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Eine geheime Verabredung. Über Walter Benjamins Umgang mit Theologie Gérard Raulet MLN, Volume 127, Number 3 , April 2012 (German Issue), pp. 625-644 (Article) Published by The Johns Hopkins University Press DOI: 10.1353/mln.2012.0099 For additional information about this article Access provided by Ryerson University Library (16 Sep 2013 21:44 GMT) http://muse.jhu.edu/journals/mln/summary/v127/127.3.raulet.html

Eine geheime Verabredung. Über Walter Benjamins Umgang mit Theologie

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Eine geheime Verabredung. Über Walter Benjamins Umgang mitTheologie

Gérard Raulet

MLN, Volume 127, Number 3 , April 2012 (German Issue), pp. 625-644(Article)

Published by The Johns Hopkins University PressDOI: 10.1353/mln.2012.0099

For additional information about this article

Access provided by Ryerson University Library (16 Sep 2013 21:44 GMT)

http://muse.jhu.edu/journals/mln/summary/v127/127.3.raulet.html

Eine geheime Verabredung.Über Walter Benjamins Umgang

mit Theologie❦

Gérard Raulet

Benjamins „Thesen“ Über den Begriff der Geschichte lassen sich nicht umstandslos in eine Tradition „jüdischen Denkens“ einschreiben. In meinen bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Komplex habe ich diese Spannung als nicht auflösbar dargestellt und umso mehr für unauflöslich gehalten, als es nicht nur um die Spannung zwischen historischem Materialismus und jüdischem Denken, sondern auch innerhalb des letzteren um diejenige zwischen Messianismus und Apo-kalyptik und zwischen äußerst widersprüchlichen Strömungen geht, die an beidem Anteil haben und beides verschiedentlich kombinieren.1 Damit ging freilich die Neigung einher, diese ungelöste Spannung als Scheitern zu interpretieren. Ich möchte hier deshalb ein stück-weit von diesem Deutungsschema abrücken und sie vielmehr—wenn auch als Ausdruck eines unleugbaren praktischen Scheiterns—als die Grundstruktur des Benjaminschen Denkens aufzufassen versuchen: als die Struktur, durch die es sich eben weder dem Marxismus noch dem Judentum verschreibt, sondern zwischen beidem eine „geheime Verabredung“ inszeniert.

Nach Scholem soll die Religion für Benjamin bis zuletzt die höchste Ordnung geblieben sein. Diese Behauptung kann sich auf verhält-

MLN 127 (2012): 625–644 © 2012 by The Johns Hopkins University Press

1Siehe Gérard Raulet, Le caractère destructeur. Esthétique, théologie et politique chez Walter Benjamin, Paris 1997, S. 187–245; „Mythe et théologie politique. Sur la conception ben-jaminienne de la justice“, in: Les Cahiers philosophiques de Strasbourg, 27/2010, S. 25–48.

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nismäßig zahlreiche Äußerungen stützen. So steht in einem Brief an Max Rychner, von dem Benjamin ihm kennzeich nenderweise eine Kopie schickte:

Ich habe nie anders forschen und denken können als in einem, wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn—nämlich in Gemäßheit der talmudischen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle.2

Allerdings fügt Benjamin sogleich mit Humor hinzu:

Nun: Hierarchien des Sinns hat meiner Erfahrung nach die abgegriffenste kommunistische Platitüde mehr als der heutige bürgerliche Tiefsinn, der immer nur den einen der Apologetik besitzt. (GB IV, 20)

Ähnlich humorvoll ist die sehr berühmte und oft überstrapazierte Äußerung:

Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.3

Die Verwandtschaft dieser Formulierung mit derjenigen der ersten These „Über den Begriff der Geschichte“, in der die Darstellung des Verhältnisses zwischen Marxismus und Theologie ebenfalls unter das Zeichen des Humors gestellt wird, ist unüberhörbar. In letzterer heißt es nach dem Wortlaut des Manuskript blatts 466v:

Gewinnen soll, wenn es nach mir geht, die Türkenpuppe, die bei den Phi-losophen Materialismus heißt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem Gegner aufnehmen, wenn sie sich der Dienste der Theologie [versichert], die heute ohnehin klein und häßlich ist und sich nirgends sehen lassen darf.4

Löschblatt und Tinte, Zwerg und Puppe etc.—nur auf den ersten Blick scheinen die Metaphern eindeutig zu sein:

Der historische Materialismus nimmt die Theologie „in seinen Dienst“: er ist Herr, der bestimmt; die Theologie die Dienstpflichtige, die für ihn die Arbeit zu tun—sozusagen das Denken zu besorgen hat.5

2Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, 6 Bde, Frankfurt/M., 1995ff., Bd. IV, S. 19; im Folgenden abgekürzt: GB, Bd. u. Seitenzahl.

3Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1978ff.; im Folgenden abgekürzt: GS, Band u. Seitenzahl. Hier: Passagenwerk, Konvolut N, 7a, GS V–1, 588.

4Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, hrsg. von Gérard Raulet, in: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Band 19, Frankfurt/M. 2010, S. 121.

5Rolf Tiedemann, „Historischer Materialismus oder politischer Messianismus? Politi-sche Gehalte in der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins“, in: Materialien zu Benjamins Thesen ‚Über den Begriff der Geschichte’, hrsg. von Peter Bulthaup, Frankfurt/M. 1975, S. 97.

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Mit Recht weist Tiedemann darauf hin, dass Puppe und Zwerg, ja auch das Schachbrett selbst, ein Ganzes bilden und dass die von Benjamin beanspruchte Effizienz—es „ohne weiteres mit jedem aufnehmen“ zu können—nur aus dieser Kombination resultiert. Dass Benjamin die Publikation der Thesen anscheinend ausschloss—zumindest in dieser Form, d.h. als Thesen—dürfte kein genügendes Argument sein, um das theologisch-politische Spannungs verhältnis in Benjamins Denken für unauflösbar zu halten und es bloß als offene Spannung bestehen zu lassen. Ich neige eher zu der Annahme, dass gerade diese Spannung das Medium ihrer „geheimen Verabredung“ bildet. Das wird hier der Fluchtpunkt meiner Überlegungen sein.

I. Eine Philosophie des Judentums

Hier empfinde ich die Sätze über die Verschränkung des Deutschen und Jüdischen als ganz entscheidend. (Adorno an Benjamin 17.12.1934).

Man soll aufhören, Benjamins Verhältnis zum Messianismus isoliert zu behandeln, d.h. ohne es in den in den 1920er und 30er Jahren besonders regen Kontext der Debatten über Theologie und Politik und insbesondere über den Zionismus einzuschreiben. Man hat diesen Komplex bis jetzt auf die „jüdischen Philosophen“ beschränkt, die—wahrscheinlich wegen ihrer vermeintlichen „jüdischen Identität“—in irgendeiner Weise mit Benjamin in Verbindung gebracht werden konnten. Also in erster Linie Rosenzweig, Scholem, am Rande auch Bloch. Ebenso wenig reicht freilich die Formulierung der Problematik als Spannung zwischen einem „orthodoxen“ Messianismus (gibt es so etwas?) und einem geschichtsphilo sophischen, praktischen Messi-anismus aus. Noch weniger reicht sie aus, wenn sie letzteren auf die Alternative Zionismus / Marxismus reduziert und so tut, als ob der „späte“ Benjamin zwischen dem Einfluss von Brecht und demjenigen von Scholem zerrissen gewesen wäre.

Ich möchte mit einer Figur ansetzen, die in der Benjamin-Forschung nicht im Vordergrund steht aber ohne jeglichen Zweifel der Benja-minschen Reflexion Pate gestanden hat. Die Kritik der Gewalt bezieht sich ja sehr ausführlich auf Cohens Auffassung der Gerechtigkeit:

[ . . . ] jener Eingriff des Rechts, den die Verletzung des ungeschriebenen und unbekannten Gesetzes heraufbeschwört, heißt zum Unterschied von

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der Strafe die Sühne. Aber so unglücklich sie den Ahnungslosen treffen mag, ihr Eintritt ist im Sinne des Rechts nicht Zufall, sondern Schicksal, das sich hier nochmals in seiner planvollen Zweideutigkeit darstellt. Schon Hermann Cohen hat es in einer flüchtigen Betrachtung der antiken Schick-salsvorstellung eine „Einsicht, die unausweichlich wird,“ genannt, daß es seine „Ordnungen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen“ (Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, zw. rev. Aufl., Berlin 1907, S. 362). (GS II–1, 198f.)

Für Cohen erfordert der Übergang zu einer „Religion der Vernunft“ den Bruch mit der mythischen Macht des Schicksals, die das Indivi-duum daran hindert, ein selbst verant wortliches Subjekt zu werden, was zugleich eine tiefe Veränderung der Auffassung des Verständnisses von Schuld und Strafe bedeutet. Denn für den Mythos und für die antike Tragödie gilt die Schuld als primär.6 Cohen erinnert daran, dass die Propheten das Opferritual bekämpft haben und dadurch der autoritären Auffassung der Gebote den Vorrang der Moral entgegen-gesetzt haben (RV 200–02). Benjamins Kafka-Essay von 1934 bezieht sich ganz in demselben Sinn auf Cohen. Er erwähnt Cohens negative Auffassung des Schicksals und unterstreicht, dass „Kafka [der] Lockung [des Mythos] nicht gefolgt ist“ (GS II–2, 415). In demselben Zusam-menhang findet sich die Bemerkung, dass Kafka „den Versuchungen des Mystizismus nicht immer aus dem Wege gegangen“ sei, aber dass seine Welt alles in allem doch eher als „Welttheater“ gedeutet werden solle (GS II–2, 422).

Auch der Gebrauch, den Benjamin in dieser frühen Schrift und in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ des Trauerspielbuchs von der „Idee“ macht, mag auf Cohens Bemühung verweisen, die Gedanken-welt Platons mit derjenigen der Propheten in Zusammenhang zu bringen und zu versöhnen. In seiner Philosophie des Judentums, deren erste Ausgabe 1933 mit Hermann Cohen endet, hat Julius Guttmann die Schwierigkeit und zugleich die Anziehungskraft der Religion der Vernunft in der unauflöslichen Spannung zwischen dem religiösen Gehalt und der philosophischen Begrifflichkeit gesehen.7 Ein Urteil, das der geheimen Formel von Benjamins Denken völlig angemessen ist. Es kommt „nur“ darauf an, zu unterscheiden, auf welche Seite das Gewicht fällt.

Man kann nicht einmal ausschließen, dass der Gedanke von Benja-mins „Theologisch-politischem Fragment“, nach welchem das Irdische

6Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 1978, S. 197. Im Folgenden abgekürzt: RV u. Seitenzahl.

7Julius Guttmann, Die Philosophie des Judentums, München 1933.

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im Glück seinen Untergang erstrebt, „während freilich die unmit-telbare messianische Intensität des Herzens [ . . . ] durch Unglück, im Sinne des Leidens hindurchgeht“ (GS II–1, 204), in den Seiten der Religion der Vernunft seinen Ursprung nimmt, wo Cohen die Not-wendigkeit des Leidens für die Heilsökonomie erklärt. (RV 263–275 Allerdings kommt Cohen zu dem Schluss, dass „die Erlösung [ . . . ] gar nicht hinaus geschoben zu werden [braucht] auf das Ende der Tage, sondern sie haftet schon an jedem Momente des Leidens, und sie bildet an jedem Momente des Leidens einen Moment der Erlösung“—eine präsentische Auffassung, die Benjamin, wie noch zu sehen ist, nicht teilen kann (RV 274).

Benjamins Aufbegehren gegen den damals dominierenden Neu-kantianismus im „Programm einer kommenden Philosophie“ richtet sich in erster Linie gegen die Allmacht der „Theorie der Erfahrung“. Cohens Buch über Kants Theorie der Erfahrung studierte er 1918 gemein-sam mit Scholem.8 Im Fragment „Über die Wahrnehmung“ macht er an Cohen eine wichtige Konzession, die seine Bemühung widerspiegelt, sich von der Theorie der Erfahrung nicht abstoßen zu lassen, und davon zeugt, dass er von vornherein auf die religionsphilosophische Seite von Cohens Philosophie großen Wert gelegt hat. Er betont die „Bestrebungen der neukantischen Schule auf die Aufhebung der strengen Unterscheidung zwischen Anschau ungs formen und Kate-gorien [zu] dringen; mit der Aufhebung dieses Unterschiedes aber scheint tatsächlich die Umbildung der transzendentalen Philosophie der Erfahrung zu einer transzendentalen aber spekulativen Philo-sophie“ eingeleitet worden zu sein (GS VI–1, 36). Wenn dem so ist, dann gilt es unbedingt, sich über den philosophischen Status dieser spekulativen (bzw. theologischen und auf jeden Fall metaphysischen) Dimension Klarheit zu verschaffen. Das „Programm“ entzieht sich dieser Herausforderung nicht: Er macht sich zur Aufgabe, „auch reli-giöse Erfahrung logisch [zu] ermöglich[en]“ (GS II–1, 164)—wobei es sich selbstredend nicht „um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Philosophie und Religion, sondern nach dem zwischen Philosophie und Lehre von der Religion handeln muß; mit andren Worten um die

8„Wie sehr die hier angestellten Erwägungen über Kants System und seinen Begriff der Erfahrung damals im Mittelpunkt seines Denkens standen, zeigt sich auch daran, daß er mir zur gemeinsamen Lektüre als ersten Text das damals gerade in dritter Auflage erschienene große Werk von Hermann Cohen ‚Kants Theorie der Erfahrung’ vorschlug, das wir dann wirklich im Sommer 1918 miteinander gelesen haben“ (Scholem, „Walter Benjamin und die Suche nach der verlorenen Zeit“, in: Max Horkheimer (Hg.), Zeug-nisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1963, S. 33).

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Frage nach dem Verhältnis der Erkenntnis überhaupt zur Erkenntnis von der Religion“ (GS II–1, 169–70).9

Dem entspricht Benjamins Würdigung von Cohen in „Juden in der deutschen Kultur“. Nicht nur gehört Cohen dort zu der relativ kurzen Liste von Denkern, denen Benjamin überhaupt einen maß-geblichen Einfluss zuerkennt, sondern er betont nachdrücklich, dass dessen Rationalismus in erster Linie um die universalistische ethische Botschaft des jüdischen Messianismus bemüht war:

Cohens religionsphilosophisches Hauptwerk „Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ (1919) konfrontiert das Judentum der Propheten mit der Welt des Mythos, um im jüd[ischen] Monotheismus die einzige streng mythenfremde, ethische Religion zu erkennen. Cohen ist nichts weniger als Intellektualist, wohl aber strenger Rationalist. (GS II, 809)

Cohens Projekt war auf den ersten Blick völlig transparent: „Der Titel, der diesem Buche übergeschrieben ist, enthält die Vorschrift für das Buch“ (RV 3). Es gipfelt im 22. Kapitel, das dem Frieden gewidmet ist. Ungefähr in der Mitte bildet das 13. Kapitel, „Die Idee des Messias und die Menschheit“, den Übergang von der jüdischen Tradition zum Denken der Aufklärung. Ebenfalls eindeutig ist die Intention: „Der Begriff der Religion soll durch die Religion der Vernunft zur Entdeckung gebracht werden“ (RV 5). „Die Religion der Vernunft macht die Religion zu einer allgemeinen Funktion des menschlichen Bewusstseins“ (RV 8). Das sind Sätze, die ich nur deshalb zitiere, weil sie mit dem Wortlaut von Benjamins Programm der kommenden Philosophie übereinstimmen.

Wiewohl es ihm auf die „Idee“ ankommt, setzt Cohen den Akzent auf die geschichtlichen und literarischen Dokumente, durch welche sie überliefert wird. „Denn die Frage nach dem Begriffe des Juden-tums schwebt nicht gänzlich in der Luft [ . . . ]: das Judentum hat literarische Quellen“ (RV 3). Eine völlig ähnliche Spannung zwischen der reinen Sphäre der Ideen und der geschichtlichen Welt charak-terisiert Benjamins Denkweise insgesamt. Cohens Grundsatz—der allenfalls für Benjamin eben nicht mehr gelten kann—ist, dass „ein gerader Weg [ . . . ] von dem geschichtlichen Begriffe des Judentums zur Philosophie der Religion“ führt (RV 6). Also müssen die Quellen des Judentums [ . . . ] als das Material aufgezeigt und nachgewiesen werden, in dessen geschichtlicher Selbsterzeugung die problematische Vernunft, die problematische Religion der Vernunft sich erzeugen

9Hervorhebung von mir, G.R.

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und bewahrheiten soll“ (RV 5). Cohen bemüht sich, die Etappen und Übergänge nachzukonstruieren und mit emblematischen Figuren zu identifizieren: mit dem Juden Philo von Alexandria (RV 279) oder mit Maimonides, den er als „das Wahrzeichen des Protestantismus im mittelalterlichen Judentum“ bezeichnet.10 Der Bezug auf die Reform hat als Denkschema dieselbe Funktion wie bei Heine oder bei Marx und deutet darauf hin, dass es gleichsam eine unwiderstehliche Teleo-logie der Vernunft gegeben hat, die die Geschichte beherrscht hat. Cohens eigene Pointe besteht freilich darin, dass er sich bemüht, diese Tradition als jüdisches Erbe zu präsentieren. Seine Beweisführung läuft darauf hinaus, dass der Humanitätsgedanke, bzw. die Idee der Huma-nität, die vom deutschen Humanismus zur Geltung gebracht wurde, ihren eigentlichen Ursprung bei den Propheten Israels genommen habe. Aber wenn die messianische Hoffnung von dem jüdischen Volk ausging, wendet sie sich an alle anderen Nationen: Sie ist einem Volk gegeben worden, damit alle Menschen an diesem göttlichen Bund teilhaben können.11 „Es wäre daher ein unverbesserlicher Fehler [ . . . ], wenn wir die Religion der Vernunft auf die jüdische Religion [ . . . ] einschränken und abschließen würden.“(RV 9) Auf gleichsam Hegelsche Weise erkennt er sogar dem Christentum das Verdienst zu, durch seinen „welterobernden Anspruch“ „den Begriff der Menschheit zum historischen Inhalt der Religion gemacht zu haben“ (RV 280). Diese Auffassung erklärt, dass er dem jüdischen Nationalismus und insbesondere dem Zionismus alle Legitimität abspricht. Er unterlässt es auch nicht, daran zu erinnern, dass „die Propheten den nationa-listischen Hochmut [geißeln], der den universalen Monotheismus verletzt“ (RV 303).

Das Reich Davids [ist] nicht der Boden für die Welt des Monotheismus. Nicht in dieser kurzen Vergangenheit, noch überhaupt in einer politischen Wirklichkeit liegt der geschichtliche Beruf Israels. Der Sinn und Wert des Monotheismus sollte sich erproben in diesem geschichtlich-politischen Widerspruch. (RV 294)

Daraus zieht Cohen zwei Schlussfolgerungen: zum einen vertritt er das Paradoxon, dass der Untergang Israels als Staat, „aber die Erhaltung des Volkes, ein providentielles Symbol für den Messianismus“ darstellt (RV 295), zum anderen behauptet er den Vorrang der Zukunft: Die

10Cohen, „Deutschtum und Judentum“ (1915), in: Jüdische Schriften, Berlin 1924, S. 244.11Ebd., S. 265.

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Zukunft wird die Wirklichkeit der Geschichte“ (RV 294). Darauf werden wir noch eingehen.

Cohen macht sich auf die Suche nach den „philosophischen Urmo-tiven“ (die Unter streichung ist von mir), in denen und kraft derer sich die Religion der Vernunft durchsetzt (RV  11). Im 13. Kapitel wendet er diese Methode insbesondere auf den Messianismus an, so dass die Interpretation, die er von diesem gibt, sich nicht auf des-sen Komplexität und Widersprüche einlässt, sondern vielmehr das erklärte Ziel verfolgt, die philosophischen Gehalte (Weltuntergang, Welterneuerung, Leitung und Erziehung der Welt durch Gott, Tod und Fortleben . . . ) herauszuarbeiten.

Cohen hat dabei immer jegliche metaphysische Interpretation sei-nes Ansatzes zurück gewiesen. Benjamin widerspricht ihm in diesem Punkt. Die „metaphysische Grundrichtung [seines] Denkens“12 hat er seinerseits nie geleugnet. Bei Cohen spielt die Ethik die Rolle, die Benjamin der Metaphysik zuschreibt. Für Cohen stellt—wie er es gerade am Anfang des zentralen 13. Kapitels nochmals betont—die Ethik die Sphäre dar, in welche das von der „Eigenart der Religion“ Angestrebte mündet (RV 276) und in der sich die scheinbaren Wider-sprüche zwischen Religion und Vernunft aufheben. Wenn nämlich die Religion—und insbesondere die jüdische—sich an das Individuum wendet, so wird in der Ethik „das Ich des Menschen [ . . . ] zur Idee der Menschheit“ (RV 15). Also haben wir nach ihm „den messianischen Gott als den Gott der Ethik“ darzustellen (RV 25).

Ebenso wenig wie Cohen war Benjamin bereit, den Bezug auf eine allgemeingültige Vernunft aufzuopfern. Auch Benjamin geht es um die Menschheit, um den ewigen Frieden etc. Wenn bei ihm eine ausdrück-lich zur praktischen Umsetzung auffordernde Geschichtsphilosophie das Erbe des Messianismus antritt, so darf man nicht vergessen, dass auch Hermann Cohen die „Idealität des Messias“, seine „Bedeutung als Idee“, merkwürdigerweise in der Auflösung seines Sinnbilds erfasst (und bei Cohen ist der Messias an dieser Stelle ganz ausdrücklich ein Sinnbild13): Diese Auflösung des Sinnbilds „in den reinen Gedanken der Zeit, in dem Begriffe des Zeitalters“, was für ihn bedeutet, dass „die Zeit Zukunft und nur Zukunft [wird]. Vergangenheit und Gegenwart versinken in dieser Zeit der Zukunft. [ . . . ] Das Dasein des Men-schen hebt sich auf in dieses Sein der Zukunft. So entsteht für das

12An Max Rychner, 7.3.1931, GB IV, 18.13Davon macht Cohen schon in der Einleitung keinen Hehl: „Das ist es eben, was

der Messias bedeutet: daß das Unrecht aufhören werde“ (RV 24).

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Menschenleben und das Völkerleben der Gedanke der Geschichte“ (RV 291). Benjamins Radikalität auf politischem Gebiet in seinen letzten Schriften ist nicht zu leugnen. Sie verdeckt aber die tiefere Verwandtschaft mit dem weltgeschichtlichen Programm, an welches die Neukantianer ihrerseits ethisch herangingen. Sieht man es so, dann ist die Verwandtschaft zwischen Benjamin und dem von ihm scheinbar verpönten Neukantianismus grösser als allgemein angenommen. Sie bezieht sich auf den springenden Punkt des Verhältnisses zwischen jüdischer Religion und Vernunft, wobei Ethik und Metaphysik eine Alternative darstellen.

Cohens Ansatz spiegelt ziemlich typisch die allgemeine Neigung der jüdischen Bildungs schicht zum Liberalismus wider. Diese Juden empfanden sich in ihrer Mehrheit als Deutsche, ggfs. als deutsche Juden, keineswegs aber als „Angehörige eines jüdischen Volks“.14 Dieses Bewusstsein galt wenigstens für die integrierten bürgerlichen Schichten—und alle Denker, von denen wir hier reden, gehörten diesen an. Aber im sozialen Kontext des Wilhelminischen Reichs und mehr noch nach Ausbruch des Krieges spaltete es sich auf in eine Fülle kleinerer Gruppen von deutsch-patriotischen Juden, Zionisten, Kosmopoliten etc. Das macht den geradezu explosiven Hintergrund von Cohens Stellungnahmen aus. Darüber hinaus entwickelte sich parallel dazu in der jungen Generation eine Debatte über das lebende Judentum im Gegensatz zur nunmehr etablierten „Wissenschaft des Judentums“. Auf die Komplexität dieses Hintergrunds will ich mich hier nicht näher einlassen. Ich zweifle daran, dass sie für ein besseres Verständnis von Benjamins „Position“ hilfreich sein könnte. Fest steht, dass im Gegensatz zu Scholem, Benjamin, Bloch und Rosenzweig selbst zu den Nichtzionisten gehörten. In Cohens Feldzug in den Kriegsjahren sieht Scholem nur eine „tragische Illusion“.15 Wenn aber der Essay von 1915 „Deutschtum und Judentum“ zeitbedingt und an die amerikanischen Juden gerichtet war, damit sie den Eingriff der Vereinigten Staaten in den europäischen Konflikt verhindern,16 dann

14Monika Richartz (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918–1945, Stuttgart 1982, S. 26.

15Die Bilanz, die er gezogen hat, ist unerbittlich und verheerend: siehe in Hans Mayer, Der Widerruf, a.a.O., S. 426f. Vgl. auch den Brief an Karl Löwith vom 31.08.1968 (in: Briefe, II [1948–1970], München 1995, S. 213f.), anlässlich des Essays von Löwith „Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in H. Cohens Religionsphi-losophie“, in: Sämtliche Schriften, III, Stuttgart 1985, S. 349–383.

16An dieser Stelle kann man nicht umhin, daran zu erinnern, dass auf französischer Seite Bergson den umgekehrten Druck ausübt.

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lässt das Hauptwerk von 1918 keinen Zweifel an der geschichtsphilo-sophischen Tragweite der berühmten Formel bestehen: „Als Deutsche wollen wir Juden, und als Juden Deutsche sein.“ Ob Benjamin diese Illusion—und bis zum letzten Augenblick—geteilt hat, das muss an anderen philologisch-historischen Komplexen erprobt werden, die keine zweitrangigen Akteure ins Spiel bringen, sondern zum Kern des ideologisch-politisch-philosophischen Archivs der Zwischenkriegszeit dringen.

II. Politische Theologie / theologische Politik

Das kann man an vielfältigen Intertextualitäten kenntlich machen, die bis zu Leo Strauss und Carl Schmitt reichen. Sie kreisen alle um das Verhältnis von Theologie und Politik. An ihnen hat das „Theologisch-politische Fragment“ im eminenten Sinn Anteil, dessen Entstehung sehr wahrscheinlich auf 1920 zurückgeht und das deshalb zwar auf unüberhörbare Weise die Reflexionen der „Thesen“ antizipiert aber vor allem mit dem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ von 1921 in Ver-bindung zu bringen ist.

Vor allem fällt der nachdrückliche Bezug auf Ernst Blochs Geist der Utopie auf, genauer auf dessen erste Ausgabe von 1918, in welcher dem Schlussteil des 5. Kapitels (Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit—Beschluß. Programm und Problem) ca. 12 Seiten angehängt sind, die den Titel „Symbol: Die Juden“ tragen und in der Ausgabe von 1923 entfernt wurden.17 Blochs Exkurs beschreibt die geistige und politische Unruhe der jungen jüdischen Generation, die sich immer weniger mit der Alternative des Ghettos und der Assimilation zufriedengibt.18 Er distanziert sich allerdings von den jüdischen Erneuerern und weist im Namen eines „Dritten über Jude und Christ“19 sowohl den Antise-mitismus als auch den Zionismus zurück—eine Stellungnahme, die derjenigen von Hermann Cohen sehr nahe steht.

Entscheidend ist in diesem Zusammenhang Blochs Berufung auf Spinoza: „Spinoza [bog] aufs Neue die kabbalistische und die mathe-matisch naturphilosophische Denkweise zusammen.“20 Wenn meine

17Den Geist der Utopie hat Benjamin in der Fassung von 1918 gelesen (vgl. in GS VII–2 das „Verzeichnis der gelesenen Schriften“, in dem er die Nummer 643 trägt). Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1918, Gesamtausgabe, Bd. 16, Frankfurt/M. 1971; Ausg. 1923: Gesamtausgabe, Bd. 3, Frankfurt/M. 1964.

18Geist der Utopie, Ausg. 1918, a.a.O., S. 320.19Ebd., S. 329.20Ebd., S. 321.

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Hypothese zutrifft, d.h. wenn Benjamin sich tatsächlich auf Bloch bezogen hat, dann hat Adorno mit der Bezeichnung „Theologisch-politisches Fragment“ zweifelsohne das eigentliche Anliegen getroffen: Auch Benjamins Fragment ist in die Tradition der Kabbala und ihrer Radikalisierung durch Spinozas „Theologisch-politisches Traktat“ einzuschreiben. Im Mittelpunkt steht die Absage an die Theokratie. Spinoza zeigte in erster Linie, dass Moses keineswegs der Urheber der fünf Bücher des Alten Testaments, des Pentateuchs, ist, sondern dass ein Pfaffe namens Esdras sie viel später aus Fragmenten verschie dener Herkunft gebastelt hat—ein Argument, das Bloch sich in Atheismus im Christentum angeeignet hat.21 Auf dieser Grundlage werden die Verhältnisse zwischen der zivilen Ordnung und der kirchlichen Macht hinterfragt. Es geht um nichts Geringeres als um—in Blumenbergs Formulierung—die Legitimität der Neuzeit. Ebenso wenig, wie „das Reich Gottes [ . . . ] das Telos der historischen Dynamis“ ist (GS II–1, 203), kann das Reich Gottes die weltliche Ordnung begründen. Die Theologie kann und darf die Politik nicht begründen. Gerade an diesem Punkt lobt Benjamin Bloch dafür, dass er in seinem Anhang „Symbol: Die Juden“ die politischen Ansprüche der Theologie zurück-gewiesen hat: „Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das größte Verdienst von Blochs ‚Geist der Utopie’.“ (GS II–1, 203)

Die Berufung auf Spinoza und die Parteinahme für Bloch waren im damaligen Kontext alles andere als anekdotisch. Vielmehr war Spinoza wieder Gegenstand heftiger Auseinander setzungen gewor-den. Während—wie Leo Strauss in „Das Testament Spinozas“ (1932) erinnert hat—sich allmählich ein Konsens darüber etabliert hatte, hatte Cohen das Bild Spinozas als einer der Begründer des modernen Denkens infrage gestellt. Cohens Attacke ist auf den ersten Blick nicht leicht zu fassen, weil sie seinem Engagement für eine „Religion der Vernunft“ und für eine Versöhnung der Deutschen und der Juden zu widersprechen scheint. Im „Theologisch-politischen Traktat“ sieht er vor allem eine antijüdische Schrift, die ihm als umso abscheulicher erscheint, als sie von einem Juden stammt. Sehr hellsichtig hat Franz Rosenzweig in Cohens Spinoza-Deutung die Signatur einer Zeit erkannt, in welcher—der Cohenschen Hoffnung auf Versöhnung entgegen—der deutsch-jüdische Konflikt wieder auszubrechen drohte

21Siehe hierzu auch Leo Strauss: „Das Testament Spinozas“, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, München, VIII, Nr. 21, 1932, S. 322–326.

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und sich an kollidierenden Lektüren von Spinozas Traktat entzün-dete, in erster Linie am Gegensatz zwischen einem „religiösen“ und einem „nationalen“ Judentum.22 Auf keinen Fall kann es nun Cohen darum gegangen sein, sich zu der einen oder zu der anderen Partei zu schlagen. Er bekämpfte ja den Zionismus, der in seinen Augen eine falsche Antwort auf die Herausforderung darstellte, vor welche das Judentum gestellt war, und ließ sich nicht täuschen durch die Strategie der Zionisten, die den Konflikt zwischen Liberalen und Orthodoxen dadurch überwinden wollten, dass sie mit der nationalen Idee beiden Parteien einen Ausweg aus ihren Querelen über Kultus und Ritual anboten. Benjamin scheint mir ganz auf dieser Linie zu stehen. Aber Spinoza scheint Hermann Cohen, im Namen der Ver-nunft, für die auch er mit seiner „Religion der Vernunft“ einsteht, zu große Konzessionen an das Christentum gemacht zu haben und darüber jene „Quellen des Judentums“ vergessen zu haben, nämlich die Propheten, deren Messianismus der Menschheit eine universale Zukunftsaussicht zuerst eröffnet hat. Er lehnt sich vor allem gegen die Unterstellung auf—die ihm aus Spinozas Unternehmen zu folgen scheint—, dass die jüdische Religion ausschließlich das Ziel verfolgt hätte, die Gründung und Aufrechterhaltung eines nationalen Staats der Juden zu rechtfertigen.

Daraus ergibt sich wahrscheinlich auch Cohens erbitterte Bekämp-fung des Pantheismus, die es sich lohnen würde, in eine archäologische Vergegenwärtigung der „Pantheismus-Debatten“ einzuschreiben, deren charakteristisches Merkmal ja seit jeher darin bestanden hat, dass der Rationalismus und die beiden miteinander konkurrierenden Religi-onen, das Judentum und das Christentum, daran beteiligt gewesen sind. Zum „Pantheismus“ äußert sich jedenfalls Benjamin weniger negativ als Cohen—so zum Beispiel in dem frühen „Dialog über die Religiosität der Gegenwart“ (GS II, 21–23), in dem die beiden Pro-tagonisten sich über die Symptome der Irreligiosität der Gegenwart einig sind. Obwohl dieser nicht genannt wird, lässt sich der Dialog in vielerlei Hinsicht als eine Debatte mit Cohen interpretieren, denn es geht in ihm um das Verhältnis zwischen Mystik und Aufklärung, Individualismus und Gemeinschaft, und nicht zuletzt um Ethik und Politik—„Achtung vor dem Sozialen“.

22Franz Rosenzweig, „Über den Vortrag Hermann Cohens ‚Das Verhältnis Spinozas zum Judentum’“, in: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, Dordrecht 1984, S. 165–167.

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Nun muss Cohens (Gegen-)Angriff nicht nur in den damaligen Kontext wieder eingeschrieben werden, sondern Leo Strauss hat—aufgrund seines eingehenden Umgangs mit dem antiken Denken und der in ihm grundlegenden Rhetorik—durchschaut, dass er selbst Opfer einer diskursiven Strategie geworden ist. Cohen habe gleichsam Spinozas Denkstrategie in umge kehrter Weise reproduziert, weil er nicht einsah, dass Spinoza das Risiko einer Konfrontation mit den orthodoxen calvinistischen Theologen nur eingehen konnte, indem er anscheinend sich zur Partei der liberalen Christen schlug. In sei-nem Traktat habe Spinoza drei Wege umschrieben: den Zionismus, die Assimilierung und die Rückkehr zur Orthodoxie. Die ersten zwei hätten nach ihm in eine Sackgasse geführt, aber ein Ausweg sei auf keinen Fall im Neukantianismus von Hermann Cohen, sondern viel eher auf der Seite jener Erneuerungs bewegungen zu suchen, die auf protestantischer Seite Karl Barth und auf jüdischer Franz Rosenzweig verkörpern. Nichtsdestotrotz geht Strauss, wie mir scheinen will, alles in allem mit dem Beitrag Spinozas zum modernen Denken und zum Verhältnis des Judentums zu diesem nicht sehr viel anders um als Hermann Cohen. Nachdem er zweifelsohne ein wichtiges, für eine Geschichte der Ideengeschichte festzuhaltendes Moment und vor allem dessen diskurs strategischen Charakter betont hat, muss er es wirklich mit den Intentionen seiner eigenen politischen Geschichts-schreibung aufnehmen. Das muss ich hier als vorläufige Feststellung dahingestellt lassen.23

Wo sich Benjamin nun in „Kritik der Gewalt“ ausdrücklich auf Spi-noza bezieht, geht es wiederum um das selbstverantwortliche moderne Subjekt—dasjenige, das überhaupt einen Vertrag, und sei es auch den Unterwerfungsvertrag von Hobbes, unterzeichnen kann:

Wenn nach der Staatstheorie des Naturrechts die Personen aller ihrer Gewalt zugunsten des Staates sich begeben, so geschieht das unter der Voraussetzung (die beispielsweise Spinoza im theologisch-politischen Traktat ausdrücklich feststellt), daß der einzelne an und für sich und vor Abschluß eines solchen vernunftgemäßen Vertrages jede beliebige Gewalt, die er de facto innehabe, auch de jure ausübe. (GS II, 180)

Somit haben wir auch gleich die Überleitung zu der anderen Debatte, um die sich in den 20er und 30er Jahren das politische Denken und

23Diesen diskursiven Strategien ist ein Forschungsprojekt der „Groupe de recherche sur la culture de Weimar“ (Fondation Maison des sciences de l’homme, Paris) über die Geschichte der Ideengeschichtsschreibung gewidmet. Siehe unter www.weimar.msh-paris.fr

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die politische Ideengeschichte dreht. Denn auch die Hobbes-Debatte zwischen Schmitt und Strauss kreist um das Verhältnis von Theolo-gie und Politik. Im Vorwort zur amerikanischen Neuausgabe seines Hobbes-Buchs24 erinnert Leo Strauss daran, dass er sich für Hobbes zu interessieren begann, als er sich an seine Studie über die Anfänge der Bibelkritik im 17. Jahrhundert und insbesondere über Spinozas Tractatus heranmachte. Er fügt hinzu, dass die Aufbruchsstimmung in der Theologie, die mit den Namen Karl Barth auf christlicher und Franz Rosenzweig auf jüdischer Seite verbunden war, die Frage auf-warf, inwiefern die Kritik aller orthodoxen Theologie gerechtfertigt war. Derselben Erinnerung gibt er im amerikanischen Vorwort zu seiner Dissertation über Spinozas Kritik der Religion eine biographi-sche Wendung: Der Verfasser, schreibt er, sei damals ein junger, in Deutschland aufgewachsener Jude gewesen, der mit dem theologisch-politischen Problem konfrontiert gewesen sei. Wie Heinrich Meier gezeigt hat, mag tatsächlich Strauss’ lebenslange Beschäftigung mit dem Thema des „guten (oder richtigen) Lebens“ in dieser Auseinan-dersetzung ihren Ursprung genommen haben.25 Sie mündet bereits in den frühen Schriften in eine Gegenüberstellung der politischen Theologie und der poli tischen Philosophie, deren Echo sich noch in der programmatischen Schrift Was ist politische Philosophie? nie-derschlägt.26 Spinoza und Hobbes sind für ihn die beiden Denker, die dem Primat der Offenbarung in der Politik ein Ende gesetzt haben. Während für die antiken Völker die Religion integraler Teil der Politik war, habe die christliche Offenbarung dieses Verhältnis umgekehrt und aus der Politik einen Teil der Religion gemacht—so verstehe er Hobbes’ Kritik.27 Seiner Interpretation von Hobbes liegt nämlich von vornherein die Absicht zugrunde, aus der Absage an die theologische Begründung eine Weiche für das moderne Denken zu machen, das die Wahl gehabt hätte—und noch habe—zwischen einer anthropologischen Begründung, wie sie Hobbes durchführt, und der Rückkehr zum profanen Politikbegriff der Griechen. Auf diesen Aspekt seines Vorhabens, der eine Kritik an den Grundsätzen des modernen Liberalismus einleitet, muss im Rahmen des vorliegenden Beitrags

24Leo Strauss, The Political Philosophy of Thomas Hobbes, translated from the German, Oxford 1936, Foreword, S. VIII.

25Heinrich Meier, Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Strauss, Stuttgart 2002, S. 16.

26Leo Strauss, What is Political Philosophy? And Other Studies, Glencoe, Ill. 1959.27Leo Strauss, „Spinozas Kritik“ (1930), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Die Religions-

kritik Spinozas und zugehörige Schriften, Stuttgart u. Weimar 1996, S. 75.

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verzichtet werden.28 Ebenso wenig kann ich hier darauf eingehen, dass Carl Schmitt seinerseits in seinem Buch über den „Leviathan“ eine grundsätzlich ähnliche, aber in die umgekehrte Richtung gewandte Strategie einsetzt, indem er Hobbes in den Dienst einer sozusagen „modernen“ politischen Theologie zu stellen versucht: auf die Frage nämlich, ob der Leviathan-Mythos bei Hobbes eine „echte Wieder-herstellung der ursprünglichen Lebenseinheit“ darstellt oder nicht.29

Die Hobbes- und die Spinoza-Interpretationen von Strauss, Schmitt u.a. stellen also einen Hintergrund dar, der nicht nur den allgemeinen Kontext von Benjamins Denken bildet, sondern gegen welchen dessen ethisch-soziales Ziel, die „klassenlose Gesellschaft“, sich abhebt. Man darf nämlich nicht vergessen, dass es in diesen Interpretationen—vor allem bei Strauss—um einen „dreifachen Gegensatz“ (wenn man so sagen darf) ging: zwischen der jüdisch-christlichen Überlieferung und der antiken Tradition sowie zwischen letzterer und dem modernen politischen Denken.30 Während Cohen bemüht war, letzteres mit der Lehre der Propheten in Zusammenhang zu bringen und zu versöhnen, betont Strauss deren Gegensatz.31

Gegen irgendwelche Anziehung durch das antike Konzept des „richtigen Lebens“ scheint Benjamin immun zu sein. Sein Denkweg hat hier nur denjenigen der Inspiratoren der künftigen Neokonser-vativen gekreuzt. Umso weniger gibt es für ihn einen Ausweg aus der Klemme des modernen Denkens. Die Art und Weise, wie er sich davon freimacht, besteht paradoxerweise in seinem Umgang mit den Bildern, die eben das Gegenteil einer reinen „Sprache der Ideen“ sind.

III. Messianismus und Allegorie

Man wird sicher stutzen, wenn ich nun behaupte, dass Benjamin bei aller Radikalität dasselbe Ziel verfolgte wie Cohen, und dies ausge-

28Wiederum verweise ich auf das noch nicht abgeschlossene Projekt über die Ge-schichte der politischen Ideengeschichte der „Groupe de recherche sur la culture de Weimar“.

29Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), Stuttgart 1993, S. 23.

30Vgl. hierzu ganz ausdrücklich: Die Religionskritik des Hobbes (1933–34), in : Gesammelte Schriften, Bd. III: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften, Stuttgart u. Weimar 2001, S. 270.

31Vgl. The Rebirth of Classical Political Rationalism. An Introduction to the Philosophy of Leo Strauss, Essays and Lectures by Leo Strauss, Selected and introduced by Thomas L. Pangl, Chicago 1989. Strauss schrieb für die amerikanische Ausgabe der Religion der Vernunft ein langes Vorwort, das er kennzeichnenderweise auch in seine Studien über platonische Philosophie (Studies in Platonic Political Philosophy, Chicago 1985) aufnahm.

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rechnet in seinem großen Projekt Ursprung des deutschen Trauerspiels. Ich bin im Rahmen dieses Aufsatzes nicht imstande, die tieferen Zusammenhänge zwischen dem Trauerspiel-Projekt und der gesuchten Zusammenkunft zwischen Deutschtum und Judentum im Einzelnen zu rekonstruieren. Eines steht freilich fest: sie verdichten sich in der Auffassung der Sprache, in deren Verhältnis zur Theorie der Parabel, und sie kreisen um eine Reihe von Fragestellungen, die alle zum „messianischen Komplex“ in Benjamins Werk gehören. Wie bzw. in welcher Sprache können Schuld und Trauer bzw. kann die Klage ver-handelt werden? Worin besteht der Unterschied zwischen der Schuld (der Tragödie) und der Trauer (dem Trauerspiel)? Der Schlüssel ist wahrscheinlich in dem Satz enthalten, dass „die Philosophie nicht als Offenbarung zu reden, sich anmaßen darf“, das heißt, dass sie zwar an die Ursprache zu erinnern habe, dieses Erinnern aber in keiner-lei Weise ein „Assoziieren, in dem sich zum Wahrnehmungsbild das Bild der Idee gesellt[e]“ (GS I–3, 937), sein könne. Was hier in der Begrifflichkeit der „erkenntniskritischen Vorrede“ ausgedrückt wird, nämlich die Ablehnung sowohl von Bedeutung im gemeinen lingu-istischen Sinn als auch von jeglichem symbolischen Zusammenhang zwischen der Welt der Wahrnehmungen und derjenigen der Ideen, ist nichts anderes als der Kern der Allegorie.

Man wird aber auch—vielleicht mit einer gewissen Verwunderung—zur Kenntnis nehmen, dass Benjamin in einem Brief an Florens Christian Rang vom 18. November 1923 (in jenen Monaten wird Rang zum engeren brieflichen Vertrauten Benjamins, während die Briefe an Scholem viel kürzer werden) zwei Themen miteinander verbin-det: einerseits die „Theorie der Tragödie“, die im Mittelpunkt seines Austauschs mit Rang steht, und anderseits ein ziemlich pathetisches Bekenntnis zu seiner jüdischen Herkunft (er erwähnt u.a. Rathenaus Ermordung), das aber offensichtlich vor allem dazu dient, sich von Buber abzugrenzen:

Nicht zum ersten Male erfährst Du von mir, daß ich nur ungeheuer widerstrebend, nur mit tiefsten Bedenken, Deine Gefolgschaft mit meiner Person, mit dem Jüdischen in ihr vermehre. Nicht aus opportunistischen Erwägungen stammen diese Bedenken, sondern aus der jederzeit zwingend mir gegenwärtigen Einsicht: daß in den furchtbarsten Augenblicken eines Volkes einzig die zu reden berufen sind, die ihm angehören, nein mehr: die ihm im eminentesten Sinne angehören, die nicht allein das mea res agitur sagen, sondern meam propriam rem ago aussprechen dürfen. Reden soll der Jude sicher nicht. (Mir ist die tiefe Notwendigkeit in Rathenaus Tod immer klar gewesen, indessen der Landauers, der nicht geredet, sondern geschrieen hat, die Deutschen mit anderer Schwere bezichtigt.) Soll er

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mitreden? Das ist auch eine der Fragen und zwar die objektiv wichtigste, welche die Aufforderung zur Zuschrift in mir erweckt. Und sollte ich Dir in diesem Zusammenhange, in den es gehört, nicht sagen dürfen, daß eine Schrift, deren Wirkung mit so feinen Gewichten ausgewogen werden wird, wie es der Deinigen geschehen muß, sich Unrecht tut, indem sie nun gar den überall mitredenden Martin Buber unter ihr Gefolge aufnimmt. Hier, wenn irgendwo, sind wir im Kern der gegenwärtigen Judenfrage: daß der Jude heute auch die beste deutsche Sache für die er sich öffentlich einsetzt, preisgibt, weil seine öffentliche deutsche Äußerung notwendig käuflich (im tiefern Sinn) ist, sie kann nicht das Echtheitszeugnis beibringen. Ganz anders legitim können die geheimen Beziehungen zwischen Deutschen und Juden sich behaupten. (GB I, 368–69. Hervorgehoben von mir, G.R.)

Zugleich distanziert er sich sehr ausdrücklich vom Zionismus und, was ihn persönlich betrifft, von jeglichen Emigrationsplänen:

Die Frage der Auswanderung, um auf sie zurückzukommen, hat nur im Sinn dieser defensiven Antwort auf Deinen Verpflichtungsversuch für mich mit der jüdischen Frage zu tun. Im Übrigen nicht. Vielmehr resümieren deren Anforderungen für mich vorderhand sich darin: Hebräisch zu lernen. Wo ich dann auch sein werde, werde ich das Deutsche nicht vergessen. (GB I, 368–69)

Das deutsch-jüdische Verhältnis hebt sich für Benjamin in der über allen menschlichen Sprachen stehenden Sphäre der reinen Ursprache auf, wie aus seinem Urteil von 1917 über Scholems erste Übersetzungen hebräischer Texte unmissverständlich zu entnehmen ist:

Ihre Liebe zur hebräischen Sprache kann sich im Medium der deutschen nur als Ehrfurcht vor dem Wesen der Sprache und dem Worte überhaupt darstellen, nur in der Anwendung einer guten und reinen Methode. Das heißt aber: Ihre Arbeit bleibt eine apologetische, weil sie die Liebe und die Verehrung eines Gegenstandes nicht in seiner Sphäre ausdrückt. Es wäre nun prinzipiell nicht unmöglich daß zwei Sprachen in eine Sphäre eingehen: im Gegenteil das konstituiert alle große Übersetzung und bil-det die Grundlage der ganz wenigen großen Übersetzungswerke die wir haben. Im Geiste Pindars erschloß sich Hölderlin die gleiche Sphäre der deutschen und der griechischen Sprache: seine Liebe zu beiden wurde eine. (Ungewiß bin ich mir halte es aber fast für möglich daß man über Georges Dante-Übersetzung gleich Großes sagen kann) Ihnen jedoch ist deutsche Sprache nicht gleich nahe wie die hebräische und darum sind Sie nicht der berufene Übersetzer des hohen Liedes, während Sie es eben dem Geiste der Ehrfurcht und der Kritik verdanken daß Sie kein unberufner geworden sind. (17.7.1917, GB I, 370–71)

Ein paar Monate später heißt es in einem Brief vom 30.03.1918, in

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dem Benjamin eine Verbindung herstellt mit seinem Aufsatz „Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie“:

Ohne Beziehung zum hebräischen Schrifttum, das wie ich nun weiß der gegebne Gegenstand solcher Untersuchung ist, habe ich die Frage „wie Sprache überhaupt mit Trauer sich erfüllen mag und Ausdruck von Trauer sein kann“ in einem kurzen „Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie“ überschriebnen Aufsatz an das Trauerspiel herangebracht. Ich bin dabei im einzelnen und ganzen zu einer Einsicht gekommen die der Ihrigen nahe steht, habe mich aber dabei fruchtlos an einem Verhält-nis abgearbeitet, das ich erst jetzt in seinem wahren Sachverhalt zu ahnen beginne. Im Deutschen tritt nämlich die Klage sprachlich hervorragend nur im Trauerspiel hervor und dieses steht im Sinne des Deutschen der Tragödie fast nach. Damit konnte ich mich nicht versöhnen und sah nicht daß diese Rangordnung im Deutschen ebenso legitim ist wie im Hebräischen wahrscheinlich die entgegengesetzte.[ . . . ] Im Gegensatz zu Ihrem Ausgangspunkt hat der meine nur den einen Vorteil gehabt, mich von vornherein auf den fundamentalen Gegensatz von Trauer und Tragik hinzuweisen, den Sie nach Ihrer Arbeit zu schließen noch nicht erkannt haben. [ . . . ] [Ihre] Übersetzungen—über deren Relation zum Hebräischen ich zwar nicht urteilen kann, ihnen aber in dieser Hinsicht vollkommen vertraue—haben was ihre Relation zum Deutschen angeht letzten Endes den Charakter von Studien. Es handelt [sich] bei Ihren Übersetzungen offenbar nicht darum, einen Text für das Deutsche gleich-sam zu retten, sondern eher dar[um] ihn regelrecht auf das Deutsche zu beziehen. Sie empfangen in dieser Beziehung von der deutschen Sprache keine Eingebung. Ob sich die Klagelieder jenseits einer solchen Beziehung auf das Deutsche auch noch in diese Sprache übersetzen lassen vermag ich natürlich nicht zu entscheiden und Ihre Arbeit scheint es zu verneinen. (GB I, 443–44)

In aller Regel gibt man von dem Sprachaufsatz eine nicht nur metaphy-sische, sondern eine tendenziös religiöse Interpretation. Man übersieht dabei, dass er den Akzent auf den zweiten Akt der Schöpfung setzt, d.h. auf den Menschen und auf sein Vermögen, die Dinge zu benennen und somit „sein eigenes geistiges Wesen in seiner Sprache“ mitzuteilen ( GB II–1, 143). Das Anliegen ist ein anthropologisches und begründet nichts anderes als Benjamins philosophische Anthropologie: Es geht um „das sprachliche Wesen des Menschen“, das darin besteht, „dass er die Dinge benennt“, also dass Gott ihm gleichsam das Vermögen des Namengebens anvertraut und ihn somit als Erkennenden „zum Bilde des Schaffenden“ schuf (GB II–1, 149):

Gott hat den Menschen nicht aus dem Wort geschaffen, und er hat ihn nicht benannt. Er wollte ihn nicht der Sprache unterstellen, sondern im

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Menschen entließ Gott die Sprache, die ihm als Medium der Schöpfung gedient hatte, frei aus sich. Gott ruhte, als er im Menschen sein Schöpfe-risches sich selbst überließ. (GB II–1, 149)

Der Gegensatz, auf den es eigentlich ankommt, ist nicht der zwi-schen Gott und Mensch, sondern zwischen der Mitteilung „durch“ die Sprache und der Mitteillung „in“ der Sprache. Er liegt auch dem Unterschied zwischen dem auf die Mitteilung von etwas ausgerichteten „bürgerlichen“ Sprachgebrauch und der „metaphorischen“ Sprache, der Sprache in Bildern und Parabeln, zugrunde.

Benjamin bat am 11. August 1934 Scholem, ihm ein Buch von Chajim Nachman Bialik über „Hagadah und Halacha“ zugänglich zu machen. Auch Cohen betont—und dies mag wiederum ein Zeichen der tieferen Verwandtschaft zwischen seiner Auffassung des Juden-tums und derjenigen Benjamins sein—, dass die mündliche Lehre in der jüdischen Tradition genauso wichtig wie die geschriebene ist. „Das Buch ist abgeschlossen; der Mund bleibt offen; er darf für den Nationalgeist nicht verstummen.“ (RV 32–33)

All dies scheint mir auf eine Theorie des Symbols und der Deutung, auf Spuren, die nicht unmittelbar etwas bedeuten, aber nichtsdesto-weniger wichtig sind, hinzuweisen und Brecht hat es völlig richtig erfasst, als er Kafkas Schreiben als einen Konflikt zwischen Parabel und Vision charakterisierte.32 Das Gesetz ist selbst nur eine Allegorie des Sinns, weil es weder ein „Bild“ sein kann, noch darf.

Wie Tiedemann es auf die Formel gebracht hat, gibt es auch eine „geheime Verabredung“ zwischen den Allegorien des 17. Jahrhunderts im Trauerspielbuch und der Parabel des Engels in den „Thesen“—eine Verwandtschaft, die sich nicht von ungefähr im bildlichen Medium verdichtet: die „facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urland-schaft“ auf der einen Seite, der zum Himmel wachsende Trümmerhau-fen der neunten These auf der anderen. In beiden Fällen übersteigt die Erfahrung, um die es sich handelt, die Sprache der Begriffe; sie kann nur noch als Bild ausgedrückt werden, auf welches gestarrt wird.33

Wie wäre es nun, wenn der Engel sich plötzlich umdrehte? Die Notizen zum Kafka-Essay beklagen sich über die „Eliminierung der Gegenwart“ zugunsten der Vergangenheit und der Zukunft (II–3, 1205). Diese Umdrehung wäre dann durchaus mit der sehr mysteriösen dialektischen Umwälzung, die am Ende der Trauerspielbuchs als pon-

32Brief an Benjamin vom 5. Juli 1934.33Vgl. Tiedemann, „Historischer Materialismus . . . “, a.a.O., S. 82.

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deracion misteriosa bezeichnet wird, vergleichbar. Sie würde wetteifern mit der präsentischen Auffassung der Offenbarung bei Scholem und im konservativen jüdischen Denken. Wofür steht nämlich letztendlich die „Metapher“ des Engels? Auch hier muss man Tiedemann recht geben: nicht für den Messias selbst, wohl aber für den „historischen Materialisten“, und das heißt für den ernüchternden Blick, der mit den Trümmern konfrontiert ist und „zur Sache gehen“ muss.34

Das Moment der Entscheidung und Erlösung des Vergangenen bedeutet als „Stillstand“ der Dialektik einen Sprung aus dem Kon-tinuum einer sich ziellos wiederholenden Geschichte. Aber dieser Sprung unter dem Himmel der Geschichte ist kein Sprung in die Theo-logie, sondern ein Sprung aus der Geschichte der Unterdrücker, die gerade ein Kontinuum bildet, während diejenige der Unterdrückten „ein Diskontinuum [ist]“ (I–3, 1236). Die Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ sind alles andere als ein Dokument der Resignation. Aber die Komplexität der Verhältnisse zwischen Messianismus und Apokalyptik lassen mich allerdings daran zweifeln, dass man Benjamins Position durch eine klare Unterscheidung beider Diskurse deutlicher umreißen könnte und dass es überhaupt Sinn haben kann, um es in Hermann Cohens Worten auszudrücken, anders als philosophisch „den Knäuel der Motive zu entwirren, welche sich in der Idee des Messianismus verschlingen“ (RV 285). Dies gilt allenfalls, wenn man nur den „orthodoxen“, sprich: konservativen jüdischen Glauben an den Messias meint. Vielleicht nutzt Benjamin vielmehr sogar diese Komplexität aus. In den Thesen kreuzen sich apoka lyptische und messianische Elemente, die einander kontaminieren, ja zum Teil wider sprechen, und den Thesen, d.h. der letzten Geschichts hilosophie Benjamins, ihre faszinierende Eigenartigkeit verleihen.

Université Paris-Sorbonne

34Ebd., S. 86.