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Eine Auswahl weiterer Mathematiker, die in der Vorlesung Funktionentheorie erw¨ ahnt wurden Die folgenden Ausf¨ uhrungen stammen im Wesentlichen aus Wikipedia mit einigen redaktionellen ¨ Anderungen. Die aufgef¨ uhrte Liste von Mathematikern erhebt keinen An- spruch auf Vollst¨ andigkeit. Sie ist chronologisch geordnet. John Wallis (* 3. Dezember 1616 in Ashford, Kent; 8. November 1703 in Ox- ford) war ein englischer Mathematiker, der Beitr¨ age zur Infinitesimalrechnung und zur Berechnung der Kreiszahl π leistete. Wallis war eines der f¨ unf Kinder von John Wallis, dem Pfarrer von Ashford. Sein Vater starb, als er knapp sechs Jahre alt war. Da man seine Begabung fr¨ uh erkannte, wurde er mit 14 Jahren nach Felsted, Essex, auf die Schule des bekannten Lehrers Mar- tin Holbeach geschickt, wo er Griechisch, Latein und Hebr¨ aisch lernte. Ab Dezember 1632 studierte er am Emmanuel College in Cambridge unter anderem Philosophie, Geo- graphie, Astronomie und Medizin mit einem Bachelor Abschluss 1637. Er setzte sein Studium besonders in Theologie fort und schloss 1640 mit einem Master of Arts ab und wurde im selben Jahr als Priester ordiniert. Mathematik, die damals nur als Unterrichts- stoff f¨ ur Kaufleute, Landvermesser und ¨ ahnliche Berufe angesehen wurde, lernte er nicht an der Schule oder Universit¨ at, sondern kam damit laut seiner Autobiographie 1631 in Ber¨ uhrung, als sein Bruder ein Rechenbuch f¨ ur seine Kaufmannslehre studierte. Nach Abschluss des Studiums war er Kaplan in Butterworth (Yorkshire), Hedingham, Essex und London. In dieser Zeit fing er auch an, sich im Englischen B¨ urgerkrieg auf der Sei- te der Roundheads zu engagieren. Ein befreundeter Geistlicher fragte ihn 1642 halb im Scherz, ob er eine verschl¨ usselte Botschaft der Royalisten entschl¨ usseln k¨ onne, was ihm in diesem und in folgenden F¨ allen auch gelang. Er erhielt daf¨ ur 1643 die Pfarrei in St. Gabriel in London, war aber nach dem Tod seiner Mutter im selben Jahr durch sein Erbe finanziell unabh¨ angig. 1644 wurde er Fellow des Queens’ College in Cambridge, musste diesen Posten aber nach seiner 1645 erfolgten Heirat aufgeben. Er ging wieder nach Lon- don, wo er auch an den ersten Versammlungen der Vorl¨ aufergesellschaft der Royal Society aktiv beteiligt war und sich durch die Lekt¨ ure eines Buches (Clavis mathematicae) von William Oughtred 1647 ernsthaft mit Mathematik zu befassen begann. Nicht zuletzt wegen seiner kryptologischen Verdienste wurde er 1649 von Cromwell auf den Savilian Chair of Geometry in Oxford berufen, als der vorherige Inhaber Peter Turner wegen Unterst¨ utzung der Royalisten entlassen wurde. Auch sp¨ ater war Wallis als Kryptologe atig, indem er eine Geheimbotschaft von Ludwig XIV. entzifferte, die Polen zu einem Angriff auf Preußen dr¨ angen sollte. Er bildete auch viele Kryptologen aus. Als der mit ihm befreundete Leibniz ihn 1699 darum bat, Kryptologen f¨ ur das Haus Hannover auszu- bilden, lehnte dieser jedoch ab. 1657 wurde Wallis Verwalter der Universit¨ atsarchive in Oxford. Da er sich ¨ offentlich gegen die Hinrichtung Karls I. ausgesprochen hatte, behielt er seinen Lehrstuhl auch nach der Restauration 1660 und wurde sogar k¨ oniglicher Kaplan. Wallis konnte umfangreiche Rechnungen (wie die Bildung der Wurzel einer 50- stelligen Zahl) im Kopf ausf¨ uhren. Er schrieb auch eine englische Grammatik (Gramma- tica linguae Anglicanae 1653) und gab Texte antiker griechischer Mathematiker heraus (die Abhandlung ¨ uber die Abst¨ ande von Sonne und Mond von Aristarchos von Sa- mos, Archimedes Sandz¨ ahler, die Harmonik des Ptolem¨ aus u.a.). Er machte auch die Arbeiten des englischen Renaissancemathematikers Thomas Harriot bekannt. Als er einen Versuch des Philosophen Thomas Hobbes zur Quadratur des Kreises herablas- send kritisierte, entspann sich zwischen beiden ein heftiger Schlagabtausch, der auch nach 1

Eine Auswahl weiterer Mathematiker, die in der Vorlesung ... · Wallis war eines der funf Kinder von John Wallis, dem Pfarrer von Ashford. Sein Vater starb, als er knapp sechs Jahre

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Eine Auswahl weiterer Mathematiker,die in der Vorlesung Funktionentheorie erwahnt wurden

Die folgenden Ausfuhrungen stammen im Wesentlichen aus Wikipedia mit einigenredaktionellen Anderungen. Die aufgefuhrte Liste von Mathematikern erhebt keinen An-spruch auf Vollstandigkeit. Sie ist chronologisch geordnet.

John Wallis (* 3. Dezember 1616 in Ashford, Kent; † 8. November 1703 in Ox-ford) war ein englischer Mathematiker, der Beitrage zur Infinitesimalrechnung und zurBerechnung der Kreiszahl π leistete.

Wallis war eines der funf Kinder von John Wallis, dem Pfarrer von Ashford. SeinVater starb, als er knapp sechs Jahre alt war. Da man seine Begabung fruh erkannte,wurde er mit 14 Jahren nach Felsted, Essex, auf die Schule des bekannten Lehrers Mar-tin Holbeach geschickt, wo er Griechisch, Latein und Hebraisch lernte. Ab Dezember1632 studierte er am Emmanuel College in Cambridge unter anderem Philosophie, Geo-graphie, Astronomie und Medizin mit einem Bachelor Abschluss 1637. Er setzte seinStudium besonders in Theologie fort und schloss 1640 mit einem Master of Arts ab undwurde im selben Jahr als Priester ordiniert. Mathematik, die damals nur als Unterrichts-stoff fur Kaufleute, Landvermesser und ahnliche Berufe angesehen wurde, lernte er nichtan der Schule oder Universitat, sondern kam damit laut seiner Autobiographie 1631 inBeruhrung, als sein Bruder ein Rechenbuch fur seine Kaufmannslehre studierte. NachAbschluss des Studiums war er Kaplan in Butterworth (Yorkshire), Hedingham, Essexund London. In dieser Zeit fing er auch an, sich im Englischen Burgerkrieg auf der Sei-te der Roundheads zu engagieren. Ein befreundeter Geistlicher fragte ihn 1642 halb imScherz, ob er eine verschlusselte Botschaft der Royalisten entschlusseln konne, was ihmin diesem und in folgenden Fallen auch gelang. Er erhielt dafur 1643 die Pfarrei in St.Gabriel in London, war aber nach dem Tod seiner Mutter im selben Jahr durch sein Erbefinanziell unabhangig. 1644 wurde er Fellow des Queens’ College in Cambridge, musstediesen Posten aber nach seiner 1645 erfolgten Heirat aufgeben. Er ging wieder nach Lon-don, wo er auch an den ersten Versammlungen der Vorlaufergesellschaft der Royal Societyaktiv beteiligt war und sich durch die Lekture eines Buches (Clavis mathematicae) vonWilliam Oughtred 1647 ernsthaft mit Mathematik zu befassen begann. Nicht zuletztwegen seiner kryptologischen Verdienste wurde er 1649 von Cromwell auf den SavilianChair of Geometry in Oxford berufen, als der vorherige Inhaber Peter Turner wegenUnterstutzung der Royalisten entlassen wurde. Auch spater war Wallis als Kryptologetatig, indem er eine Geheimbotschaft von Ludwig XIV. entzifferte, die Polen zu einemAngriff auf Preußen drangen sollte. Er bildete auch viele Kryptologen aus. Als der mitihm befreundete Leibniz ihn 1699 darum bat, Kryptologen fur das Haus Hannover auszu-bilden, lehnte dieser jedoch ab. 1657 wurde Wallis Verwalter der Universitatsarchive inOxford. Da er sich offentlich gegen die Hinrichtung Karls I. ausgesprochen hatte, behielter seinen Lehrstuhl auch nach der Restauration 1660 und wurde sogar koniglicher Kaplan.

Wallis konnte umfangreiche Rechnungen (wie die Bildung der Wurzel einer 50-stelligen Zahl) im Kopf ausfuhren. Er schrieb auch eine englische Grammatik (Gramma-tica linguae Anglicanae 1653) und gab Texte antiker griechischer Mathematiker heraus(die Abhandlung uber die Abstande von Sonne und Mond von Aristarchos von Sa-mos, Archimedes Sandzahler, die Harmonik des Ptolemaus u.a.). Er machte auch dieArbeiten des englischen Renaissancemathematikers Thomas Harriot bekannt. Als ereinen Versuch des Philosophen Thomas Hobbes zur Quadratur des Kreises herablas-send kritisierte, entspann sich zwischen beiden ein heftiger Schlagabtausch, der auch nach

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Jahren nicht abkuhlte und erst mit Hobbes Tod 25 Jahre nach Beginn des Disputs endete.Wallis trug in seinen Werken zur Entwicklung der Infinitesimalrechnung vor New-

ton bei, wobei er auf den Arbeiten von Johannes Kepler, Cavalieri, Robervalund Torricelli aufbaute. 1656 leitete er in Arithmetica Infinitorum, in dem er Untersu-chungen zu unendlichen Reihen veroffentlichte, das wallissche Produkt her, mit dem mannaherungsweise die Kreiszahl π berechnen kann:

π

2=∞∏k=1

(2k)2

(2k − 1)(2k + 1)=

22

1 · 3· 42

3 · 5· 62

5 · 7· 82

7 · 9· . . . .

Die Formel entstand aus der Integration der Funktion x 7→ (1 − x2)n fur n = 12

(alsoder direkten Integration der Flache des Einheitskreises), die er aus der Interpolation (einBegriff den er einfuhrte) des Integrals fur ganze n gewann. Auch das Unendlichzeichen∞als Symbol fur das Unendliche stammt von Wallis. Die Arithmetica Infinitorum ubteeinen großen Einfluss auf Isaac Newton aus, der das Buch im Winter 1664/65 studierte,und fuhrten auch zu einem Briefwechsel mit Fermat, der nach Erscheinen des Buchesdie englischen Mathematiker mit mathematischen Problemen herausforderte.

In seiner Algebra ließ er auch komplexe Losungen von Gleichungen zu. Er war einerder ersten britischen Mathematiker, die die Methoden der analytischen Geometrie vonDescartes benutzten. Unter anderem wandte er sie auf die Kegelschnitte an. In seinerAlgebra, seinem letzten großen Werk, an dem er viele Jahre arbeitete, ist auch ein Ab-schnitt uber unendliche Reihen und sie enthalt insbesondere in der ersten Auflage dieersten Veroffentlichungen von einigen von Newtons Resultaten auf diesem Feld. Walliswar sehr bemuht Newtons Prioritat auf diesem Gebiet zu dokumentieren (zumal Newtondamals nichts selbst veroffentlichte) und ermunterte auch andere Kollegen in Großbritan-nien dazu. In seiner Algebra baute er insbesondere auf der Arbeit englischer Mathematikerwie Oughtred, Harriot und John Pell auf. Er versuchte auch nachzuweisen, dassDescartes in der Algebra von Harriot beeinflusst war.

Er verfasste Abhandlungen zur Musiktheorie und ein Buch uber Phonetik (De loquela,zuerst 1652), das viele Auflagen erlebte (6. Auflage 1765). Wallis Studien uber Phonetikfuhrten auch zu Methoden zur Unterrichtung tauber Kinder, und er unterrichtete 1661/62zwei Gehorlose, woruber er vor der Royal Society berichtete. In diesem Bereich ubernahmer auch Theorien von Johann Konrad Ammann.

Zur Bewegungslehre und Mechanik verfasste er 1671 ein Werk”Mechanica sive de

motu tractatus geometricus§’, in dem er auf galileischer Grundlage die strikt geometrischeGrundlage dieser Lehre betonte. Es handelt insbesondere von Schwerpunkten und Stoßenund stellte einen wesentlichen Fortschritt in der Mathematisierung der Mechanik im 17.Jahrhundert dar. Das Buch beeinflusste auch Isaac Newton stark, der mit seinem BuchPrincipia (1687) allerdings weit daruber hinausging.

Abraham de Moivre (* 26. Mai 1667 in Vitry-le-Francois; † 27. November 1754in London) war ein franzosischer Mathematiker, der vor allem fur den Satz von Moivrebekannt ist. De Moivre besuchte von 1678 bis 1681 die Protestantische Schule in Se-dan, studierte 1682 bis 1684 in Saumur Logik und Mathematik und nahm 1684 in ParisPrivatunterricht bei Jacques Ozanam. Nach dem Revokationsedikt von 1685 hielt manihn in Paris in einer Abtei fest, um ihn zur Konversion zu bewegen. Am 27. April 1688wurde er freigelassen und floh nach England.

Er schlug sich als Privatlehrer durch, studierte und meisterte nebenbei Newtons Prin-cipia Mathematica und veroffentlichte von 1695 an Arbeiten uber Newtons Fluxions-

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Methode der Infinitesimalrechnung, wobei er die Bekanntschaft von Edmond Halley(Sekretar der Royal Society) und Isaac Newton machte. Spater war er ein enger FreundNewtons und diskutierte mit ihm zeitweise taglich in seinem Haus oder in dem Coffee-House, wo er sich aufzuhalten pflegte. Am 30. November 1697 wurde er zum Mitglied(Fellow) der Royal Society gewahlt. Seine Versuche, eine Professur auf dem Festland zuerhalten (wo sich Gottfried Wilhelm Leibniz fur ihn einsetzte), scheiterten ebensowie in England (trotz Fursprache von Newton und Halley). De Moivres Leben verliefin Armut.

Von 1708 an beschaftigte er sich im Anschluss an Pierre Remond de Montmort(mit dem er in einen Prioritatsstreit geriet) und Christian Huygens vorwiegend mitUntersuchungen zur Wahrscheinlichkeitstheorie ausgehend von Glucksspielrechnungen,aus denen die 1718 erschienene

”The Doctrine of Chances — a method for calculating

the probabilities of events in play“ hervorging. Eine erste lateinische Version hatte er1711 in den Transactions der Royal Society veroffentlicht (De Mensura sortis). Nach derEntdeckung des Grenzwertsatzes fur Binomialverteilungen (1733) gab er 1738 eine zweiteAuflage seiner Doctrine heraus. 1756 erschien eine dritte Auflage postum. Die zweite Auf-lage der Doctrine enthielt daruber hinaus de Moivres Untersuchungen uber Sterblichkeits-und Rentenprobleme, die schon Edmond Halley fur Anwendungen bei Lebensversi-cherungen untersucht hatte und woruber de Moivre 1724 eine Schrift veroffentlichte(Annuities upon Lives), die er in die Neuauflage einarbeitete. Das Buch war eine derwichtigsten Vorstufen fur das Lehrbuch der Wahrscheinlichkeitstheorie von Pierre Si-mon Laplace, der die Theorie am Ende des 18. Jahrhunderts zusammenfasste und aufeine neue Stufe hob.

In Miscellanea analytica stellte de Moivre seine Theorie der rekurrenten Reihendar. Dieses 1730 veroffentlichte Werk gibt einen Uberblick uber die Arbeiten de Moivresin der Analysis zusammen mit den Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung undAstronomie. Hier findet sich zum ersten Mal die Stirling-Formel in seiner asymptotischenAnnaherung der Binomialverteilung durch die Normalverteilung. Er gibt auch eine Losungdes Winkelteilungsproblems an, die unter Umgehung imaginarer Großen ein Aquivalentdes nach ihm

”moivrescher Satz“ benannten Theorems darstellt. Diesen Satz publizierte

er allerdings schon in einer Arbeit von 1722. Insbesondere folgt daraus auch eine Formelzum Radizieren in den komplexen Zahlen. Teile der Miscellanea analytica arbeitete erauch in die zweite Auflage seiner Doctrines of Chance ein.

De Moivre wurde 1735 Mitglied der Koniglich-Preußischen Akademie der Wissen-schaften, und 1754 — funf Monate vor seinem Tod — ehrte ihn auch die Academiedes sciences fur seine Leistungen als Mathematiker mit der Mitgliedschaft. Der Asteroid(28729) Moivre wurde nach ihm benannt.

James Stirling (* Mai 1692 in Garden bei Stirling; † 5. Dezember 1770 in Edin-burgh) war ein schottischer Mathematiker. Er reiste Ende 1710 nach Oxford, wo er alsSnell-Stipendiat am 18. Januar 1711 am Balliol College der Universitat Oxford imma-trikuliert wurde. Im Oktober 1711 erhielt er ein weiteres Stipendium (Bishop WarnerExhibition). Die Familie Stirling gehorte zu den Jakobiten, Anhangern der Stuarts,und nach dem ersten Jakobitenaufstand 1715 wurden Stirling die Stipendien entzogen.Auf Vermittlung des mit ihm befreundeten venezianischen Botschafters Nicholas Tronlebte er von (vermutlich) 1717 bis 1722 in Venedig, 1721 besuchte er die Universitat Pa-dua. Nach der Ruckkehr nach Großbritannien war er ab 1725 fur etwa zehn Jahre Lehreran der Watt’s Academy in Covent Garden, London. Er wurde 1726 zum Mitglied der

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Royal Society gewahlt. Von 1734 bis 1736 arbeitete er im Sommer fur die Scotch MinesCompany in Leadhills in Lanarkshire, Schottland. Anfang Mai 1737 erhielt er dort einedauerhafte Anstellung als Chief Agent, diese Stelle behielt er bis zu seinem Tod. AllenBerichten zufolge war seine Tatigkeit dort sehr erfolgreich. Am 30. Juni 1746 wurde erzum Mitglied der Koniglich-Preußischen Akademie der Wissenschaften gewahlt. 1753 trater aus finanziellen Grunden aus der Royal Society aus.

Stirling verfasste Beitrage zur Theorie der Kubiken, zur newtonschen Interpolati-onstheorie und zu verschiedenen Reihenentwicklungen. Nach ihm sind die Stirlingzahlenin der Kombinatorik und die Stirlingformel zur Approximation der Fakultat n! fur großen benannt, beides ist in seiner 1730 veroffentlichten Schrift

”Methodus Differentialis“ zu

finden.Stirling ist auf dem Friedhof Greyfriars Kirkyard in Edinburgh begraben.

Joseph-Louis Lagrange (* 25. Januar 1736 in Turin als Giuseppe Lodovico La-grangia; † 10. April 1813 in Paris) war ein italienischer Mathematiker und Astronom. Erbegrundete die analytische Mechanik (Lagrangeformalismus mit der Lagrangefunktion),die er 1788 in seinem beruhmten Lehrbuch

”Mecanique analytique“ darstellte. Weitere

Arbeitsgebiete waren das Dreikorperproblem der Himmelsmechanik (Lagrangepunkte),die Variationsrechnung und die Theorie der komplexen Funktionen. Er leistete Beitragezur Gruppentheorie (bevor diese als eigener Forschungszweig existierte) und zur Theorieder quadratischen Formen in der Zahlentheorie. In der Analysis ist die lagrangesche Dar-stellung des Restgliedes der Taylorformel und in der Theorie der Differentialgleichungendie Lagrangemultiplikatorenregel bekannt.

Lagrange wurde als Giuseppe Ludovico Lagrangia geboren. Sein Vater warein gutsituierter Beamter franzosischer Abstammung, aber durch Spekulationen erlittdie Familie erhebliche finanzielle Verluste. Lagrange besuchte das Turiner Kolleg, woer mit siebzehn das erste mathematische Interesse zeigte, nachdem er zufallig auf eineVeroffentlichung Edmund Halleys stieß. Sein Vater wollte, dass er Anwalt werde, aberin der Schule interessierte sich Lagrange schließlich mehr fur Mathematik, speziell dieGeometrie. Er brachte sich innerhalb eines Jahres das gesamte Wissen eines vollstandigausgebildeten Mathematikers seiner Zeit bei.

Mit 19 Jahren erhielt er einen Lehrstuhl fur Mathematik an der koniglichen Artille-rieschule in Turin. Hier veroffentlichte er seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten uberDifferentialgleichungen und Variationsrechnung. 1757 gehort er zu den Grundern der Tu-riner Akademie. Dem Ruf Friedrichs II. von Preußen folgend ging Lagrange 1766 alsNachfolger von Leonhard Euler als Direktor an die Koniglich-Preußische Akademieder Wissenschaften nach Berlin. Hier beschaftigte er sich mit Problemen der Astronomie,aber auch mit partiellen Differentialgleichungen sowie Fragen aus Geometrie und Algebra.Nach dem Tod Friedrichs II. 1786 ging er 1787 als Pensionar der Academie des sciences,deren Mitglied er bereits seit 1772 war, nach Paris. Nach einer Phase der Depression er-schien 1788 hier sein bekanntes Werk uber theoretische Physik

”Mecanique analytique“;

eine weitere Veroffentlichung behandelt das Dreikorperproblem der Himmelsmechanik.1793 begann im Zuge der Franzosischen Revolution die Terrorherrschaft, und alle

Auslander wurden aus Frankreich verbannt. Lagrange erhielt allerdings eine Ausnah-megenehmigung. Ab 1795 lehrte er fur kurze Zeit an der Ecole normale superieure undtrat in das neu gegrundete Institut de France ein. Ab 1797 lehrte er an der Ecole poly-technique. 1801 wurde er zum auswartigen Mitglied der Gottinger Akademie der Wissen-schaften gewahlt. Seit 1808 war er auswartiges Mitglied der Bayerischen Akademie der

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Wissenschaften. Unter Napoleon I. wurde er zum Grafen und Senator von Frankreichernannt. Dadurch lernte er den Vater von Augustin-Louis Cauchy kennen und wurdezu einem Forderer Cauchys.

Lagrange ist im Pantheon aufgebahrt. Er ist namentlich auf dem Eiffelturm verewigt.Der Mondkrater Lagrange und der Asteroid (1006) Lagrangea sind nach ihm benannt.

Lorenzo Mascheroni (* 13. Mai 1750 bei Bergamo; † 14. Juli 1800 in Paris) warein italienischer Geistlicher und Mathematiker. Er war der Sohn eines wohlhabendenLandbesitzers und wurde mit 17 Jahren ordiniert. Danach lehrte er Rhetorik und ab 1778Physik und Mathematik am Seminar in Bergamo. Im Jahr 1786 wurde MascheroniMathematikprofessor der Universitat Pavia, nachdem er sich mit einem Buch uber Statikeinen Namen gemacht hatte. 1789 wurde er fur vier Jahre Rektor der Universitat. 1788bis 1791 stand er der Accademia degli Affidati vor. Er war einer der Gelehrten, der nachParis zur Diskussion des metrischen Systems eingeladen wurde und starb dort.

Im Jahr 1790 veroffentlichte Mascheroni in seinem Werk Adnotationes ad calcu-lum integralem Euleri einige Integraldarstellungen der Euler-Mascheroni-Konstante γ =limn→∞

(1 + 1

2+ 1

3+ · · ·+ 1

n− log n

)und berechnete sie auf 32 Nachkommastellen, wovon

allerdings die Stellen 19 bis 21 (vermutlich aufgrund eines Ubertragungsfehlers) falschangegeben sind. Er bezeichnete die Konstante nicht, wie oft behauptet, mit γ, sondernausschließlich mit A. Der Ursprung der Bezeichnung γ ist ein offenes Problem.

1797 (Geometria del compasso) bewies er, dass alle geometrischen Konstruktionen mitZirkel alleine durchgefuhrt werden konnten. Denselben Satz hatte 120 Jahre zuvor bereitsGeorg Mohr bewiesen, sein Beweis war jedoch in Vergessenheit geraten, sodass die Aus-sage heutzutage nach beiden Mathematikern als Satz von Mohr-Mascheroni benanntwird. Von ihm stammen bedeutende Beitrage zur Statik von Gewolben. Er versuchte sichauch als Dichter mit stark mythologisierenden Gedichten wie Invito di Dafni Orobiano aLesbia Cidonia.

Simeon Denis Poisson (* 21. Juni 1781 in Pithiviers (Departement Loiret); † 25.April 1840 in Paris) war ein franzosischer Physiker und Mathematiker. Er wurde als Sohndes Soldaten und spateren Verwaltungsbeamten Simeon Poisson in Pithiviers geboren.Der Vater wurde vor der Revolution in der Armee vom Adel benachteiligt und begrußtedeshalb die Revolution, machte sich

”verdient“ und wurde Prasident des Distrikts Pithi-

viers. Nach dem Wunsch seines Vaters sollte Poisson Arzt werden. Zu diesem Zweckschickte man ihn zur Ausbildung zu einem Onkel nach Fontainebleau, der dort als Arztund Chirurg praktizierte. Diese Ausbildung brach er jedoch ab, weil sie ihn nicht interes-sierte und er mit den Handen ungeschickt war. Im Jahre 1796 wurde Poisson an die Ecolecentrale in Fontainebleau geschickt, einer vom Direktorium, Le Directoire, gegrundetenSchule. Durch seine guten mathematischen Leistungen und die Beziehungen des Vaterswurde ihm ein Studium an der Ecole polytechnique in Paris empfohlen und ermoglicht.Poisson profitierte davon, dass Berufe nicht mehr vom Adel kontrolliert wurden, undBildung fur jedermann moglich sein sollte.

Dort, an der Ecole polytechnique, begann Poisson 1798 Mathematik zu studieren, woer die Bekanntschaft von Laplace und Lagrange machte. Schon im Jahre 1800 been-dete er erfolgreich sein Studium mit einer Abschlussarbeit uber Etienne Bezouts Theoremund dessen Gleichungstheorie. Bereits 1802 wurde er dort Professor und ubernahm 1806den Lehrstuhl von Jean Baptiste Joseph Fourier, nachdem dieser von Napoleonnach Grenoble geschickt worden war. Der in seinem letzten Studienjahr geschriebene Arti-

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kel zu Bezouts Satz war von solcher Qualitat, dass er das Studium ohne Abschlussprufungbeenden konnte und sofort als Repetitor an der Ecole polytechnique eingestellt wurde. Daswar ungewohnlich, normalerweise musste man einen Umweg uber einen Aufenthalt in derProvinz machen. Vorher stand die Stelle des 76-jahrigen Bossut zur Diskussion, aber derlebte noch weitere sieben Jahre, der Weg in die mathematische Fakultat war versperrt.Die Stelle von Monge war vakant, aber da Monge seine Forschung auf darstellende Geo-metrie ausgerichtet hatte, lehnte Poisson ab, weil er mit seinen ungeschickten Handengegen geometrische Konstruktionen und das Zeichnen von Diagrammen abgeneigt war.Fur den offentlichen Dienst war das ein unuberwindliches Hindernis. So wandte er sichder

”reinen“ Wissenschaft zu. Poisson war politisch nicht engagiert, sondern mit Mathe-

matik, Unterricht und der Ecole ausgelastet, sodass er eine gegen Napoleon gerichteteAktion der Studenten verhinderte, nicht weil er fur Napoleon war, sondern weil er umdie Ecole furchtete. Das schadete ihm nicht, denn Napoleons Apparat wertete das als Un-terstutzung. Er beschaftigte sich derweil mit dem Verhaltnis gewohnlicher zu partiellenDifferentialgleichungen. Im Besonderen untersuchte er das physikalische Problem des Pen-dels im zahen (widerstrebenden, reibenden) Medium und beschaftigte sich mit Akustik.Diese Studien waren wegen seiner Ungeschicklichtkeit rein theoretisch.

”Poisson . . . war es zufrieden, mit den Wechselfallen der experimentalen For-

schung vollig unvertraut zu sein. Es ist unwahrscheinlich, dass er jemals eine ex-perimentelle Messung versuchte, noch per Hand eine Versuchanordnung entwarf.“

Ab Juli 1807 wurde er in den Memoires de Physique et de Chimie de la Societed’Arcueil als Mitglied der Societe d’Arcueil erwahnt. 1808 arbeitete er fur das Bureau desLongitudes (Vermessung), 1809 berief ihn die neugegrundete Faculte des Sciences zumVorsitz der Abteilung Mechanik.

1808 und 1809 veroffentlichte Poisson drei wichtige Artikel fur die Academie desSciences, die seine Arbeitsweise zeigten. Als Erstes untersuchte er mit

”Uber die Unre-

gelmassigeit der mittleren Bewegung der Planeten“ ein von Laplace und Lagrangebehandeltes Problem der Storungen der Planetenlaufe mittels Reihenentwicklungen undNaherungslosungen. Diese Art Probleme interessierte ihn.

”. . . er mochte besonders ungeloste Fragen, die von anderen schon behandelt waren,

oder Bereiche, in denen noch Arbeit zu erledigen blieb . . .“

Die Arbeit”Uber die Variation der (beliebigen) Konstanten in Fragen der Mechanik“ war

Folge von Lagranges Entwicklungen. Er gab eine Neuausgabe von Clairauts”Die Form

der Erde“ heraus, und in Erweiterung bestatigte es den newton-huygenschen Glauben,dass die Erde an den Polen abgeflacht war. 1811 veroffentlichte er seine außergewohnlichverstandigen Vorlesungen zur Mechanik an der Ecole polytechnique.

Malus wurde krank und die Abteilung Physik des Instituts wurde vakant. Die Mathe-matiker beabsichtigten, Poisson auf die Stelle zu setzen, als sie das Thema Elektrizitatdes Grand Prix festlegten, um Poissons Chancen zu steigern. Poisson machte schon vorMalus Tod 1812 Fortschritte bei dem Thema. Er ubermittelte den ersten Teil an die Aka-demie mit dem Titel

”Uber die Verteilung der Elektrizitat auf der Oberflache leitender

Korper“. Wie die Mathematiker beabsichtigt hatten, war das entscheidend fur die Wahlzu Malus Nachfolge. Außerdem bedeutete es eine Ausrichtung weg von der experimentel-len Forschung zur theoretischen, was als bestimmend fur die Physik infolge von Laplaceerachtet wurde.

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Poisson ubernahm weitere Verpflichtungen, als Prufer an der Ecole militaire undim Folgejahr bei den Abschlussprufungen der Ecole polytechnique. Poissons Arbeitspen-sum ist bemerkenswert, neben Forschung und Lehre organisierte er die mathematischenAngelegenheiten in Frankreich. 1817 heiratete er Nancy de Bardi, ein in England ge-borenes Waisenkind emigrierter Eltern, er hatte mit ihr vier Kinder, womit eine weitereVerpflichtung hinzukam und dennoch konnte er noch mehr Aufgaben ubernehmen. SeineForschung deckte weite Bereiche angewandter Mathematik ab. Obwohl er keine neuenTheorien aufstellte, erweiterte er bestehende maßgeblich, indem er oft bei den TheorienAnderer als Erster das Bezeichnende herausarbeite und erkannte.

1813 untersucht er das Potential im Innern sich anziehender Massen mit Ergebnissen,die in der Elektrostatik Anwendung fanden. Er schrieb ein großes Werk uber Elektrizitatund Magnetismus, danach uber elastische Oberflachen. Es folgten Artikel uber die Schall-geschwindigkeit in Gasen, Vorschlage zur Warmelehre und zu elastischen Schwingungen.1815 veroffentlicht er eine Arbeit, die Fourier verargerte.

”Poisson hat zu viel Talent, um es an die Arbeit Anderer zu wenden. Es zu

nutzen, nur um Bekanntes zu entdecken, heißt es verschwenden . . .“

Fourier macht gultige Einwendungen gegen Poissons Argumente in dessen Arbeiten, diedieser in spateren Abhandlungen 1820 und 1821 verbesserte.

1823 veroffentlichte Poisson zur Warmelehre mit Ergebnissen, die Carnot beein-flussten. Viele Anregungen nahm Poisson von Laplace, insbesondere bei Arbeiten zurelativen Schallgeschwindigkeiten und Anziehungskraften. Diese spateren Arbeiten warenauch vom fruheren James Ivory beeinflusst. Poissons Arbeit zu Anziehungskraften sollteGreens Hauptarbeit von 1828 beeinflussen, was Poisson nicht zur Kenntnis nahm.

In den Untersuchungen zur Wahrscheinlichkeit der Urteile in Kriminalfallen und Zi-vilfallen, einer wichtigen Arbeit zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, 1837 veroffentlicht, er-scheint erstmals die Poissonverteilung. Die Poissonverteilung beschreibt die Wahrschein-lichkeit, dass ein Zufallsereignis in einem Zeit- oder Raumintervall stattfindet unter derBedingung, dass das Eintreffen sehr unwahrscheinlich ist, aber die Anzahl der Versu-che groß, sodass das Ereignis tatsachlich einige Male eintritt. Er fuhrte dabei auch denAusdruck des

”Gesetzes der großen Zahl“ ein. Obwohl die Arbeit heute als sehr wichtig

betrachtet wird, fand sie zu ihrer Zeit wenig Beachtung, außer in Russland, wo Tsche-byscheff die Ideen weiterentwickelte.

Poisson teilte nicht die chauvinistische Haltung vieler Wissenschaftler seiner Zeit.Lagrange und Laplace wollten Fermat als Erfinder der Differential- und Integral-rechnung wissen, er war immerhin Franzose im Gegensatz zu Leibniz und Newton.Poisson schrieb aber 1831:

”Dieser [Differential- und Integral-] Kalkul besteht in einer Anzahl von Regeln. . . und nicht in der Verwendung von unendlich kleinen Großen . . . und in dieserHinsicht seiner Grundung ist er nicht alter als Leibniz, der Autor des Algorithmusund der Notation, die sich allgemein durchgesetzt hat.“

Er veroffentlichte zwischen drei- und vierhundert mathematische Arbeiten. Trotz die-ses großen Ausstoßes arbeitete er jeweils nur immer an einem einzigen Thema.

”Poisson wollte sich nie mit zwei Dingen zur gleichen Zeit beschaftigen; wenn er

im Zuge seiner Arbeit einem Forschungsprojekt begegnete, das keine unmittelbareVerbindung mit dem, was er zu der Zeit tat, bildete, begnugte er sich damit, ein

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paar Worte in sein kleines Heft zu schreiben. Die Personen, mit denen er gewohn-lich uber seine wissenschaftlichen Ideen kommunizierte, wussten, dass, sobald eineAbhandlung fertig war, er ohne Unterbrechung zu einem anderen Thema uber-ging, und dass er ublicherweise aus seinem Heft die Fragen wahlte, mit denen ersich beschaftigen sollte. Diese Art vorherzusehen, welche Probleme eine gewisseAussicht auf Erfolg bieten und in der Lage zu sein, auf sie zu warten, bevor mansich ihnen widmete, zeugt von einem eindringlichen und methodischen Geist.“

Poissons Name ist mit einer Vielzahl von Ideen verknupft: Poissonintegral, Poisson-gleichung in der Potentialtheorie, Poissonklammern bei Differentialgleichungen, Poisson-verhaltnis in der Elastizitatslehre, Poissonkonstante in der Elektrizitat. Er stand bei ande-ren franzosischen Mathematikern kaum in Achtung, weder zu Lebzeiten noch nach seinemTod. Sein Ruf nahrte sich aus der Achtung, die er bei auslandischen Mathematikern ge-noss, die die Wichtigkeit seiner Ideen eher erkannten.

Poisson beschaftigte sich nur mit Mathematik und Francois Arago (1786–1853)schreibt ihm das Zitat zu:

”La vie n’est bonne qu’a deux choses: a faire des mathematiques et a les professer.“

”Das Leben ist nur zu zwei Dingen gut: um Mathematik zu machen und sie zu

lehren.“

Seit 1812 war er korrespondierendes und seit 1830 auswartiges Mitglied der Preußi-schen Akademie der Wissenschaften. 1818 wurde er Fellow der Royal Society. 1822 wurdeer in die American Academy of Arts and Sciences gewahlt. Im Dezember 1826 wurde erEhrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg. Er istnamentlich auf dem Eiffelturm verewigt. Der Mondkrater Poisson ist nach ihm benannt.

Poisson war ein Schuler von Pierre Simon Laplace und beschaftigte sich mit denphysikalischen Grundlagen von Wellen, arbeitete uber Akustik, Elastizitat und Warmesowie uber die elektrischen Eigenschaften von festen Korpern. 1812 publiziert er eine Er-weiterung der Laplacegleichung um die Oberflachenladung. 1813 untersuchte Poissondas Potential im Innern anziehender Massen (nur innere Schichten liefern einen Kraft-beitrag, das Potential der außeren Schichten ist null), und die Ergebnisse fanden in derElektrostatik Anwendung; er leistete damit einen Beitrag zur Potentialtheorie. 1818 sagteer den Poissonfleck voraus, wenn Licht Wellencharakter haben sollte. Dies bezweifelte erallerdings. Er fuhrte heftige Diskussionen mit Augustin Jean Fresnel als Verfechterder Wellentheorie des Lichts. Der Disput wurde durch den experimentellen Nachweis desFlecks durch Francois Arago beendet. 1838 veroffentlichte er seine Wahrscheinlich-keitstheorie. Darin enthalten war die Herleitung der Poissonverteilung.

Die Beziehung zwischen Druck p und Volumen V bei adiabatischer Zustandsanderungging als poissonsches Gesetz in die Physik ein:

pV γ = const. .

In der Thermodynamik, auch Kalorik oder Warmelehre genannt, spricht man eher vonden poissonschen Gleichungen:

TV γ−1 = const. , pV γ = const. ,T γ

pγ−1= const. .

Dabei ist γ der sogenannte Adiabatenexponent (oft auch κ genannt).

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Nach Poisson ist auch die Poissonzahl ν benannt. Sie gibt an, in welchem Verhaltnisdie elastische Langsdehnung ε und die gleichzeitig eintretende elastische Querkontraktionεq zueinander stehen, wenn ein Stab auf Zug beansprucht wird. Die Poissonzahl, auchQuerkontraktionszahl genannt, liegt bei gewohnlichen Materialien zwischen 0 und 0, 5.

Als Mathematiker arbeitete Poisson auf vielen Gebieten, unter anderem der Dif-ferentialgeometrie, Infinitesimalrechnung und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Mehrere ma-thematische Begriffe sind mit seinem Namen verbunden, z.B. poissonsche Differential-gleichung, poissonsche Integralformel, Poissonkern, Poissonverteilung, Poissongleichung,Poissonzahl und Poissonklammer. Insgesamt veroffentlichte er uber 300 Arbeiten. Nach-dem die Gesetze der Deviation von Matthew Flinders gefunden worden waren, stelltePoisson sie in mathematischer Form dar.

Augustin Jean Fresnel (* 10. Mai 1788 in Broglie (Eure); † 14. Juli 1827 inVille-d’Avray bei Paris) war ein franzosischer Physiker und Ingenieur, der wesentlich zurBegrundung der Wellentheorie des Lichts und zur Optik beitrug. Er studierte sowohltheoretisch als auch experimentell das Verhalten von Licht.

Fresnel war Sohn eines Architekten und litt als Kind unter einer starken Lern-schwache, sodass er mit neun Jahren noch nicht lesen konnte. Mit dreizehn trat er in dieEcole centrale in Caen ein, und mit sechzehneinhalb in die Ecole polytechnique, die ermit Auszeichnung des Ingenieurs absolvierte. Dann ging er zur Ecole nationale des pontset chaussees. Er arbeitete als Ingenieur fur die Departements Vendee, Drome und Ille-et-Vilaine. Da er aber die Bourbonen unterstutzt hatte, verlor er 1814 seine Anstellung, alsNapoleon wieder an die Macht kam. Bei der zweiten Restauration der Monarchie erhielt ereinen Posten als Ingenieur in Paris, wo er einen Großteil seines ubrigen Lebens verbrachte.

Seine Forschungen in der Optik, die er bis zu seinem Tode fortfuhrte, scheinen umdas Jahr 1814 begonnen zu haben, als er einen Artikel uber die Aberration von Lichtvorbereitete, der allerdings nicht veroffentlicht wurde. 1818 schrieb er einen Artikel uberBeugung, fur den er im darauffolgenden Jahr den Preis der Academie des sciences in Pariserhielt. 1823 wurde er einstimmig zum Mitglied der Akademie gewahlt. 1825 wurde er alsForeign Member in die Royal Society in London gewahlt, von der ihm 1824 die Rumford-medaille verliehen wurde. 1819 wurde er zum Sekretar der Kommission fur Leuchtturmeernannt, fur die er erstmals Fresnellinsen als Ersatz fur die bis dahin benutzten Spiegelkonstruierte. Er starb nahe Paris an Tuberkulose.

Die Wellentheorie des Lichts, erstmals von Thomas Young experimentell demon-striert, wurde zu einer großen Klasse von optischen Phanomenen erweitert und durch sei-ne brillanten Entdeckungen und mathematischen Ableitungen dauerhaft etabliert. Durchden Gebrauch von zwei ebenen Metallspiegeln, die in einem Winkel von nahezu 180◦

zueinander angeordnet waren, vermied er die in dem Experiment von Francesco Ma-ria Grimaldi (1618–1663) durch die Verwendung von Blenden fur die Lichttransmissionauftretende Beugung. Dadurch konnte er auf uberzeugende Art und Weise den Inter-ferenzphanomenen in Ubereinstimmung mit der Wellentheorie Rechnung tragen. Nebendiesem Versuch ist Fresnel auch fur seinen Interferenzversuch mit dem Biprisma bekanntgeworden.

Mit Francois Arago studierte er die Gesetze der Interferenz von polarisierten Strah-len. Einige ihrer Ergebnisse fassten sie in vier Aussagen zusammen, den Fresnel-Arago-Gesetzen. Er erzeugte zirkular polarisiertes Licht mit Hilfe eines Glasrhombus, bekanntals Fresnelrhombus, mit stumpfen Winkeln von 126◦ und spitzen Winkeln von 54◦. SeineArbeiten zu Fragen der Optik erfuhren wahrend seiner Lebenszeit nur wenig offentliche

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Anerkennung, und viele seiner Artikel wurden von der Academie des sciences erst Jahrenach seinem Ableben gedruckt. Aber wie er 1824 an Young schrieb, war

”die Sensibi-

litat oder die Eitelkeit, die Liebe des Ruhms genannt wird“ in ihm abgestumpft.”All die

Komplimente, die ich von Arago, Laplace und Biot erhalten habe, bereiteten mir nieso viel Vergnugen wie die Entdeckung der theoretischen Wahrheit, oder die Bestatigungeiner Berechnung durch das Experiment.“

1969 wurde von franzosischer Seite vorgeschlagen, eine Einheit der Frequenz (ein Tera-hertz) ihm zu Ehren mit Fresnel zu benennen, dies wurde jedoch nie umgesetzt. Nach ihmist die Fresnelzahl benannt, die ein Maß fur die Starke der Beugung an einer Blende angibt.Fresnel ist unter den 72 Namen auf dem Eiffelturm verewigt.

Fresnels Name fand in folgende Begriffe (Deonyme) Eingang: Die Fresnelintegralesind spezielle uneigentliche Integrale. Die fresnelschen Formeln beschaftigen sich mit demReflexionsgrad elektromagnetischer Wellen. Fresnellinsen konnen mit wesentlich wenigerGlas ebenso kurze Brennweiten erzeugen wie herkommliche Linsen. Die Fresnelzonen-platte kann durch Beugung und Interferenz auch fur Rontgenstrahlen eingesetzt werden.Die Fresnelzone beschreibt einen raumlichen Bereich zwischen Sende- und Empfangs-antenne einer Funkstrecke. Der fresnelsche Biprismaversuch ist eine Versuchsanordnungzur Erzeugung von Interferenz von Lichtstrahlen aus einer divergenten Lichtquelle. Derfresnelsche Doppelspiegel erzeugt ebenfalls interferenzfahige Lichtstrahlen aus einer di-vergenten Lichtquelle. 1969 schlug Frankreich Fresnel als Einheit fur die Frequenz vor.Seit 1999 tragt der Asteroid (10111) Fresnel seinen Namen. Die Rimae Fresnel auf demErdmond ist nach ihm benannt. Das fresnelsche Parallelepiped ist ein optisches Prisma,mit dem sich 45◦-linear-polarisiertes Licht in zirkular-polarisiertes Licht umwandeln lasst.Der fresnelsche Mitfuhrungskoeffizient diente der Berechnung der Lichtgeschwindigkeit inbewegten Medien. Die Fresnelzahl beschreibt, wie stark die Beugung eines Lichtstrahls aneiner Blende ist.

August Ferdinand Mobius (* 17. November 1790 in Pforta; † 26. September 1868in Leipzig) war ein deutscher Mathematiker und Astronom an der Universitat Leipzig. SeinVater Johann Heinrich Mobius war Tanzlehrer in Schulpforte (fruher Schulpforta). Erstarb bereits drei Jahre nach der Geburt von August Ferdinand. Die Mutter JohanneKatharine Christiane Keil (1756–1820) war eine Nachfahrin von Martin Luther.

1820 heiratete Mobius Dorothea Christiane Juliane Rothe (* 26. April 1790in Gera; † 9. September 1859 in Leipzig). Die beiden hatten eine Tochter, Emilie Au-guste (1822–1897) sowie zwei Sohne August Theodor (1821–1890) und Paul Hein-rich August (1825–1889). Die Tochter heiratete 1851 den Astronomen Heinrich Louisd’Arrest. Einer seiner Enkel war der Psychiater Paul Julius Mobius.

Mobius besuchte die in seinem Geburtsort ansassige, traditionsreiche LandesschulePforta und legte dort das Abitur ab. Er studierte zunachst Rechtswissenschaften, bevorer sich im zweiten Semester 1809 bis 1814 dem Studium der Mathematik an der Univer-sitat Leipzig zuwandte. Er promovierte bei Johann Friedrich Pfaff mit dem Thema

”De computandis occultationibus fixarum per planetas“, also uber Berechnungsmethoden

fur Bedeckungen von Fixsternen durch Planeten. Im Jahr 1815 habilitierte er sich mitastronomischen Arbeiten. Ein Jahr spater wurde er auf Empfehlung von Carl Fried-rich Gauß zum außerordentlichen Professor und Observator der Leipziger Sternwarteberufen. Zum Direktor der Sternwarte wurde er 1848 ernannt. Seit 1846 war er Mitgliedder Gottinger Akademie der Wissenschaften.

Mobius verfasste zahlreiche umfangreiche Abhandlungen und Schriften zur Astrono-

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mie, Geometrie und Statik. Er leistete wertvolle Beitrage zur analytischen Geometrie,u.a. mit der Einfuhrung der homogenen Koordinaten und des Dualitatsprinzips. Er giltals Pionier der Topologie. Im Jahre 1846 gehorte er zu den Mitbegrundern der KoniglichSachsischen Gesellschaft der Wissenschaften.

Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet (* 13. Februar 1805 in Duren; † 5. Mai1859 in Gottingen) war ein deutscher Mathematiker. Er lehrte in Berlin und Gottingenund arbeitete hauptsachlich auf den Gebieten der Analysis und der Zahlentheorie.

Dirichlets Großvater stammte aus Verviers (heute Belgien, damals Furstbistum Lut-tich) und siedelte nach Duren uber, wo er eine Tochter einer Durener Familie heiratete.Der Vater des Großvaters trug als erster zur Unterscheidung von seinem Vater den NamenLejeune Dirichlet (

”der junge Dirichlet“), der Name Dirichlet entstand aus de

Richelette (”von Richelette“) nach einem kleinen, heute belgischen Ort.

Mit zwolf Jahren besuchte Dirichlet zunachst das heute so genannte Beethoven-Gymnasium Bonn. In dieser Zeit wurde er von Peter Joseph Elvenich, einem Be-kannten der Familie Dirichlet, betreut. Zwei Jahre spater wechselte er zum Jesuiten-Gymnasium in Koln, wo er unter anderem von Georg Simon Ohm unterrichtet wurde.Im Mai 1822 begann er ein Mathematikstudium in Paris und traf dort mit den bedeu-tendsten franzosischen Mathematikern dieser Zeit — unter anderem Biot, Fourier,Francoeur, Hachette, Laplace, Lacroix, Legendre und Poisson — zusammen.

1825 machte er erstmals auf sich aufmerksam, indem er zusammen mit Adrien-MarieLegendre fur den Spezialfall n = 5 die fermatsche Vermutung bewies: Fur n > 2 existiertkeine nichttriviale ganzzahlige Losung der Gleichung an + bn = cn. Spater lieferte er nocheinen Beweis fur den Spezialfall n = 14. 1827 wurde er von der Universitat Bonn ehrenhal-ber promoviert und habilitierte sich 1827 — auf Empfehlung Alexander von Humboldts —als Privatdozent an der Universitat Breslau. 1828 zog ihn Alexander von Humboldtnach Berlin. Hier unterrichtete er zunachst an der allgemeinen Kriegsschule, und spaterlehrte er an der Bauakademie. 1829 wurde er Privatdozent, 1831 außerordentlicher Profes-sor und 1839 ordentlicher Professor der Mathematik an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universitat. 1832 wurde er zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaftengewahlt.

Dirichlet heiratete am 22. Mai 1832 Rebecka Henriette Mendelssohn, eineSchwester der Komponistin Fanny Hensel und des Komponisten Felix Mendels-sohn-Bartholdy. Ein Sohn des Paares war der Landwirt Walter Lejeune Dirich-let, ein Urenkel der Philosoph Leonard Nelson. Er war seit 1846 auswartiges undseit 1855 ordentliches Mitglied der Gottinger Akademie der Wissenschaften. 1855 trat erin Gottingen als Professor der hoheren Mathematik die Nachfolge von Carl FriedrichGauß an. Diese Position hatte er bis an sein Lebensende 1859 inne.

Dirichlet forschte im Wesentlichen auf den Gebieten der partiellen Differentialglei-chungen, der bestimmten Integrale und der Zahlentheorie. Er verknupfte die bis dahingetrennten Gebiete der Zahlentheorie und der Analysis. Dirichletreihen sind als Verallge-meinerung der Zetafunktion nach ihm benannt. Er gab Kriterien fur die Konvergenz vonFourierreihen und bewies die Existenz von unendlich vielen Primzahlen in arithmetischenProgressionen, bei denen das erste Glied teilerfremd zur Differenz aufeinanderfolgenderGlieder ist. Nach ihm benannt ist der dirichletsche Einheitensatz uber Einheiten in al-gebraischen Zahlkorpern. Seine neue Art von Betrachtungen der Potentialtheorie wur-den spater von Bernhard Riemann verwendet und weiterentwickelt. Er beschaftigtesich auch mit mathematischer Physik (unter anderem Gleichgewichtsfiguren rotierender

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Flussigkeiten). Seine Vorlesungen uber Zahlentheorie wurden nach seinem Tod von Ri-chard Dedekind herausgegeben und mit einem beruhmten eigenen Anhang versehen.Dirichlet war zu seiner Zeit fur die (nach damaligen Verhaltnissen) Strenge seiner Be-weise bekannt. Carl Gustav Jacobi schrieb in einem Brief an Alexander von Hum-boldt am 21. Dezember 1846: Wenn Gauß sagt, er habe etwas bewiesen, ist es mir sehrwahrscheinlich, wenn Cauchy es sagt, ist ebensoviel pro wie contra zu wetten, wennDirichlet es sagt, ist es gewiß.

Zu seinen Schulern gehorten neben Dedekind auch Bernhard Riemann, Gott-hold Eisenstein, Rudolf Lipschitz und Hans Sommer.

In Dirichlets Haus in Gottingen musizierten der Geiger Joseph Joachim und Aga-the von Siebold, die zeitweilige Verlobte von Brahms. Dort besuchte ihn Karl Au-gust Varnhagen von Ense aus Berlin und beschrieb in seinen Tagebuchern das Haus,den Garten und dessen Pavillon. Dirichlet wurde auf dem Bartholomausfriedhof inGottingen beigesetzt. An der Weierstraße 17 in Duren, wo Dirichlets Geburtshaus stand,erinnert eine Gedenktafel an Dirichlet. Der Dirichletweg in Duren ist nach ihm benannt.

Verfahren, die auf Dirichlet zuruckgehen oder nach ihm benannt sind: dirichlet-scher Approximationssatz, Dirichletbedingung, dirichletsche Betafunktion, Dirichletfunk-tion (oder auch dirichletsche Sprungfunktion), Dirichletkern, dirichletscher Primzahlsatz,Dirichletprinzip, Dirichletrandbedingung, Dirichletreihe, Dirichletverteilung, Schubfach-prinzip, Dirichletzerlegung, Konvergenzkriterium von Dirichlet, Dirichletfaltung.

Joseph Liouville, (* 24. Marz 1809 in Saint-Omer; † 8. September 1882 in Paris) warein franzosischer Mathematiker. Er studierte in Toul und ab 1825 in Paris an der Ecolepolytechnique, wo er zwei Jahre spater, unter anderem bei Poisson, seine Prufungenablegte. Nach einigen Jahren als Assistent an verschiedenen Universitaten wurde er 1838zum Professor an der Ecole polytechnique ernannt. 1850 setzte er sich bei der Bewerbungum einen Mathematiklehrstuhl am College de France knapp gegen Cauchy durch, woraussich ein Streit zwischen den beiden entwickelte, und 1857 wurde er uberdies auf einenMechaniklehrstuhl berufen.

Neben seiner herausragenden Forschung war Liouville auch ein sehr guter Organisa-tor. 1836 grundete er das noch heute sehr angesehene Journal de Mathematiques Pures etAppliquees, um die Arbeit anderer Mathematiker zu verbreiten und leitete dieses Journalvon 1836 und 1874. Er war der erste, der die Bedeutung der Schriften von Evariste Ga-lois voll erfasste und veroffentlichte sie 1846 in seiner Zeitschrift. Liouville war auchzeitweise politisch aktiv und wurde 1848 in die Nationalversammlung gewahlt. Nach einerWahlniederlage im Jahr darauf zog er sich allerdings aus der Politik zuruck. 1839 wurde erMitglied der Academie des sciences. 1856 wurde er zum auswartigen Mitglied der Gottin-ger Akademie der Wissenschaften gewahlt. 1859 wurde er in die American Academy ofArts and Sciences gewahlt.

Liouville arbeitete in zahlreichen mathematischen Teilgebieten, darunter Zahlen-theorie, Funktionentheorie und Differentialgeometrie, aber auch in mathematischer Phy-sik und sogar in Astronomie. Ein bekanntes Ergebnis ist der Satz von Liouville, andem heute keine Einfuhrung in die Funktionentheorie vorbeikommt. In der Theorie derquasikonformen und quasiregularen Abbildungen wird als Satz von Liouville sein Er-gebnis bezeichnet, dass fur n ≥ 3 die einzigen konformen Abbildungen eines Gebiets inRn Einschrankungen von Mobiustransformationen sind. Liouville war auch der erste,

dem ein Beweis fur die Existenz transzendenter Zahlen gelang, indem er eine unendlicheKlasse solcher Zahlen als Kettenbruche konstruierte (Liouvillezahlen). Er fuhrte auch ei-

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ne zahlentheoretische Funktion, die Liouvillefunktion ein. Weiter zeigte Liouville, dassdie Stammfunktion elementarer Funktionen nicht elementar sein muss. Seine Frage nacheinem Algorithmus, mit dem entschieden werden kann, wann dies der Fall ist, wurde1969 von Robert Risch beantwortet. In der mathematischen Physik stellt die Sturm-Liouville-Theorie, die er gemeinsam mit Charles-Francois Sturm entwickelte, einender wichtigsten Zugange zur Losung von Integralgleichungen dar. Nach dem liouvilleschenSatz fur konservative physikalische Systeme, die im Hamiltonformalismus beschrieben wer-den, ist das von benachbarten Trajektorien im Phasenraum eingeschlossene (mehrdimen-sionale) Volumen konstant.

Der Mondkrater Liouville ist nach ihm benannt.

Pierre Alphonse Laurent (* 18. Juli 1813 in Paris; † 2. September 1854 ebenda)war ein franzosischer Mathematiker. Er war als Ingenieur in der franzosischen Armee amAusbau des Hafens von Le Havre tatig. Seine einzige bekannte mathematische Arbeitwurde erst nach seinem Tode veroffentlicht, obwohl Augustin Louis Cauchy bereits1843 uber deren Inhalt in der franzosischen Akademie berichtete. Gegenstand dieser Arbeitwaren Konvergenzuntersuchungen uber die nach Laurent benannten Laurentreihen. Diein der Algebra untersuchten Laurentpolynome sind wegen der offensichtlichen Analogiezu den Laurentreihen ebenfalls nach ihm benannt.

Pierre Alphonse Laurent ist nicht zu verwechseln mit weiteren franzosischenMathematikern dieser Zeit, Hermann Laurent (1841–1908) und Pierre LaurentWantzel (1814–1848).

Elwin Bruno Christoffel (* 10. November 1829 in Montjoie; † 15. Marz 1900 inStraßburg) war ein deutscher Mathematiker. Er besuchte das Friedrich-Wilhelm-Gymna-sium in Koln, studierte an der Universitat Berlin — unter anderem bei Peter GustavDirichlet — und promovierte 1856 mit einer Arbeit zur Bewegung der Elektrizitatin homogenen Korpern. Danach kehrte er nach Montjoie, heute Monschau, zuruck undlebte dort drei Jahre in akademischer Abgeschiedenheit. 1859 wurde Christoffel an derUniversitat Berlin Privatdozent. Das Zurcher Polytechnikum holte ihn drei Jahre spaterals Nachfolger Richard Dedekinds in die Schweiz. Er war maßgebend an der Errichtungder mathematischen Schule am Polytechnikum beteiligt. Nach einer erneuten Anstellungin Berlin an der Gewerbeakademie wurde Christoffel 1872 Professor an der UniversitatStraßburg. 1894 trat er in den Ruhestand.

Ab 1868 war er korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissen-schaften. 1869 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Gottinger Akademie derWissenschaften gewahlt.

Christoffel beschaftigte sich mit konformen Abbildungen und Potentialtheorie, derriemannschen θ-Funktion, mit der Theorie der Invarianten, mit Tensoranalysis, Bereichender mathematischen Physik und der Geodasie sowie mit Schallwellen (Schockwellen). SeinReduktionstheorem lost das lokale Aquivalenzproblem fur quadratische Differentialfor-men.

Nach Elwin Bruno Christoffel sind die Christoffelsymbole benannt, die in derTensoranalysis fur eine ubersichtliche Darstellung sorgten und auch heute noch Verwen-dung finden. Ferner entwickelte er die Schwarz-Christoffel-Transformation zur Abbildungkomplizierter mathematischer Gebiete auf Kreise.

Die Elwin-Christoffel-Realschule in Monschau wurde nach ihm benannt.

Eugene Rouche (* 18. August 1832 in Sommieres, Departement Herault; † 19.

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August 1910 in Lunel) war ein franzosischer Mathematiker. Er war Gymnasiallehrer amLycee Charlemagne und danach Professor am Conservatoire national des arts et metiersin Paris sowie daneben Prufer an der Ecole polytechnique.

Er beschaftigte sich vorwiegend mit Funktionentheorie. Nach ihm ist der Satz vonRouche benannt (veroffentlicht in Journal de l’Ecole polytechnique, Bd. 39, 1862).Daneben verfasste er damals bekannte Lehrbucher, so ein Geometrielehrbuch in zweiBanden, zuerst 1883 erschienen, und noch 1922 bei Gauthier-Villars neu aufgelegt, sowieLehrbucher uber grafische Statik und Analysis fur Ingenieure. Mit Charles Hermiteund Henri Poincare gab er die gesammelten Werke von Edmond Laguerre heraus.

In der linearen Algebra wird ein Satz von ihm uber die Losung inhomogener linearerGleichungssysteme nach ihm benannt (manchmal auch Satz von Rouche-Frobenius).Außerdem wird dort ein Satz nach ihm und Alfredo Capelli benannt. 1883 war erPrasident der Societe mathematique de France.

Felice Casorati (* 17. Dezember 1835 in Pavia; † 11. September 1890 ebenda)war ein italienischer Mathematiker. Er ist vor allem durch den Satz von Casorati-Weierstraß bekannt.

Casoratis erste Interessen galten der Architektur und dem Bauwesen. Er erlangtezunachst in diesen Fachern 1856 sein Diplom an der Universitat von Pavia. Als Assi-stent von Francesco Brioschi lehrte er unter anderem Topologie und besuchte 1858zusammen mit Enrico Betti Gottingen, Berlin und Paris. In diesen Studienreisen dis-kutierte er mit Leopold Kronecker und Karl Weierstraß die Grundlagen derAnalysis. Nach seiner Ruckkehr im Jahr 1859 nahm er eine außerordentliche Professurfur Algebra und analytische Geometrie an der Universitat von Pavia an. Im Jahr 1862folgte die ordentliche Professur. Er hielt bis 1868 Vorlesungen in Geodasie und Analysis.Es folgte ein Aufenthalt in Mailand bis 1875 und anschließend die Ruckkehr nach Pavia,wo er bis zu seinem Tod Analysis lehrte.

1877 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Gottinger Akademie der Wis-senschaften gewahlt. 1886 wurde er als korrespondierendes Mitglied in die PreußischeAkademie der Wissenschaften aufgenommen. Das Mathematische Institut der UniversitatPavia ist nach ihm benannt.

Giulio Ascoli (* 20. Januar 1843 in Triest; † 12. Juli 1896 in Mailand) war ein ita-lienischer Mathematiker. Auf ihn ist auch der Satz von Arzela-Ascoli zuruckzufuhren.Ascoli beendete 1868 die Schule in Pisa. Ab 1872 unterrichtete er Algebra am Polytech-nikum von Mailand.

Hermann Amandus Schwarz (* 25. Januar 1843 in Hermsdorf, Schlesien; † 30.November 1921 in Berlin) war ein deutscher Mathematiker und Hochschullehrer in Ber-lin. Er war der Sohn des Baumeisters Wilhelm Schwarz und der Auguste Lohde.Er studierte in Berlin zunachst Chemie am Koniglichen Gewerbeinstitut in Charlotten-burg und wechselte dann zum Studium der Mathematik an die Universitat Berlin unterdem Einfluss seiner dortigen akademischen Lehrer Ernst Eduard Kummer und KarlWeierstraß. 1864 wurde er bei Kummer in Mathematik promoviert (Dissertation: Desuperficiebus in planum explicabilibus primorum septem ordinum). Nach der Promotionunterrichtete er an Gymnasien in Berlin. 1866 habilitierte er sich in Berlin und wurdePrivatdozent. Zwischen 1867 und 1869 war er außerordentlicher Professor in Halle, dannab 1869 ordentlicher Professor an der ETH Zurich. Seit 1875 war er ordentlicher Profes-sor an der Universitat Gottingen und schließlich ab 1892 ordentlicher Professor an der

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damaligen Berliner Friedrich-Wilhelms-Universitat. Im gleichen Jahr wurde er zum or-dentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewahlt. Im Jahr 1885wurde er zum Mitglied der Leopoldina und 1897 zum korrespondierenden Mitglied derRussischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg gewahlt. Seit 1912 war erkorrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Schwarz beschaftigte sich insbesondere mit der Funktionentheorie und der Theo-rie der Minimalflachen. Besonders zu erwahnen sind seine Arbeiten zum riemannschenAbbildungssatz (Schwarz-Christoffel-Transformation), zur Losung der ersten Randwer-teaufgabe fur den Kreis und seine Arbeiten uber die hypergeometrische Differentialglei-chung. Nach ihm benannt sind die Cauchy-Schwarz-Ungleichung, das schwarzsche Lemma,das Lemma von Schwarz-Pick, das schwarzsche Spiegelungsprinzip und der Satz vonSchwarz. Ebenfalls von Schwarz stammt das nach ihm benannte alternierende Ver-fahren von Schwarz, ein iteratives Gebietszerlegungsverfahren zur Losung elliptischerpartieller Differentialgleichungen wie die Laplacegleichung, das er auf der Suche nach ei-nem Ersatz fur das von Bernhard Riemann zur Begrundung seiner Funktionentheorieverwendete Dirichletprinzip einfuhrte.

Bekannt wurde er auch durch ein Beispiel (schwarzscher Stiefel), das die Problematikder naiven Ubertragung der Definition der Kurvenlange durch Annaherung durch Poly-gonzuge (Rektifizierung) auf zwei und mehr Dimensionen zeigte. In seinem Beispiel wurdeeinem endlichen Zylinder auf diese Weise eine aus Polygonen zusammengesetzte Flachevon unendlich großem Inhalt eingeschrieben.

Ein enger Freund seit Berliner Studientagen war Georg Cantor und Schwarzsprach sich auch fur Cantor als seinen Nachfolger an der ETH Zurich aus. Spater zer-brach die Freundschaft und Schwarz wurde zum Gegner von Cantor, wozu er sich mitLeopold Kronecker zusammentat, dem er noch in Berliner Studientagen wie Cantorkritisch gegenuberstand.

Bei ihm promovierten u.a. Carl Schilling, Paul Koebe, weitere Schuler warenLeopold Fejer, Leon Lichtenstein, Gerhard Hessenberg, Chaim Muntz, Ro-bert Remak, Theodor Vahlen und Ernst Zermelo.

1868 heiratete er Marie Elisabeth Kummer (1842–1921), die Tochter seines Dok-torvaters Kummer, und hatte mit ihr sechs Kinder. Sie war gleichzeitig Tochter vonOttilie Mendelssohn, der Tochter Nathan Mendelssohns und Enkelin Moses Men-delssohns. Der Mathematiker Roland Sprague war sein Enkel.

1902 wurde er Ehrendoktor in Oslo und 1914 an der ETH Zurich.

Magnus Gosta Mittag-Leffler (* 16. Marz 1846 in Stockholm; † 7. Juli 1927 inDjursholm) war ein schwedischer Mathematiker, der sich vor allem mit Analysis beschaf-tigte. Er hieß ursprunglich nur Leffler, wahlte aber aus Verehrung fur die Familie seinerMutter (sein Großvater war ein Pfarrer auf dem Land) mit 20 Jahren diesen Doppelnamen.Beide Elternteile waren aus ursprunglich deutschstammigen Familien, die nach Schwedeneinwanderten. Sein Vater war Gymnasialdirektor. Mittag-Leffler beschritt anfangseine Ausbildung im Versicherungswesen, studierte dann aber ab 1865 an der UniversitatUppsala Mathematik, was er durch Privatstunden finanzierte. 1872 promovierte er undwurde an seiner Universitat Dozent, musste aber fur diesen Posten drei Jahre im Auslandverbringen. Er ging zunachst 1873 nach Paris, wo er vor allem bei Charles Hermitehorte. 1875 ging er nach Berlin, wo er ein Schuler von Karl Weierstraß wurde. 1876nahm er — obwohl Weierstraß ihn durch eine Dozentur in Berlin halten wollte — eineStelle als Professor an der Universitat Helsinki als Nachfolger von Lorenz Lindelof

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(dem Vater des bekannten Mathematikers Ernst Lindelof) an. 1881 wurde er der ersteMathematikprofessor an der Universitat Stockholm und ein Jahr spater heiratete er SigneLindfors (1861–1921), die aus einer reichen schwedischen Familie in Helsinki stammte.

Mittag-Leffler grundete 1882 das mathematische Journal Acta Mathematica, des-sen Mitherausgeberin Sofja Kowalewskaja ab 1884 wird. Die Beitrage Mittag-Lefflershalfen bei der Weiterentwicklung der Skandinavischen Schule der Mathematik, die sichvor allem mit Analysis und Wahrscheinlichkeitstheorie beschaftigt. Mittag-Lefflerwar vor allem Analytiker, der sich insbesondere mit Funktionentheorie beschaftigte. Seinbekanntester Satz ist der Satz von Mittag-Leffler, den er 1884 in den Acta Mathe-matica veroffentlichte. Wahrend der Produktsatz von Weierstraß ganze Funktionenals ein Produkt uber die Nullstellen charakterisiert, gibt der Satz von Mittag-Lefflereine Reihendarstellung fur meromorphe Funktionen mit Polen, die als Verallgemeinerungder Partialbruchzerlegung rationaler Funktionen auf Funktionen mit unendlich vielen Po-len angesehen werden kann. Ein Zusammenhang zwischen den Satzen ist aber dadurchgegeben, dass die logarithmische Ableitung eines Weierstraßproduktes eine Mittag-Leffler-Darstellung liefert. Zunachst wird im mittag-lefflerschen Satz die Existenz einer meromor-phen Funktion mit Polen in einer diskreten (auch unendlichen) Menge von Stellen in derkomplexen Zahlenebene und vorgegebenen Hauptteilen in diesen Polen sichergestellt. Einebeliebige meromorphe Funktionen mit diesen Hauptteilen unterscheidet sich davon dannnur um eine ganze Funktion. Zum Beweis seines Satzes verwendete Mittag-Lefflerdie gerade entstandene, damals umstrittene Mengenlehre von Georg Cantor, zu des-sen fruhesten Unterstutzern er gehorte. Das fuhrte dazu, dass der beruhmte Berliner Ma-thematiker Leopold Kronecker, der Cantors Theorie leidenschaftlich ablehnte, nichtin den Acta Mathematica publizierte. 1900 bis 1905 untersuchte Mittag-Leffler ineiner Reihe von Arbeiten die Fortsetzung von Potenzreihen außerhalb ihres Konvergenz-radius, das heißt die Summation divergenter Reihen. Nach ihm benannt sind die mit Eαbezeichneten Mittag-Leffler-Funktionen.

Bekannt wurde Mittag-Leffler aber vor allem fur seine Rolle in der InternationalenMathematischen Gemeinschaft. Durch sein Studium in Paris und Berlin kurz nach demDeutsch-Franzosischen Krieg von 1870 hatte er die nationalen Engstirnigkeiten auf bei-den Seiten kennengelernt (was allerdings weniger fuhrende Mathematiker wie CharlesHermite und Karl Weierstraß betraf). In den von ihm 1882 gegrundeten ActaMathematica schuf er ein Publikationsorgan, in der eine Kommunikation uber nationaleGrenzen moglich war. Gleich zu Anfang publizierten darin Georg Cantor und HenriPoincare, der viele seiner wichtigsten Arbeiten dort veroffentlichte. Finanziert wurde esanfangs teilweise mit Hilfe des Vermogens seiner Frau. Daneben bewies er, wie Hardyin seinem Nachruf (Quarterly Journal London Mathematical Society, 1928) feststellte, alsHerausgeber uber 45 Jahre einen untruglichen Sinn fur die Qualitat eingereichter Arbeiten.Mittag-Leffler war schließlich nicht nur in Schweden, sondern auch international einefuhrende Personlichkeit in der Mathematik. 1916 vermachte er seine Villa im StockholmerVorort Djursholm (mit einer der damals besten mathematischen Bibliotheken) der Schwe-dischen Akademie der Wissenschaften. Daraus wurde das heutige Mittag-Leffler-Institut,eine zentrale skandinavische Forschungsstelle fur Mathematik (die außer von Schwedenauch von Danemark und Norwegen finanziell unterstutzt wird). Nach seinem Tod wurdesie von Torsten Carleman geleitet.

1908 hielt er einen Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress inRom (Sur la representation arithmetique des fonctions analytiques generales d’une varia-ble complexe) und ebenso 1900 in Paris (Une page de la vie de Weierstrass). Mittag-

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Lefflers Einfluss ist es auch zu verdanken, dass die Weierstraß-Schulerin Sofja Kowa-lewskaja, die auf seine Einladung 1884 nach Schweden kam, dort eine Professur erhielt.Ihre Aufnahme in die Akademie konnte er nicht durchsetzen.

Mittag-Leffler war Ehrenmitglied vieler wissenschaftlicher Akademien seiner Zeit,so wurde er 1896 Foreign Fellow der Royal Society. Im Jahr 1897 wurde er zum Mitgliedder Leopoldina gewahlt. Er hinterließ einen großen Nachlass von rund 20.000 Briefen mit3.000 Briefpartnern (Mittag-Leffler bewahrte auch Kopien abgesendeter Briefe), dergroßtenteils in der koniglichen Bibliothek in Stockholm ist.

Fruher wurde gelegentlich behauptet, Alfred Nobel hatte deshalb keinen Nobel-preis fur Mathematik gestiftet, weil er aus personlicher Animositat furchtete, Mittag-Leffler wurde dann als fuhrender schwedischer Mathematiker zwangsweise einen Preisbekommen. Die Wahrheit ist viel prosaischer, wie Lars Hormander und Lars Gar-ding darlegten. Nobel kam nie auf die Idee, fur Mathematik einen Preis zu verleihen,weil das außerhalb seiner Interessen lag. Als gewisser Ausgleich fungiert die Fieldsmedailleund neuerdings der Abelpreis. Nach Stubhaug war Mittag-Leffler auch wesentlichdaran beteiligt, dass Marie Curie den Nobelpreis bekam, nachdem das Komitee erstdazu neigte, nur Pierre Curie und Henri Becquerel auszuzeichnen (er zog ausfuhr-liche Erkundigungen bei Pierre Curie ein und ubermittelte diese dem Nobelkomitee).Er engagierte sich auch dafur, dass Henri Poincare den Nobelpreis bekam, worin ernicht erfolgreich war, und auch fur Albert Einstein.

Die Schriftstellerin Anne Charlotte Leffler ist seine Schwester.

Nikolai Jegorowitsch Schukowski, wiss. Transliteration Nikolaj EgorovicZukovskij, haufig als Joukowski transkribiert (* 17. Januar 1847 in Orechowo, Gou-vernement Wladimir; † 17. Marz 1921 in Moskau) war ein russischer Mathematiker, Aero-dynamiker und Hydrodynamiker. Er gilt als Vater der russischen Luftfahrt. Nach seinemMathematik- und Physikstudium an der Universitat Moskau wurde er Professor an derTechnischen Schule in Moskau, wo er durch seine erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit imBereich der Hydrodynamik 1886 zum Leiter des fur ihn neugeschaffenen MechanischenInstituts wurde.

Nikolai Schukowski interessierte sich besonders fur die technische Anwendung vonStromungen. Dabei legte er bis heute anerkannte Grundlagen fur das Verstandnis desdynamischen Auftriebs, die Entstehung von Wirbeln und die Auslegung von Flugzeu-gen fur stabile Fluglage. Dabei uberprufte er Berechnungen immer wieder in Experimen-ten und ließ Beobachtungen in theoretische Vorstellungen einfließen. Im Bereich der Hy-drodynamik konnten Schukowskis Forschungen verhindern, dass Hydraulikleitungen beiDruckstoßen platzten. Weitere Forschungen fanden ihre Anwendung in der Wasserwirt-schaft. Bereits um 1890 entwickelte er ein uberaus großes Interesse fur die Luftfahrt. Erexperimentierte mit drehenden Zylindern in bewegter Luft und versuchte, den experimen-tell schon nachgewiesenen Magnuseffekt und den Auftrieb zu verstehen. 1895 besuchte erOtto Lilienthal in Berlin, war tief beeindruckt und erwarb einen der Gleiter (Normal-segelapparat), den Lilienthal zum Kauf anbot.

Er leitete 1902 den Bau eines ersten Windkanals. Das erste Aerodynamische InstitutEuropas grundete er 1904 in der Nahe Moskaus. 1906 veroffentlichte er eine funktionen-theoretisch abgeleitete Formel, nach der der Auftrieb eines Tragflugelprofils proportionalzur Zirkulation um dieses Profil ist. Da Martin Kutta 1902 diese Formel schon ent-deckt hatte, wurde sie Kutta-Schukowski-Formel genannt. Mit dieser Formel konnten ersteauftriebserzeugende Profile entwickelt werden. Besonders bekannt ist das Schukowskipro-

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fil, das aus einem kreisformigen Profil durch Kutta-Schukowski-Transformation gewonnenwird. Wenige Jahre spater gab er die ersten systematischen Lesungen mit den Ergebnissenseiner aerodynamischen Forschung. Von 1912 bis 1918 erarbeitete er eine Propellertheoriezunachst fur Schiffspropeller, auf deren Grundlage spater Luftschrauben entwickelt wur-den. Andere Arbeiten betrafen das Schlingern und die Stabilitat von Schiffen, zahlreicheProbleme der Hydromechanik, Mathematik und Astronomie, sowie die Wasserversorgung.Im Ersten Weltkrieg wies er Piloten in die Aerodynamik ein.

1918 grundete und leitete er schließlich zusammen mit Andrej NikolajewitschTupolew das Zentrale Aero- und Hydrodynamische Institut (ZAGI) in Moskau, wo sichbis heute die Forschung und Entwicklung der russischen Luft- und Raumfahrt konzen-triert. Das Institut liegt heute in dem nach ihm benannten Ort Schukowski in der Nahevon Moskau. Er gehorte daruber hinaus 1919 zu den Grundern des Fliegertechnikums, ausdem 1922 die Militarakademie fur Ingenieure der Luftstreitkrafte

”Prof. N. J. Schukow-

ski“ gebildet wurde. Seit 1920 gab es einen Schukowskipreis, der jahrlich fur die bestenArbeiten in der Mathematik und Mechanik verliehen wurde. Zu seinem 100. Geburtstagwurden seit 1947 jahrlich zwei Schukowskimedaillen fur die besten Forschungsarbeiten aufdem Gebiet der Luftfahrt vergeben. Der Mondkrater Zhukovskiy ist nach ihm benannt.

Cesare Arzela (* 6. Marz 1847 in Santo Stefano di Magra, La Spezia; † 15. Marz1912 in Santo Stefano di Magra) war ein italienischer Mathematiker. Er entstammte einfa-chen Verhaltnissen und konnte so erst ab 1871 in Pisa bei Enrico Betti und bei UlisseDini studieren. Nach Tatigkeiten in Florenz (ab 1875) und Palermo (ab 1878) wurde er1880 als Professor an die Universitat Bologna auf den Lehrstuhl fur Analysis berufen.Er forschte auf dem Gebiet der Funktionentheorie. 1889 wurde der Satz von Ascoli vonihm zum Satz von Arzela-Ascoli verallgemeinert. Der Satz von Arzela-Ascoli stellteinen wichtigen mathematischen Satz auf dem Gebiet der Funktionalanalysis dar.

Alfred Pringsheim, (* 2. September 1850 in Ohlau, Provinz Schlesien; † 25. Juni1941 in Zurich, Schweiz) war ein deutscher Mathematiker und Kunstmazen. Er entstamm-te einer außerst wohlhabenden schlesischen Kaufmannsfamilie judischer Abstammung. Erwar neben seiner Schwester Martha das erste Kind und einziger Sohn des oberschlesi-schen Eisenbahnunternehmers und Kohlegrubenbesitzers Rudolf Pringsheim (1821–1906) und seiner Frau Paula, geb. Deutschmann (1827–1909).

Pringsheim besuchte das Maria-Magdalenen-Gymnasium in Breslau. In den FachernMusik und Mathematik war er ein hochbegabter Schuler. Ab 1868 studierte er Mathematikund Physik in Berlin und an der Ruprecht-Karls-Universitat Heidelberg. 1872 wurde erbei Leo Konigsberger zum Doktor der Mathematik promoviert. 1875 ubersiedelte ervon Berlin, wo seine Eltern lebten, nach Munchen, um sich dort 1877 zu habilitieren. ZweiJahre spater wurde er Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universitat Munchen.

Im Jahr 1878 heiratete er die Berliner Schauspielerin Gertrude Hedwig AnnaDohm (1855–1942), deren Mutter die bekannte Berliner Frauenrechtlerin Hedwig Dohm(1831–1919) war. Zusammen hatten sie die funf Kinder: Erik (* 1879), Peter (1881–1963), Heinz (* 1882) und die 1883 geborenen Zwillinge Klaus und Katharina ge-nannt Katia. Sein erstgeborener Sohn Erik wurde aufgrund seines Lebenswandels undseiner Spielschulden nach Argentinien verbannt, wo er jung starb. Seine Sohne Peter undKlaus schlugen hingegen wie ihr Vater die akademische Laufbahn ein und hatten Pro-fessuren fur Physik bzw. Komposition inne. Heinz war ein promovierter Archaologe. DieTochter Katia war die erste Abiturientin Munchens und gehorte zu den ersten aktiven

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Studentinnen an der Munchener Universitat. Sie wurde spater die Ehefrau des Schriftstel-lers und Nobelpreistragers Thomas Mann. Thomas Mann hat seinen Schwiegervaterin der Person des Samuel Spoelman in seinem Roman Konigliche Hoheit dargestellt.

Im Jahr 1886 wurde Pringsheim an der Ludwig-Maximilians-Universitat zum au-ßerordentlichen Professor der Mathematik ernannt. 1889 bezog er mit seiner Familie dieNeo-Renaissance-Villa in der Arcisstraße 12. Das Haus wurde vom Berliner Buro Kay-ser & von Großheim geplant, und die Inneneinrichtung wurde von Joh. Wachter undHofmobelfabrikant O. Fritsche in Munchen geliefert. 1898 erfolgte die Wahl zum ordent-lichen Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, aus der er 1938 entlassenwurde. 1901 wurde er zum ordentlichen Professor der Munchner Universitat ernannt, und1906 war er Prasident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. 1922 wurde er emeri-tiert. An der Akademie der Wissenschaften zu Gottingen war er ein korrespondierendesMitglied. Die Leopoldina ernannte ihn ebenfalls zum Mitglied.

Neben Mathematik hat sich Pringsheim seit seiner Jugend intensiv mit Musik be-schaftigt. So bearbeitete er verschiedene Kompositionen Wagners fur Klavier. Spater hater sich auch mit kunstwissenschaftlichen Dingen beschaftigt und eine bedeutende Kunst-sammlung (Majolika und Gemalde) aufgebaut. Besonders hervorzuheben ist seine Samm-lung von Werken der Gold- und Silberschmiedekunst der Renaissance.

Auf dem Gebiet der Mathematik veroffentlichte Pringsheim zahlreiche Arbeiten zurFunktionentheorie. Hier widmete er sich besonders den unendlichen Reihen. Dazu schrieber Abhandlungen in den Mathematischen Annalen und den Sitzungsberichten der Baye-rischen Akademie. Weitere Themen waren die Grundlagen der Arithmetik und der Funk-tionenlehre, die er als Artikel fur die Enzyklopadie der mathematischen Wissenschaftenschrieb. Er trat vor allem als Vertreter der weierstraßschen Analysis auf und befasste sichbesonders mit der Geschichte der Mathematik sowie mit reellen und komplexen Funktio-nen.

Schon in jungen Jahren beschaftigte er sich sehr intensiv mit der Musik, wobei erinsbesondere von den Werken von Richard Wagner fasziniert war. So fuhrte er eineKorrespondenz mit Wagner personlich, die er spater mit ins Exil in die Schweiz nahm.Die musikalische Neigung fuhrte dazu, dass er einige Bearbeitungen der Werke von Wag-ner veroffentlichte. Auch betatigte er sich als Schriftsteller auf dem Gebiet der Musik.Die Bekanntschaft mit Wagner war so intensiv, dass er ihn finanziell sehr forderte undauch die Festspiele in Bayreuth unterstutzte. Als Dank erhielt er eine Urkunde, die ihn alsPatron titulierte und ihm ein Anrecht auf einen Sitzplatz bei bestimmten Auffuhrungenzusicherte. Seine Enkelin Erika Mann schrieb in ihren Erinnerungen uber diese Be-kanntschaft mit Wagner, Pringsheim habe sich demzufolge sogar einmal in ein Duelleingelassen, als jemand Wagner beleidigte.

Pringsheim war allein durch Familienvermogen sehr wohlhabend. Als ordentlicherProfessor hatte er zusatzlich ein sehr gutes Monatsgehalt. Nach dem Tod des Grunder-vaters im Jahr 1913 verfugte er uber ein Vermogen von 13 Millionen und ein jahrlichesEinkommen von 800.000 Mark, was nach heutigem Geldwert einem Vermogen von rund 54Millionen bzw. einem Einkommen von 3,3 Millionen Euro entspricht. In seinem Munche-ner Wohnhaus in der Arcisstraße 12 traf sich an großen Abenden ganz Munchen. Diesegroßburgerliche Villa erschien allerdings im Verhaltnis zum elterlichen

”Palais Pringsheim“

in Berlin eher bescheiden.Mit dem Ersten Weltkrieg begann jedoch auch fur ihn der finanzielle Abstieg. Er

betrachtete sich als deutschen Staatsburger, der den”mosaischen Glauben“ (= konser-

vatives bzw. orthodoxes Judentum) nicht mehr praktizierte. Doch die christliche Taufe

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hatte er stets verweigert. Als”deutscher Patriot“ zeichnete er Kriegsanleihen, die nach

dem Krieg ihren Wert verloren hatten, sodass er damit einen großen Teil seines Ka-pitalvermogens einbußte. Die Folgen der fatalen Hyperinflation von 1922/1923 fuhrtenzu weiteren großen Verlusten. Als Folge musste er sich von den Stucken seiner Kunst-sammlung trennen, darunter vermutlich dem Wand-Fries von Hans Thoma. Die Verlustekommentierte er mit den Worten: Ich lebe von der Wand in den Mund. Vor allem ausAltersgrunden (er war schon mindestens Mitte 70 Jahre alt), wollte er nicht — wie diemeisten seiner Familienmitglieder — ins Ausland gehen, sondern in Deutschland bleiben.Als die Verfolgung und die Enteignung der judischen Bevolkerung begann, ging er denganzen Weg der Erniedrigung und Entrechtung, die das NS-Regime den Burgern judischerAbstammung aufzwang. Eine Ausreise wurde ihm zunachst verweigert. Auch WinifredWagner konnte den alten Wagner-Verehrern nicht mehr helfen. Durch die Interventionseines ehemaligen Nachbarn Karl Haushofer, der mit Rudolf Heß befreundet war,und des Mathematik-Professors Oskar Perron, eines ehemaligen Studenten von Al-fred Pringsheim, sowie durch die Initiative eines couragierten SS-Mannes, der ihnenim letzten Augenblick die Passe beschaffte, gelang es ihm nach weiteren sehr schwerenDemutigungen, am 31. Oktober 1939 mit seiner Frau in die Schweiz nach Zurich auszu-reisen. Mit dem Resterlos der von den Nationalsozialisten sehr schnell vorangetriebenenZwangsversteigerung der Majolika-Sammlung konnte er die sogenannte Reichsfluchtsteuerbezahlen.

Sein Haus wurde 1933 an die NSDAP zwangsverkauft. Es wurde abgerissen und andieser Stelle der Verwaltungsbau der NSDAP errichtet, in dem bis 1945 die Kartei allerdeutschen NSDAP-Mitglieder lagerte. Heute heißt der Bau Munchner Haus der Kultur-institute. Die aktuelle Adresse lautet Katharina-von-Bora-Straße 10; die Arcisstraße istinzwischen kurzer als zur Zeit Pringsheims. Pringsheim starb am 25. Juni 1941 in Zurich.Angeblich verbrannte seine Frau daraufhin den gesamten in die Schweiz mitgenommenenNachlass von Alfred Pringsheim, darunter die Briefe von Richard Wagner. EinJahr spater verstarb auch sie.

Giacinto Morera (* 18. Juli 1856 in Novara, Italien; † 8. Februar 1909 in Turin, Ita-lien), war ein italienischer Ingenieur und Mathematiker. Er ist fur den Satz von Morerain der Funktionentheorie und fur seine Arbeiten uber lineare Elastizitat bekannt.

Morera, dessen Vater ein wohlhabender Kaufmann war, studierte in Turin (Laurea-Abschluss als Ingenieur 1878 und in Mathematik 1879), in Pavia, Pisa und in Deutsch-land. 1886 wurde er nach einem Wettbewerb Professor fur theoretische Mechanik an derUniversitat Genua, wo er funfzehn Jahre blieb und zweimal Rektor war. 1901 wurde erNachfolger von Vito Volterra als Professor an der Universitat Turin. Er starb mit 52Jahren innerhalb weniger Tage an einer Lungenentzundung.

Er befasste sich vor allem mit mathematischer Physik und Mechanik, zum Beispiel be-handelte er in Fortsetzung von Paolo Pizzetti die Anziehung eines Ellipsoids. Morerawar Mitglied der Accademia dei Lincei und der Akademie in Turin.

Charles Emile Picard (* 24. Juli 1856 in Paris; † 11. Dezember 1941 ebenda) warein franzosischer Mathematiker. Sein Vater war Besitzer einer Seidenfabrik. Er starb aber1870 bei der Belagerung von Paris (Deutsch-Franzosischer Krieg), und die danach volligverarmte Familie (Emile und sein jungerer Bruder) musste durch die Arbeit der Mutterdurchgebracht werden. Picard war auf dem Lycee Henri IV einer der besten Schuler,speziell in klassischer Philologie, und bei den Eingangstests fur die Eliteschulen Ecolepolytechnique und die Ecole normale superieure zweiter bzw. erster. Da er nach einem

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Vortrag von Louis Pasteur fur die Wissenschaften begeistert war (damals besonders ander Ecole normale superieure gepflegt, wahrend die Polytechnique eher Ingenieure ausbil-dete), wahlte er die Ecole normale superieure, wo er 1877 seinen Abschluss machte, alserster seiner Klasse. Er war ein Jahr Assistent an seiner Alma Mater, wurde 1878 Dozentan der Universitat von Paris und 1879 Professor an der Universitat Toulouse. 1881 wurdeer Maıtre de conferences fur Mechanik und Astronomie an der Ecole normale superieureund 1885 als Nachfolger von Jean-Claude Bouquet Professor fur Differentialrechnungan der Sorbonne. Er war auch 1894–1937 Professor an der Ecole centrale Paris, wo erhauptsachlich Ingenieure unterrichtete.

Picard lieferte wichtige Beitrage zur Funktionentheorie, Analysis, Algebra und Geo-metrie. Bekannt sind der picardsche Satz (1879), das picardsche Iterationsverfahren in derTheorie der Differentialgleichungen, mit dem der Satz von Picard-Lindelof ublicherweisebewiesen wird. In dem zweibandigen Theorie des fonctions algebraiques de deux variablesindependantes (1897, 1906) mit Georges Simart (1846–1921) untersuchte er Integralealgebraischer Funktionen auf algebraischen Flachen.

Picard beschaftigte sich auch mit Fragen der mathematischen Physik, so untersuchteer die Ausbreitung elektrischer Pulse in Drahten (Leitungsgleichung).

Als Hochschullehrer war er fur seine hervorragenden Vorlesungen bekannt; sein SchulerJacques Hadamard nannte sie sogar die perfektesten, die er je gehort habe. Das spiegeltsich auch in seinem Traite d’Analyse wider, der sofort nach Erscheinen zu einem Klassikerwurde.

Von 1884 bis 1917 war er korrespondierendes Mitglied der Gottinger Akademie derWissenschaften. 1889 wurde er in die Pariser Akademie der Wissenschaften gewahlt (nach-dem er schon 1881 erfolglos dafur nominiert wurde). 1917 bis 1941 war er ihr standigerSekretar. 1888 erhielt er den großen Preis der Akademie und 1886 den Ponceletpreis. 1903wurde er in die American Academy of Arts and Sciences und 1909 als auswartiges Mit-glied (Foreign Member) in die Royal Society gewahlt. 1932 erhielt er das Großkreuz derEhrenlegion. 1924 wurde er Mitglied der Academie francaise. 1920 war er Prasident desInternationalen Mathematikerkongresses in Straßburg. 1937 erhielt er die Mittag-Leffler-Goldmedaille.

1908 hielt er einen Plenarvortrag auf dem internationalen Mathematikerkongress inRom (La mathematique dans ses rapports avec la physique). Nach dem Ersten Weltkriegwar er eine der treibenden Krafte auf franzosischer Seite, Deutschland und Osterreich ausder internationalen mathematischen Union und von den internationalen Mathematiker-kongressen (was ihm nur bis 1928 gelang) auszuschließen. 1884 und 1897 war er Prasidentder Societe Mathematique de France. Der Asteroid (29613) Charlespicard wurde 2002nach ihm benannt.

Picard heiratete 1881 eine Tochter des Mathematikers Charles Hermite, dessenWerke er auch mit herausgab. Das Paar hatte eine Tochter und zwei Sohne, die beide imErsten Weltkrieg fielen.

Edouard Jean-Baptiste Goursat (* 21. Mai 1858 in Lanzac, Departement Lot,Frankreich; † 25. November 1936 in Paris, Frankreich) war ein franzosischer Mathematiker,der als Verfasser eines klassischen Analysis-Lehrbuchs bekannt ist.

Er besuchte das College de Brive-la-Gaillarde und begann 1876 ein Studium an derEcole normale superieure. Dort wurde er insbesondere von Charles Hermite und JeanDarboux beeinflusst und lernte Charles Emile Picard kennen, der mit ihm studierteund mit dem er ein Leben lang befreundet blieb. Picard uberredete ihn auch spater, eine

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Hochschulkarriere zu beginnen. Im Jahr 1879 begann er eine Lehrtatigkeit an der Univer-sitat Paris und erhielt 1881 den Doktorgrad fur seine Arbeit

”Sur l’equation differentielle

lineaire qui admet pour integrale la serie hypergeometrique“. Danach lehrte Goursat bis1885 in Toulouse und ging dann zu seiner ursprunglichen Universitat zuruck, der Ecolenormale superieure. Seit der Zeit in Toulouse produzierte er zahlreiche Veroffentlichungenzu verschiedenen Gebieten der Analysis. Aus der Vorlesungstatigkeit an der Ecole normalesuperieure entstand sein beruhmter Cours d’analyse mathematique, der 1902 bis 1913 indrei Banden erschien und fur den er vor allem bekannt ist. 1919 wurde Goursat in dieAcademie des sciences aufgenommen, nachdem er bereits 1918 zum auswartigen Mitgliedder Accademia Nazionale dei Lincei in Rom gewahlt worden war.

Nach ihm wurde das Lemma von Goursat benannt. 1895 war er Prasident der SocieteMathematique de France.

Adolf Hurwitz (* 26. Marz 1859 in Hildesheim; † 18. November 1919 in Zurich)war ein deutscher Mathematiker. Er stammte aus einer judischen Familie in Hildesheim.Sein Vater, Salomon Hurwitz, war als Handwerker tatig, jedoch geschaftlich nicht sehrerfolgreich. Die Mutter, Elise Wertheimer, starb, als Adolf drei Jahre alt war. InHildesheim besuchte Hurwitz den damaligen Realklassenzweig des Andreanums. Dortwurde seine mathematische Begabung durch seinen Lehrer Hermann Schubert erkanntund gefordert. Schon als 17-jahriger Schuler veroffentlichte Hurwitz mit seinem Lehrererste wissenschaftliche Arbeiten.

Hurwitz begann 1877 das Studium der Mathematik an der Koniglich BayerischenTechnischen Hochschule, an der Felix Klein sein maßgeblicher Lehrer wurde. 1877–1878studierte er an der Friedrich-Wilhelms-Universitat zu Berlin, wo er Vorlesungen bei ErnstEduard Kummer, Karl Weierstraß und Leopold Kronecker besuchte. Nachdem Klein einenRuf an die Universitat Leipzig angenommen hatte, folgte ihm 1880 Hurwitz dorthin undpromovierte 1881 bei Klein uber das Thema Grundlagen einer independenten Theorie derelliptischen Modulfunktionen und Theorie der Multiplikatorgleichungen 1. Stufe. Danachwechselte er an die Georg-August-Universitat Gottingen, wo er sich habilitierte und zumPrivatdozenten ernannt wurde.

1884 erhielt er auf Betreiben Ferdinand von Lindemanns ein Extraordinariat an derAlbertus-Universitat Konigsberg, wo er Hermann Minkowski und David Hilbert kennen-lernte, die dort promovierten. Mit Letzterem verband ihn eine lebenslange Freundschaft.1892 wurde er der Nachfolger von Ferdinand Georg Frobenius an der ETH Zurich. Erbeschaftigte sich vor allem mit Zahlentheorie, aber auch mit Funktionentheorie, wo er dasGeschlecht von riemannschen Flachen untersuchte.

Nach ihm sind die Hurwitzquaternionen, das Hurwitzpolynom und das Hurwitzkrite-rium aus der Stabilitatstheorie dynamischer Systeme sowie die Riemann-Hurwitz-Formelaus der Funktionentheorie benannt. Mehrere Satze tragen den Namen Satz von Hurwitz.So gibt es in der Funktionentheorie den Satz von Hurwitz uber Folgen holomorpher Funk-tionen und den Satz von Hurwitz uber Automorphismengruppen kompakter riemannscherFlachen. In der Zahlentheorie ist ein Resultat uber Approximation reeller Zahlen durchrationale Zahlen als Satz von Hurwitz bekannt.

1897 hielt Hurwitz einen Plenarvortrag auf dem ersten Internationalen Mathemati-kerkongress in Zurich (Uber die Entwickelung der allgemeinen Theorie der analytischenFunktionen in neuerer Zeit).

Johan Ludwig William Valdemar Jensen (* 8. Mai 1859 in Nakskov; † 5. Marz1925 in Kopenhagen) war ein danischer Mathematiker. Er wuchs teilweise in Nordschwe-

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den auf, wo sein Vater Gutsverwalter war, und ging in Kopenhagen zur Schule. Dortstudierte er ab 1876 Naturwissenschaften und Mathematik am Polytechnikum. Noch alsStudent veroffentlichte er erste Arbeiten uber Mathematik. Er arbeitete danach als Inge-nieur bei der Bell Telephone Company und spater der Kopenhagener Telefongesellschaft,forschte in seiner Freizeit aber weiter uber Mathematik und veroffentlichte mathemati-sche Arbeiten. Er wurde 1890 Leiter der technischen Abteilung der Kopenhagener Tele-fongesellschaft, fur die er bis zu seiner Pensionierung 1924 arbeitete. Seine Ausbildung inhoherer Mathematik erfolgte weitgehend im Selbststudium, er promovierte nie und erwarbauch keine hoheren Abschlusse in Mathematik.

Johan Ludwig Jensens bekanntestes mathematisches Resultat ist sicher die nach ihmbenannte jensensche Ungleichung fur konvexe Funktionen. Ebenfalls nach ihm benanntist die jensensche Formel, die fur eine meromorphe Funktion f einen Zusammenhangzwischen dem Integral von log |f | uber einen Kreis und den Null- und Polstellen vonf innerhalb des Kreises herstellt. Diese Formel ist von grundlegender Bedeutung in dervon Nevanlinna begrundeten Wertverteilungstheorie. Sie war Teil von Jensens Versuch,die riemannsche Vermutung zu beweisen. Weitere Arbeiten betrafen die Gammafunktionund unendliche Reihen. 1892 bis 1903 war er Prasident der Danischen MathematischenGesellschaft.

David Hilbert (* 23. Januar 1862 in Konigsberg; † 14. Februar 1943 in Gottingen)war ein deutscher Mathematiker. Er gilt als einer der bedeutendsten Mathematiker derNeuzeit. Viele seiner Arbeiten auf dem Gebiet der Mathematik und mathematischen Phy-sik begrundeten eigenstandige Forschungsgebiete. Mit seinen Vorschlagen begrundete erdie bis heute bedeutsame formalistische Auffassung von den Grundlagen der Mathema-tik und veranlasste eine kritische Analyse der Begriffsdefinitionen der Mathematik unddes mathematischen Beweises. Diese Analysen fuhrten zum godelschen Unvollstandig-keitssatz, der unter anderem zeigt, dass das Hilbertprogramm, die von ihm angestrebtevollstandige Axiomatisierung der Mathematik, nicht ganzlich erfullt werden kann. Hil-berts programmatische Rede auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Paris imJahre 1900, in der er eine Liste von 23 mathematischen Problemen vorstellte, beeinflusstedie mathematische Forschung des 20. Jahrhunderts nachhaltig.

Hilbert wurde als Sohn des Amtsgerichtsrats Otto Hilbert und seiner Frau Ma-ria Theresia, geb. Erdtmann, geboren. Vaterlicherseits entstammte er einer alten ost-preußischen Juristenfamilie, die Mutter kam aus einer Konigsberger Kaufmannsfamilie.Der Vater wurde als eher einseitiger Jurist beschrieben, der der Laufbahn seines Sohneskritisch gegenuberstand, wahrend die Mutter vielseitige Interessen hatte, unter anderemauf dem Gebiet der Astronomie und Philosophie sowie der angewandten Mathematik. Erhatte noch eine jungere Schwester Elise Frenzel, die einen Richter heiratete und schonim Alter von 28 Jahren 1897 verstarb. In seiner Heimatstadt besuchte Hilbert als Schulerzunachst das Friedrichskollegium und wechselte ein Jahr vor dem Abitur auf das mehrnaturwissenschaftlich-mathematisch orientierte Wilhelms-Gymnasium. Von seinen schu-lischen Leistungen ist nichts Bemerkenswertes uberliefert, anekdotisch wurde kolportiert,dass der junge Hilbert zwar keine guten Deutschaufsatze schrieb (die hatte manchmalseine Mutter verfasst), jedoch seinen Lehrern mathematische Probleme erklaren konnte.Sein Mathematiklehrer von Morstein gab ihm im Abitur die bestmogliche Zeugnisnoteund bescheinigte ihm

”Grundliches Wissen und die Fahigkeit, die ihm gestellten Aufga-

ben auf eigenem Wege zu losen“. Auf seine Schulleistungen angesprochen meinte Hilbertspater:

”Ich habe mich auf der Schule nicht besonders mit Mathematik beschaftigt, denn

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ich wusste ja, daß ich das spater tun wurde.“Mit dem Sommersemester 1880 begann der 18-jahrige Hilbert das Studium der Ma-

thematik an der Albertus-Universitat in Konigsberg. Die Konigsberger Universitat konntedamals auf eine glanzende Tradition in der Mathematik zuruckblicken und galt in diesemFach als eine Ausbildungsstatte ersten Ranges. Hier hatten unter vielen anderen CarlGustav Jacob Jacobi, Friedrich Wilhelm Bessel, Friedrich Julius Richelotund der Physiker Franz Ernst Neumann gelehrt und gearbeitet. Zu Hilberts Lehrerngehorte der aus Heidelberg kommende Heinrich Weber. Wohl durch Vermittlung We-bers verbrachte Hilbert sein zweites Semester in Heidelberg, kehrte danach jedoch nachKonigsberg zuruck. Weber erkannte und forderte fruhzeitig Hilberts mathematische Be-gabung.

Wahrend des Studiums lernte Hilbert seinen zwei Jahre jungeren Kommilitonen Her-mann Minkowski kennen, der aus einer judischen Familie aus Litauen stammte, dienach Ostpreußen eingewandert war. Mit Minkowski verband ihn eine lebenslange en-ge Freundschaft. 1883 wurde Ferdinand Lindemann der Nachfolger auf dem Lehrstuhl(Ordinariat) von Weber und 1884 wurde Adolf Hurwitz auf den zweiten Mathematik-Lehrstuhl (das Extraordinariat) berufen. Hurwitz war nur 3 Jahre alter als Hilbertund Hilbert sagte spater uber ihn:

”Wir, Minkowski und ich, waren ganz erschlagen

von seinem Wissen und glaubten nicht, daß wir es jemals so weit bringen wurden.“ Derregelmaßige wissenschaftliche Austausch mit Hurwitz und Minkowski wurde fur Hil-bert pragend. Im Nachruf auf Hurwitz schrieb Hilbert:

”Auf zahlreichen, zeitenweise

Tag fur Tag unternommenen Spaziergangen haben wir damals wahrend acht Jahren wohlalle Winkel mathematischen Wissens durchstobert, und Hurwitz mit seinen ebenso aus-gedehnten und vielseitigen wie festbegrundeten und wohlgeordneten Kenntnissen war unsdabei immer der Fuhrer“. Lindemann hatte dagegen nur wenig Einfluss auf Hilbert,er schlug ihm jedoch das Thema seiner Doktorarbeit vor. 1885 wurde Hilbert mit derArbeit

”Uber invariante Eigenschaften spezieller binarer Formen, insbesondere der Ku-

gelfunctionen“ in der Philosophischen Fakultat promoviert.Nach der Promotion begab sich Hilbert im Winter 1885/86 auf eine Studienreise, die

ihn zunachst an die Universitat Leipzig zu Felix Klein fuhrte. Klein erkannte eben-falls die hohe Begabung Hilberts und zwischen den beiden entwickelte sich eine intensivewissenschaftliche Korrespondenz. Auf Anraten Kleins hielt sich Hilbert noch fur einigeMonate in Paris auf. Einen solchen Aufenthalt empfahl Klein allen talentierten Schulern,da er selbst zusammen mit Sophus Lie 1870 in Paris gewesen war, wo er wichtige An-regungen erhalten hatte. Hilbert kam in Kontakt mit vielen bekannten franzosischenMathematikern (Charles Hermite, Henri Poincare, Camille Jordan und Pier-re Ossian Bonnet). Den besten Eindruck nahm er von Poincare und Hermite mit,er zeigte sich aber insgesamt nicht sehr beeindruckt von der franzosischen Mathematik.

1886 habilitierte sich Hilbert in Konigsberg mit einer Arbeit uber invariantentheore-tische Untersuchungen im binaren Formengebiet und wurde Privatdozent. Nachdem Hur-witz 1892 einen Ruf nach Zurich angenommen hatte, wurde Hilbert dessen Nachfolgerim Extraordinariat. 1893 folgte Lindemann einem Ruf nach Munchen und Hilbert wur-de nun Ordinarius. Hilbert konnte durchsetzen, dass sein Freund Minkowski auf dasvakant gewordene Extraordinariat nach Konigsberg berufen wurde.

Am 12. Oktober 1892 heiratete David Hilbert die mit ihm seit langerer Zeit be-freundete Kathe Jerosch (* 31. Marz 1864 in Braunsberg im Ermland, † 17. Januar1945 in Gottingen). Kathe war zeit ihres Lebens eine wesentliche Stutze der wissen-schaftlichen Arbeit Hilberts. Mit ihrer besten Handschrift schrieb sie seit Beginn der Ehe

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Reinschriften von Korrespondenz und Buchmanuskripten zur Vorlage bei der Druckerei.Diese Verpflichtung behielt sie auch nach den anstrengenden Vorkommnissen um den ge-meinsamen Sohn Franz bei. Kathe starb nahezu erblindet und vereinsamt. Das einzigeKind Franz Hilbert wurde am 11. August 1893 geboren. Sein ganzes Leben litt erunter einer nicht genau diagnostizierten psychischen Storung. Seine geringen geistigenFahigkeiten belasteten seinen Vater. Richard Courant, ab 1909 Privatlehrer an einerMadchenschule in Gottingen und Assistent von David Hilbert, wurde damit beauftragt,Franz Nachhilfe zu geben, um dessen schulische Leistungen zu verbessern. Versuche, ineinem Beruf Fuß zu fassen, schlugen fehl. Eines Tages kam Franz mit den Symptomeneiner wahnhaften Storung nach Hause und wurde daraufhin in eine Klinik fur Geistes-kranke nahe der Universitat Gottingen gebracht. Dies war der Ausloser fur die in derGottinger Gesellschaft aufkommenden, falschen Mutmaßungen, David und Kathe Hil-bert seien Cousins ersten Grades. Hilbert brach in der Folge den Kontakt zu seinemSohn weitgehend ab und soll ihn wahrend des Klinikaufenthaltes auch nie besucht haben.Als seine Mutter ihn einige Zeit spater nach Hause zuruckbrachte, war der Frieden imHause Hilbert gestort. Der Vater konnte die Krankheit seines Sohnes nicht ertragen, dieMutter wollte ihren Sohn nicht hergeben. Es kam zu Spannungen zwischen den Eheleuten.Beim 60. (1922) und 75. (1937) Geburtstag von Hilbert war Franz zu Hause.

1895 erfolgte auf Betreiben von Felix Klein die Berufung an die Universitat Gottingen.Das preußische Kultusministerium hatte es sich zum Ziel gesetzt, in Gottingen, gewisser-maßen in der Tradition von Carl Friedrich Gauß und Bernhard Riemann, einenSchwerpunkt der mathematischen Forschung aufzubauen. Treibende Kraft war dabei derStaatssekretar Friedrich Althoff, der in diesem Bestreben tatkraftig von Klein un-terstutzt wurde. Hilbert war damals 33 Jahre alt und Klein wurde vorgeworfen, es sichmit der Berufung eines so jungen Mannes leicht zu machen. Daraufhin entgegnete dieser:

”Sie irren, ich berufe mir den Allerunbequemsten.“ Das personliche Verhaltnis von Klein

zu Hilbert blieb jedoch auch nach der Berufung freundschaftlich ungetrubt. 1902 konnteHilbert mittels eines Rufes nach Berlin durchsetzen, dass Minkowski auf das Extraor-dinariat in Gottingen berufen wurde, womit die beiden befreundeten Mathematiker wiederan einem Ort vereint waren. Der fruhe Tod seines Freundes und Arbeitskollegen 1909, imAlter von 44 Jahren, war ein schwerer personlicher Schlag fur Hilbert. Nach dessenTode fungierte Hilbert als Herausgeber seiner Arbeiten unter dem Titel

”Gesammelte

Abhandlungen von Hermann Minkowski“.Die fruhen Jahre in Gottingen waren fur Hilbert nicht immer einfach, da in der

Kleinstadt Gottingen kein so weltoffener, liberaler Geist wie in Konigsberg herrschte. DerStandesdunkel der dortigen Universitatskreise war sehr ausgepragt. So wurde es zum Bei-spiel als Skandal empfunden, als Hilbert, der Ordinarius, mit Assistenten in einem LokalBillard spielte. Albert Einstein gab Jahre spater seinem Freund Max Born, der sichzwischen einem Ruf nach Frankfurt oder Gottingen entscheiden musste, den Rat:

”Wenn

ich mich in die Lage denke, so kommt es mir vor, ich bliebe lieber in Frankfurt. Denn mirware es unertraglich, auf einem kleinen Kreis aufgeblasener und meist engherziger (und-denkender) Gelehrter so ganz angewiesen zu sein (kein anderer Verkehr). Denkt daran,was Hilbert ausgestanden hat von dieser Gesellschaft.“ Born entschied sich aber danndoch fur Gottingen und gehorte bald zum Freundeskreis von Hilbert, dessen Assistenter bereits gewesen war. Nach den Anfangsschwierigkeiten lebte sich Hilbert jedoch inGottingen gut ein und genoss große Verehrung von Seiten seiner Studenten. Uber denEindruck, den er bei den Studenten hinterließ, berichtete sein spaterer Doktorand OttoBlumenthal:

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”Ich erinnere mich noch genau des ungewohnten Eindrucks, den mir — zweitem

Semester — dieser mittelgroße, bewegliche, ganz unprofessoral aussehende, un-scheinbar gekleidete Mann mit dem breiten rotlichen Bart machte, der so seltsamabstach gegen Heinrich Webers ehrwurdige, gebeugte Gestalt und Kleins gebieten-de Erscheinung mit dem strahlenden Blick. Hilberts Vorlesungen waren schmuck-los. Streng sachlich, mit einer Neigung zur Wiederholung wichtiger Satze, auchwohl stockend trug er vor, aber der reiche Inhalt und die einfache Klarheit derDarstellung ließen die Form vergessen. Er brachte viel Neues und Eigenes, ohne eshervorzuheben. Er bemuhte sich sichtlich, allen verstandlich zu sein, er las fur dieStudenten, nicht fur sich. Um mit seinen Seminarleuten genau bekannt zu werdenfuhrte er sie eine Zeitlang nach jedem Seminar in eine Waldwirtschaft, wo Ma-thematik gesprochen wurde. Ein ausdauernder Fußganger, machte er mit ihnenallwochentlich weite Spaziergange in die Berge Gottingens, da konnte jeder sei-ne Fragen stellen, meist aber sprach Hilbert selbst uber seine Arbeiten, die ihngerade beschaftigten.“

In seiner Gottinger Zeit hat Hilbert insgesamt 69 Doktoranden betreut, u.a. (mitJahr der Promotion): Otto Blumenthal (1898), Felix Bernstein (1901), HermannWeyl (1908), Richard Courant (1910), Erich Hecke (1910), Hugo Steinhaus(1911), Wilhelm Ackermann (1925). Viele seiner ehemaligen Schuler wurden spaterLehrstuhlinhaber.

Unter den 69 Doktoranden waren auch sechs Frauen, was in der damaligen Zeit allesandere als selbstverstandlich war. Frauen wurden in Preußen erst im Jahr 1908 allgemeinzum Hochschulstudium zugelassen. Bekannt ist der Einsatz Hilberts und Kleins fur dieMathematikerin Emmy Noether, die — obwohl unzweifelhaft hochqualifiziert — alsFrau nur unter großen Schwierigkeiten einen Lehrauftrag in Gottingen erlangen konnte.Sie konnte jahrelang ihre Vorlesungen nur unter Hilberts Namen ankundigen. Im Zusam-menhang mit den Diskussionen um Noethers Habilitationsgesuch fiel Hilberts vielzitierterAusspruch

”eine Fakultat ist doch keine Badeanstalt!“.

Arnold Sommerfeld sandte zur Unterstutzung von Hilberts Arbeit zu Grundla-genproblemen der Physik immer wieder seine Mitarbeiter als Assistenten nach Gottingen.Z.B. waren dies 1912 Paul Peter Ewald, 1913 Alfred Lande und 1920/21 AdolfKratzer.

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Hilbert wesentlichen Anteil an der Ent-wicklung der Universitat Gottingen zu einem fuhrenden mathematisch-naturwissenschaft-lichen Lehr- und Forschungszentrum gehabt; er blieb ihr, trotz zahlreicher Angebote an-derer Universitaten und Akademien (1898 Leipzig: Nachfolge Sophus Lie, 1902 Berlin:Nachfolge Lazarus Immanuel Fuchs, 1912 Heidelberg: Nachfolge Leo Koenigsber-ger, 1919: Bern und 1917: nochmals Berlin) bis zu seiner Emeritierung 1930 treu. Bisin das Jahr 1934 hielt er noch Vorlesungen an der Gottinger Universitat. Auch in seinenGottinger Jahren blieb Hilbert seiner ostpreußischen Heimat eng verbunden und ver-brachte regelmaßig seine Ferien im Seebad Rauschen,

”dem Paradies unserer Kindheit“.

1900 war er Prasident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. 1903 wurde er zumkorrespondierenden Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewahlt. Von1902 bis 1939 war Hilbert Mitherausgeber der Mathematischen Annalen, der zu dieserZeit bedeutendsten mathematischen Fachzeitschrift der Welt. In dieser Tatigkeit wurdeer wesentlich durch seinen langjahrigen Assistenten Otto Blumenthal unterstutzt.

Obwohl grundsatzlich politisch liberal gesinnt konnte sich Hilbert der Kriegsbegei-sterung des August 1914 nicht entziehen. So gehorte er zwar nicht zu den Unterzeichnern

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des Manifests der 93, aber etwa zwei Wochen darauf stimmte er wie etwa sein FreundMax von Laue der nicht weniger nationalistischen Erklarung der Hochschullehrer desDeutschen Reiches zu.

1928 hielt er einen Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress inBologna (Probleme der Grundlegung der Mathematik). Anlasslich des Kongresses derGesellschaft Deutscher Naturforscher und Arzte in Konigsberg gab er am 8. September1930 seine beruhmte Ansprache mit dem Titel

”Naturerkennen und Logik“ Damals wurde

ein vierminutiger Auszug uber Radio ausgestrahlt und ist bis heute auf einer Schallplatteerhalten geblieben.

Hilbert musste mitansehen, wie 1933 das beruhmte und weltweit fuhrende mathema-tische Zentrum und in gleicher Weise auch die ebenfalls hochangesehene physikalische Fa-kultat der Gottinger Universitat durch die Nationalsozialisten vollstandig zerstort wurde.Alle

”nicht-arischen“ Mathematiker wie Edmund Landau, Richard Courant, Max

Born, Felix Bernstein, Emmy Noether, Otto Blumenthal und auch politischAndersdenkende wie Hermann Weyl wurden zur Aufgabe ihrer Tatigkeit gezwungen,etliche emigrierten. Als Hilbert bei einem Bankett 1934 von dem neuen preußischenUnterrichtsminister Bernhard Rust gefragt wurde, ob es denn stimme, dass sein Insti-tut

”unter dem Weggang der Juden und Judenfreunde“ gelitten habe, erwiderte er:

”Das

Institut — das gibt es doch gar nicht mehr.“ 1942 wurde er Ehrenmitglied der DMV.Hilberts Tod im Jahr 1943 wurde von der deutschen wissenschaftlichen Offentlich-

keit auf dem Hohepunkt des Weltkrieges nur beilaufig registriert. An seinem Begrabnisnahm kaum ein Dutzend Menschen teil. Der anwesende, ebenfalls aus Konigsberg stam-mende Arnold Sommerfeld verfasste in

”Die Naturwissenschaften“ einen Nachruf.

Ganz anders in Amerika: Dort kam es an vielen Universitaten, wo ehemalige Absolventenund Emigranten des Gottinger Mathematischen Seminars wirkten, zu zahlreichen Ge-denkveranstaltungen. Unter anderen verfasste auch Hermann Weyl in Princeton einenNachruf. Hilberts Grab befindet sich auf dem Gottinger Stadtfriedhof an der GronerLandstraße. Seine Buste befindet sich unter den Busten der bedeutenden Professoren derGeorgia-Augusta in der Aula am Wilhelmsplatz. Sein Nachlass wird vom Zentralarchivdeutscher Mathematiker-Nachlasse an der Niedersachsischen Staats- und Universitatsbi-bliothek Gottingen aufbewahrt.

Bis etwa 1893 leistete Hilbert Beitrage zur Invariantentheorie. Unter anderem be-wies er den Hilbertschen Basissatz, der besagt, dass jedes Ideal in einem Polynomringuber einem Korper endlich erzeugt ist. In seinem Nullstellensatz zeigte er den eindeutigenZusammenhang von Nullstellen von polynomialen Gleichungen und Polynomidealen. Da-mit verband er Geometrie und Algebra, was zur Entwicklung der algebraischen Geometriefuhrte.

In seinem bedeutenden Werk Zahlbericht von 1897 (algebraische Zahlentheorie) fas-ste er Arbeiten von Ernst Eduard Kummer, Leopold Kronecker und RichardDedekind mit eigenen Ideen zusammen. Ein wichtiger Satz aus dieser Arbeit wird im-mer noch unter der dort verwendeten Nummerierung zitiert: Hilberts Satz 90 uber dieStruktur bestimmter Korpererweiterungen.

Hilberts Bestreben war es, die bislang sehr der Anschaulichkeit verhaftete, noch im We-sentlichen auf Euklid zuruckgehende Geometrie moglichst vollstandig von Begriffen ausder Anschauungswelt abzulosen und rein axiomatisch zu begrunden. Eine solche axioma-tische Begrundung erschien Hilbert und vielen mathematischen Zeitgenossen unbedingtnotwendig, da die zuvor verwendeten Begriffe aus der Anschauungswelt nicht die notwen-dige mathematische Exaktheit hatten und das darauf erbaute mathematische Gebaude

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der Geometrie somit auf”wackeligen Fußen“ zu stehen schien. In seinem fundamentalen,

1899 zur Feier der Enthullung des Gauß-Weber-Denkmals in Gottingen veroffentlichtenWerk

”Grundlagen der Geometrie“entwarf er fur die euklidische Geometrie ein vollstandi-

ges Axiomensystem und entwickelte darauf aufbauend eine streng axiomatisch begrundeteGeometrie. Die von Hilbert verwendeten Begriffe

”Punkt“,

”Gerade“,

”Ebene“ etc. ha-

ben keinen Bezug zur Anschauung mehr, wie es noch Euklid versucht hatte (z.B.”Ein

Punkt ist, was keine Teile hat.“), sondern sind rein axiomatisch definiert. Hilbert wirdder Ausspruch zugeschrieben, man konne statt

”Punkte, Geraden und Ebenen“ jederzeit

auch”Tische, Stuhle und Bierseidel“ sagen; es komme nur darauf an, dass die Axiome

erfullt sind. Aus dem hilbertschen Buch folgt insbesondere, dass jede Geometrie, die demhilbertschen Axiomensystem genugt, bis auf Isomorphie eindeutig bestimmt ist, namlichisomorph zum dreidimensionalen reellen Vektorraum, in dem die Vektoren die Punkteund die Nebenklassen eindimensionaler Unterraume die Geraden sind, und in dem derAbstand zweier Punkte wie in der klassischen analytischen Geometrie gemessen wird,namlich mit Hilfe des Satzes von Pythagoras.

Im Jahr 1900 fand vom 6. bis 12. August der zweite internationale Mathematiker-kongress parallel zur Weltausstellung in Paris statt. Der Kongress tagte in 6 Sektionen:Arithmetik und Algebra, Analysis, Geometrie, Mechanik und Mathematische Physik, Ge-schichte und Bibliografie der Mathematik sowie Unterricht und Methodologie der Mathe-matik. An dem Kongress nahmen 226 Gelehrte aus aller Welt teil. Der damals 39-jahrigeHilbert galt als einer der fuhrenden deutschen Mathematiker und wurde gebeten, einGrundsatzreferat in einer gemeinsamen Sitzung der 5. und 6. Sektion zu halten. Vieleerwarteten von ihm, dass er in einer Art

”Festrede“ zur Jahrhundertwende die großen

Erfolge in der Entwicklung der Mathematik im vergangenen Jahrhundert Revue passie-ren lassen wurde. Hilbert entschied sich jedoch ganz anders. Statt eines Ruckblicks aufdas vergangene Jahrhundert wagte er den kuhnen Blick in die Zukunft. Die einleitendenWorte in seinem Vortrag am 8. August 1900 bringen das zum Ausdruck:

”Wer von uns wurde nicht gerne den Schleier luften, unter dem die Zukunft verbor-

gen liegt, um einen Blick zu werfen auf die bevorstehenden Fortschritte unsererWissenschaft und in die Geheimnisse ihrer Entwicklung wahrend der kunftigenJahrhunderte! Welche besonderen Ziele werden es sein, denen die fuhrenden ma-thematischen Geister der kommenden Geschlechter nachstreben? Welche neuenMethoden und neuen Tatsachen werden die neuen Jahrhunderte entdecken — aufdem weiten und reichen Felde mathematischen Denkens?“

Fur seinen Vortrag hatte er eine Liste von 23 ungelosten mathematischen Problemenaus ganz verschiedenen Teilgebieten der Mathematik (Geometrie, Zahlentheorie, Logik,Topologie, Arithmetik, Algebra usw.) erstellt, von denen er 10 vortrug. In dieser Aus-wahl der Probleme ließ Hilbert seinen beeindruckenden umfassenden Uberblick uber diegesamte Mathematik erkennen. Er hatte diese Probleme ausgewahlt, weil sie ihm vonzentraler Bedeutung zu sein schienen und weil er sich von der Losung dieser Problemeeinen wesentlichen Fortschritt auf den entsprechenden Gebieten versprach. Diese spater sogenannten hilbertschen Probleme wurden zur Leitschnur ganzer Generationen von Mathe-matikern, und die Losung eines jeden Problems wurde als große Leistung angesehen. Vonden Problemen gelten gegenwartig (2012) 15 als gelost, 3 als ungelost und 5 als prinzipiellunlosbar, letzteres zum Teil auch wegen zu unpraziser Formulierung. Der beruhmtesteFall eines solchen unlosbaren (aber prazise formulierten) Problems ist die Forderung nacheinem Beweis fur die Widerspruchsfreiheit der Axiome der Arithmetik (Hilberts 2. Pro-

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blem), eine Forderung, deren Unerfullbarkeit durch Kurt Godel 1930 bewiesen wurde.Das beruhmteste ungeloste Problem ist die Frage nach den Nullstellen der riemannschenZetafunktion, Hilberts 8. Problem.

Hilbert gilt als Begrunder und exponiertester Vertreter der Richtung des Formalis-mus in der Mathematik. Bereits in der Liste der ungelosten Probleme wies er darauf hin,dass die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik nicht geklart sei. Anfang der 20er Jahrestellte er als Reaktion auf die Grundlagenkrise der Mathematik die Forderung auf, dieMathematik vollstandig auf einem Axiomensystem aufzubauen, das nachweislich wider-spruchsfrei sein sollte. In Hilberts Worten:

”Das ist es aber, was ich verlange: es soll in mathematischen Angelegenheiten

prinzipiell keine Zweifel, es soll keine Halbwahrheiten und auch nicht Wahrheitenvon prinzipiell verschiedener Art geben konnen.“

und weiter:

”Das Ziel, die Mathematik sicher zu begrunden, ist auch das meinige; ich mochte

der Mathematik den alten Ruf der unanfechtbaren Wahrheit, der ihr durch dieParadoxien der Mengenlehre verlorenzugehen scheint, wiederherstellen; aber ichglaube, dass dies bei voller Erhaltung ihres Besitzstandes moglich ist.“

Den intuitionistischen Ansatz von Brouwer, den Hilberts Schuler Weyl als”revo-

lutionar“ bezeichnet hatte, lehnte Hilbert scharf ab, vor allem auch deswegen, weil erdie Mathematik eines großen Teils ihres bisherigen

”Besitzstandes“ beraubt hatte:

”Was Weyl und Brouwer tun, kommt im Grunde darauf hinaus, daß sie die ein-

stigen Pfade von Kronecker wandeln: sie suchen die Mathematik dadurch zubegrunden, daß sie alles ihnen unbequem erscheinende uber Bord werfen und eineVerbotsdiktatur a la Kronecker errichten. Dies heißt aber unsere Wissenschaftzerstuckeln und verstummeln, und wir laufen Gefahr einen großen Teil unsererwertvollsten Schatze zu verlieren, wenn wir solchen Reformatoren folgen. Nein,Brouwer ist nicht, wie Weyl meint die Revolution, sondern die Wiederholungeines Putschversuches mit alten Mitteln, der von vorneherein zur Erfolglosigkeitverurteilt ist.“

Hilberts erklarte Zielsetzung war es, die Arithmetik und letztlich die ganze daraufaufbauende Mathematik auf ein System von widerspruchsfreien Axiomen zu grunden.Dieses Bestreben wurde als

”Hilbertprogramm“ bekannt. Im Rahmen dieses Programms

formulierte Hilbert den spater nach ihm benannten Hilbertkalkul. Das Hilbertprogrammerwies sich in der von ihm intendierten Form letztlich als nicht durchfuhrbar, wie KurtGodel mit seinem 1930 veroffentlichten Unvollstandigkeitssatz zeigen konnte. Trotzdemwar das Hilbertprogramm fur die Mathematik sehr fruchtbar, da es in weiten Bereichenvon Mathematik und Logik zu einem vertieften Verstandnis der Struktur formaler Systememit deren Grenzen und zur Begriffsklarung beitrug.

In der Variationsrechnung stellte Hilbert das von Riemann in dessen Abbildungssatzverwendete Dirichletprinzip auf feste Grundlagen. In den Integralgleichungen schloss ereinige Lucken von Fredholm im Beweis der fredholmschen Alternative. Diese Themenflossen wesentlich in die Entwicklung der Funktionalanalysis ein. Insbesondere der wichtigeHilbertraum ist untrennbar mit seinem Namen verbunden.

Hilberts Arbeiten zu Funktionenraumen (Hilbertraum) und partiellen Differentialglei-chungen gehoren heute zu den Grundlagen der mathematischen Physik. Hilbert begann,

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sich ab 1912 intensiv der Physik zuzuwenden (zunachst in Anwendungen von Integralglei-chungen auf die kinetische Gastheorie), mit deren mathematischer Behandlung er unzu-frieden war. Ein bekanntes Zitat von ihm lautet: Die Physik ist fur die Physiker eigentlichviel zu schwer. Sein Schuler und Assistent Richard Courant schlug ihm 1918 vor,ein Buchprojekt zu diesem Thema zu beginnen, das weitgehend von Courant selbstrealisiert wurde, aber — wie dieser im Vorwort schrieb — auf Abhandlungen und Vorle-sungen Hilberts beruhte und vom Geist der Hilbertschule durchdrungen sei, weshalb er(Courant) darauf bestanden habe, Hilbert als Koautor aufzufuhren. Nach HilbertsBiographin Constance Reid zeigte Hilbert ein Interesse an dem Buch seines ehema-ligen Studenten, beteiligte sich aber ansonsten in keiner Weise. Der erste Band erschien1924, der zweite 1937. Das Buch wurde ein Grundlagenwerk der mathematischen Phy-sik in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts (und erfuhr nochmals in den 1950er und1960er Jahren eine vollige Neubearbeitung durch Courant), als Nachfolger der

”Theory

of Sound“ von Lord Rayleigh. Es war und ist allgemein als der Courant/Hilbertbekannt und erwies sich in der bald darauf einsetzenden sturmischen Entwicklung derQuantenmechanik als wichtige Quelle, aus der theoretische Physiker die dazu notwendigeneue Mathematik erlernten.

Hilbert verfolgte auch ein Programm zu den axiomatischen Grundlagen der Physik,einem der hilbertschen Probleme. Eine Frucht daraus waren seine Arbeiten zur allge-meinen Relativitatstheorie. Mit der Entwicklung der Quantenmechanik in Gottingen um1925 begann er, sich auch dafur zu interessieren, teilweise in Zusammenarbeit mit Johnvon Neumann und seinem physikalischen Assistenten (die Arnold Sommerfeld re-gelmaßig fur Hilbert auswahlte) Lothar Nordheim. 1928 entstand daraus der Aufsatz

”Die Grundlagen der Quantenmechanik“ von Nordheim, Hilbert und von Neumann.

Am 20. November 1915, funf Tage vor Einstein, reichte Hilbert eine Arbeit zurallgemeinen Relativitatstheorie ein, die zur einsteinschen Theorie aquivalent war, aller-dings ohne die einsteinschen Feldgleichungen, die aber in Hilberts Variationsprinzip ent-halten sind. Seine Arbeit erschien jedoch erst nach der einsteinschen Arbeit. Hilbert hatniemals die Urheberschaft fur die allgemeine Relativitatstheorie beansprucht und einenoffentlichen

”Prioritatenstreit“ zwischen Einstein und Hilbert gab es nicht. Es gab

aber kurzzeitig eine Verstimmung von Seiten Einsteins, die aber bald durch Hilbertausgeraumt wurde, der Einstein vollstandige Prioritat auf physikalischem Gebiet zuer-kannte. Verschiedene Wissenschaftshistoriker haben jedoch sehr wohl uber die Prioritatspekuliert. Folsing halt einen wesentlichen Einfluss von Hilbert auf Einstein beider Aufstellung der Feldgleichungen fur unwahrscheinlich. Umgekehrt haben Leo Cor-ry/Renn/Stachel die eigenstandige Vervollkommnung der Gleichungen durch Hilbertaufgrund einer Entdeckung von Druckfahnen im Jahre 1997 angezweifelt, was jedoch wie-derum von anderen bestritten wird.

Hilbert wehrte sich immer gegen eine Sicht der Grenzen der Wissenschaft im Sinneeines ignoramus et ignorabimus. Sein Glaube, dass der Mensch die Welt verstehen kann,zeigt sich in seinem Ausspruch: Wir mussen wissen, und wir werden wissen. Was Hilbertdamit sagen wollte, wird aus dem folgenden Zitat deutlich:

”Einst sagte der Philosoph Comte — in der Absicht ein gewiss unlosbares Problem

zu nennen —, dass es der Wissenschaft nie gelingen wurde, das Geheimnis derchemischen Zusammensetzung der Himmelskorper zu ergrunden. Wenige Jahrespater wurde durch die Spektralanalyse durch Kirchhoff und Bunsen diesesProblem gelost, und heute konnen wir sagen, dass wir die entferntesten Sterne alswichtigste physikalische und chemische Laboratorien in Anspruch nehmen, wie wir

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solche auf der Erde gar nicht finden. Der wahre Grund, warum es Comte nichtgelang, ein unlosbares Problem zu finden, besteht meiner Meinung nach darin, daßes ein solches gar nicht gibt.“

Oder in anderen Worten:

”Diese Uberzeugung von der Losbarkeit eines jeden mathematischen Problems ist

uns ein kraftiger Ansporn wahrend der Arbeit; wir haben in uns den steten Zuruf:Da ist das Problem, suche die Losung. Du kannst sie durch reines Denken finden;denn in der Mathematik gibt es kein Ignorabimus.“

Hilbert pladiert damit fur einen Optimismus in der Forschung, der selbstgesetzteBeschrankungen des Denkens ablehnt. Das Motto findet sich auch als Epitaph auf seinemGrabstein:

”Wir mussen wissen.

Wir werden wissen.“

Nach David Hilbert sind folgende mathematische Begriffe, Objekte oder Satzebenannt: Hilbertraum, Hilbertraumbasis, Hilbertbasis, Prahilbertraum, Hilbertmatrix,Hilbertkurve, Hilberttransformation, Hilbertkalkul, Hilbertmetrik, Hilberts Axiomensy-stem der euklidischen Geometrie, hilbertscher Basissatz, hilbertscher Nullstellensatz, hil-bertscher Syzygiensatz, Hilberts Hotel, Hilberts Satz 90, Hilbert-Schmidt-Operator, Hil-bertwurfel, Irreduzibilitatssatz von Hilbert und Hilbertsymbol. Ferner sind der Mond-krater Hilbert und der Asteroid Hilbert nach dem Mathematiker benannt. Das Foyer deralten mathematischen Fakultat in Gottingen tragt den Namen Hilbertraum.

Im Jahre 1906 erhielt Hilbert die Cothenius-Medaille der Deutschen Akademie derNaturforscher Leopoldina; 1907 wurde er auslandisches Ehrenmitglied der National Aca-demy of Sciences; im Jahr 1932 wurde Hilbert zum Mitglied sowie Ehrenmitglied derLeopoldina gewahlt.

William Fogg Osgood (* 10. Marz 1864 in Boston; † 22. Juli 1943 in Belmont,Massachusetts) war ein US-amerikanischer Mathematiker. Er wurde als Sohn eines Arztesin Boston geboren und studierte klassische Sprachen an der Boston Latin School und ander Harvard University (ab 1882), wo er aber unter dem Einfluss von Frank NelsonCole, William Byerly und Benjamin Peirce zur Mathematik wechselte. Er gradu-ierte (Bachelor) 1886 und machte seinen Masterabschluss ein Jahr spater. 1887 ging er miteinem Stipendium an die Universitat Gottingen, um bei Felix Klein zu studieren, 1889an die Universitat Erlangen, wo er 1890 bei Max Noether uber abelsche Funktionenpromovierte. Im selben Jahr heiratete er Theresa Ruprecht (aus der Familie des Mit-begrunders des Verlages Vandenhoeck und Ruprecht), die er in Gottingen kennengelernthatte. 1890 bis 1893 war er Tutor in Mathematik in Harvard, 1893 wurde er Assistenz-professor und 1903 Full Professor. Mit den neu aus Europa (speziell aus Deutschland, zudem Osgood zeitlebens eine besondere Affinitat hatte — er kleidete sich und verhieltsich wie ein damaliger deutscher Professor) importierten Ideen sorgte Osgood zusammenmit Maxime Bocher fur frischen Wind in Harvard.

Osgood hatte mit seiner ersten Frau drei Kinder, ließ sich aber scheiden und heirate-te 1932 die damals zwei Jahre zuvor geschiedene ehemalige Frau von Marston Morse,was zu einem Skandal fuhrte, der Osgoods Abschied aus Harvard nach sich zog. Er un-terrichtete dann noch zwei Jahre an der Universitat Peking, bevor er sich in Belmontniederließ.

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Osgood arbeitete hauptsachlich in der Analysis, z.B. uber Differentialgleichungenund Variationsrechnung. 1900 gab er den ersten strengen Beweis des riemannschen Abbil-dungssatzes. Von ihm stammen auch fruhe Arbeiten uber die Theorie mehrerer komple-xer Variabler (er schrieb daruber 1914 eine Monographie). Bekannt wurde er auch durchsein dreibandiges Lehrbuch der Funktionentheorie (1907, 1923, 1932). 1899 wurde er indie American Academy of Arts and Sciences gewahlt, 1904 in die National Academy ofSciences. 1905 bis 1906 war er Prasident der American Mathematical Society. 1922 wurdeer zum korrespondierenden Mitglied der Gottinger Akademie der Wissenschaften und imJahr 1923 zum Mitglied der Leopoldina gewahlt.

Wilhelm Wirtinger (* 15. Juli 1865 in Ybbs an der Donau; † 16. Januar 1945ebenda) war ein osterreichischer Mathematiker. Er studierte an der Universitat Wien,in Berlin und Gottingen bei Felix Klein. 1887 wurde er in Wien bei Emil Weyrpromoviert (Uber eine spezielle Tripelinvolution in der Ebene) und 1890 habilitierte ersich dort. 1895 wurde er Professor in Wien, ging aber noch im selben Jahr nach Innsbruck.Ab 1905 war er wieder Professor in Wien.

Wirtinger befasste sich als Schuler von Felix Klein mit dem Ausbau der riemann-schen Funktionentheorie, speziell zu Thetafunktionen. Daneben befasste er sich auch mitGeometrie, Invariantentheorie, Zahlentheorie, mathematischer Physik (von Statik, derTheorie der Oberflachenwellen und der Regenbogen bis hin zur Allgemeinen Relativitats-theorie). Er befasste sich auch mit Knotentheorie (seine Ergebnisse wurden aber erst vonEmil Artin 1925 veroffentlicht), wo die Wirtingerprasentierung von Knoten nach ihmbenannt ist. Bekannt ist sein Name durch den Begriff des Wirtingerkalkuls sowie die furstetig differenzierbare Funktionen f : [0, π] → R mit f(0) = f(π) = 0 gultige Wirtinge-rungleichung ∫ π

0

f(x)2 dx ≤∫ π

0

f ′(x)2 dx .

1907 erhielt er die Sylvestermedaille der Londoner Royal Society. 1906 wurde er zumkorrespondierenden Mitglied der Gottinger Akademie der Wissenschaften gewahlt. Seit1925 war er korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.1931 wurde er in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen.

Zu seinen Schulern zahlten Otto Schreier, Kurt Godel, Johann Radon, OlgaTaussky-Todd, Hilda Geiringer, Eduard Helly, Wilhelm Blaschke, KarlStrubecker, Leopold Vietoris und Hans Hornich.

1904 hielt er einen Plenarvortrag auf dem internationalen Mathematikerkongress inHeidelberg (Riemanns Vorlesungen uber die hypergeometrische Reihe und ihre Bedeu-tung).

Jacques Salomon Hadamard; (* 8. Dezember 1865 in Versailles; † 17. Oktober1963 in Paris) war ein franzosischer Mathematiker. Er war der Sohn von Amedee Hada-mard, eines Lehrers judischer Herkunft. Die Familie zog 1867 nach Paris, wo der Vaterzunachst eine Stelle am Lycee Charlemagne, spater am Lycee Louis-le-Grand annahm.Jacques Hadamard besuchte beide Schulen und schloss die Schulausbildung 1883 mitAuszeichnungen in Mathematik und Mechanik ab.

Ab 1884 studierte er an der Ecole normale superieure in Paris. Zu seinen Lehrerngehorten unter anderen Charles Hermite und Jean Gaston Darboux. Nach seinemAbschluss 1888 arbeitete er zunachst als Lehrer an verschiedenen Schulen. Er wurde 1892bei Emile Picard promoviert mit einer Arbeit uber Funktionen, die durch Taylorreihen

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definiert sind. Im gleichen Jahr erhielt er den Grand Prix des Sciences Mathematiquesfur seine Arbeit zur Bestimmung der Anzahl der Primzahlen unterhalb einer gegebenenGrenze.

Ebenfalls 1892 heiratete Jacques Hadamard Louise-Anna Trenel, die er seitseiner Kindheit kannte. Beide zogen nach Bordeaux, wo Hadamard eine Stelle als Dozentan der dortigen Universitat erhielt. Am 1. Februar 1896 wurde er dort Professor furAstronomie und Mechanik. Wahrend seiner Zeit in Bordeaux veroffentlichte er 29 Arbeitenauf verschiedensten Gebieten der Mathematik. Als die bedeutendste Arbeit aus dieser Zeitwird der Beweis des Primzahlsatzes im Jahr 1896 angesehen. In Bordeaux kamen auchseine beiden altesten Sohne zur Welt.

1897 wechselte Hadamard an die Sorbonne nach Paris. Wahrend der Dreyfus-Affare(ein Beispiel fur Antisemitismus im Frankreich des Fin de siecle) ergriff er Partei furAlfred Dreyfus, den Ehemann seiner Schwester Lucie. 1898 erschien der erste Bandseiner Lecons de Geometrie Elementaire zur zweidimensionalen Geometrie, dem 1901 einBand zur dreidimensionalen Geometrie folgte.

1898 erhielt Hadamard den Prix Poncelet fur seine Arbeiten der vergangenen zehnJahre. Er konzentrierte sich von nun an mehr auf die mathematische Physik, betonte aberstets, mehr Mathematiker als Physiker zu sein. In dieser Zeit schrieb er bahnbrechendeArbeiten uber partielle Differentialgleichungen und uber Geodasie. Er bearbeitete auchdie Themenkreise geometrische Optik, Hydrodynamik und Grenzwertprobleme.

Wahrend seiner ersten funf Jahre in Paris wurden ein weiterer Sohn und zwei Tochtergeboren.

Er erhielt zahlreiche weitere Auszeichnungen und wurde 1906 zum Prasidenten der So-ciete Mathematique de France gewahlt. 1912 erhielt er einen Ruf als Professor fur Analysisan die Ecole polytechnique in Nachfolge von Marie Ennemond Camille Jordan. Imgleichen Jahr nahm er den durch den fruhen Tod von Henri Poincare frei gewordenenPlatz in der Academie des Sciences an.

1916 fielen seine beiden alteren Sohne innerhalb weniger Wochen in der Schlacht umVerdun. Hadamard verarbeitete seine Trauer, indem er sich noch intensiver in die Ma-thematik vertiefte. 1920 bekam er einen Lehrstuhl fur Analysis an der Ecole Centrale,behielt aber seine Posten an der Ecole polytechnique und am College de France. Im sel-ben Jahr wurde er in die American Academy of Arts and Sciences gewahlt. In dieser Zeitbis 1933 reiste er viel und besuchte unter anderem zweimal die Vereinigten Staaten. Erveroffentlichte unermudlich Arbeiten und Bucher von hoher Qualitat.

Zwischen den Weltkriegen wandelte sich Hadamards politische Einstellung zum linkenSpektrum. 1928 hielt er einen Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkon-gress in Bologna (Le developpement et le role scientifique du calcul fonctionnel). Nach demAusbruch des Zweiten Weltkriegs und dem Fall Frankreichs konnte er mit seiner Familiein die USA fliehen. Er erhielt eine befristete Gastprofessur an der Columbia-Universitat.1944 fiel auch sein dritter Sohn im Krieg. Er verließ die USA, ging zunachst nach Englandund kehrte bei Kriegsende nach Frankreich zuruck.

Nach dem Krieg wurde er Friedensaktivist. Seine Nahe zur Kommunistischen Parteihatte 1950 beinahe die Teilnahme am International Congress in Cambridge (Massachu-setts) verhindert. Die Einreise wurde dem inzwischen 85-Jahrigen erst nach Furspracheseiner amerikanischen Kollegen erlaubt. Er wurde Ehrenvorsitzender des Kongresses. 1951war Hadamard erster Trager des internationalen Antonio-Feltrinelli-Preises. 1956 erhielter die Medaille d’or du CNRS.

Die Nachricht vom todlichen Bergunfall seines Enkels 1962 scheint den Lebenswillen

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Hadamards gebrochen zu haben. Er verließ seine Wohnung nicht mehr und starb imOktober des folgenden Jahres.

Hadamard war eine dominierende Personlichkeit in der franzosischen Mathematik undwirkte mit seinem Seminar in Paris schulbildend. Zu seinen Doktoranden zahlen MauriceFrechet, Paul Levy, Szolem Mandelbrojt, Andre Weil und Marc Krasner.Sonstiges zum Werk

Nach Hadamard sind zum Beispiel der Hadamardcode, der Satz von Cauchy-Hadamard, die Hadamardungleichung, Hadamardmatrizen, Satz von Hadamard, dasHadamardgatter, der hadamardsche Dreikreisesatz und die Hadamardtransformation be-nannt.

Verschiedene Probleme sind von ihm angestoßen worden und nach ihm benannt. ZumBeispiel gibt es das Hadamardproblem der maximalen Determinante, das nach dem Ma-ximalwert der Determinante fur Matrizen fragt, deren Koeffizienten in geeigneter Weiseeingeschrankt sind. Hadamard selbst bewies 1893 eine obere Schranke fur den Betrag derDeterminante komplexer n×n-Matrizen, deren Koeffizienten aus der Einheitskreisscheibestammen. In der Theorie partieller Differentialgleichungen gibt es ein Hadamardproblem,das danach fragt, ob die Wellengleichung die einzige Gleichung ist, die das huygensschePrinzip erfullt, das nach Hadamard nur in geraden Dimensionen n ≥ 4 gelten kann.Es wurde spater negativ gelost (Karl Stellmacher, Paul Gunther). Allgemeinerwird im Hadamardproblem nach einer Charakterisierung der Gleichungen gefragt, die einhuygenssches Prinzip erfullen.

Felix Edouard Justin Emile Borel (* 7. Januar 1871 in Saint-Affrique, Departe-ment Aveyron, Region Midi-Pyrenees; † 3. Februar 1956 in Paris) war ein franzosischerMathematiker und Politiker. Er studierte an der Ecole normale superieure, wurde 1893(mit 22 Jahren) als Maıtre de Conferences an der Universitat Lille berufen und wechselte1896 an die Ecole normale superieure. 1909 erhielt er zusatzlich einen eigens fur ihn einge-richteten Lehrstuhl fur Funktionentheorie an der Sorbonne; 1910 bis 1920 war er Direktorder Ecole normale superieure. 1926 war er Grundungsdirektor des Institut Henri Poincare.1921 wurde er in die Academie des Sciences aufgenommen, die ihn 1934 zum Prasidentenwahlte. Bereits 1918 war er zum auswartigen Mitglied der Accademia dei Lincei in Romernannt worden. 1928 hielt er einen Plenarvortrag auf dem internationalen Mathemati-kerkongress in Bologna (Le calcul des probabilites et les sciences exactes) ebenso wie 1912in Cambridge (Definition et domaine d’existence des fonctions monogenes uniformes).

Borel war Burgermeister seines Heimatortes Saint-Affrique. Von 1924 bis 1936 warer Mitglied des franzosischen Abgeordnetenhauses, 1925 kurzzeitig Marineminister. Nacheiner kurzen Haftzeit unter dem Vichy-Regime arbeitete er fur die Resistance.

Borel leistete grundlegende Beitrage zur Topologie, zur Maß-, Wahrscheinlichkeits-,Funktionen- und Spieltheorie. 1905 war er Prasident der Societe Mathematique de France.Mit Paul Painleve veroffentlichte er 1910 ein Buch uber Flugtechnik. 1922 grundete erdas Pariser Statistische Institut (ISUP).

1901 heiratete er die damals siebzehnjahrige Marguerite Appel, Tochter des Ma-thematikers Paul Appell. Sie war Schriftstellerin und veroffentlichte unter dem Pseud-onym Camille Marbo. Nach ihm ist der Mondkrater Borel benannt.

Nach Emile Borel sind in Paris die Rue Borel und der Square Borel (17tes Ar-rondissement) sowie auf dem Mond der Krater Borel und der Asteroid (16065) Borelbenannt.

In der Mathematik sind nach ihm benannt: Borelmaß, borelsche σ-Algebra und Borel-

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raum in der Maßtheorie; Borelparadoxon; Satz von Heine-Borel; Borel-Cantelli-Lemma;borelscher Ausnahmewert in der Wertverteilungstheorie; Boreltransformation, Borelsum-mierung in der Funktionalanalysis und Borels starkes Gesetz der großen Zahlen.

Ebenfalls nach ihm benannt sind: das Centre Emile Borel in Paris in dem das InstitutHenri Poincare untergebracht ist; ein Horsaal an der Universite Paul Sabatier in Toulouseund das Centre Hospitalier Emile Borel in Saint Affrique.

Lucjan Emil Bottcher (* 7. Januar 1872 in Warschau; † 29. Mai 1937 in Lemberg)war ein polnischer Mathematiker, nach dem die insbesondere in der komplexen Dynamikwichtige Bottchersche Funktionalgleichung benannt ist. Er studierte in Warschau, Lem-berg und Leipzig. In Leipzig wurde er 1898 unter Sophus Lie und Adolph Mayer mitder Dissertation

”Beitrage zu der Theorie der Iterationsrechnung“ promoviert. Anschlie-

ßend war er an der Polytechnischen Hochschule in Lemberg, zunachst als Assistent, ab1910 dann als Adjunkt. Bottcher schrieb ungefahr 20 mathematische Arbeiten, die sichzumeist — wie bereits die Dissertation — mit Fragen der Iterationstheorie beschaftigten.Des Weiteren verfasste er einige Lehrbucher. Am 31. August 1935 wurde er pensioniert.Er war verheiratet und hatte vier Kinder.

Johannes Mollerup (* 3. Dezember 1872 in Nyborg; † 27. Juni 1937) war ein dani-scher Mathematiker. Er studierte zunachst an der Universitat Kopenhagen, promoviertedort 1903 und hatte anschließend von 1916 bis zu seinem Tod einen Lehrstuhl an derDanmarks Tekniske Universitet inne.

Zusammen mit Harald Bohr entwickelte er den Satz von Bohr-Mollerup zureinfachen Charakterisierung der Gammafunktion.

Constantin Caratheodory (griechisch Kωνσταντινoς Kαραθεoδωρη Konstantı-nos Karatheodorı; * 13. September 1873 in Berlin; † 2. Februar 1950 in Munchen) warein Mathematiker griechischer Herkunft. In der Literatur findet sich der Nachname auchals Karatheodori, Caratheodory oder Caratheodori. Er wurde als Sohn von StephanosCaratheodory, einem griechischen Diplomaten im Dienste des Osmanischen Reiches,geboren. Die Familie Caratheodory weist eine lange diplomatische Tradition auf undmehrere Familienmitglieder hatten wichtige Regierungsposten in Konstantinopel inne. EinGroßonkel, Alexander Caratheodory Pascha, der zugleich der Vater seiner EhefrauEuphrosyne war, hatte 1878 als Außenminister die Hohe Pforte auf dem Berliner Kon-gress vertreten. Die Familie stammt ursprunglich aus dem Dorf Vosnochori (Boσνoχωρι)heute Nea Vyssa (Nεα Bυσσα) bei Orestiada.

Caratheodory wuchs in Brussel auf, wo sein Vater ab 1875 Botschafter war. Bereitsin seinen Jugendjahren wurde seine mathematische Begabung deutlich und er gewanndiverse schulische Auszeichnungen. Zweimal gewann er bei den Concours genereaux allerhoheren Schulen des Landes den ersten Preis in Mathematik. 1891 legte er das belgischeAbitur ab und trat als eleve etranger in die Ecole Militaire de Belgique in Brussel ein.Das Ingenieurstudium an dieser Kadettenanstalt schloss er nach vier Jahren ab.

Als Bauingenieur im Offiziersrang begab er sich 1895 in das Osmanische Reich nachMytilene (Lesbos), um dort beim Ausbau des Straßennetzes zu helfen. Weitere Bauprojek-te verhinderte der Griechisch-Turkische Krieg 1896/97. Caratheodory ging nach London,um wenig spater fur eine britische Firma am Suez-Kanal zu arbeiten. In Assiout arbei-tete er zwei Jahre lang als Assistant-Engineer fur die Nil-Regulierung. In seiner Freizeitbeschaftigte er sich mit der Mathematik und studierte die Werke Jordans. Er fuhrte Mes-sungen im Eingang der Cheops-Pyramide durch, die er auch veroffentlichte. Hier fasste

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er zur großen Uberraschung seiner Familie den Entschluss, sich kunftig ausschließlich mitder Mathematik zu beschaftigen.

Caratheodory besuchte die Universitaten Berlin (1900–1901) und Gottingen (1902–1904). Fur seine Promotion an der Universitat Gottingen, die zu dieser Zeit wegen ihrerherausragenden Mathematiker weltweit einen hervorragenden Ruf genoss, wahlte er dasThema

”Uber die diskontinuierlichen Losungen in der Variationsrechnung“. In Gottingen

wurde die Begabung Caratheodorys erkannt und noch am Vortag des Rigorosums tratFelix Klein an ihn mit dem Vorschlag heran, sich in Gottingen zu habilitieren. DenDoktorgrad erwarb er am 1. Oktober 1904. Sein Doktorvater war Hermann Minkowski.Bereits im Marz des darauffolgenden Jahres erhielt er die venia legendi, die Lehrbefugnis.Seine Habilitationsschrift wurde ohne Einhaltung einer Frist vorgelegt. Drei Jahre langarbeitete er in Gottingen als Privatdozent. 1908 wechselte er nach Bonn, ein Jahr spater,1909, wurde er ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Hannover. Im Jahrdarauf wurde er an die neu gegrundete Technische Hochschule Breslau berufen. 1913kehrte er als Nachfolger von Felix Klein nach Gottingen zuruck. 1918 folgte er demRuf nach Berlin. Zusammen mit Albert Einstein wurde er 1919 in die PreußischeAkademie der Wissenschaften aufgenommen. Bei der Aufnahme Caratheodorys hatte keinGeringerer als Max Planck die Laudatio gesprochen. Im selben Jahr wurde er zumkorrespondierenden Mitglied der Gottinger Akademie der Wissenschaften gewahlt.

Im Jahre 1920 erhielt er den Ruf der Universitat Smyrna, dem heutigen Izmir, dieihn zum Prasidenten ernannte. Er trug maßgeblich zu deren Aufbau bei, aber seine Ar-beit endete 1922 mit dem Einmarsch der Turken im Ruin. Caratheodory konnte nochrechtzeitig seine Familie — Frau, Sohn und Tochter — auf der Insel Samos in Sicherheitbringen, um allein nach Smyrna zuruckzukehren. Dort organisierte er die Rettung kostba-ren Schriftguts der Universitat, das er auf Booten nach Griechenland transportieren ließ.Danach fand Caratheodory mit seiner Familie Zuflucht in Athen. Hier lehrte er biszum Jahre 1924.

1924 wurde er Nachfolger von Ferdinand Lindemann an der Universitat Munchen.1925 wurde er als ordentliches Mitglied in die mathematisch-naturwissenschaftliche Klas-se der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewahlt. Den Antrag fur seine Auf-nahme hatte Alfred Pringsheim mit unterzeichnet. Caratheodory war 1927 Mit-unterzeichner des Antrags dieser Klasse, Albert Einstein, mit dem er regelmaßigenBriefkontakt pflegte, als korrespondierendes Mitglied aufzunehmen. An der Akademiewar Caratheodory unter anderem mitverantwortlich fur die Herausgabe der Werkevon Johannes Kepler. Ihn und seine Kollegen Oskar Perron und Heinrich Tiet-ze bezeichnete man als

”Munchner Dreigestirn der Mathematik“.

1928 hielt Caratheodory sich langere Zeit in den Vereinigten Staaten auf. Er hieltGastvortrage an der University of Pennsylvania, in Harvard, in Princeton, sowie an derUniversity of Texas at Austin und an der University of Texas at San Antonio.

1930 trug die griechische Regierung die Bitte an ihn heran, die Neuorganisation derUniversitaten Athen und Thessaloniki zu organisieren. Caratheodory folgte dieser Bit-te, obwohl Munchner Kollegen wie Arnold Sommerfeld versuchten, ihn zum Bleibenzu bewegen. Wahrend dieser Zeit schrieb er auch fur die große griechische Enzyklopadieeinen Beitrag uber Mathematik. Auf der Akropolis untersuchte er den Parthenon. NachErledigung dieses Auftrages kehrt er nach Munchen zuruck. 1938 erfolgte seine Emeritie-rung. Die Zeit des Nationalsozialismus verbrachte er zuruckgezogen als Kirchenvorstandder Griechischen Kirche zum Erloser am Munchner Salvatorplatz, wobei er nach einjahri-ger Pause wieder eine Vorlesung uber Potentialtheorie hielt. Im Sommer 1946 hielt er

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nach schwerer Erkrankung seinen ersten Vortrag beim Mathematischen Colloquium inMunchen zum Thema

”Uber Lange und Oberflache“. Ende Januar 1950 verschlechterte

sich sein Gesundheitszustand erneut. Am 2. Februar verstarb er an seinem Leiden. Ca-ratheodory ist auf dem Munchner Waldfriedhof begraben. Seine Frau Euphrosynewar bereits am 29. Juli 1947 verstorben.

Caratheodory war stark von David Hilbert beeinflusst. Er lieferte fundamentaleErgebnisse in vielen Gebieten der Mathematik, insbesondere in der Theorie der partiellenDifferentialgleichungen, der Funktionentheorie (caratheodorysche Metrik) und der Maß-und Integrationstheorie.

Seine Beitrage zur Variationsrechnung, Funktionentheorie, geometrischen Optik, Ther-modynamik sowie zur theoretischen Physik beeinflussten viele namhafte Mathematiker.Aus der Korrespondenz mit Albert Einstein geht hervor, dass Caratheodory diesemwichtige mathematische Erklarungen fur seine Grundlegung der Relativitatstheorie gebenkonnte. Der neue Feldbegriff, den Caratheodory in die Variationsrechnung eingefuhrthat, sollte große Folgen haben. Caratheodory leitete daraus eine Ungleichung ab, die20 Jahre spater unter anderem Namen als bellmansche Gleichung oder Ungleichung inder mathematischen Welt Aufsehen erregt und die Grundlage wird fur das Prinzip derdynamischen Optimierung, und seither weit uber die Mathematik hinausstrahlt.

Seine Untersuchungen uber einfache Integrale in der Variationsrechnung blieben nichtauf die Ebene beschrankt, sondern er entwickelte sie weiter fur den Raum. Daneben ar-beitete er an Variationsproblemen mehrfacher Integrale. Auch der Optik, der Mechaniksowie der Planetenbewegung widmete er als Akademiemitglied mehrere Abhandlungen.Einen besonderen Platz nahm aber die Thermodynamik ein. Schon seine 1909 erschieneneVeroffentlichung auf diesem Gebiet (Erste axiomatisch strenge Begrundung der Thermo-dynamik) fand große Beachtung durch Planck und Max Born.

In der Funktionentheorie ist der Satz von Caratheodory sein 1913 bewiesenes Resul-tat, dass eine konforme Abbildung der Einheitskreisscheibe auf ein von einer Jordankurvebegrenztes Gebiet eine stetige, bijektive Fortsetzung auf den Rand des Einheitskreiseshat. Des Weiteren ist nach ihm sein 1912 gefundenes Resultat benannt, dass die lokalgleichmaßige Konvergenz einer Folge von konformen Abbildungen der Einheitskreisschei-be der Kernkonvergenz der Bildgebiete entspricht. In der Differentialgeometrie wird ihmdie Vermutung von Caratheodory zugeschrieben, die die Existenz mindestens zweierNabelpunkte auf jeder glatten, geschlossenen und konvexen Flache postuliert (die Vermu-tung ist offen).

1926 fuhrte er den allgemeinen Beweis, dass kein System aus Linsen und Spiegelnohne optische Abbildungsfehler (Aberrationen) existiert, mit der Ausnahme des trivialenFalls fur ebene Spiegel. 1940 veroffentlichte er gemeinsam mit Bernhard Schmidt eineTheorie eines Spiegelteleskops zur Theorie des Schmidt-Teleskops, dessen erstes Exemplardieser in Hamburg-Bergedorf gebaut hatte und von dem bald weitere z.B. auf dem MountPalomar folgten. 1932 hielt er einen Plenarvortrag auf dem internationalen Mathemati-kerkongress in Zurich (Uber die analytischen Abbildungen durch Funktionen mehrererVeranderlicher).

Er hat diverse weitere mathematische Lehrsatze entdeckt, darunter das Maximumprin-zip. Der Maßerweiterungssatz von Caratheodory ist bis heute Gegenstand zahlreichermathematischer Untersuchungen.

Die Ludwig-Maximilians-Universitat Munchen hat 2002 in Anerkennung seiner Lei-stungen einem der großten Horsale des Mathematischen Instituts in einer Feierstunde denNamen Constantin-Caratheodory-Horsaal verliehen. Unter den Gasten war seine Tochter

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Despina Rodopoulou-Caratheodory.Caratheodory erfreute sich wegen seines außergewohnlichen analytischen Verstan-

des und seiner fachlichen Kompetenz, zugleich aber auch wegen seiner personlichen Inte-gritat einer hohen Wertschatzung weit uber sein Fach hinaus. Neben seinen zahlreichenVerdiensten in der Mathematik ist er aber auch fur sein außergewohnliches Sprachtalentbekannt. Seine Muttersprachen waren Griechisch und Franzosisch. Zusatzlich publizierteer die meisten seiner Arbeiten auf Deutsch, und er sprach fließend Englisch, Italienischund Turkisch.

Rene Louis Baire (* 21. Januar 1874 in Paris; † 5. Juli 1932 in Chambery) war einfranzosischer Mathematiker. Er gilt als einer der Begrunder der modernen Theorie reellerFunktionen. Insbesondere ist er dabei fur den Kategoriensatz von Baire bekannt.

Baire war der Sohn eines wenig bemittelten Schneiders. Er war ein ausgezeichne-ter Schuler und konnte dank Stipendien das Lycee Lakanal und das Lycee Henri IV.besuchen und zeichnete sich bei den landesweiten Prufungen fur die Eliteschulen (Con-cours General) aus. Er studierte ab 1892 an der Ecole normale superieure, wobei er unteranderem Mathematik bei Henri Poincare (dem er bei der Herausgabe seiner Thermo-dynamikvorlesungen assistierte), Charles Hermite und Emile Picard horte und 1894das Lizenziat in Mathematik und Physik erhielt, und wurde danach Gymnasiallehrer inTroyes und ab 1896 in Bar-le-Duc (wo er fast ein Jahr wegen seines Gesundheitszustandsunterbrechen musste). Daneben arbeitete er an seiner Dissertation uber unstetige Funk-tionen und erhielt ein Stipendium zu einem Italien-Aufenthalt bei Vito Volterra. 1899promovierte er in Paris (zu den Prufern zahlten Gaston Darboux, Paul Appell undEmile Picard) und wurde 1901 Professor (Maıtre de conferences) in Montpellier, hielt1904 die Peccot-Vorlesungen am College de France und war ab 1905 an der Universitat(Faculte des Sciences) Dijon (Charge de cours), wo er 1907 Professor wurde. Baire warseit seiner Jugend krank und musste schließlich seinen Beruf (sowohl Forschung als auchLehre) aufgeben. Neben Problemen mit der Speiserohre hatte er psychische bzw. psycho-somatische Probleme (Depressionen, Agoraphobie), die zeitweise die fur die wissenschaft-liche Arbeit notige Konzentration verhinderten. 1914 ging er nach Alesia und danach nachLausanne zur Kur und musste den Ersten Weltkrieg dort verbringen. Er machte dort imErsten Weltkrieg finanziell schwierige Zeiten durch. In den 1920er Jahren kamen zwarEhrungen auf ihn zu (er erhielt 1919 den Prix Gegner der Academie des sciences, wurdeRitter der Ehrenlegion und 1922 korrespondierendes Mitglied der Academie des sciences)aber nicht die erhoffte Professur in Paris. 1925 ging er als Professor in Dijon in den Ru-hestand und erhielt eine Pension, die aber in den Inflationsjahren rasch zerfiel. Ein Briefan seinen Bruder Georges vom 24. Juni 1932, in dem er ihm von seinem schlechtenGesundheitszustand und seiner Depression schrieb (er konnte nach eigenen Worten kaumetwas zu sich nehmen und glaubte außerdem, an einer Gehirnhautentzundung zu leiden),alarmierte die Familie und sein Bruder schickte seine Ehefrau nach Chambery, um nachihm zu sehen. Sie ließ einen Arzt kommen, der aber meinte ihm fehle nichts Ernstes be-ziehungsweise seine Leiden waren psychosomatischer Natur. Kurz vor seinem Tod wurdeer in eine psychiatrische Klinik in Chambery-Basson eingewiesen, wo er bald darauf am5. Juli starb.

Baire sah sich von seinen Zeitgenossen nur unzureichend gewurdigt und in Konkur-renz zu Henri Lebesgue, der obwohl junger eine steile Karriere machte. Die Zuruck-setzung, die er empfand, war ein Grund fur seine Depressionen. Er stand ab 1898 mitEmile Borel in Briefwechsel und mit Charles-Jean de La Vallee Poussin, mit

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dem er sich aber spater zerstritt. De La Vallee Poussin machte aber die Ideen Bai-res in seinem Analysiskurs weiteren Kreisen bekannt. Wie Borel und Lebesgue warer ein Anhanger der cantorschen Mengenlehre in Frankreich, die er konsequent in seinenArbeiten verwendete. Zu seinen Studenten zahlte Arnaud Denjoy.

Giuseppe Vitali (* 26. August 1875 in Ravenna; † 29. Februar 1932 in Bologna)war ein italienischer Mathematiker. Er wurde bekannt durch den Beweis der Existenz vonMengen, die nicht Lebesgue-messbar sind (Vitalimengen). Er beendete 1899 das Studiumder Mathematik an der Scuola Normale Superiore in Pisa. In den folgenden zwei Jahrenwar er Assistent von Ulisse Dini. Aufgrund finanzieller Probleme arbeitete er dannals Lehrer in Genua und engagierte sich in der Sozialistischen Partei, bis diese von denFaschisten 1922 aufgelost wurde. Daraufhin bewarb er sich auf Professuren und wurdezunachst in Modena, dann in Padua und schließlich 1930 in Bologna berufen.

Seine wichtigsten Leistungen bestehen in der Einfuhrung des Begriffs der absolutenStetigkeit von Funktionen und im Bereich der Orthogonalsysteme von Funktionen. Fer-ner hat Vitali als erster eine nicht-Lebesgue-messbare Menge konstruiert. Ein nach Vi-tali benannter Satz beschaftigt sich mit holomorphen Funktionenfolgen. Ein weiterervon ihm bewiesener Satz ist der Konvergenzsatz von Vitali, der Kriterien angibt, wannKonvergenz im p-ten Mittel und Konvergenz lokal nach Maß aquivalent sind. Außerdemsind der Uberdeckungssatz von Vitali, die Vitali-Uberdeckung, der Satz von Vitali-Caratheodory und der Satz von Vitali-Hahn-Saks mit seinem Namen verbunden.

Paul Antoine Aristide Montel (* 29. April 1876 in Nizza; † 22. Januar 1975in Paris) war ein franzosischer Mathematiker. Er war der Sohn eines Photographen undbesuchte das Gymnasium in Nizza. Nach seinem Studium von 1894 bis 1897 an der Ecolenormale superieure in Paris arbeitete er zunachst als Gymnasiallehrer in Poitiers, Nantesund Paris. Im Jahre 1907 promovierte er auf Drangen von Freunden, die sein Potentialerkannten, in Paris an der Sorbonne (bei Henri Lebesgue und textscEmile Borel sowiePaul Painleve), kehrte aber wieder in seinen Lehrerberuf zuruck. In seiner Disserta-tion

”Sur les suites infinies de fonctions“ fuhrte er sein Konzept normaler Familien von

Funktionen in die Funktionentheorie ein, das sogleich z.B. Anwendung in der Theorie derIteration analytischer Funktionen fand (Gaston Julia 1918, Pierre Fatou). 1911 warer dann doch zunachst Dozent an der

”Faculte des Sciences“ und dann ab 1918 als Profes-

sor tatig. Wahrend der deutschen Besatzung Frankreichs war er Dekan der Fakultat. Zuseinen Studenten gehorten unter anderen Jean Dieudonne und Henri Cartan. Mon-tel war Herausgeber der Zeitschriften Annales scientifiques de l’Ecole normale superieureund Bulletin des Sciences Mathematiques.

1937 wurde er in die franzosische Akademie der Wissenschaften gewahlt. Er war au-ßerdem Großoffizier der franzosischen Ehrenlegion. 1925 war er Prasident der SocieteMathematique de France.

Pierre Joseph Louis Fatou (* 28. Februar 1878 in Lorient; † 10. August 1929 inPornichet) war ein franzosischer Mathematiker. Nach dem Studium an der Ecole normalesuperieure in Paris von 1898 bis 1900 arbeitete er ab 1901 am Observatorium in Paris. Ne-ben seinen astronomischen Forschungen lieferte er eine Vielzahl mathematischer Arbeitenund promovierte 1907 in Mathematik mit einer Arbeit uber trigonometrische Reihen undTaylorreihen. Diese war eine der ersten Anwendungen des Lebesgueintegrals auf andereProbleme der Analysis. Bereits im Jahre 1906 untersuchte er die Iteration gewisser ratio-naler Funktionen. Spater befasste er sich ausfuhrlicher mit dem Thema und veroffentlichte

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in den Jahren 1919/20 (in drei Teilen) seine umfangreichen Untersuchungen uber Iterati-on rationaler Funktionen. Unabhangig davon wurden solche Untersuchungen gleichzeitigauch von Gaston Julia durchgefuhrt. Fatou wollte ursprunglich am 1915 fur das Jahr1918 ausgeschriebenen Wettbewerb fur den Preis der Akademie der Wissenschaften teil-nehmen, der diesem Thema gewidmet war, und veroffentlichte erste Ergebnisse in denComptes Rendus im Dezember 1917. Nachdem Gaston Julia, der zu ahnlichen Ergeb-nissen gekommen war, in einer Note in den Comptes Rendus 1917 Prioritatsansprucheanmeldete (er hatte seine Arbeit zuvor in einem versiegelten Umschlag bei der Akademiehinterlegt), nahm er davon Abstand.

Die in der Theorie grundlegenden Mengen werden heute als Fatoumenge und Julia-menge bezeichnet. Fatou und Julia definierten diese Mengen auf unterschiedliche Weise.Heute folgen praktisch alle Lehrbucher uber komplexe Dynamik, wie die Fatou-JuliascheIterationstheorie auch genannt wird, dem fatouschen Zugang. Bis Anfang der 1980er Jahrefand die komplexe Dynamik relativ wenig Beachtung, trotz wichtiger Beitrage von Hu-bert Cremer, Carl Ludwig Siegel und anderen. Dann stieg das Interesse daran starkan, zum einen auf Grund der schonen Computergraphiken von Juliamengen, die durchBenoıt Mandelbrot, Heinz-Otto Peitgen und andere einem breiten Publikum be-kannt wurden, zum anderen durch wichtige neue mathematische Methoden, die durchDennis Sullivan, Adrien Douady, John H. Hubbard und weitere Mathematikereingefuhrt wurden.

Bei der Untersuchung der Iteration von Funktionen zweier komplexer Veranderlicherwurde Fatou auf die heute Fatou-Bieberbach-Gebiete genannten Mengen gefuhrt. ImJahre 1926 untersuchte er auch die Iteration ganzer transzendenter Funktionen. Ein wei-teres bedeutendes Ergebnis seiner Arbeiten ist das Lemma von Fatou und der Satz vonFatou aus seiner Dissertation, der Bedingungen angibt, wann eine im offenen Einheits-kreis definierte holomorphe Funktion punktweise auf den Rand fortgesetzt werden kann.

Er veroffentlichte auch uber Himmelsmechanik, zum Beispiel Doppelsternsysteme. EinJahr vor seinem Tod erhielt er 1928 den Titel eines Astronomen. Er war Mitglied derEhrenlegion, ab 1904 Mitglied der Societe Mathematique de France (SMF) und 1926deren Prasident.

Guido Fubini (* 19. Januar 1879 in Venedig; † 6. Juni 1943 in New York) war einitalienischer Mathematiker. Er war der Sohn eines Mathematiklehrers und ging in Venedigzur Schule. Er studierte ab 1896 an der Scuola Normale Superiore di Pisa unter anderembei Ulisse Dini und bei Luigi Bianchi, bei dem er 1900 uber Clifford-Parallelen inelliptischen Raumen promoviert wurde. Ab 1901 lehrte er an der Universitat in Cataniaund bald darauf in Genua. Ab 1908 lehrte er in Turin sowohl am Polytechnikum als auchan der Universitat. 1939 emigrierte er als Jude mit seiner Familie in die USA als Reaktionauf die nun rassistisch gewordene Politik Mussolinis, die auch dazu gefuhrt hatte, dassman ihn in den Ruhestand zwang. Der Hauptgrund fur seine Emigration war die Sorgeum die Zukunft seiner beiden Sohne, die Ingenieure bzw. Physiker waren. Fubini nutzteeine Einladung des Institute for Advanced Study 1939 und lehrte danach einige Jahre inNew York City, seine Gesundheit ließ aber bereits nach (Herzprobleme).

Als Mathematiker beschaftigte er sich zunachst mit projektiver Differentialgeometrieund spater mit verschiedenen Gebieten der Analysis wie Funktionentheorie und Integral-rechnung (Satz von Fubini). Weitere Gebiete waren Gruppentheorie und mathematischePhysik, besonders in der Zeit des Ersten Weltkriegs, wo er sich mit mathematischen Pro-blemen aus der militarischen Anwendung in der Artillerie beschaftigte, und spater aus

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Interesse fur das Arbeitsgebiet seiner Sohne, die Ingenieure waren.Sein Sohn Eugenio Fubini (1913–1997), ein Physiker, war unter Kennedy 1963 bis

1965 Assistant Secretary of Defense in den USA und danach 1965 bis 1969 Vizeprasidentfur Forschung von IBM.

Leopold Fejer (ungarisch Fejer Lipot; * 9. Februar 1880 in Pecs als LeopoldWeiss; † 15. Oktober 1959 in Budapest) war ein ungarischer Mathematiker, der sich mitAnalysis befasste.

Leopold Weiss nahm um 1900 im Zuge der Magyarisierung der ungarischen Judenwahrend seines Berlin-Aufenthalts den Namen Fejer an. Er studierte ab 1897 Mathema-tik und Physik in Budapest (als Schuler von Julius Konig, Jozsef Kurschak, ManoBeke, Lorand Eotvos) und Berlin (1899/1900), wo er ein Schuler von HermannAmandus Schwarz, Lazarus Fuchs und Georg Frobenius war. In Berlin schlosser auch Freundschaft mit Erhard Schmidt, Issai Schur, Edmund Landau und Con-stantin Caratheodory. Er wurde 1902 an der Lorand-Eotvos-Universitat promoviert(mit einer von Schwarz betreuten Dissertation). 1905 wurde er Professor in Kolozsvar(was teilweise der Anerkennung von Henri Poincare zu verdanken war, die er anlasslicheines Budapest-Besuchs zum Erhalt des Bolyai-Preises ausdruckte) trotz Widerstanden,die damals gegen judische Fakultatsmitglieder bestanden. Im Winter 1902/03 war er inGottingen, wo er Vorlesungen von David Hilbert und Hermann Minkowski besuch-te, und im Sommer 1903 in Paris, wo er bei Emile Picard und Jacques Hadamardhorte. Von 1911 bis zu seinem Tode hatte er dann einen Lehrstuhl fur Mathematik an derLorand-Eotvos-Universitat Budapest inne. Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, wahrenddessen er schwer erkrankte, und das Horthy-Regime danach belasteten ihn schwer, ebensowie gegen Ende seines Lebens die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs in Budapest, die ihnwegen seiner judischen Herkunft 1944 zum Rucktritt zwangen. Seine geistigen Fahigkeitenließen rasch nach und er starb 1959 in einem Hospital an einem Schlaganfall.

Sein Forschungsschwerpunkt war die harmonische Analysis und das Gebiet der Fou-rierreihen. Nach ihm benannt ist der Satz von Fejer, der von großer Bedeutung in derTheorie der Fourierreihen ist und damals deren Reputation in den Augen der Mathema-tiker trotz ihres teilweise pathologischen Verhaltens (mit ihnen ließen sich unter anderemstetige, nirgendwo differenzierbare Funktionen konstruieren) verbesserte. Der Satz ent-stand aus seiner Dissertation. Er befasste sich auch mit Potenzreihen, Potentialtheorie,Approximationstheorie und konformen Abbildungen.

Fejer erhielt 1948 den Kossuth-Preis. 1912 war er Vizeprasident des InternationalenMathematikerkongresses in Cambridge und 1911 wurde er Mitglied der Ungarischen Aka-demie der Wissenschaften. Er war Mitglied der Gottinger Akademie der Wissenschaften(1917), der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1954) und der Polnischen Aka-demie der Wissenschaften (1957). Er war Ehrendoktor der Brown University und derLorand Eotvos Universitat. Er war Mitherausgeber der Mathematischen Zeitschrift undder Rendiconti del Circolo matematico di Palermo. Außerdem war er ein guter Pianist.

Paul Koebe (* 15. Februar 1882 in Luckenwalde; † 6. August 1945 in Leipzig) war eindeutscher Mathematiker, der sich fast ausschließlich mit Funktionentheorie beschaftigte.Er war der Sohn eines Fabrikbesitzers in Luckenwalde (Loschfahrzeuge fur die Feuerwehr)und besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin. Er studierte in Kiel (Sommer-semester 1900) und danach an der Technischen Hochschule und der Universitat in Berlin,wo er bei Hermann Amandus Schwarz 1905 promovierte. Ein weiterer seiner Lehrerwar Friedrich Schottky. Danach ging er nach Gottingen, wo er sich 1907 habilitierte

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und 1910 außerplanmaßiger außerordentlicher Professor wurde. 1911 bis 1914 war er au-ßerordentlicher Professor in Leipzig, danach ordentlicher Professor in Jena und ab 1926 inLeipzig, wo er 1933 bis 1935 Dekan der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultatwar. 1922 erhielt er den Ackermann-Teubner-Gedachtnispreis. Im November 1933 gehorteer zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Univer-sitaten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat.

Koebe war Mitglied der Sachsischen, der Preußischen, der Heidelberger und der Got-tinger Akademie der Wissenschaften sowie der Finnischen Akademie der Wissenschaften.Zu seinen Doktoranden in Leipzig zahlt Herbert Grotzsch. Heinz Prufer habili-tierte sich bei ihm und war sein Assistent. Koebe heiratete nie. Er starb an Magenkrebs.Er wurde in der Familiengrabstatte auf dem Evangelischen Friedhof in Luckenwalde bei-gesetzt.

Koebe wurde im Jahre 1907 schnell beruhmt fur seinen Beweis des von Felix Klein,Schwarz und Henri Poincare vorbereiteten Uniformisierungstheorems fur riemann-sche Flachen, ein Thema auf das er immer wieder in unterschiedlichen Varianten zuruck-kam. Dieser Uniformisierungssatz ist die Verallgemeinerung des riemannschen Abbildungs-satzes auf riemannsche Flachen. Er loste damit das 22. von Hilberts Problemen, damalseines der großten ungelosten Probleme der Mathematik. Fur den ursprunglichen Beweisdes Hauptsatzes der Uniformisierungstheorie benutzte er einen nach ihm benannten Ver-zerrungssatz (den

”Viertelsatz“). Koebe gab auch einen Beweis von Riemanns Abbil-

dungssatz 1914, der den Beweis von Caratheodory von 1912 vereinfachte. Gleichzeitiggab auch Poincare 1907 einen Beweis des Hauptsatzes der Uniformisierungstheorie mitseiner

”Methode de Balayage“. Das Theorem besagt, dass eine einfach zusammenhangende

riemannflache biholomorph aquivalent (d.h. durch eineindeutige holomorphe Funktionenabbildbar auf) entweder zur Riemannsphare, der komplexen Ebene oder der Einheitskreis-scheibe ist. Bei beliebigen Riemannflachen, die sich als Quotientenraume ihrer Uberlage-rungsflache modulo Abbildungen diskreter Gruppen ergeben, ist die Uberlagerungsflacheeinfach zusammenhangend, und das Theorem greift ebenfalls.

Einer von Koebes Verzerrungssatzen ist das”koebesche 1

4-Theorem“ (Viertelsatz) fur

Abbildungen der Einheitskreisscheibe durch schlichte Funktionen. Die offene Kreisscheibemit Radius 1

4um den Ursprung ist im Bild einer Abbildung des Inneren der Einheitskreis-

scheibe D durch beliebige in D schlichte Funktionen. Dabei ist der Wert 14

bestmoglich,wie das Beispiel der Koebefunktion f(z) = z

(1−z)2 zeigt.Koebe untersuchte auch die konformen Abbildungen mehrfach zusammenhangender

ebener Gebiete auf von Kreisen berandete Gebiete. Hier bewies er fur endlich mehr-fach zusammenhangende Gebiete die konforme Aquivalenz (das heißt Existenz schlichterAbbildungen) zu von Kreisen berandeten Gebieten (Kreisnormierungsproblem). Die Un-tersuchungen wurden z.B. in der Schule von William Thurston weitergefuhrt, dergeometrische Zugange (uber Kugelpackungen) zum riemannschen Abbildungssatz bzw.seinen Erweiterungen im Uniformisierungstheorem untersuchte. Oded Schramm bewiesin diesem Zusammenhang 1992 eine bis dahin offene Vermutung von Koebe.

Koebe hielt mit seiner Auffassung der Bedeutung seiner Leistungen nicht hinter demBerg. In Deutschland zirkulierten zahlreiche Anekdoten uber ihn und seine haufig etwaspoltrige Art. Sein ehemaliger Assistent Cremer bescheinigt ihm allerdings einen Sinn furHumor und hebt die Lebendigkeit seiner Vorlesungen hervor. Außerdem hebt Cremerhervor, dass Koebe grundsatzlich seine teilweise sehr detailverliebten Veroffentlichungenallein schrieb. Sein Interesse konzentrierte sich auf die Funktionentheorie, obwohl er aucheine Reihe von Arbeiten uber clifford-kleinsche Raumformen schrieb. An Anwendungen

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war er uberhaupt nicht interessiert. Sein Spezialgebiet”verteidigte“ er sehr kampferisch

gegen Konkurrenten.Koebe wurde aufgrund seiner gewichtigen Selbsteinschatzung auch Gegenstand von

Spott und praktischen Scherzen. Beispielsweise verbreitete man, selbst die Straßenjungenaus Koebes Heimatort Luckenwalde wurden den großen Funktionentheoretiker preisen,wie sich Hans Freudenthal erinnerte, der wie Koebe aus Luckenwalde kam, Koebeaber dort nur einmal aus der Ferne gesehen hatte. Gleich bei seinem ersten Tag desMathematikstudiums in Berlin fragte Ludwig Bieberbach, nachdem er von seinemHeimatort erfuhr, nach, ob er auch einer dieser Straßenjungen gewesen sei. Man erzahlte,Koebe wurde nur anonym in Hotels absteigen, da er es leid sei, die Frage zu beantworten,ob er mit dem großen Funktionentheoretiker verwandt sei, und unter Kollegen bezeichneteman ihn kurz als den großten Funktionentheoretiker aus Luckenwalde.

Bekannt ist ein Vorfall, der sich mit L.E.J. Brouwer ereignete. Brouwer beschaftig-te sich um 1911 mit der strengen topologischen Begrundung des Uniformisierungssatzesvon Poincare und Koebe, auf dem sich Koebes Ruhm grundete. Koebe machte imAnschluss an das Symposium der DMV uber automorphe Funktionen im September 1911in Karlsruhe, bei dem Brouwer seine Arbeit vorstellte und auch Koebe vortrug, selbstPrioritatsanspruche in dieser Angelegenheit geltend und erklarte Brouwers Arbeiten furuberflussig, da die Ergebnisse schon aus seinen eigenen Satzen folgen wurden. Daraufwandte sich Brouwer an Hilbert und spater sogar an Poincare, wahrend er vergebensKoebe aufforderte, seinen eigenen Beweis vorzustellen (den dieser auch nicht erbringenkonnte, weil er sich in seinen Prioritatsanspruchen gegenuber dem Pionier der Topolo-gie Brouwer verrannt hatte). Seine eigene Note dazu veroffentlichte Brouwer 1912 inden Nachrichten der Gottinger Akademie. Brouwer hatte auch als kleines Zugestandnisan Koebe diesen in einer Passage erwahnt, fand aber in der veroffentlichten Version ei-ne Umformulierung, die seiner Anerkennung von Koebes Prioritat gleichkam. Nach einerAnekdote, die Freudenthal erzahlt ware ein Unbekannter mit tief ins Gesicht gezoge-nem Hut, hochgeschlagenem Kragen und blauen Brillenglasern beim Drucker vorstelliggeworden und hatte Einsicht in die Druckvorlage genommen. Koebe selbst schob dieslaut Freudenthal auf einen ublen Streich, den man ihm gespielt habe. Brouwer waremport und kontrollierte in der Folge sehr genau, was er zur Veroffentlichung freigab.

Edmund Landau forderte seine Kollegen, darunter Koebe, auf einer Party in Gottin-gen auf, anonym auf einem Zettel denjenigen Mathematiker zu benennen, der von sichdie hochste Meinung habe. Alle Zettel benannten einfach nur den Namen Koebe, nur aufeinem stand Paul Koebe und mit Recht.

”Es gibt viele Gebiete der Mathematik, wo man sich durch Entdeckung neuer Ergebnis-

se verdient machen kann. Es sind meistens lange und steile Gebirgshange fur meckerndeZiegen. Die Funktionentheorie ist aber mit einem saftigen Marschland zu vergleichen,besonders geeignet fur großes Rindvieh.“ (Koebe in seinem Referat auf der Jahresver-sammlung des Deutschen Mathematikervereins in Jena 1921, zitiert nach Cremer)

Leonida Tonelli (* 19. April 1885 in Gallipoli (Lecce); † 12. Marz 1946 in Pisa) warein italienischer Mathematiker, ein Schuler von Cesare Arzela. Er studierte in Bologna,wo er 1907 sein Diplom (Laurea) erhielt. Im Jahre 1913 wurde er an der Universitat vonCagliari zum Professor ernannt. Uber die Stationen Parma (Berufung 1914) und Bologna(Berufung 1922) kam er schließlich 1930 nach Pisa, wo er bis zu seinem Lebensende blieb(von einer Zeit 1939 bis 1942 an der Universitat Rom abgesehen) und eine in Italienfuhrende Schule von Analytikern aufbaute.

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Tonellis Hauptarbeitsgebiet war die Analysis; insbesondere befasste er sich mit derVariationsrechnung als einem seiner thematischen Schwerpunkte, aber auch mit Maß-und Integrationstheorie, trigonometrischen Reihen und Fourieranalysis. Nach ihm ist derSatz von Fubini-Tonelli aus der Integrationstheorie benannt.

Er war Mitglied der Accademia dei Lincei und der papstlichen Akademie der Wissen-schaften. 1928 hielt er einen Plenarvortrag auf dem internationalen Mathematikerkongressin Bologna mit dem Titel

”Il contributo italiano alla teoria delle funzioni di variabili reali“

(deutsch: Der italienische Beitrag zur Theorie der Funktionen reeller Variablen).

Wilhelm Johann Eugen Blaschke (* 13. September 1885 in Graz; † 17. Marz1962 in Hamburg) war ein osterreichischer Mathematiker und Autor. Seine Arbeiten habendie Entwicklung der modernen Differentialgeometrie entscheidend beeinflusst. Sein VaterJosef Blaschke (* 1852; † 1917) lehrte Darstellende Geometrie an der Oberrealschulein Graz und beeinflusste seinen Sohn fruh im Sinne der rein geometrischen Beweise vonJakob Steiner. Seine Mutter war Maria Blaschke (* 1864 † 1945), geborene Edlevon Mor zu Morberg und Sunnegg.

An der Technischen Universitat Graz studierte er Bauingenieurwesen, wo seine Hin-wendung zur Mathematik beeinflusst von Oskar Peithner von Lichtenfels verstarktwurde und er zum Studium der Mathematik an der Universitat Wien wechselte und beiWilhelm Wirtinger 1908 promovierte (Uber eine besondere Art von Kurven vierterKlasse). Er ging dann nach Pisa zu Luigi Bianchi und nach Gottingen zu Felix Klein,David Hilbert und Carl Runge. 1910 habilitierte er sich bei Eduard Study in Bonn.Bevor er 1913 Professor in Prag wurde, arbeitete er noch mit dem Lie-Schuler FriedrichEngel in Greifswald zusammen. 1915 ging er nach Leipzig, wo er in seiner Antrittsvorle-sung

”Kreis und Kugel“ Jakob Steiners Spuren folgt, 1917 nach Konigsberg und von dort

uber Tubingen 1919 nach Hamburg, das er mit der Berufung u.a. von Erich Heckeund Emil Artin zu einem Zentrum der Mathematik machte. Dort blieb er bis zu seinerEmeritierung 1953, behielt aber auch danach eine rege Reisetatigkeit bei. 1927/28 war erRektor der Universitat Hamburg (Antrittsrede: Leonardo und die Naturwissenschaften).

Blaschke opponierte im NS-Staat anfangs gegen dessen Isolationsbestreben auf wis-senschaftlichem Gebiet, wurde dann Mitglied der NSDAP. Am 11. November 1933 gehorteer zu den Aufrufern fur das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler unddem nationalsozialistischen Staat. Blaschke war in den Nachkriegsjahren stark umstrit-ten. Er wurde 1946 entnazifiziert und bekam seinen Lehrstuhl in Hamburg zuruck, dener bis zu seiner Emeritierung 1953 behielt. Er hatte aber auch dann sehr viele internatio-nale Kontakte. Zu seinen Schulern gehorten der nach dem Zweiten Weltkrieg internatio-nal fuhrende Geometer Shiing-Shen Chern, der 1936 bei ihm promovierte, GerhardThomsen und Luis Santalo. Ein weiterer Mitarbeiter war Gerrit Bol.

Blaschke arbeitete auf zahlreichen Gebieten der Differentialgeometrie (besondersaffine Differentialgeometrie) und der Geometrie, z.B. uber Minimaleigenschaften (

”iso-

perimetrische Eigenschaften“) geometrischer Figuren, konvexe Korper, Integralgeometrieund die Geometrie der

”Gewebe“, gruppentheoretische Eigenschaften der Geometrie, Geo-

metrie der Kreise und Kugeln (nach Edmond Laguerre, August Ferdinand Mobiusund Sophus Lie). In der Funktionentheorie ist das Blaschkeprodukt nach ihm benannt,ferner der Konvergenzsatz von Blaschke und der Auswahlsatz von Blaschke.

Er ist der Verfasser vieler ausgezeichneter Lehrbucher, besonders seine”Vorlesungen

uber Differentialgeometrie“ von 1921/29. Auch Felix Kleins Vorlesungen uber hohereGeometrie hat er neu herausgegeben und erganzt. Blaschke war Mitherausgeber der

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Grundlehren der mathematischen Wissenschaften. Eine Vermutung von Blaschke uberdie Charakterisierung der n-dimensionalen Sphare als Wiedersehen-Mannigfaltigkeit wur-de von Jerry Kazdan, Marcel Berger, Alan Weinstein und Chung Tao Yangbewiesen.

Am 4. April 1957 wurde Blaschke als Ehrenmitglied in die Deutsche Akademie derWissenschaften zu Berlin aufgenommen. Er war seit 1943 auch Mitglied der Leopoldina.Er war Mitglied der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie derWissenschaften und der Literatur Mainz und korrespondierendes Mitglied der Bayerischenund Sachsischen Akademie der Wissenschaften sowie Ehrendoktor der Universitaten Sofia,Padua, Karlsruhe und Greifswald.

Blaschke heiratete am 10. April 1923 die Hamburgerin Auguste Meta Anna Rott-ger (* 1893 † 1992), mit der eine Tochter und einen Sohn hatte. Er starb in der Fruhe des17. Marz 1962 an einem Herzanfall als Folge von Komplikationen nach einer, uber einenlangen Zeitraum hinweg unbemerkt gebliebenen, Blinddarmentzundung. Sein Grab befin-det sich auf dem Friedhof Ohlsdorf, unweit des Haupteinganges. Die Wilhelm-Blaschke-Gedachtnisstiftung in Hamburg (gegrundet von Emanuel Sperner) vergibt ihm zu Eh-ren eine Medaille fur Leistungen in der Geometrie. Preistrager waren unter anderem Kat-sumi Nomizu und Kurt Leichtweiß. Sein wissenschaftlicher Nachlass befindet sich imInstitut fur die Geschichte der Naturwissenschaft und Technik der Universitat Hamburg.

Harald August Bohr (* 22. April 1887 in Kopenhagen; † 22. Januar 1951 inGentofte) war ein danischer Mathematiker und Fußballspieler. Er war der Sohn des dani-schen Physiologen Christian Bohr, sein Bruder war der Physiker Niels Bohr. BohrsForschungsgebiete lagen im Bereich der Funktionentheorie und der analytischen Zahlen-theorie.

Er studierte ab 1904 an der Universitat Kopenhagen Mathematik. Zunachst verfolgteBohr aber auch eine Karriere als Sportler. Er galt, neben seinen Fahigkeiten als Wis-senschaftler, als einer der besten Fußballer seiner Zeit. Bohr war Spieler der danischenNationalmannschaft und gewann bei den Olympischen Sommerspielen 1908 die Silberme-daille; zusammen mit seinem Bruder war er fur den Verein Akademisk Boldklub aktiv.

1910 wurde er in Kopenhagen promoviert (bei Edmund Landau, Beitrage zur Theo-rie der Dirichletreihen) und war einige Monate in Gottingen bei Landau. Der Vertei-digung seiner Doktorarbeit sollen weit mehr fußballerisch als mathematisch interessierteZuschauer beigewohnt haben.

Ein Schwerpunkt seiner mathematischen Arbeiten waren Dirichletreihen. Insbesondereuntersuchte er, teilweise zusammen mit Edmund Landau, die riemannsche ζ-Funktion,die wohl bekannteste und wichtigste Dirichletreihe. 1914 formulierten die beiden den Satzvon Bohr-Landau, welcher — vereinfacht ausgedruckt — besagt, dass die uberwiegen-de Anzahl der Nullstellen der riemannschen ζ-Funktion in einem beliebig kleinen Strei-fen um die kritische Gerade liegt. Daruber hinaus ist Bohr der Begrunder der Theorieder fastperiodischen Funktionen in einer Reihe von Arbeiten 1924 bis 1926 in den ActaMathematica. In der Theorie der Gammafunktion ist er einer der Namensgeber fur den

Satz von Bohr-Mollerup. Auch der Satz, dass aus

∣∣∣∣ ∞∑n=0

anzn

∣∣∣∣ ≤ 1 fur |z| < 1 folgt, dass

∞∑n=0

|anzn| ≤ 1 fur |z| ≤ 13, wird heute Satz von Bohr (uber Potenzreihen) genannt. Bohr

hatte ihn 1914 eigentlich nur fur die Konstante 16

gezeigt. Dass der Satz fur 13

bestmoglichist, wurde spater von Marcel Riesz, Issai Schur und Friedrich Wilhelm Wienerjeweils unabhangig bewiesen.

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1915 wurde Bohr Professor an der Polytechnischen Lehranstalt in Kopenhagen, 1930wurde er an die Universitat Kopenhagen berufen. Von 1926 bis 1951, unterbrochen nur von1930 bis 1936, war er Prasident der Danischen Mathematischen Gesellschaft (DMF). 1925wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Gottinger Akademie der Wissenschaftengewahlt. Seit 1926 war er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie derWissenschaften.

1932 hielt er einen Plenarvortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress inZurich (Fastperiodische Funktionen einer komplexen Veranderlichen) und 1950 war erInvited Speaker auf dem ICM in Cambridge (Massachusetts) (A survey of the differentproofs of the main theorems in the theory of almost periodic functions).

1934 sorgte ein offener Brief von Ludwig Bieberbach an Bohr im Jahresbericht derDeutschen Mathematikervereinigung (DMV) fur einen Skandal, der Bieberbachs Ruck-tritt von seinen Amtern im DMV zur Folge hatte. Bieberbach hatte diesen Brief, indem er auf eine Kritik von Bohr (der judische Vorfahren hatte) an seiner Mathematiker-Typisierung einging, ohne Abstimmung im Jahresbericht veroffentlicht.

Gaston Maurice Julia (* 3. Februar 1893 in Sidi bel Abbes, Algerien; † 19. Marz1978 in Paris) war ein franzosischer Mathematiker. Er wuchs in Franzosisch-Algerien auf,wo sein Vater landwirtschaftliche Maschinen reparierte. Er besuchte die Schule in Oranund ab 1910 mit einem Stipendium ein Gymnasium in Paris. Er studierte ab 1911 an derEcole normale superieure (ENS), nachdem er bei den Eingangsprufungen zur ENS (undzur Ecole polytechnique) als Bester abgeschnitten hatte. 1914 wurde er als Unteroffizierim Ersten Weltkrieg eingezogen und bei seinem ersten Gefecht im Januar 1915 schwerverwundet, eine Kugel traf ihn ins Gesicht und zerstorte die Nase, sodass er nach mehrerenerfolglosen Wiederherstellungs-Operationen fur den Rest seines Lebens einen Lederriemenim Gesicht trug.

1916 wurde er bei Emile Picard am College de France promoviert. 1918 veroffentlich-te er seinen bekanntesten Aufsatz uber die Iteration rationaler Funktionen (Memoire surl’iteration des fonctions rationnelles, Journal de Mathematiques pures et appliquees). Indiesem Aufsatz fuhrte er die Juliamenge ein, die eine wichtige Rolle in der Theorie dynami-scher Systeme spielt. Unabhangig von Julia fuhrte auch Pierre Fatou entsprechendeUntersuchungen durch. Seit den 1980er Jahren ist dieses wieder ein Gebiet intensivermathematischer Forschung. Die damit zusammenhangenden Computergraphiken wurdenvon Benoıt Mandelbrot, Heinz-Otto Peitgen und anderen auch einem breiterennichtmathematischen Publikum bekannt gemacht. Fur seine Arbeit uber die Iterationrationaler Funktionen erhielt Julia den Großen Preis der franzosischen Akademie derWissenschaften und hielt 1919 die Peccot-Vorlesungen am College de France. Im selbenJahr wurde er Maıtre de conferences an der ENS, Repetitor an der Ecole Polytechniqueund Professor an der Sorbonne. 1937 wurde er Professor an der Ecole Polytechnique. 1934wurde er in die franzosische Akademie der Wissenschaften aufgenommen, deren Prasidenter 1950 war, und war Mitglied zum Beispiel der Papstlichen Akademie der Wissenschaf-ten. Er war 1932 Prasident der franzosischen Mathematischen Gesellschaft. 1950 wurdeer Offizier der Ehrenlegion.

Er war seit 1916 mit Marianne Chausson verheiratet (seine Krankenschwester, dieTochter des Komponisten Ernest Chausson) und hatte mit ihr sechs Kinder. Einesvon ihnen war der Chemiker Marc Julia.

Stefan Bergman (* 5. Mai 1895 in Czestochowa in Polen; † 6. Juni 1977 in Pa-lo Alto in Kalifornien) war ein US-amerikanischer Mathematiker, der vor allem in der

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Funktionentheorie und Potentialtheorie arbeitete.Er wurde in Kongresspolen geboren und studierte in Berlin bei Richard von Mises,

wobei er sich mit Anwendungen der Potentialtheorie in der Elektrotechnik beschaftigte.1921 promovierte er

”Uber die Entwicklung der harmonischen Funktionen der Ebene und

des Raumes nach Orthogonalfunktionen“. Die von ihm 1922 eingefuhrte”Bergmankern-

funktion“ (Bergmankern) und die Anwendung z.B. in der Theorie der konformen Abbil-dungen und der partiellen Differentialgleichungen sollten fur den Rest seiner Karriere seinHauptarbeitsgebiet sein. 1933 verlor er als Jude seinen Posten an der Universitat. Er ging1937 zunachst in die UdSSR, dann uber Paris 1939 in die USA, wo er auf Vermittlungvon von Mises zuerst an die Brown University, 1945 kurz zu von Mises nach Harvardund danach an die Stanford University, wo er bis zu seiner Emeritierung blieb. Er erlebtenoch, wie seine Kernfunktion zu einem wichtigen Werkzeug in der Theorie der Funktionenmehrerer komplexer Variabler wurde. In mehreren Monographien wandte er seine Metho-den auch auf Probleme der Physik an (z.B. Hydrodynamik und Uberschallstromungen inden 1940er Jahren).

Neben dem Bergmankern sind auch die uber einen solchen Kern definierte”Bergman-

metrik“ sowie die”Bergmanraume“ (Raume in einem Gebiet D holomorpher Funktionen,

fur die das Integral des Betragquadrats der Funktion uber D endlich ist) nach ihm be-nannt.

1951 wurde Bergmann in die American Academy of Arts and Sciences gewahlt. 1962hielt er einen Vortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Stockholm (Onmeromorphic functions of several complex variables). Der Stefan-Bergman-Preis (englischStefan Bergman Prize) wird jahrlich von der American Mathematical Society fur Arbeitenin zwei Hauptarbeitsgebieten von Bergman vergeben: die Theorie des Bergmankerns mitAnwendungen in reeller und komplexer Analysis und funktionentheoretische Methoden inder Theorie partieller Differentialgleichungen elliptischen Typs mit besonderer Beruck-sichtigung von Bergmans Operatormethode.

Rolf Herman Nevanlinna (* 22. Oktober 1895 in Joensuu; † 28. Mai 1980 inHelsinki) war ein finnischer Mathematiker. Er gilt als einer der fuhrenden Vertreter derFunktionentheorie im 20. Jahrhundert. Sein Vater war Otto Wilhelm Neovius, derals Gymnasiallehrer in Joensuu arbeitete. Dieser hatte wie zwei seiner vier Bruder Mathe-matik und Physik studiert. Rolfs Mutter Margareta (eigentlich: Margarete) Rom-berg, die Tochter des deutschen Astronomen Hermann Romberg (1836–1898), hatte erwahrend seiner Promotion an der Pulkowo-Sternwarte kennengelernt und sie im Sommer1892 geheiratet. Rolf wurde 1895 als ihr zweites Kind geboren, ein Jahr vor ihm kamsein Bruder Frithiof zur Welt, ein Jahr nach ihm seine Schwester Anna. 1901 wurdesein jungerer Bruder Erik geboren.

Im Jahre 1906 anderte die Familie ihren Nachnamen. Nevanlinnas Vorfahren hattenihren ursprunglichen finnischen Namen um 1730 abgelegt und nach ihrer Herkunft Uu-sikyla (finnisch fur Neudorf) den schwedischen Namen Nyman (auf deutsch Neumann)angenommen. Dieser Name wurde spater zu Neovius latinisiert. Falschlicherweise wurdedieser Name mit Neovia, dem latinisierten Namen einer Festung an der Newa-Mundungin Verbindung gebracht. Mit der einsetzenden Fennisierung kam die Familie so zum Na-men Nevanlinna (linna: finnisch fur Burg). Die Kinder wuchsen zweisprachig auf, zuHause wurde vor allem Schwedisch gesprochen, in der Schule war die UnterrichtsspracheFinnisch.

Rolf kam 1902 direkt in die zweite Klasse der privaten Grundschule von Vatanen,

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da er sich bereits im Selbststudium Lesen und Schreiben beigebracht hatte. Nachdem erallerdings eine maßige Betragensnote (eine 6 im finnischen Notensystem) erhalten hatte,weigerte er sich, weiterhin die Schule zu besuchen. Dies anderte sich erst, als sein Vaterals Nachfolger seines Bruders Lars zum Oberstudienrat des schwedischsprachigen Real-lyzeums in Helsinki ernannt worden war und die Familie im August 1903 somit dorthinzog. Nach einer Unterbrechung von 1 1/2 Jahren kam Nevanlinna in die dritte Klasseder Grundschule Alli Nissinen. Anschließend besuchte er das Finnische Normallyzeum.Er gehorte immer zu den besten Schulern seiner Klasse. Im letzten Schuljahr wurde seineigener Vater sein Mathematiklehrer.

In seiner Freizeit spielte er gerne Fußball, auch las er sehr viel. Einer seiner Lieb-lingsautoren war Zacharias Topelius. Indem er Andersens Marchen im Original las,brachte er sich Danisch bei. Spater lernte er auch Deutsch und Franzosisch im Selbststudi-um. Außerdem spielte Musik eine wichtige Rolle in seinem Leben. An der Orchesterschulevon Helsinki lernte er Geige. Auch zu Hause wurde viel musiziert, seine Mutter spielteKlavier, sein Bruder Frithiof Cello. Der Musik blieb er zeit seines Lebens verbunden,besonders schatzte er Jean Sibelius.

Nach einem Selbststudium des Lehrbuchs Einfuhrung in die hohere Analysis vonErnst Lindelof entschied sich Nevanlinna fur ein Studium der Mathematik, zu wel-chem er sich im Mai 1912 an der Universitat Helsinki immatrikulierte. Lindelof war auchsein wichtigster Lehrer. Das Magisterexamen legte er in den Hauptfachern Mathematik,Physik und Astronomie ab, daneben noch in Chemie. Aufbauend auf seiner Magisterar-beit schrieb er auch seine Doktorarbeit bei Lindelof. Kurzzeitig hatte er den Plan, sichwie viele Kameraden freiwillig zum Koniglich-Preußischen Jagerbataillon zu melden, kamjedoch auf Anraten seines Vaters wieder davon ab. 1916 zog er sich ein halbes Jahr aufsLand nach Vuosaari zuruck, da in Helsinki infolge des Ersten Weltkrieges Lebensmittel-knappheit herrschte und er zudem erkrankt war. Nach seiner Ruckkehr wurde er zumMilitar gemustert, jedoch als untauglich eingestuft. Die Promotion erfolgte im Mai 1919mit der Arbeit

”Uber beschrankte Funktionen, die in gegebenen Punkten vorgeschriebene

Werte annehmen“. Opponent war Jarl Lindeberg.Bereits wahrend seiner Magisterarbeit hatte er sich mit seiner Cousine Mary Selin

verlobt, die Verlobung aber wieder aufgelost. Im Januar 1919 verlobten sich die beidenerneut und heirateten im Sommer desselben Jahres in Wyborg. Nevanlinna fand eineAnstellung als Aushilfslehrer in der Neuen Koedukationsschule im Helsinkier StadtteilKruununhaka. Das Gehalt reichte jedoch nicht aus, sodass er zusatzlich auf Vermittlungseines Bruders Frithiof Assistenzmathematiker bei der LebensversicherungsgesellschaftSalama wurde. 1922 wurde er Privatdozent an der Universitat Helsinki. Zwischen 1920und 1930 wurden die vier Kinder der Familie geboren: Kai (1920), Harri (1922), Arne(1925–2016) und Sylvi (1930).

Neben seinen drei Anstellungen forschte er weiterhin in dem Gebiet seiner Doktorar-beit und anderen funktionentheoretischen Themen. Teilweise arbeitete er dabei mit seinemBruder Frithiof zusammen. Auf dem Skandinavischen Mathematiker-Kongress im Juli1922 hielten beide Vortrage uber ihre Forschung. Bei dieser Gelegenheit hatte Nevan-linna erstmals Kontakt zu auslandischen Mathematikern. Aus den Vortragen der beidenBruder ging eine gemeinsame Arbeit hervor, die außergewohnlich positive Rezensionenerhielt und uber die Lars Ahlfors spater sagte, dass die Funktionentheorie nach ihremErscheinen nicht mehr dieselbe war wie fruher.

Als Nevanlinnas bedeutendste mathematische Leistung gilt aber wohl die von ihm ineiner 1925 erschienenen Arbeit entwickelte Werteverteilungstheorie meromorpher Funk-

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tionen, die heute als Nevanlinna-Theorie bekannt ist. Hermann Weyl bezeichnete dasErscheinen dieser Arbeit spater als eines der wenigen großen mathematischen Ereignis-se unseres Jahrhunderts. Ausfuhrlichere Darstellungen seiner Theorie gab Nevanlin-na spater in seinen Buchern

”Le theoreme de Picard-Borel et la theorie des fonctions

meromorphes“ (1929) und”Eindeutige analytische Funktionen“ (1936). Grundgedanke

der Nevanlinna-Theorie ist es, eine quantitative Fassung des Satzes von Picard zu ge-ben. Fur ganze Funktionen waren bereits entsprechende Resultate von Emile Borel undanderen Mathematikern mit Hilfe des Maximalbetrags max

|z|=r|f(z)| einer ganzen Funktion f

angegeben worden. Der Maximalbetrag ist jedoch fur meromorphe Funktionen ungeeignetund Nevanlinna fuhrte mit der heute Nevanlinna-Charakteristik genannten Große einMaß fur das Wachstum einer meromorphen Funktion ein, das auch fur ganze Funktionenoft bessere Eigenschaften als der Maximalbetrag hat. Spater befasste sich Nevanlinnaauch mit riemannschen Flachen, woruber er das Buch

”Uniformisierung“ schrieb.

Nevanlinna wurde 1924 Mitglied der Finnischen Akademie der Wissenschaften inHelsinki. 1926 wurde er zum Professor der Mathematik an die Universitat Helsinki be-rufen, er setzte sich dabei gegen seinen Mitbewerber Pekka Myrberg durch. Mit derProfessur gab er seine Stelle als Aushilfslehrer auf. Seine Anstellung bei Salama behielter jedoch weiterhin, dort wurde er 1930 zum Chefmathematiker befordert. 1933 wurde erDekan des mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachbereichs und kam dadurch mit derUniversitatsverwaltung in Beruhrung. Auch außerhalb des universitaren Bereiches genosser Ansehen, so wurde er 1935 Mitglied der Abiturientenprufungskommission und balddarauf ihr Vorsitzender.

Nevanlinnas erste Auslandsreise fuhrte ihn 1924 nach Gottingen, wo er mit EdmundLandau, Richard Courant und David Hilbert zusammentraf. Eine weitere Reiseunternahm er 1926 nach Paris, wo er Emile Borel, Jacques Hadamard und PaulMontel traf. Im Wintersemester 1928/29 vertrat er Hermann Weyl an der ETHZurich, wohin er sich zusammen mit seiner Familie begab. Als bekannt wurde, dass Weylnicht nach Zurich zuruckkehren wurde, da er einen Ruf nach Gottingen angenommenhatte, bot man Nevanlinna die Stelle an. Obwohl das Gehalt drei Mal so hoch wie inHelsinki gewesen ware, lehnte er ab und begrundete dies mit seiner Loyalitat gegenuberHelsinki und dem Wunsch, dass seine Kinder in Finnland aufwachsen. Ebenso lehnteer auch eine ihm kurz daraufhin angebotene Professur in Stanford ab. Von Zurich ausreiste er allein nach Paris weiter, wofur er ein Rockefeller-Stipendium erhalten hatte.Eigentlich hatte er nach Großbritannien reisen wollen, doch dazu reichten seine Englisch-Kenntnisse nicht aus. Im Semester 1936/37 hielt er eine Gastprofessur in Gottingen, daHelmut Hasse dringend Ersatz fur die aus politischen Grunden in die USA emigriertenProfessoren Courant und Weyl suchte. Nevanlinnas politisches Gutachten vom Januar1936 ist durchweg positiv. Eine eigentlich geplante Verlangerung der Anstellung lehnte erjedoch wie zuvor in Zurich ab.

Auch wahrend des Zweiten Weltkrieges hielt Nevanlinna gute Beziehungen zuDeutschland aufrecht und reiste wiederholt dorthin. In einem Bericht der nach dem Kriegtatigen kommunistischen Staatspolizei behauptet diese sogar, er hatte die finnische Na-zistromung aktiv unterstutzt. 1940 widmete er sich ballistischen Berechnungen zu Kriegs-zwecken, er schrieb eine Abhandlung uber die Berechnung der Normalflugbahn eines Ge-schosses. An der Front von Hanko wurde er dadurch geehrt, dass er die erste Kanonensalveauf die russischen Gegner abfeuern durfte.

In einer von Andre Weil und dessen Biographen stark ausgeschmuckten Episodespielt Nevanlinna eine entscheidende Rolle: Weil wurde 1939 der Spionage fur die

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Sowjetunion verdachtigt und in Helsinki festgenommen. Am Abend vor der geplantenHinrichtung Weils soll der zustandige Polizeichef auf einem Galadiner zufallig Nevan-linna getroffen haben und dessen Bitte entsprochen zu haben, Weil nur des Landes zuverweisen. Nevanlinna dagegen berichtet in seinen Erinnerungen, dass er zwar zufalligmit dem Staatssekretar im Außenministerium uber Weil gesprochen hatte, die Idee derAusweisung jedoch nicht von ihm stamme. Auch in Weils Akte bei der Staatspolizei gibtes keinen Hinweis auf eine geplante Hinrichtung.

1942 wurde Nevanlinna auf Wunsch des finnischen Außenministers Rolf WittingVorsitzender des SS-Freiwilligenkomitees. Dabei war er allerdings nicht mehr mit derRekrutierung neuer Freiwilliger beschaftigt, sondern nur noch mit der Ruckfuhrung bereitsentsendeter Bataillone. Nachdem er im April 1943 zu Gesprachen mit der SS-Fuhrungnach Berlin gereist war, erfolgte die Ruckfuhrung dann im Juni desselben Jahres.

Nevanlinna war Grundungsmitglied der Deutsch-Finnischen Gesellschaft im Novem-ber 1942; 1944 wurde er Vorstandsmitglied. In die Zeit des Krieges fallt auch seine Wahlzum Rektor der Universitat im Jahr 1941, bei der er sich gegen den Vizerektor EdwinLinkomies durchsetzte. Bei der Wahl zum Kanzler 1944 musste er sich jedoch mit demdritten Platz begnugen. Als Linkomies 1943 Ministerprasident von Finnland wurde, soll-te Nevanlinna in seinem Kabinett Unterrichtsminister werden, was aber vermutlich amWiderstand der Sozialdemokraten scheiterte.

Nevanlinna wurde 1944 zum Rektor wiedergewahlt, in den Jahren nach Kriegsendeging es vor allem um die Instandsetzung der beschadigten Gebaude. Nach Regierungs-antritt von Juho Kusti Paasikivi trat er jedoch 1945 auf Grund politischen Druckszuruck. Er verlagerte sein Interesse hin zur Klarung des physikalischen Weltbildes durchmathematische Methoden. In den 1950er Jahren entwickelte er — wieder zusammen mitseinem Bruder Frithiof — eine koordinatenfreie Vektorrechnung, die absolute Analysis.

1950 reiste er zum ersten Mal in die USA zur Neugrundung der Internationalen Ma-thematischen Union in New York, spater wurde er fur die Periode 1959 bis 1962 zu ihremPrasidenten gewahlt. Ein Jahr darauf folgte seine erste Reise nach Großbritannien an dieUniversitat Cambridge.

1946 hielt Nevanlinna erneut eine Gastprofessur in Zurich, verlangerte diese jedochdiesmal. Sein Nachfolger in Helsinki wurde sein Bruder Frithiof. 1947 war Nevanlinnazum Mitglied der neugegrundeten Akademie von Finnland vorgeschlagen worden, die dieAufgabe hatte, den Staat bei der zukunftigen Wissenschaftsplanung zu beraten und dieWissenschaft zu fordern. Nach einigen Streitigkeiten kam es dann 1948 zur Ernennungmit dem Ehrentitel Akademiker durch den Staatsprasidenten. Um in der Akademie vonFinnland wirken zu konnen, wurde seine ordentliche Professur in Zurich 1949 in eineEhrenprofessor umgewandelt.

Bereits vor dem Krieg hatte Nevanlinna die Sangerin und Schauspielerin MaryHannikainen kennengelernt. Diese Beziehung wurde nach dem Tod ihres Mannes enger,1944 hatte er sich ihretwegen fast von seiner Frau Mary Nevanlinna scheiden las-sen. Neben dieser Beziehung verliebte er sich in die Kunsthistorikerin Sinikka Kallio-Visapaa. 1946 wurde ihre Tochter Kristiina geboren, die mit den vier anderen Kindernder Familie Visapaa aufwuchs, wovon uber viele Jahre nur Mary Nevanlinna und Si-nikkas Ehemann Niilo Visapaa informiert waren. Er versuchte die Beziehung zu Sinik-ka insbesondere vor Mary Hannikainen geheim zu halten, doch diese kam im Mai 1956dahinter, als sie die beiden in Nevanlinnas Wohnung in Zurich uberraschte, und informier-te auch seine Frau daruber. Die Ehen Nevanlinna und Visapaa wurden geschieden undim November 1958 heiratete Nevanlinna in Paris Sinikka Kallio-Visapaa.

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1954 wurde er Vorsitzender des Komitees fur mechanische Maschinen, 1960 war dieRechenmaschine ESKO (elektroninen sarjakomputaattorie, finnisch fur serieller Rechner)am Rechenzentrum der Universitat Helsinki fertiggestellt. 1963 gab Nevanlinna sei-ne Professur in Zurich auf und kehrte endgultig nach Finnland zuruck. An seinem 70.Geburtstag im Jahre 1965 wurde er von seiner Stelle bei der Akademie von Finnlandpensioniert. Noch am selben Tag trat er die Stelle des Kanzlers der Universitat Turkuan, die er bis 1970 innehatte. Zwei Semester verbrachte er als Gastprofessor in den USA:1965 an der Stanford University, 1970 an der University of California in San Diego. 1978war er an der Organisation des Kongresses der IMU in Helsinki beteiligt und uberreichteauch die Fields-Medaillen. Anfang des Jahres 1980 wurde bei Nevanlinna Leberkrebsdiagnostiziert, an dem er mehrere Monate spater starb.

Neben der Finnischen Akademie der Wissenschaften war Nevanlinna Mitglied zehnweiterer Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften, darunter auch der Leopoldi-na. Er erhielt insgesamt acht Ehrendoktortitel, beginnend mit der Universitat Heidelberg1936. 1940 wurde ihm das Freiheitskreuz 2. Klasse in Zusammenhang mit seinen balli-stischen Berechnungen verliehen. Nach ihm benannt sind ein Asteroid und der Preis derIMU fur theoretische Informatik.

Sein Bruder Frithiof Nevanlinna (1894–1977) war auch Mathematiker, der 1918bei Ernst Lindelof promovierte, in die Versicherungswirtschaft ging und 1950 bis 1962Professor in Helsinki war als Nachfolger von Rolf Nevanlinna.

Insgesamt stammen von Nevanlinna 127 Veroffentlichungen, sechs davon zusammenmit seinem Bruder Frithiof, zwei mit Veikko Paatero und je eine mit Hans Wit-tich und Paul Kustaanheimo.

Frederic Ladislas Joseph Marty (* 23. Juni 1911 in Allie, Tarn; † 14. Ju-ni 1940 in Helsinki) war ein franzosischer Mathematiker. Er promovierte 1931 an derEcole normale superieure. Danach war er Maıtre de conferences in Marseille. Er war imZweiten Weltkrieg Leutnant bei der franzosischen Luftwaffe und war Opfer des Kaleva-Zwischenfalls, als er als diplomatischer Kurier an Bord eines finnischen Flugzeugs war,das von der sowjetischen Luftwaffe abgeschossen wurde.

In der Theorie der normalen Familien ist er bekannt durch den Satz von Marty.Dieser Satz aus seiner Dissertation besagt, dass eine Familie meromorpher Funktionengenau dann normal ist, wenn die Familie der spharischen Ableitungen lokal beschranktist. Des Weiteren begrundete er in mehreren Arbeiten die Theorie der Hypergruppen undHyperstrukturen. Er hielt einen Vortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress(ICM) 1936 in Oslo.

Benoıt B. Mandelbrot (* 20. November 1924 in Warschau; † 14. Oktober 2010in Cambridge, Massachusetts) war ein franzosisch-US-amerikanischer Mathematiker. Erleistete Beitrage zu einem breiten Spektrum mathematischer Probleme, einschließlich dertheoretischen Physik, der Finanzmathematik und der Chaosforschung. Am bekanntestenaber wurde er als Vater der fraktalen Geometrie. Er beschrieb die Mandelbrotmenge undpragte den Begriff

”fraktal“. Mandelbrot trug selbst stark zur Popularisierung seiner

Arbeiten bei, indem er Bucher schrieb und Vorlesungen hielt, die fur die Allgemeinheitbestimmt waren.

Mandelbrot verbrachte die meiste Zeit seiner Karriere an IBMs Thomas J. Wat-son Research Center, wo er die Position eines IBM Fellows innehatte. Spater wurde erSterling Professor fur Mathematik (Mathematical Sciences) an der Yale University. Erwar ferner wissenschaftlicher Mitarbeiter am Pacific Northwest National Laboratory, der

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Universitat Lille I, dem Institute for Advanced Study und dem Centre national de larecherche scientifique. Mandelbrot lebte bis zu seinem Tode in den Vereinigten Staaten.

Mandelbrot wurde in Polen in einer litauisch-judischen Familie mit akademischerTradition geboren. Seine Mutter war Arztin, sein Vater Kleiderhandler. Als Junge wurdeer von zwei Onkeln in die Mathematik eingefuhrt, von denen einer, Szolem Mandelbro-jt, am College de France Mathematik lehrte. Im Jahr 1936 siedelte die Familie nach Parisuber, um der sich ankundigenden Bedrohung durch die Nationalsozialisten zu entgehen.

Mandelbrot besuchte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs das Lycee Rolin inParis. Er erwarb den Ruf einer mathematischen Hochbegabung durch seine Fahigkeit,Aufgaben als geometrische Probleme zu visualisieren. Bei einem nationalen Test loste ereine Rechenaufgabe als einziger Schuler in Frankreich. Nach eigener Angabe versuchteer dazu gar nicht erst, das komplizierte Integral zu berechnen, sondern erkannte, dassder Aufgabe eine Kreisformel zugrunde lag und transformierte die Koordinaten, um denKreis in der Losung einzusetzen. Seine Familie fluchtete vor der deutschen Besatzung insVichy-Frankreich, nach Tulle, wo ihn der Rabbiner von Brive-la-Gaillarde bei seinerSchulausbildung unterstutzte. Von 1945 bis 1947 studierte er Ingenieurwissenschaften ander Ecole polytechnique bei Gaston Julia und Paul Levy. Anschließend absolvierteer ein Studium der Aeronautik am California Institute of Technology, das er 1949 miteinem Master abschloss.

Nach seinem Studium kehrte Mandelbrot nach Frankreich zuruck und promovier-te 1952 an der Universitat von Paris im Fach Mathematik. Von 1949 bis 1957 war erwissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre national de la recherche scientifique. Wahrenddieser Zeit verbrachte er ein Jahr am Institute for Advanced Study in Princeton (NewJersey), wo er von John von Neumann unterstutzt wurde. 1955 heiratete Mandel-brot Aliette Kagan, zog mit ihr nach Genf und anschließend zuruck nach Frankreich.Nach einem Jahr an derUniversite Lille Nord de France trat Mandelbrot 1958 in dieForschungsabteilung im Thomas J. Watson Research Center bei IBM ein und wurde dort1975 zum IBM-Fellow ernannt, eine Auszeichnung, die ihm weitgehende Freiheiten furseine Forschungen ermoglichte.

Ab 1951 veroffentlichte Mandelbrot Arbeiten uber Probleme der Mathematik, aberauch uber Probleme angewandter Gebiete wie der Informationstheorie, Wirtschaftswissen-schaften und Stromungsmechanik. Er war zunehmend davon uberzeugt, dass eine Vielzahlvon Problemen in diesen Gebieten von zwei zentralen Themen bestimmt seien, namlich

”fat tail“-Wahrscheinlichkeitsverteilungen und selbstahnlichen Strukturen. Er fand her-

aus, dass die Preisschwankungen der Finanzmarkte nicht durch eine Normalverteilung,sondern durch eine Levyverteilung beschrieben werden konnen, die theoretisch eine un-endliche Varianz aufweist. Zum Beispiel zeigte er, dass die Baumwollpreise seit 1816 einerLevyverteilung mit dem Parameter α = 1.7 folgen, wahrend α = 2 einer Gaußverteilungentsprechen wurde. So lieferte er auch eine mogliche Erklarung fur das Equity PremiumPuzzle.

Mandelbrot wandte diese Ideen auch im Bereich der Kosmologie an. 1974 schluger eine neue Erklarung fur das Olberssche Paradoxon des dunklen Nachthimmels vor. Erzeigte, dass sich das Paradoxon auch ohne Ruckgriff auf die Urknalltheorie vermeidenlasst, wenn man eine fraktale Verteilung der Sterne im Universum annimmt, in Analogiezum sogenannten Cantorstaub.

1975 pragte Mandelbrot den Begriff fraktal, um derartige Strukturen zu beschrei-ben. Er veroffentlichte diese Ideen in dem Buch

”Les objets fractals, forme, hasard et

dimension“ (1975; eine englische Ubersetzung”Fractals: Form, Chance and Dimension“

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wurde 1977 veroffentlicht). Er entwickelte damit Ideen des tschechischen Geografen, De-mografen und Statistikers Jaromır Korcak (1895–1989) weiter, die dieser in dem Ar-tikel

”Deux types fondamentaux de distribution statistique“ veroffentlicht hatte (1938;

deutsch”Zwei Grundtypen der statistischen Verteilung“).

Wahrend seiner Anstellung als Gastprofessor fur Mathematik an der Harvard Universi-ty 1979 begann Mandelbrot mit dem Studium der fraktalen Juliamengen, die gegenuberbestimmten Transformationen in der komplexen Ebene invariant sind und die zuvor vonGaston Julia und Pierre Fatou untersucht wurden. Diese Mengen werden durch dieiterative Formel z2 + c erzeugt. Mandelbrot benutze Computerplots dieser Menge, umihre Topologie in Abhangigkeit von dem komplexen Parameter c zu untersuchen. Dabeientdeckte er die Mandelbrotmenge, die nach ihm benannt ist.

1982 erweiterte Mandelbrot seine Ideen und publizierte sie in seinem wohl bekann-testen Buch

”The Fractal Geometry of Nature“ (die deutsche Ubersetzung erschien 1987

unter dem Titel”Die fraktale Geometrie der Natur“). Dieses einflussreiche Buch machte

Fraktale einer breiteren Offentlichkeit bekannt und brachte auch viele der Kritiker zumSchweigen, die Fraktale bis dahin als Programmierartefakt abgetan hatten.

Mandelbrot verließ IBM 1987 nach 35 Jahren Firmenzugehorigkeit, nachdem IBMbeschlossen hatte, seine Abteilung fur Grundlagenforschung aufzulosen. Er arbeitete dannin der mathematischen Abteilung der Yale University, wo er 1999 im Alter von 75 Jah-ren seine erste unbefristete Professorenstelle ubernahm. Als er 2005 emeritierte, war erSterling Professor fur Mathematik. Seine letzte Anstellung trat Mandelbrot 2005 alsBattelle Fellow am Pacific Northwest National Laboratory an. Im selben Jahr veranstalte-te die Deutsche Bundesbank ein Festkolloquium anlasslich seines im Vorjahr begangenen80. Geburtstags zum Thema

”Heavy tails and stable Paretian distributions in finance

and macroeconomics“, um seine Betrage zum besseren Verstandnis von Finanzmarktenund Finanzmarktstabilitat zu wurdigen. Seine jungste Veroffentlichung zu fraktalen ma-thematischen Strukturen an den Finanzmarkten

”Fraktale und Finanzen“ bekam den

Wirtschaftsbuchpreis der Financial Times Deutschland.Obwohl Mandelbrot den Begriff fraktal pragte, wurden einige der in

”The Fractal

Geometry of Nature“ dargestellten Objekte schon fruher von Mathematikern beschrieben.Vor ihm wurden sie allerdings eher als unnaturliche mathematische Absonderlichkeitenangesehen. Es war sein Verdienst, die fraktale Geometrie fur die Beschreibung realerObjekte anzuwenden, deren

”raue“, nicht durch einfache Idealisierungen beschreibbare

Objekte sich bis dahin der wissenschaftlichen Untersuchung entzogen. Er zeigte, dass alldiese Objekte bestimmte Eigenschaften gemeinsam haben, wie die Selbstahnlichkeit, Ska-leninvarianz und oft eine nichtganzzahlige Dimension. Beispiele naturlicher Fraktale sinddie Formen von Bergen, Kustenlinien und Flussen, Verastelungen von Pflanzen, Blut-gefaßen und Lungenblaschen, die Verteilung von Sternhaufen in Galaxien, und die Pfadeder brownschen Bewegung. Fraktale Strukturen finden sich auch in quantitativen Be-schreibungen menschlichen Schaffens und Handelns, etwa in der Musik, der Malerei undder Architektur sowie in Borsenkursen. Mandelbrot war daher der Auffassung, dassFraktale viel eher der intuitiven Erfassung zuganglich sind als die kunstlich geglattetenIdealisierungen der traditionellen euklidischen Geometrie:

”Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Kustenlinien keine Kreise. Die

Rinde ist nicht glatt — und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade.“

Mandelbrot wurde als Visionar und als unabhangiger Geist (engl.”Maverick“) be-

zeichnet. Sein allgemeinverstandlicher und leidenschaftlicher Schreibstil und seine Beto-

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nung bildlicher geometrischer Anschauung machten insbesondere sein Buch”The Fractal

Geometry of Nature“ auch fur Nichtwissenschaftler zuganglich. Das Buch loste ein breitesoffentliches Interesse an Fraktalen und Chaostheorie aus.

Mandelbrot starb im Alter von 85 Jahren an Bauchspeicheldrusenkrebs. Der Ma-thematiker Heinz-Otto Peitgen bezeichnete Mandelbrot anlasslich seines Todesals eine der wichtigsten Personlichkeiten der letzten 50 Jahre fur die Mathematik undderen Anwendung in der Naturwissenschaft. Der franzosische Staatsprasident NicolasSarkozy wurdigte Mandelbrot als einen großen und originellen Geist, dessen Arbeitvollstandig jenseits des wissenschaftlichen Mainstreams verlief. Die Zeitschrift The Eco-nomist wies zudem auf seine Beruhmtheit jenseits der Wissenschaft hin und nannte ihnden Vater der fraktalen Geometrie.

John D. Dixon (* 18. Januar 1937), US-amerikanischer Mathematiker, ProfessorEmeritus in the School of Mathematics and Statistics, Carleton University.

Lawrence Allen Zalcman (* 9. Juni 1943 in Kansas City, Missouri) ist ein US-amerikanischer Mathematiker, der sich mit komplexer Analysis beschaftigt. Er studierteam Dartmouth College (unter anderem bei A.S. Besicovitch) und wurde 1968 amMassachusetts Institute of Technology bei Kenneth Hoffman promoviert (Boundedanalytic functions on domains of infinite connectivity). Er lehrte an der Stanford Uni-versity und war seit 1972 Assistant Professor sowie seit 1974 Professor an der Universityof Maryland in College Park. Er war seit den 1970er Jahren haufig Gastwissenschaft-ler und Gastprofessor in Israel, zum Beispiel am Technion, dem Weizmann-Institut, derBar-Ilan-Universitat und der Hebrew University.

1981 und 1975 wurde er mit dem Lester Randolph Ford Award ausgezeichnet, und furdie Arbeit, die den Lester Randolph Ford Award 1975 erhielt, wurde ihm 1976 auch derChauvenet-Preis verliehen.

Ein Lemma in der Theorie normaler Familien ist nach ihm benannt (Zalcmans Lem-ma), das er im Rahmen seiner Behandlung des Prinzips von Andre Bloch bewies. Er istauch Namensgeber der Zalcmangebiete, die eine Rolle in der Klassifikation riemannscherFlachen spielen, und der Zalcmanfunktionen in der komplexen Dynamik. In der Theoriepartieller Differentialgleichungen ist die Pizzetti-Zalcman-Formel nach ihm benannt.

Von 1976 bis 1982 war er Mitherausgeber der Proceedings of the American Mathe-matical Society; seit 1987 ist er Herausgeber des Journal d’Analyse Mathematique. 2012wurde er zum Fellow der American Mathematical Society ernannt.

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