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................................................................................. Johannes Reich: Grundsatz der Wirt- schaftsfreiheit. Evolution und Dogmatik von Art. 94 Abs. 1 und 4 der Bundes- verfassung. Dike-Verlag, Zürich und St. Gallen 2011. 546 S., Fr. 108.–. ................................................................................. Wirtschaftsfreiheit – eine helvetische Spezialität Grundrecht und Grundsatz in der Bundesverfassung Konrad Sahlfeld Die 1874 in die Bun- desverfassung aufgenommene Wirt- schaftsfreiheit stellt ein helvetisches Spezifikum in der Verfassungsland- schaft dar. Im Unterschied zu anderen Ländern, die nur einzelne Bereiche wie die Berufswahlfreiheit garantieren, wurde die Wirtschaftsfreiheit in der Schweiz als umfassendes Grundrecht konzipiert. In der geltenden Bundes- verfassung von 1999 ist sie in einen Grundrechtsartikel (Art. 27 BV) und in einen Grundsatzartikel (Art. 94 BV) zweigeteilt, was wiederum bei keinem anderen Grundrecht der Verfassung der Fall ist. In seiner Basler Dissertation will Johannes Reich die Bedeutung gerade des Grundsatzartikels herausarbeiten und zugleich das Zusammenspiel der beiden Artikel konzeptionell in ein neues Gleichgewicht bringen. Reich postuliert eine zweifache Dimension des Grundsatzes der Wirtschaftsfrei- heit. Einerseits gehe es um den Grund- satz, dass der Staat Massnahmen zu unterlassen habe, die darauf gerichtet seien, einzelnen natürlichen oder juristi- schen Personen Gewinne zu ermög- lichen, die über den Markt nicht mög- lich wären. Andererseits gehe es darum, dass der gleiche Staat mit dem Prinzip der Wirtschaftsfreiheit staatliches Han- deln optimiere. Staatliche Monopole sieht der Autor dabei keineswegs grundsätzlich als Ver- stoss gegen den Grundsatz der Wirt- schaftsfreiheit an. Rein fiskalische Zwe- cke rechtfertigten jedoch keine recht- lichen Monopole, da sie generell gegen den Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit verstiessen. Wohltuend ist der Verzicht Reichs auf die Konstruktion eines Kerngehalts, der auch beim Grundrecht der Wirt- schaftsfreiheit nur zurückhaltend skiz- ziert wird. Denn das Verbot der Skla- verei und das Verbot der Zwangsarbeit werden ohnehin nur hartgesottene Ver- treter der Kerngehaltstheorie aus der Wirtschaftsfreiheit ableiten wollen. Ne- ben einer geschichtlichen Aufarbeitung der Wirtschaftsfreiheit, die deutlich mehr Raum einnimmt, als es der Unter- titel der Publikation vermuten liesse, liefert der Autor en passant auch noch einen Beitrag zur Methode der Verfas- sungsinterpretation. Insgesamt liegt ein Werk vor, mit dem sich auseinandersetzen sollte, wer sich mit der Freiheit der Wirtschaft nach schweizerischer Lesart beschäftigt. Mittwoch, 11. April 2012 Nr. 84 Neuö Zürcör Zäitung

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POLITISCHE LITERATUR 13Mittwoch, 11. April 2012 ^ Nr. 84 Neuö Zürcör Zäitung

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Mustafa Ideli, VirginiaSuter Reich, Hans-LukasKieser (Hg.): NeueMenschenlandschaften.Migration Türkei–Schweiz 1961–2011.Chronos-Verlag, Zürich2011. 404 S., Fr. 48.–.

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35 Schweizerin der Welt

Aussenpolitische Lebensläufe

Die Schweiz ist zwar keineGrossmacht. Sie hat aber immerwieder Persönlichkeiten hervor-gebracht, die auf der Bühne derinternationalen Beziehungenwichtige Beiträge geleistethaben. Benedikt von Tscharnerwidmet ihnen eine Art Lexikon.

lzb. ^ Von Charles Pictet de Roche-mont, dem Schweizer Unterhändler amWiener Kongress von 1814/15, ist injedem anständigen Geschichtsunter-richt irgendwann einmal die Rede.Doch wie steht es mit Albert Gallatin,Johann Konrad Kern oder Max Huber?Man hat vielleicht von ihnen gehört,doch die Kenntnisse über ihren Beitragin der Welt sind wohl zumeist beschei-den. Diese Lücke füllt der ehemaligeBotschafter Benedikt von Tscharnermit seinem Buch «Inter Gentes», einerSammlung von 35 Porträtskizzen, diesich in erster Linie als Dienstleistungfür die Besucher des Auslandschweizer-Museums auf Schloss Penthes in Pregny(Genf) versteht.

Diplomaten und DenkerVon Tscharner, der selbst wichtige Pos-ten in der Schweizer Diplomatie beklei-dete und zuletzt in Paris als Botschaftertätig war, weiss, dass sein Buch letztlich

Stückwerk ist. «Jede Auswahl ist will-kürlich, oft schwierig», schreibt er in derEinleitung. In der Tat: Warum von denlebenden Diplomaten Heidi Tagliavinioder Carla Del Ponte, nicht aber FranzBlankart oder Michael Ambühl porträ-tiert werden, bleibt etwas schleierhaft.Und auch IKRK-Präsident Jakob Kel-lenberger hätte eigentlich gut in dieseSammlung gepasst, die übrigens be-wusst nicht nur Berufsdiplomaten, son-dern auch Staatsmänner, Denker undPublizisten umfasst. Gleichwohl bleibtdie Zusammenstellung erhellend, weilsie das ganze Spektrum schweizerischenWirkens im und für das Ausland zeigt:das humanitäre Engagement ebensowie die vermittelnde oder aussenwirt-schaftliche Diplomatie. Und mit Denisde Rougemont wird auch einer derwenigen grossen Europäer der Schweizgewürdigt. Gemeinsam ist den 35 Skiz-zen, dass sie auf knappem Raum dasWesentliche umreissen – Literaturanga-ben am Ende jedes Kapitels verweisenauf weiterführende Informationen.

Privilegierter StandortEs zeichnet das Buch aus, dass derAutor nicht verkrampft und künstlichnach Gemeinsamkeiten und dem gros-sen Ganzen hinter den einzelnen Le-bensläufen sucht. «Bedeutet der Um-stand, dass es sich hier um Schweizerhandelt, dass diese Persönlichkeiten et-was teilen: eine gewisse Idee des Staa-tes, des öffentlichen Lebens, der Welt?»,fragt von Tscharner – um sogleich zurelativieren. Er wage zwar die Behaup-tung, dass «der schweizerische Ur-sprung und die besondere politischeKultur dieses Landes auf viele dieserAkteure Einfluss gehabt haben»; dochwo und wie, sei «schwer mit Genauig-keit zu sagen».

Immerhin: Der Umstand, Schweizerzu sein oder Schweizer Wurzeln zuhaben, impliziert laut von Tscharner,dass man über einen privilegierten Be-obachtungsstandort verfügt. «Die Weltkennen, sie verstehen und mitunter so-gar, mehr oder weniger diskret, die Poli-tik der anderen beurteilen, das habenwir uns [. . .] nie nehmen lassen.»

Emanzipationder Tschinggen

Ein Aspekt der Ausländerdebatte

C. W. ^ In seinem Buch über die italie-nische Einwanderung und die 1970 inder Abstimmung über die «Schwarzen-bach-Initiative» kulminierenden Aus-einandersetzungen will Angelo Maio-lino speziell herausarbeiten, wie die ab-schätzig «Tschinggen» genannten Mi-granten begannen, sich selber politischzu artikulieren und sich aus ihrer passi-ven, anonymen Rolle zu emanzipieren.

Im Zentrum steht der Verband derColonie Libere (FCLIS), dessen effek-tive Stärke allerdings im Unklarenbleibt. In einer sozialistischen Traditionnahm die Federazione eine internatio-nalistisch-klassenkämpferische Stellungein. Auf fremdenfeindliche Tendenzenantwortete sie also nicht ihrerseits innationalen Kategorien (etwa mit Kla-gen über «die» Schweizer), sondern be-tonte den Gegensatz zwischen Ausbeu-tern und Ausgebeuteten und die Spal-tung der Letzteren durch die Gegnerder «Überfremdung». In den schwei-zerischen Gewerkschaften waren dieAusländer lange nur schwach vertreten.Starke Bündnispartner hatten die Co-lonie Libere indes stets in Italien, inder Gewerkschaft CGIL und indirekt inder kommunistischen Partei. Die Linkewarf der Regierung in Rom vor, dieAuswanderung zum Teil ihres Wirt-schaftskonzepts gemacht zu haben –statt für genügend Arbeitsplätze zu sor-gen –, sich zugleich aber nicht um dieEmigrierten zu kümmern.

Welche Wirkung die FCLIS mit ihrerschlecht zur schweizerischen Sozialpart-nerschaft passenden Politik erzeugte,bleibt offen. Eine bessere Stellung er-hielten die Migranten, als Italien in derVerhandlung zum Freihandelsabkom-men mit der EWG Druck aufsetzte.

Maiolino spannt den Bogen vonden «Italienerkrawallen» (1896) bis zurAusschaffungsinitiative der SVP. SeinePosition versteckt er nicht. Überpro-portional zu den historischen Auf-schlüssen, wenn nicht sogar hinderlicherscheinen die vielen theoretischenBetrachtungen, etwa über National-populismus und «die Konstruktion desFremden».

Angelo Maiolino: Als die Italiener noch Tschinggenwaren. Der Widerstand gegen die Schwarzenbach-Initiative. Rotpunktverlag, Zürich 2011. 288 S., Fr. 38.–.

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Eidgenössische Kommis-sion für Drogenfragen(Hg.): Drogen als Gesell-schaftspolitik. Ein Rück-blick auf dreissig JahreSchweizer Drogenpolitik.Seismo-Verlag, Zürich 2012.155 S., Fr. 30.–.

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Johannes Reich:Grundsatz der Wirt-schaftsfreiheit. Evolutionund Dogmatik von Art. 94Abs. 1 und 4 der Bundes-verfassung.Dike-Verlag, Zürich undSt. Gallen 2011. 546 S.,Fr. 108.–.

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Wirtschaftsfreiheit –eine helvetische SpezialitätGrundrecht und Grundsatz in der Bundesverfassung

Konrad Sahlfeld ^ Die 1874 in die Bun-desverfassung aufgenommene Wirt-schaftsfreiheit stellt ein helvetischesSpezifikum in der Verfassungsland-schaft dar. Im Unterschied zu anderenLändern, die nur einzelne Bereiche wiedie Berufswahlfreiheit garantieren,wurde die Wirtschaftsfreiheit in derSchweiz als umfassendes Grundrechtkonzipiert. In der geltenden Bundes-verfassung von 1999 ist sie in einenGrundrechtsartikel (Art. 27 BV) und ineinen Grundsatzartikel (Art. 94 BV)zweigeteilt, was wiederum bei keinemanderen Grundrecht der Verfassungder Fall ist.

In seiner Basler Dissertation willJohannes Reich die Bedeutung geradedes Grundsatzartikels herausarbeitenund zugleich das Zusammenspiel derbeiden Artikel konzeptionell in einneues Gleichgewicht bringen. Reichpostuliert eine zweifache Dimensiondes Grundsatzes der Wirtschaftsfrei-heit. Einerseits gehe es um den Grund-satz, dass der Staat Massnahmen zuunterlassen habe, die darauf gerichtetseien, einzelnen natürlichen oder juristi-schen Personen Gewinne zu ermög-lichen, die über den Markt nicht mög-lich wären. Andererseits gehe es darum,dass der gleiche Staat mit dem Prinzipder Wirtschaftsfreiheit staatliches Han-deln optimiere.

Staatliche Monopole sieht der Autordabei keineswegs grundsätzlich als Ver-stoss gegen den Grundsatz der Wirt-

schaftsfreiheit an. Rein fiskalische Zwe-cke rechtfertigten jedoch keine recht-lichen Monopole, da sie generell gegenden Grundsatz der Wirtschaftsfreiheitverstiessen.

Wohltuend ist der Verzicht Reichsauf die Konstruktion eines Kerngehalts,der auch beim Grundrecht der Wirt-

schaftsfreiheit nur zurückhaltend skiz-ziert wird. Denn das Verbot der Skla-verei und das Verbot der Zwangsarbeitwerden ohnehin nur hartgesottene Ver-treter der Kerngehaltstheorie aus derWirtschaftsfreiheit ableiten wollen. Ne-ben einer geschichtlichen Aufarbeitungder Wirtschaftsfreiheit, die deutlichmehr Raum einnimmt, als es der Unter-titel der Publikation vermuten liesse,liefert der Autor en passant auch nocheinen Beitrag zur Methode der Verfas-sungsinterpretation.

Insgesamt liegt ein Werk vor, mitdem sich auseinandersetzen sollte, wersich mit der Freiheit der Wirtschaft nachschweizerischer Lesart beschäftigt.

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Benedikt von Tscharner:Inter Gentes. Staatsmän-ner, Diplomaten, politi-sche Denker.Editions de Penthes, Pre-gny/Geneve 2012. 384 S.,Fr. 18.–. Auch auf Franzö-sisch und Englisch erhältlich.

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Berauschte GesellschaftDie Drogen-Kommission ehrt Francois van der Linde

Urs Hafner ^ Warum ist der Konsumvon Cannabis strafbar, nicht mehr aberder von Absinth? Weshalb darf sich derManager mit Neuro-Medikamentenaufputschen, der Müssiggänger abersich nicht mit Opiaten zudröhnen?

Süchte sind etwas Irrationales. Auchdie staatlichen Versuche zur Regelungder als Suchtmittel klassifizierten Stoffesind nicht immer rational motiviert.Umso wichtiger ist es für die Drogen-politik, dass sie sich auf besonnene Stim-men stützen kann. Das war hierzulandewährend der letzten dreissig Jahre meistder Fall. Die Eidgenössische Kommis-sion für Drogenfragen (EKDF) hatunter Präsident Francois van der Lindewesentlich dazu beigetragen, dass dieSchweiz ab Mitte der 1980er Jahre eineinternational beachtete, wegweisendeDrogenpolitik realisierte, die auf den in-zwischen berühmten vier Säulen beruht:Prävention, Therapie, Schadensminde-rung, Repression. Diese Politik ist umsobemerkenswerter, als weltanschaulichewie kulturelle Differenzen in Drogen-fragen besonders hart aufeinanderpral-len. Van der Linde hat sie offenbarimmer wieder integrativ überbrückt.

Die 14-köpfige EKDF, die vom Bun-desrat eingesetzt wird, hat den Ende2011 erfolgten Rücktritt ihres Präsiden-ten zum Anlass genommen, ihm einekleine Festschrift zu widmen. Der Stolzauf das Erreichte ist in mehreren derqualitativ unterschiedlichen Beiträgeunüberhörbar, die mehrheitlich vonehemaligen und heutigen Kommissions-mitgliedern verfasst worden sind (unteranderen Sandro Cattacin, Ruth Drei-

fuss, Martin Killias, Ambros Uchtenha-gen, Thomas Zeltner, Genevieve Zieg-ler). Auslöser für den Durchbruch dernationalen Drogenpolitik waren die un-übersehbare Verelendung auf Platzspitzund Letten in Zürich sowie die Ausbrei-tung von Aids. Um die staatliche Ab-gabe von Heroin und sterilen Spritzennicht zu verhindern, negierten Polizei-organe den damaligen Buchstaben desGesetzes und tolerierten Behörden zivi-len Ungehorsam. Diese Praxis, die inmehreren Ländern Nachahmung gefun-den hat, führte zeitweilig zu Spannun-gen mit den drogenpolitischen Uno-

Gremien, die unter dem Einfluss derUSA eine restriktive Schiene befuhren.

Die Festschrift greift mit dem Neuro-Enhancement auch eine neue drogen-politische Herausforderung auf und legtdie divergierenden Haltungen inner-halb der EKDF zur Entkriminalisierungdes Cannabis-Konsums offen. MehrereBeiträge deuten an, dass die schweizeri-sche Drogenpolitik der letzten Jahre anStringenz und visionärem Schwung ver-loren habe. Die Drogenpolitik von mor-gen werde heute im Ausland erprobt.

POLITISCHE LITERATUR 13Mittwoch, 11. April 2012 ^ Nr. 84 Neuö Zürcör Zäitung

Und es kamen TürkenDie Migration türkischer Staatsbürger in die Schweiz seit den sechziger Jahren

Mit der 1960 einsetzenden Zu-wanderung von Türken – wirt-schaftlich erwünscht, politischmisstrauisch beäugt – beleuchtet«Neue Menschenlandschaften»ein wenig erörtertes Kapitel derSchweizer Migrationsgeschichte.

Ümit Yoker

Die Türken gehören unter den Einwan-derergruppen in der Schweiz durchausnicht zu den grössten – kontrovers dis-kutiert wurde ihre Anwesenheit abervon Anfang an. Heute leben etwa70 000 türkische Staatsbürger im Land,rechnet man Eingebürgerte hinzu, steigtdie Zahl auf rund 120 000. Wurden sieim Rahmen von Studien über die Inte-gration immer wieder thematisiert, soerhielt die Geschichte der türkischenZuwanderung bisher wenig Aufmerk-samkeit. Diese Lücke will der in derReihe der Stiftung ForschungsstelleSchweiz-Türkei erschienene Band«Neue Menschenlandschaften» nun mithistorischen, soziologischen und an-thropologischen Beiträgen wenn nichtschliessen, zumindest verkleinern.

Arbeitssuche und FluchtZu Beginn der sechziger Jahre emigrier-ten Türken erstmals in grösserer Zahl indie Schweiz. Hatte sich in den Jahrzehn-ten zuvor und zu Zeiten des Osmani-schen Reiches vor allem die Elite,zwecks Hochschulausbildung oder auspolitischen Gründen, für einen Aufent-halt hierzulande und insbesondere inder Westschweiz interessiert, begannennun Menschen aus tieferer sozialerSchicht und aus dem ländlich und kur-disch geprägten Osten des Landes zuzu-wandern, um in Zentren der Maschi-nen- und Textilindustrie wie Zürich,Solothurn, Glarus und Aargau zu arbei-ten und zu leben. Zwischen 1960 und1970 stieg die Zahl der türkischenStaatsbürger in der Schweiz von knapp650 auf rund 12 000.

Die Zuwanderung türkischer Ar-beitskräfte erfolgte am Anfang mehr-heitlich auf private sowie auf Initiative

der Wirtschaft hin; politisch war dieEinwanderung weder geplant noch ge-wollt und stand sie schon bald im Zei-chen der «Überfremdungs»-Debatte,wie Olivier Fahir Tezgören in seinemBeitrag schreibt. Die Schweiz schloss –im Gegensatz zu Deutschland – mit derTürkei kein Anwerbeabkommen ab,wie sie es mit Italien und Spanien getanhatte. Der rechtliche Status der türki-schen Arbeiter war dementsprechendoft unklar, wobei sie beschäftigendeUnternehmen von Behördenseite langewenig zu befürchten hatten.

Von der Arbeitsmigration aus demromanischen Südeuropa unterschiedsich die Zuwanderung aus der Türkei

auch dadurch, dass – als Folge des Mili-tärputsches gegen die Linke sowie desKonfliktes mit der verbotenen Arbei-terpartei Kurdistans (PKK) – türkischeStaatsbürger ab den achtziger Jahrenvermehrt als politische oder wirtschaft-liche Flüchtlinge den Weg in dieSchweiz zu suchen begannen – eine Ten-denz, die durch die Einführung derVisumspflicht 1982 verstärkt wurde undden Anteil kurdischer, alevitischer undauch armenischer Migranten ansteigenliess. Hinzu kamen der Familiennachzugund, seit Beginn der neunziger Jahre,die Heiratsmigration.

Vom Türken zum MuslimWährend bei der Berichterstattung überTürken und Kurden in der hiesigenPresse selbst zu Zeiten der «Überfrem-dungs»-Debatte die Religion kaum eineRolle spielte, sollte sich dies nach demZusammenbruch des Kommunismusund insbesondere nach den Anschlägenvom 11. September 2011 in New Yorkändern, wie Giuseppe de Simone erläu-

tert. Der stärkeren Medienpräsenz desThemas Islam folgte eine Politisierungder Debatte bezüglich öffentlicher Prä-senz der Muslime in der Schweiz. Diesesahen sich aufgrund weltpolitischer Er-eignisse zunehmend einem «diffusenKlima des Misstrauens» ausgesetzt undwurden nicht zuletzt als homogenerBlock betrachtet.

Dabei, schreibt Oliver Wäckerlig imKapitel zur Debatte um den Bau desMinaretts in Wangen bei Olten und zurwenig später lancierten Minarettinitia-tive, erfolge die Identifikation der hierlebenden Muslime vor allem entlangethnisch-nationaler Grenzlinien. Nichtzuletzt habe das Fehlen eines umfassen-den Dachverbandes der Muslime dafürgesorgt, dass den Minarett-Gegnern vorder nationalen Abstimmung kein über-regionaler Widerstand erwuchs. In sei-nem Beitrag zur Institutionalisierungdes Islam und zu den damit verbunde-nen Chancen und Risiken (zum Bei-spiel, konservativen Kräften in die Hän-de zu spielen oder die lokale Verwurze-lung der Religion zu vernachlässigen)weitet Ayhan Kaya die Diskussion aufweitere Länder Europas aus.

Fokus auf türkische KonflikteDie politische Partizipation ist bei Tür-ken oft stärker ausgeprägt als bei ande-ren Ausländergruppen und zum Teilauch grösser als bei Schweizern. Sowaren türkische Staatsbürger – die sichim Durchschnitt eher links positionie-ren – 1998 proportional stärker in Ge-werkschaften vertreten als Schweizer,wie Oliver Strijbis schreibt. Deutlichgrösser noch ist jedoch das politischeEngagement der Migranten im Zusam-menhang mit Konflikten im Herkunfts-land; in den achtziger und neunzigerJahren manifestierte sich dieses vorallem in Form von Demonstrationenvon Angehörigen der kurdischen Min-derheit gegen die Militärregierung oderim Zusammenhang mit der PKK. Zueiner solchen Fokussierung der Aktivi-täten trug und trägt aber nicht zuletztder restriktive Zugang der Migrantenzum Schweizer Staatsbürgerrecht be-ziehungsweise zur Teilnahme an derhiesigen Politik bei.

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Mustafa Ideli, VirginiaSuter Reich, Hans-LukasKieser (Hg.): NeueMenschenlandschaften.Migration Türkei–Schweiz 1961–2011.Chronos-Verlag, Zürich2011. 404 S., Fr. 48.–.

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35 Schweizerin der Welt

Aussenpolitische Lebensläufe

Die Schweiz ist zwar keineGrossmacht. Sie hat aber immerwieder Persönlichkeiten hervor-gebracht, die auf der Bühne derinternationalen Beziehungenwichtige Beiträge geleistethaben. Benedikt von Tscharnerwidmet ihnen eine Art Lexikon.

lzb. ^ Von Charles Pictet de Roche-mont, dem Schweizer Unterhändler amWiener Kongress von 1814/15, ist injedem anständigen Geschichtsunter-richt irgendwann einmal die Rede.Doch wie steht es mit Albert Gallatin,Johann Konrad Kern oder Max Huber?Man hat vielleicht von ihnen gehört,doch die Kenntnisse über ihren Beitragin der Welt sind wohl zumeist beschei-den. Diese Lücke füllt der ehemaligeBotschafter Benedikt von Tscharnermit seinem Buch «Inter Gentes», einerSammlung von 35 Porträtskizzen, diesich in erster Linie als Dienstleistungfür die Besucher des Auslandschweizer-Museums auf Schloss Penthes in Pregny(Genf) versteht.

Diplomaten und DenkerVon Tscharner, der selbst wichtige Pos-ten in der Schweizer Diplomatie beklei-dete und zuletzt in Paris als Botschaftertätig war, weiss, dass sein Buch letztlich

Stückwerk ist. «Jede Auswahl ist will-kürlich, oft schwierig», schreibt er in derEinleitung. In der Tat: Warum von denlebenden Diplomaten Heidi Tagliavinioder Carla Del Ponte, nicht aber FranzBlankart oder Michael Ambühl porträ-tiert werden, bleibt etwas schleierhaft.Und auch IKRK-Präsident Jakob Kel-lenberger hätte eigentlich gut in dieseSammlung gepasst, die übrigens be-wusst nicht nur Berufsdiplomaten, son-dern auch Staatsmänner, Denker undPublizisten umfasst. Gleichwohl bleibtdie Zusammenstellung erhellend, weilsie das ganze Spektrum schweizerischenWirkens im und für das Ausland zeigt:das humanitäre Engagement ebensowie die vermittelnde oder aussenwirt-schaftliche Diplomatie. Und mit Denisde Rougemont wird auch einer derwenigen grossen Europäer der Schweizgewürdigt. Gemeinsam ist den 35 Skiz-zen, dass sie auf knappem Raum dasWesentliche umreissen – Literaturanga-ben am Ende jedes Kapitels verweisenauf weiterführende Informationen.

Privilegierter StandortEs zeichnet das Buch aus, dass derAutor nicht verkrampft und künstlichnach Gemeinsamkeiten und dem gros-sen Ganzen hinter den einzelnen Le-bensläufen sucht. «Bedeutet der Um-stand, dass es sich hier um Schweizerhandelt, dass diese Persönlichkeiten et-was teilen: eine gewisse Idee des Staa-tes, des öffentlichen Lebens, der Welt?»,fragt von Tscharner – um sogleich zurelativieren. Er wage zwar die Behaup-tung, dass «der schweizerische Ur-sprung und die besondere politischeKultur dieses Landes auf viele dieserAkteure Einfluss gehabt haben»; dochwo und wie, sei «schwer mit Genauig-keit zu sagen».

Immerhin: Der Umstand, Schweizerzu sein oder Schweizer Wurzeln zuhaben, impliziert laut von Tscharner,dass man über einen privilegierten Be-obachtungsstandort verfügt. «Die Weltkennen, sie verstehen und mitunter so-gar, mehr oder weniger diskret, die Poli-tik der anderen beurteilen, das habenwir uns [. . .] nie nehmen lassen.»

Emanzipationder Tschinggen

Ein Aspekt der Ausländerdebatte

C. W. ^ In seinem Buch über die italie-nische Einwanderung und die 1970 inder Abstimmung über die «Schwarzen-bach-Initiative» kulminierenden Aus-einandersetzungen will Angelo Maio-lino speziell herausarbeiten, wie die ab-schätzig «Tschinggen» genannten Mi-granten begannen, sich selber politischzu artikulieren und sich aus ihrer passi-ven, anonymen Rolle zu emanzipieren.

Im Zentrum steht der Verband derColonie Libere (FCLIS), dessen effek-tive Stärke allerdings im Unklarenbleibt. In einer sozialistischen Traditionnahm die Federazione eine internatio-nalistisch-klassenkämpferische Stellungein. Auf fremdenfeindliche Tendenzenantwortete sie also nicht ihrerseits innationalen Kategorien (etwa mit Kla-gen über «die» Schweizer), sondern be-tonte den Gegensatz zwischen Ausbeu-tern und Ausgebeuteten und die Spal-tung der Letzteren durch die Gegnerder «Überfremdung». In den schwei-zerischen Gewerkschaften waren dieAusländer lange nur schwach vertreten.Starke Bündnispartner hatten die Co-lonie Libere indes stets in Italien, inder Gewerkschaft CGIL und indirekt inder kommunistischen Partei. Die Linkewarf der Regierung in Rom vor, dieAuswanderung zum Teil ihres Wirt-schaftskonzepts gemacht zu haben –statt für genügend Arbeitsplätze zu sor-gen –, sich zugleich aber nicht um dieEmigrierten zu kümmern.

Welche Wirkung die FCLIS mit ihrerschlecht zur schweizerischen Sozialpart-nerschaft passenden Politik erzeugte,bleibt offen. Eine bessere Stellung er-hielten die Migranten, als Italien in derVerhandlung zum Freihandelsabkom-men mit der EWG Druck aufsetzte.

Maiolino spannt den Bogen vonden «Italienerkrawallen» (1896) bis zurAusschaffungsinitiative der SVP. SeinePosition versteckt er nicht. Überpro-portional zu den historischen Auf-schlüssen, wenn nicht sogar hinderlicherscheinen die vielen theoretischenBetrachtungen, etwa über National-populismus und «die Konstruktion desFremden».

Angelo Maiolino: Als die Italiener noch Tschinggenwaren. Der Widerstand gegen die Schwarzenbach-Initiative. Rotpunktverlag, Zürich 2011. 288 S., Fr. 38.–.

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Eidgenössische Kommis-sion für Drogenfragen(Hg.): Drogen als Gesell-schaftspolitik. Ein Rück-blick auf dreissig JahreSchweizer Drogenpolitik.Seismo-Verlag, Zürich 2012.155 S., Fr. 30.–.

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Johannes Reich:Grundsatz der Wirt-schaftsfreiheit. Evolutionund Dogmatik von Art. 94Abs. 1 und 4 der Bundes-verfassung.Dike-Verlag, Zürich undSt. Gallen 2011. 546 S.,Fr. 108.–.

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Wirtschaftsfreiheit –eine helvetische SpezialitätGrundrecht und Grundsatz in der Bundesverfassung

Konrad Sahlfeld ^ Die 1874 in die Bun-desverfassung aufgenommene Wirt-schaftsfreiheit stellt ein helvetischesSpezifikum in der Verfassungsland-schaft dar. Im Unterschied zu anderenLändern, die nur einzelne Bereiche wiedie Berufswahlfreiheit garantieren,wurde die Wirtschaftsfreiheit in derSchweiz als umfassendes Grundrechtkonzipiert. In der geltenden Bundes-verfassung von 1999 ist sie in einenGrundrechtsartikel (Art. 27 BV) und ineinen Grundsatzartikel (Art. 94 BV)zweigeteilt, was wiederum bei keinemanderen Grundrecht der Verfassungder Fall ist.

In seiner Basler Dissertation willJohannes Reich die Bedeutung geradedes Grundsatzartikels herausarbeitenund zugleich das Zusammenspiel derbeiden Artikel konzeptionell in einneues Gleichgewicht bringen. Reichpostuliert eine zweifache Dimensiondes Grundsatzes der Wirtschaftsfrei-heit. Einerseits gehe es um den Grund-satz, dass der Staat Massnahmen zuunterlassen habe, die darauf gerichtetseien, einzelnen natürlichen oder juristi-schen Personen Gewinne zu ermög-lichen, die über den Markt nicht mög-lich wären. Andererseits gehe es darum,dass der gleiche Staat mit dem Prinzipder Wirtschaftsfreiheit staatliches Han-deln optimiere.

Staatliche Monopole sieht der Autordabei keineswegs grundsätzlich als Ver-stoss gegen den Grundsatz der Wirt-

schaftsfreiheit an. Rein fiskalische Zwe-cke rechtfertigten jedoch keine recht-lichen Monopole, da sie generell gegenden Grundsatz der Wirtschaftsfreiheitverstiessen.

Wohltuend ist der Verzicht Reichsauf die Konstruktion eines Kerngehalts,der auch beim Grundrecht der Wirt-

schaftsfreiheit nur zurückhaltend skiz-ziert wird. Denn das Verbot der Skla-verei und das Verbot der Zwangsarbeitwerden ohnehin nur hartgesottene Ver-treter der Kerngehaltstheorie aus derWirtschaftsfreiheit ableiten wollen. Ne-ben einer geschichtlichen Aufarbeitungder Wirtschaftsfreiheit, die deutlichmehr Raum einnimmt, als es der Unter-titel der Publikation vermuten liesse,liefert der Autor en passant auch nocheinen Beitrag zur Methode der Verfas-sungsinterpretation.

Insgesamt liegt ein Werk vor, mitdem sich auseinandersetzen sollte, wersich mit der Freiheit der Wirtschaft nachschweizerischer Lesart beschäftigt.

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Benedikt von Tscharner:Inter Gentes. Staatsmän-ner, Diplomaten, politi-sche Denker.Editions de Penthes, Pre-gny/Geneve 2012. 384 S.,Fr. 18.–. Auch auf Franzö-sisch und Englisch erhältlich.

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Berauschte GesellschaftDie Drogen-Kommission ehrt Francois van der Linde

Urs Hafner ^ Warum ist der Konsumvon Cannabis strafbar, nicht mehr aberder von Absinth? Weshalb darf sich derManager mit Neuro-Medikamentenaufputschen, der Müssiggänger abersich nicht mit Opiaten zudröhnen?

Süchte sind etwas Irrationales. Auchdie staatlichen Versuche zur Regelungder als Suchtmittel klassifizierten Stoffesind nicht immer rational motiviert.Umso wichtiger ist es für die Drogen-politik, dass sie sich auf besonnene Stim-men stützen kann. Das war hierzulandewährend der letzten dreissig Jahre meistder Fall. Die Eidgenössische Kommis-sion für Drogenfragen (EKDF) hatunter Präsident Francois van der Lindewesentlich dazu beigetragen, dass dieSchweiz ab Mitte der 1980er Jahre eineinternational beachtete, wegweisendeDrogenpolitik realisierte, die auf den in-zwischen berühmten vier Säulen beruht:Prävention, Therapie, Schadensminde-rung, Repression. Diese Politik ist umsobemerkenswerter, als weltanschaulichewie kulturelle Differenzen in Drogen-fragen besonders hart aufeinanderpral-len. Van der Linde hat sie offenbarimmer wieder integrativ überbrückt.

Die 14-köpfige EKDF, die vom Bun-desrat eingesetzt wird, hat den Ende2011 erfolgten Rücktritt ihres Präsiden-ten zum Anlass genommen, ihm einekleine Festschrift zu widmen. Der Stolzauf das Erreichte ist in mehreren derqualitativ unterschiedlichen Beiträgeunüberhörbar, die mehrheitlich vonehemaligen und heutigen Kommissions-mitgliedern verfasst worden sind (unteranderen Sandro Cattacin, Ruth Drei-

fuss, Martin Killias, Ambros Uchtenha-gen, Thomas Zeltner, Genevieve Zieg-ler). Auslöser für den Durchbruch dernationalen Drogenpolitik waren die un-übersehbare Verelendung auf Platzspitzund Letten in Zürich sowie die Ausbrei-tung von Aids. Um die staatliche Ab-gabe von Heroin und sterilen Spritzennicht zu verhindern, negierten Polizei-organe den damaligen Buchstaben desGesetzes und tolerierten Behörden zivi-len Ungehorsam. Diese Praxis, die inmehreren Ländern Nachahmung gefun-den hat, führte zeitweilig zu Spannun-gen mit den drogenpolitischen Uno-

Gremien, die unter dem Einfluss derUSA eine restriktive Schiene befuhren.

Die Festschrift greift mit dem Neuro-Enhancement auch eine neue drogen-politische Herausforderung auf und legtdie divergierenden Haltungen inner-halb der EKDF zur Entkriminalisierungdes Cannabis-Konsums offen. MehrereBeiträge deuten an, dass die schweizeri-sche Drogenpolitik der letzten Jahre anStringenz und visionärem Schwung ver-loren habe. Die Drogenpolitik von mor-gen werde heute im Ausland erprobt.

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SCHWEIZ 17Donnerstag, 7. April 2011 ! Nr. 82 Neuö Zürcör Zäitung

Hat die Konkordanz Zukunft?

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1993 – cherchez la femmerz. ! Im Januar 1993 kündigt der Neuen-burger Sozialdemokrat Rene Felber sei-nen Rücktritt aus dem Bundesrat an. DieLosung der SP ist rasch gefunden: cher-chez la femme. Die Genfer Gewerk-schafterin und Nationalrätin ChristianeBrunner rückt ins Blickfeld. AnfangFebruar wird ein anonymer Brief publik,in dem Gerüchte über Brunners Privat-leben kolportiert werden. Die Betrof-fene dementiert. Die SP-Fraktion re-agiert auf die einsetzende Schlamm-

schlacht, indem sie Christiane Brunneroffiziell zur Bundesratskandidatin kürt.Die Skepsis gegenüber der unkonventio-nellen Genfer Politikerin überwiegt imParlament gleichwohl. Am 3. März wähltdie Bundesversammlung den Neuenbur-ger SP-Nationalrat Francis Matthey zumNachfolger Rene Felbers. Buhrufe über-tönen den Applaus. Während vor demBundeshaus wütender Protest laut wird,ersucht Matthey die Bundesversamm-lung um Bedenkzeit. Die Proteste gegen

die Nichtwahl Brunners reissen nicht ab.Die SP reagiert, indem sie die Doppel-kandidatur Christiane Brunner / RuthDreifuss präsentiert. Der Druck derStrasse verfehlt seine Wirkung nicht.Eine Woche nach seiner Wahl erklärtFrancis Matthey, er verzichte auf dasAmt. An seiner Stelle wird mit RuthDreifuss die «Zwillingsschwester» Brun-ners gewählt. Die auf dem Bundesplatzversammelten Frauen brechen in Jubelaus, und Freudentränen fliessen.

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Facetten der Konkordanzrz./se. ! Mit dem Beitrag von Altbun-desrat Adolf Ogi beschliessen wir dieDebatte, die in diesen Spalten unter demTitel «Hat die Konkordanz Zukunft?»geführt worden ist. Als Auslaufmodellwird die schweizerische Form des Regie-rens von keiner Seite bezeichnet. Deut-lich zutage getreten ist jedoch, dass dieAuffassungen zur künftigen Ausgestal-tung der Konkordanzdemokratie starkdivergieren. Folgenden Gastautoren sei

an dieser Stelle gedankt: Iwan Ricken-bacher, Hanspeter Kriesi, AndreasAuer, Daniel Schwarz, Thomas Held undHans Rentsch, Adrian Vatter, LeonhardNeidhart, Urs Altermatt, Pascal Couche-pin, Hans Peter Fagagnini, Pascal Scia-rini, Christoph Blocher, Peter Boden-mann und Adolf Ogi.

«Institutionalisierte Verantwortungslosigkeit»Die Konkordanz als Hemmschuh für eine Regierungsreform

Der Bundesrat müsse dringendreformiert werden. Dieser Appellertönt seit Jahren. Dass dieChancen einer Regierungsreformklein sind, liegt nicht zuletztan der Konkordanzdemokratie.

rz. ! Seit vielen Jahren wird auf eid-genössischer Ebene an einer Regie-rungsreform laboriert. UnzähligeStaatsrechtler und Arbeitsgruppen ha-ben sich schon Gedanken gemacht, wiedas Bundesratskollegium gestärkt wer-den könnte. Die in den neunziger Jah-ren angepeilte Einführung zusätzlicherStaatssekretäre lehnte das Stimmvolk1996 ab. Darauf wurde versucht, einesogenannte Zwei-Kreise-Regierung zuetablieren. Dieses Modell sah vor, demBundesrat eine untere Ebene von «de-legierten Ministern» beizufügen. DieIdee scheiterte 2003 im Ständerat, derstattdessen eine Aufstockung des Bun-desrats auf neun Mitglieder empfahl.Diese Variante wiederum verwarf der

Nationalrat. So scheiterte auch dieserAnlauf für eine Staatsleitungsreform.

Im Zuge der Finanzkrise und derLibyen-Affäre raffte sich der Bundesratim Oktober 2010 auf, den Dauerbren-ner Regierungsreform zu reanimieren.Kernpunkte des jüngsten Versuchs sinddie Verlängerung des Bundespräsidi-ums auf zwei Jahre sowie die Schaffungzusätzlicher Staatssekretäre. Stände-ratspräsident Hansheiri Inderkum (Uri,cvp.) hat unlängst für dieses Modell eine

Lanze gebrochen. Es liege aber nichtallein am Bundesrat, sich für eineRegierungsreform zu engagieren:«Ohne eine Wiederbelebung der Kon-kordanz im parlamentarischen Betrieb,insbesondere im Nationalrat, kann auchein reformierter Bundesrat nicht erfolg-reich sein», mahnte Inderkum.

Zu den Befürwortern einer Regie-rungsreform gehört auch der ehemaligeBaselbieter FDP-Ständerat Rene Rhi-now. In seiner soeben erschienenen Stu-

die «Wie weiter mit dem Bundesrat?»geht er der Frage nach, was der Landes-regierung dienlich sein könnte. DerHandlungsbedarf sei ausgewiesen,meint der emeritierte Basler Staats-rechtsprofessor. Es seien namentlich«die Vergrösserung und Chaotisierungdes Politikfeldes, die Internationalisie-rung, die Konfliktualisierung und Pola-risierung sowie die Mediatisierung, dienach einer Staatsleitungsreform rufen».

Rhinow verhehlt allerdings nicht,dass die Konkordanzdemokratie in ei-nem Spannungsverhältnis zur Verant-wortung stehe. Ein Preis der Konkor-danz sei, dass sich die politische Verant-wortung oft nicht eindeutig zuordnenlasse. Kritiker der Konkordanz hätten indiesem Zusammenhang auch schon voneiner «institutionalisierten Verantwor-tungslosigkeit» gesprochen.

Rhinow zeichnet von der zurzeit ge-lebten Konkordanz ein düsteres Bild.Die Haltung der Polparteien zur Kon-kordanzdemokratie sei zwiespältig.Diese sei aber darauf angewiesen, dasssich Bundesratsparteien nicht als ei-

gentliche Oppositionsparteien gebärde-ten und sogar so weit gingen, die «herr-schenden Kräfte» pauschal zu attackie-ren oder gar lächerlich zu machen.«Letztlich gefährdet die Polarisierungdie Konkordanz in ihrem Wesenskern»,lautet Rhinows Fazit.

Eine schlechte Prognose für die Kon-kordanz ist kein guter Nährboden füreine Regierungsreform. Wenn alle Bun-desratsparteien zunehmend von denVolksrechten als den klassischen Oppo-sitionsinstrumenten Gebrauch machen,wenn die Bereitschaft zu Regierungs-verantwortung in den Wahlen regel-mässig abgestraft wird: Wer soll dann imBundesrat mehr Verantwortung über-nehmen? Welche Partei würde der Kon-kurrenz freiwillig ein gestärktes Bun-despräsidium übertragen wollen?

Rene Rhinow liegt nicht falsch, wenner sagt: «Reformbedarf und Reform-chancen klaffen eklatant auseinander.»

Rene Rhinow: Wie weiter mit dem Bundesrat? Dike-Verlag, Zürich 2011. 61 S., broschiert, Fr. 32.–.

Meinung & Debatte, Seite 25

Konkordanz heisst Grundwerte teilenDie einvernehmliche Suche nach Lösungen als Auftrag des Bundesrats und der Regierungsparteien. Von Adolf Ogi

Grosse Oppositionsparteien hät-ten in der Schweiz keinen Platz,findet Adolf Ogi. Fünf Bundes-räte würden genügen. Und erfordert die Rückbesinnung aufden konstruktiven «Geist desSchilthorns».

Früher war es noch viel schwieriger.Wenn ich nur an die bundesrätlichenBudgetdiskussionen im Jahr 2000 zu-rückdenke. Da gab es unüberwindbareKnackpunkte. Bildung, Sozialwerke, Si-cherheit, Mobilität, Forschung, Inter-nationales – überall standen Mehraus-gaben bzw. weniger Sparanstrengungenan, überall war Wachstum angesagt,Wachstum im Ausgeben von öffent-lichem Geld! Nur schon in der Bundes-verwaltung fanden zunächst zwischenden Departementen eigentliche papie-rene Grabenkämpfe und Scharmützelum einzelne Budgetposten statt. Resul-tat: lauter offene Fragen und unent-schiedene Punkte.

Dann kam die Bundesratssitzung.Sechs Bundesräte, eine Bundesrätinund die Bundeskanzlerin sassen hinterihren Pültchen mit je rund 3 KilogrammAkten vor sich aufgeschichtet. Lauterselbstgebaute kleine Festungen. Wir ka-men einfach nicht weiter. Keiner gabnach, der Finanzminister schon garnicht und nicht einmal die sanftmütigeInnenministerin.

Als Bundespräsident wurde mir klar:In diesem von einem schweren Kron-leuchter erdrückten Renaissance-Zim-mer, in welchem einem dazu noch dieStuckdecke auf den Kopf zu fallendrohte – hier drin würden wir kaum diegemeinsamen Lösungen für unsere Fra-gen, für die Probleme des Landes fin-den. Denn es war damals auch nochhöchst unüblich, Differenzen im Bun-desrat einfach per Abstimmung zu «er-ledigen». Das war eben noch schwieri-ger und auch anspruchsvoller, früher.Man musste sich Zeit nehmen für dieDiskussionen im Bundesrat.

Das SchilthornNun ist es ja unter anderem die Aufgabedes Bundespräsidenten, die Verhand-lungen des Bundesrates vorzubereitenund in strittigen Fragen zu schlichten,wie es das Gesetz vorschreibt. ZumGlück schreibt das Gesetz nicht auchnoch vor, wie das getan werden soll. Ichordnete eine ausserordentliche Bundes-rats-Klausursitzung extra muros an undfuhr zu diesem Zweck mitsamt der Kol-legin und den Kollegen, mit der Bundes-

kanzlerin, der Vizekanzlerin, dem Vize-kanzler und mit zwei Bundesweibelnauf das Schilthorn. Zuerst unternahmenwir eine knapp einstündige Bergwande-rung. Bereits in der Luftseilbahn wurdees merklich stiller in der Runde. Jederspürte die Erhabenheit der Natur, derBerge. Die grossartige Landschaft nahmuns in ihren Bann.

Oben angelangt, fand die höchsteBundesratssitzung – auf 2970 Meterüber Meer – statt. Wir sprachen nur zag-haft über so alltägliche Dinge wie die bisvor kurzem heiss umstrittenen Budget-

positionen. Alle spürten es, wie unwich-tig, ja sogar banal in dieser stillen Weltviele menschliche und alle politischenDinge auf einmal wurden. Nach undnach fanden wir, auf diesem Gipfel, füreinstmals unüberbrückbare Fragennicht nur Antworten, sondern wir fan-den gemeinsam erarbeitete Lösungen.

Wenn wir später, zurück in den Nie-derungen des Bundesratszimmers, wie-der einmal unumstössliche Hindernissevorfanden, pflegte uns die Innenminis-terin manchmal mit dem Zwischenruf«Schilthorn, Schilthorn!» daran zu erin-

nern, dass wir als Siebnergremium dochdie ureigene Aufgabe hatten, uns zu-sammenzuraufen und das Einverneh-men unter uns herzustellen.

Einvernehmen, Zutrauen, Überein-stimmung: Das sind die tragenden Ele-mente der Konkordanz. Natürlich ist eswichtig, dass alle wesentlichen Parteienihrer Stärke gemäss im Bundesrat ver-treten sind. Noch wichtiger aber ist derGrundwertekonsens, den die Mitgliederdes Bundesrates ungeachtet ihrer par-teipolitischen Herkunft ins Bundesrats-zimmer mitbringen müssen. Jeder will

sich mit dem andern auseinander-, aberdarauf wieder ins Einvernehmen setzen.Jeder traut dem andern zu, dass dieser,ebenso wie er selbst, im Interesse desLandes an der Suche nach jener Lösungmithilft, in welcher schliesslich die poli-tische Übereinstimmung erzielt wird.Dies ist die Mechanik einer kollegialenEntscheidung im Bundesrat. Sie ist alsPrinzip von der Bundesverfassung vor-geschrieben. Von Abstimmungen, vonMehr- und Minderheiten im Bundesratsteht dort nichts.

Der AuftragDer Bundesrat hat einen Auftrag. DieBundesverfassung umschreibt ihn so:Er ist die oberste leitende und vollzie-hende Behörde des Bundes. Auch voneiner Regierung steht nichts in der Ver-fassung. Der Bundesrat leitet, das istetwas anderes. Er leitet vor allem dieBundesverwaltung. Eine «Regierungs-reform» müsste dort ansetzen. DerBundesrat muss durch Staatssekretärebesser vertreten werden. Die Bundes-verwaltung muss ihn optimal unterstüt-zen und stärker entlasten. Für eine sol-che Reform braucht es nicht mehr, son-dern sogar weniger Bundesräte. Fünfwürden genügen, um die politischeStrategie zu entwickeln. Damit der Auf-trag besser erfüllt werden kann, musssich aber der Bundesrat endlich zueiner echten Neubildung der Departe-mente durchringen. Das jetzige Un-gleichgewicht ist nicht nur der Auf-tragserfüllung, sondern auch der Kolle-gialität und der Konkordanz im Bun-desrat abträglich.

Das VolkDer Bundesrat hat die Beschlüsse desVolkes zu vollziehen. Das Volk ist derSouverän und nicht die Opposition, wiekürzlich an dieser Stelle alt BundesratChristoph Blocher behauptet hat. Daswäre ja noch schöner: Dann hätten wirein eigenartiges Regierung-Opposition-System. Der Bundesrat wäre die Regie-rung und das Volk die Opposition. Soweit darf es nicht kommen. GrosseOppositionsparteien haben in unsererpolitischen Kultur keinen Platz. Geradeweil der Bundesrat die Volksentscheideumzusetzen hat, sollen alle tragendenParteien in ihm vertreten sein und sichdort voll engagieren. Und der Bundes-rat wird dann Erfolg haben, wenn er vonKonkordanz und Kollegialität und demGrundwertekonsens geprägt ist... . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .

Adolf Ogi war von 1988 bis 2000 Bundesrat. Von 1984bis 1987 amtete er als Präsident der SVP Schweiz.

www.nzz.ch/dossiers

Umjubelte Zwillingsschwestern: Ruth Dreifuss und Christiane Brunner am 10. März 1993 auf dem Bundesplatz. LUKAS LEHMANN / KEY