Ein paar Dutzend Tiere erwischen sie so, Hunderte verbrennen. „Dabei weiß in Brus jedes Kind, dass die Reptilien selten ge-worden sind!“ Um die geschätzten Suppentiere der Miskito nicht gänzlich auszurotten, weist die Kom-mune gerade mit deutscher Unterstützung eine Schutzzone aus. Die Leguane sollen dort nur mit Fal-len in kontrollierter Zahl gejagt werden, nicht mit Feuer, und schon gar nicht während ihrer Reproduk-tionsphase. „Leguane gehören uns allen“, haben Schüler in Miskito auf ein Schild am Ausgang des Kanals geschrieben; und der Bürgermeister hat versprochen, einen Kontrollposten zu besetzen. Nimmt die Zahl der Tiere erst wieder zu, locken sie vielleicht sogar ein paar Ökotouristen an – der große Traum unseres Bootsführers und der anderen Dorfbewohner.

    Don Rafael wendet, fährt zurück in die Lagune. Wind kommt auf, der Einbaum schlägt gegen die Wellen, innerhalb von Minuten sind wir durchnässt. Die Lagune ist riesig, doch außer unserem scheinen nur wenige Boote unterwegs zu sein. „Nachts ist hier die Hölle los“, erzählt Don Rafael. Kutterbesat-zungen aus Nicaragua, Jamaika oder von den Cay-

    man-Inseln dringen mit ihren Schleppnetzen in die Biosphäre ein und fangen alles weg: Glasbarsche, Steinbeißer, Kreuzwelse. Aus der Meeres-Schutz-zone holen sie Makrelen, Schwertfische, Haie. Für die Miskito-Fischer mit ihren Speeren oder groben Netzen bleibt wenig übrig.

    Gutierrez ist auch Vizevorsitzender der Fi-schervereinigung. Sie wurde gegründet, weil die Männer von Brus Laguna Maßnahmen gegen die drastisch sinkenden Fischbestände ergreifen wollen. Und gegen den Garnelen-Klau. Denn auch in der Trockenzeit, wenn aus den Mangrovengürteln der Lagune riesige Schwärme junger Garnelen der Spe-zies Macrobrachium americanum ins Meer ziehen, fischen fremde Flotten alles ab.

    Ein hochseetaugliches Boot soll nun her, um eine einträglichere Meeresfischerei zu betreiben und den Fang ohne Zwischenhändler vermarkten zu können – darauf hat sich die Fischervereinigung geeinigt. Das Kooperationsvorhaben PRORENA der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammen-arbeit (GTZ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) will seinerseits der Gemeinde helfen, einen Küsten-Managementplan für die Lagune und die Meeresschutzzone mit obligatorischen Fangquoten

    in keinem anderen Dorf der 8300 Quadratkilometer großen Biosphäre, die sich von der Lagune bis ins bergige Landesinnere ausdehnt. Die UNESCO hat das Reservat zusätzlich zum „Naturerbe der Mensch-heit“ deklariert, um die größten zusammenhängen-den Wälder Mittelamerikas vor der Zerstörung zu bewahren. Sie beherbergen eine große Vielfalt ver-schiedenster Landschaftstypen, die sich durch eine hohe Biodiversität auszeichnen, mit anderswo fast ausgerotteten Spezies wie Jaguaren und Manati-See-kühen oder Mahagoni und Karibischer Kiefer.

    Und vor allem leben dort vier indigene Eth-nien – die Pech, die Tawahka, die Miskito und die Garífunas –, die seit Jahrhunderten Landwirtschaft und Fischerei betreiben, Ressourcen schonend, weil sie hauptsächlich von dem leben, was Wald und Gewässer reichlich bieten.

    Nur: Welchen Sinn hat der doppelte Schutzsta-tus der UNESCO, wenn sich keiner um ihn küm-

    mert? Wenn niemand Eindringlinge stoppt, verjagt, bestraft? Drogendealer, die für zwei oder drei Lan-dungen Pisten in den Regenwald schlagen. Holzfäl-ler, die für Edelhölzer hektarweise den Wald roden. Jäger, die über die Holzfällerstraßen tief in die Wild-nis dringen. Tierhändler, die den weltweiten Markt für exotische Vögel, Reptilien oder Felle beliefern. Fischer von außerhalb, die ihre Netze auch in Schon-zeiten auswerfen. Landlose, die ihre Felder immer weiter in das Gebiet der Indigenen brennen – als Vorhut der Großgrundbesitzer, die die Rodungen später in Weideflächen für Vieh oder Fruchtplanta-gen verwandeln.

    „EhRlich gESAgt, die narcos machen uns noch die geringsten Probleme“, gibt Don Rafael zu, als wir von der Piste zurück in Richtung Lagune tuckern.

    „Schlimmer sind die Brandleger, Jäger und Fischer. Ich zeig’s euch.“ Geschickt steuert Gutierrez seinen

    09|2006 GEO 69

  • Beliebtes Suppentier, bedrohte Leguanart: In Brus Laguna sollen Helmbasilisken künftig in einer Schutzzone bewahrt und nur noch kontrolliert gejagt werden

    mit kakao, kaffee und gitarrenholzsoll der regenwald erhalten werden

    und Schonzeiten zu erarbeiten – und die Regierung zur Mithilfe verpflichten.

    Problematischer ist die Situation für die Lan-gustentaucher, die 140 buzos aus Brus, von deren Einkommen hier fast jede dritte Familie abhängt. Seit Jahrzehnten tauchen sie für auswärtige Traw-ler-Crews am vorgelagerten Riff nach Karibik- Langusten (Panulirus argus) und Riesenflügel-Schnecken (Strombus gigas), hauptsächlich für den Export in die USA. Doch seit beide Spezies rar ge-worden sind, hat sich der einst lukrative Job zum lebensgefährlichen Risiko gewandelt: Je zwei Wo-chen lang müssen die Taucher dreimal täglich zwei Stunden mit insgesamt zwölf Pressluftflaschen bis zu 40 Meter in die Tiefe – jede einzelne dieser Zahlen lässt erfahrene Sporttaucher erschauern.

    Die Ausrüstung der buzos ist ebenso kata- strophal: 20 Jahre alte Alu-Flaschen, kein Tiefen-messgerät, kein Atemluftanzeiger. Aufgetaucht wird, wenn die Luft zur Neige geht, ohne Sicher-heitsstopp, ohne Druckausgleich. Medizinische Betreuung an Bord? Dekompressionskammern? Fehlanzeige. „Wem nach dem Auftauchen zu viel Stickstoff im Blut kribbelt, der bekommt vom Ka-pitän ein Glas Rum“, weiß Don Rafael.

    Die Folge: Fast alle Taucher aus Brus Laguna leiden unter Dekompressionsschäden wie Schwin-del, Lähmungen in Armen oder Beinen oder Hirn-schäden bis hin zur Debilität. 29 Männer sind in den vergangenen Jahren gestorben, 70 sitzen gelähmt im Rollstuhl. Die Solidarität der Fischer hält sich in Grenzen. „Viele Taucher sind Trinker oder blöd ge-worden“, sagt Don Rafael. „Mit denen will keiner etwas zu tun haben.“

    Und doch bieten sich den Menschen am Río Plátano neue Chancen, seit mit Unterstützung der deutschen Entwicklungskooperation ein Manage-mentplan für die sorgsame Bewirtschaftung der Bio-sphäre beschlossen wurde und 22,1 Millionen Euro Projektmittel von der GTZ sowie der deutschen Kre-ditanstalt für Wiederaufbau bis 2008 bereitstehen. 140 Familien konnten aus der streng geschützten Kernzone in die südliche Pufferzone umgesiedelt werden; dort und in der Kulturzone der Indigenen brachten deutsche Berater Projekte etwa für wald-schonenden Kaffee- und Kakaoanbau in Gang und ebneten 1000 Familien den Weg aus der Armut.

    Ein Vorzeigeprojekt ist im vergangenen Jahr so-gar bis nach Brus Laguna vorgestoßen: Der Gitarren-hersteller Gibson aus Tennessee kauft den Miskito zu fairen Preisen Mahagoni ab, um daraus die Hälse sei-ner legendären Instrumente zu fertigen. Die Nach-frage ist riesig. Um sie dauerhaft decken zu können, setzt Gibson auf nachhaltige Waldwirtschaft.

    Seit Sonnenaufgang fährt Don rafael uns wieder in seinem Einbaum durch das irrgartenähn-liche Fluss- und Lagunensystem östlich von Brus. Wir wollen das für den Mahagoni-Einschlag ausge-wählte Waldgebiet besuchen. Nach drei Stunden verebben die Spuren der Menschen – Stelzenhütten, Felder, Boote –, der Wald wird dichter, dunkler, hö-her. Wir hören Brüllaffen, sehen Nester-Kolonien von Montezuma-Stirnvögeln in den Bäumen. „115 Baumarten wachsen hier auf einem Hektar“, lehrt uns unser Führer; gemeinsam beginnen wir zu zäh-

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  • der neue präsident hat versprochen:500 soldaten zum schutz der biosphäre

    GEO-Redakteurin Katja Trippel, 33, und Fotograf Christian Ziegler, 34, an Bord des Einbaums, mit dem sie die Küstenzone des Biosphären-reservats erkundeten.

    Rund 200 Naturinteressierte – Schüler, Lehrer, Vertreter der indi-genen Ethnien, Wissenschaftler, Journalisten – machten sich im Mai 2006 in Begleitung der honduranischen Umweltministerin Mayra Mejía und des deutschen Botschafters Paul Resch auf zur größten Naturerkundung in der Geschichte des Landes. Sie entdeckten im Biosphärenreservat Río Plátano zwischen Lagune, Meer und Wald- savanne Krokodile, Leguane und Schildkröten – und setzten die Reptilien vorübergehend auf dem Schulhof von Brus Laguna fest. Wissenschaftlich beachtlich: 70 der 115 Baumarten, die hier durch-schnittlich auf einem Hektar gedeihen, konnten identifiziert werden.

    Biologische Vielfalt und eine schonende Nutzung der Ressourcen sind Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung, da sie helfen, die Armut von Kleinbauern und Fischern zu überwinden. Um dies vor allem den Honduranern selbst bewusster zu machen, hatte die Deut-sche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) im Auftrag des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung (BMZ) einen Aktionstag zur Artenvielfalt organisiert – in Kooperation mit GEO.

    Weitere Infos zu diesem und den fünf vorausgegangenen internatio-nalen Artenvielfaltstagen der GTZ unter www.biodiversity-day.info

    BILANZ

    inventur in der karibik

    len, die 54. Spezies ist ein gefällter Yulu, wie die Miskito sagen: Mahagoni. Wir sind am Ziel.

    Schwitzende Männer wuchten auf ihren Schultern Stücke der orangefarben leuchtenden Stämme zum Weitertransport in ihre Einbäume. Noch im Wald, neben den Stümpfen, haben Holzar-beiter sie sorgfältig in die Grundform der Gitarren-hälse zugesägt. „Jeder Millimeter zählt“, sagt einer von ihnen, „sonst nimmt Gibson das Holz nicht an.“

    Der Managementplan der Holzkooperative von Brus Laguna, den sie in Absprache mit der Forstbe-hörde COHDEFOR erstellt haben, deckt 19 000 Hektar Wald ab. Innerhalb der ersten zwölf Hektar rund um die Anlegestelle sind 157 Mahagoni-Riesen inventari-siert, 37 davon dürfen geschlagen werden; dann muss das Gebiet 30 Jahre lang in Ruhe gelassen werden. 40 Miskito aus Brus haben hier ein neues Auskom-men gefunden – auch ehemalige buzos sind dabei.

    „Nächstes Jahr wird in Brus eine von drei zentralen Schreinereien eröffnet“, verkündet Don Rafael. Elf Holzkooperativen aus der Biosphäre werden dann ihr Gitarrenholz zum Feinschliff dorthin liefern.

    Und noch eine gute Nachricht erreicht Brus Laguna, während wir zu Gast sind: Der neu gewählte Staatspräsident José Manuel Zelaya Rosales will sein Wahlversprechen einlösen und zum Schutz der Bio-sphäre Militär einsetzen; über 500 Mann. Das Ange-bot der GTZ, die Soldaten mit dem Gebiet vertraut zu machen, hat der verantwortliche Coronel angenom-men. Und Don Rafael wird es sich nicht nehmen las-sen, ihr Bootsführer zu sein. P

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    014_2006_009_0_040_0014_2006_009_0_042_0014_2006_009_0_044_0014_2006_009_0_046_0014_2006_009_0_048_0014_2006_009_0_050_0014_2006_009_0_052_0014_2006_009_0_054_0014_2006_009_0_056_0014_2006_009_0_058_0014_2006_009_0_060_0014_2006_009_0_062_0014_2006_009_0_064_0014_2006_009_0_066_0014_2006_009_0_068_0014_2006_009_0_070_0014_2006_009_0_072_0