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Helmut Reiser Eine konstruktivistische Sichtweise des Globe 28103 Themenzentrierte Interaktion »negnurötS anders gesehen« 24. Jahrgang, 1/2010, Seite 5665 Psychosozial-Verlag ZEITSCHRIFTENARCHIV

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Helmut Reiser

Eine konstruktivistische Sichtweise desGlobe

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Themenzentrierte Interaktion»negnurötS anders gesehen«24. Jahrgang, 1/2010, Seite 56–65Psychosozial-Verlag

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Theoretische Beiträge

Zum AutorHelmut Reiser, Jg. 1942, Prof. (em) Dr., Lehrbeauftragter RCI, Supervisor (DGSv, DAGG).Kontakt: Hannoversche Str. 5, 31515 Wunstorf, Tel./AB/Fax 05031–74848, [email protected], www.helmut.reiser.phil.uni-hannover.de

Die „werkstatt 3“ des RCI (Januar 2008) beschäftigte sich mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Die Ergebnisse dieser Diskussion werden hier fortgeführt. Wie kann die konstruktivistische Sicht-weise, die Luhmann vor allem in seinem Spätwerk ausgearbeitet hat, Anregungen geben, den Globe-Begriff zu präzisieren und die methodische Lücke zu schließen, die mit dem Globe-Begriff derzeit gegeben ist? Die methodische Aufgabe der Leitung fo-kussiert sich aus konstruktivistischer Sicht auf das Beobachten und Analysieren der Konstruktionen von Umwelt, die in der Kommunikation entstehen.

A topic oft the work in the „werkstatt 3“ of RCI (January 2008) was the systemic theory of Niklas Luhmann. The constructivistic view of the world and the social environment, which Luhmann worked out in his late works, may be helpful to clarify the term globe and to close the methodical gap. The constructivistic view brings into focus how the participants in an interacting system construct the environment of system. The methodical tasks for the leaders are to observe and to analyze the constructions of environment which arise in the communication.

Anlass

Der Anlass für die folgenden Überlegungen ist die intensive Arbeit in der „werkstatt 3“ der Weiterbildung des RCI International im Januar 2008 zum Thema: „Der vierte Faktor – das unbekannte Wesen“. Die Intention der „werkstatt 3“ war es, sozial-strukturelle Verhältnisse, die im Begriff des „Globe“ als viertem Faktor mit angesprochen sind, näher ins Auge zu fassen und sich auseinander-zusetzen mit Gesellschaftstheorien und Gesellschaftsmodellen, um zu sehen, wie weit sie sich als anschließbar an die TZI erweisen. Ich hatte die Aufgabe, in einem Vortrag der Frage nachzugehen: „Welche Anregungen gibt die Systemtheorie Niklas Luhmanns für die Konstruktion des „Globe“ in der Weiterentwicklung der

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1 Zur ausführlicheren Diskus-sion der Vereinbarkeit von TZI und Systemtheorie si-ehe Reiser (2006, 101–112; 2004).

2 Vgl. Nelhiebel (2009, 135) und Dlugosch (2009, 239).

TZI ?“1 In den anschließenden drei Arbeitsgruppen entstanden weitreichende Überlegungen für eine Weiterentwicklung der TZI zum zentralen Begriff des „Globe“. Ich greife in diesem Beitrag die dort begonnenen Fäden auf und spinne sie weiter im Sinne eines Gedankenexperiments: „Was wären die Konsequenzen für den Begriff und die Handlungspotentiale des Globe, wenn ich dem Konstruktivismus von Niklas Luhmann folgen würde?“

Als konstruktivistisch können alle erkenntnistheoretischen Sicht-weisen bezeichnet werden, die davon ausgehen, dass der Mensch die objektive Wirklichkeit nicht wahrnehmen kann, sondern sich eine Vorstellung von der Realität selbst konstruiert. TZI vertritt in dieser weiten Definition eine konstruktivistische Sicht, da sie davon ausgeht, dass jede Person ihre eigenen Umwelt- und Welt-sichten konstruiert; darin gründet auch der Aufbau der Theorie auf „Axiomen“, die nicht als objektive Realität vorgestellt werden, sondern als gemeinsam geteilte individuelle Entscheidungen. N. Luhmann ist ein Vertreter des sogenannten „Radikalen Konstruk-tivismus“. Der von mir gewählte Titel: „Eine konstruktivistische Sichtweise…“ drückt aus, dass es auch andere konstruktivistische Sichtweisen geben könnte. Das hier entwickelte Gedankenexpe-riment erhebt keinen Anspruch auf alleinige Richtigkeit, fordert jedoch nachdrücklich dazu auf, die Unschärfen und Handlungs-unsicherheiten, die der Globe-Begriff in der TZI bereit hält, zu untersuchen und die hier vorgelegte Alternative zu prüfen.

Zur Diskussion des Globe-Begriffs und seiner Handlungsoptionen in der TZI

Obwohl die Berücksichtigung der Einflüsse von außerhalb der Gruppe auf das Gruppengeschehen und auf einzelne Personen in der Gruppe ein Charakteristikum, ja geradezu ein Markenzeichen der TZI ist, bleibt der Begriff Globe in der TZI „theoretisch un-bestimmt“, unscharf und mehrdeutig, so dass die TZI in diesem Punkt als „unvollständig“ kritisiert wird2. Nelhiebel schließt sich in seinem Beitrag für das Handbuch Themenzentrierte Interak-tion der Forderung an, dass der Globe-Begriff präzisiert werden muss (Nelhiebel, 2009, 136). Er analysiert drei Bedeutungen des Globe-Begriffs: Globe als Kontext verstanden im Sinne bestimmter Umwelt-, Situations- oder Milieumerkmale (ebd., 136 f.); Globe als die sozialen Systeme, die das Interaktionssystem Gruppe umgeben, und Globe als „Kultur“ (ebd.138).

Nelhiebel verweist auch auf die weitergehende Bedeutung, die Ruth Cohn dem Globe-Begriff zuschreibt, als Kosmos oder Universum (ebd. 135), als Menschheit, als planetarische und as-tronomische Gegebenheiten, denn nach Ruth Cohn hängt alles

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Theoretische Beiträge

mit allem und allen zusammen. In einem Artikel aus dem Jahre 1988 gab sie den Inhalt einer von ihr angeleiteten Meditation zum Abschluss eines „Wendezeit“-Kurses wieder, mit der sie die „Wichtigkeit und Begrifflichkeit des Globe-Aspekts in einer kurzen Darstellung zur Sprache bringen“ (Cohn, 1988, 3) wollte. Sie betitelte diesen Beitrag: „Wir sind Teil des Universums und wir nehmen Anteil: Der Globe“. Es heißt darin: „Jede/r erlebt das Universum von der eigenen Warte her. Ich nenne das Universum vom eigenen Lebenspunkt her erlebt, den ‚Globe’“ (ebd., 3). Der Globe-Begriff wird hier gefüllt mit subjektivem emotionalem Erleben und „über die Ich-Ecke“ abgehandelt (Nelhiebel, 2009, 136). Im nächsten Abschnitt wechselt sie den Ausgangspunkt „Ich“ zum Ausgangspunkt „Menschheit“: „Das Universum, vom Zent-rum der Menschheit aus erfahren, ist unser aller Globe. Jetzt ist es für uns alle dieser Planet und 1986. … Kein Mensch mit seinen eigenen Erfahrungen und seinen Sichtweisen kann aus dem Globe der Menschheit herausfallen… Doch jeder Mensch hat eigene Standpunkte“ (Cohn, 1988, 4). In der Gruppenaktivität, die sich dieser Meditation anschloss, zeichnete Ruth Cohn den Globe als eine vielschichtige transparente Kugel, „deren äußerstes Zeichen das Symbol der Unendlichkeit war“ (ebd. 5). Sie bat die Gruppe, „beliebig viele Faktoren als Punkte, die uns beeinflussen und die wir beeinflussen können, einzusetzen“ und berichtet von einer schwindelerregenden „Fülle und Geschwindigkeit des Zugerufe-nen“, das stundenlang fortgesetzt hätte werden können (ebd.).

Ich habe im Herbst 1983 eine Meditation zu diesem Thema unter Leitung von Ruth Cohn mitgemacht und war einerseits be-eindruckt von der Intensität des Erlebens von Verantwortung und von Solidarität für das „Ökosystem Erde und die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen“ (Nelhiebel, 2009, 139). Mir wurde da-mals aber auch als politisch in der Ökobewegung tätige Person sehr deutlich, dass diese „universelle“ Fassung des Globe-Begriffs auf ei-ner subjektiveren Ebene angesiedelt ist als eine strittige Diskussion ökologischer Problemstellungen oder eine Klärung kultureller und sozialer Unterschiede: Der Dissens zwischen Teilnehmern, ob die Kernenergie eine fürchterliche Bedrohung der Menschheit mit sich bringt oder ob sie eine Rettungsmöglichkeit vor der Erderwär-mung beinhaltet, erhält durch diese Einfühlung in den universellen Globe keine sachlichen Argumente. Der Fokus der TZI liegt auf einer anderen Werte-Ebene. Sie fordert eine Form der Diskussion, die von Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und gegenseitigem Respekt bestimmt ist. Keiner Person soll die Ernsthaftigkeit der persönlich erlebten Verantwortung abgesprochen werden. Insofern nimmt TZI nicht nur eine subjektbezogene Position ein, sondern auch eine Meta-Position zu Entscheidungsprozessen. Für das Verhältnis der Person zu Globe-Faktoren gilt das in der TZI-Systematik bislang

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3 Walter Lotz trägt dieser Kon-notation des Globe-Begriffs Rechnung und benennt 1997 in seiner Beschreibung der visionären Ebene der TZI Bewusstheit, Verantwort-lichkeit und Entwicklung als visionäre Grundlagen des Globe (Lotz, 1997, 32; vgl. Zitterbarth, 2009, 213). Später verweist Lotz auf den visionären Gehalt des Globe als transzendenten Ort eines guten Lebens (2003, 110; vgl. Röhling, 2009).

4 Der Zugang zu Luhmanns philosophischem Spätwerk wurde mir ermöglicht durch die Abhandlung von Michael Urban: „Form, System und Psyche“ (2009).

nicht durchgesetzte „dritte Postulat“, das in einer Formulierung von Ruth Cohn lautet: „Verantworte dein Tun und dein Lassen, persönlich und gesellschaftlich“ (Cohn, 1994).3

Die von Lotz herausgearbeitete Interpretation einer visionären Ebene des Aussagesystems der TZI zeigt, dass wissenschaftliche Ein-deutigkeit und begriffliche Schärfe für den Erfolg eines Konzepts nicht unbedingt erforderlich sind. Im Gegenteil könnte Vieldeu-tigkeit und Unschärfe einer Vision sehr angemessen sein, da vielge-staltige persönliche Füllungen und Assoziationen möglich sind. Was den Versuch erforderlich macht, den Globe-Begriff zu präzisieren, ist die Lücke in der Methodik. Der Globe soll als vierter Faktor be-achtet werden, weist aber eine derart schwindelerregende Fülle von einzelnen Punkten auf und ist derart subjektiv, dass seine Beachtung in der „dynamischen Balance“ einer unendlichen Beliebigkeit aus-gesetzt ist. Zu jedem Eckpunkt des methodischen Dreiecks verfügt die TZI über reichliches und erprobtes Handlungswissen: Über Ich und Wir ohnehin durch Tradition und spezielle Ausbildungskurse und über das Es muss jede Person, die mit TZI arbeitet, entweder schon durch ihren Beruf kundig sein oder sich besonders kundig gemacht haben. Handlungswissen ist stets auf eine Fokussierung, das heißt auch Reduktion, möglicher Wissensbestände angewie-sen. Der Globe bleibt ein Sammeltopf unbekannter und mitunter unerkennbarer Einzelpunkte. Charismatische Leiter/innen werden davon nicht abgehalten werden, Globe-Aspekte herauszufinden und zu thematisieren, die zünden. Aber ein systematisches und erlernbares methodisches Handlungswissen über die Einbeziehung des Globe in das Interaktionssystem des Dreiecks kann auf dieser Basis nicht entwickelt werden.

Es erscheint angebracht, sich auf die konstruktivistische Grund-lage der TZI zu besinnen und den Globe-Begriff aus dieser Sicht zu untersuchen.

Einige Positionen der Systemtheorie von Niklas Luhmann

In der Theorieentwicklung Luhmanns im Verlaufe seines Lebens können verschiedene Stadien unterschieden werden4. Als Aus-gangspunkt kann die Grundlegung der Systemtheorie auf den Radikalen Konstruktivismus gelten. Danach werden Systeme nicht mehr als objektive Gegebenheiten in der Realität betrach-tet, sondern als Konstruktionen eines Beobachters. Die Umwelt besteht aus Wahrnehmungen eines Beobachters. Gleichwohl wird davon ausgegangen, dass für Systeme bestimmte Gesetzmäßigkeiten gelten, wie zum Beispiel die Selbstregulation und die operative Schließung, die nachfolgend erläutert werden.

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Theoretische Beiträge

5 Das in der These von der vollständigen operationalen Schließung des Systems Ausgeschlossene wird wie-der hereingeholt durch die ergänzenden Annahmen über strukturelle Kopplung. Siehe Luhmann 1993.

Dies ist eine gewollte Paradoxie. Die Komplexität der Theorie entsteht dadurch, dass Aussagen, die zunächst ausgeschlossen wur-den, durch weitere Aussagen wieder in die Theorie hereingeholt werden und so Paradoxien entstehen. Hier wird es zum Beispiel ausgeschlossen, dass es objektive, d.h. außerhalb der Wahrneh-mungen eines Beobachters bestehende, Gesetzmäßigkeiten im Operieren eines Systems gibt, und zugleich werden Thesen über die Operationen von Systemen aufgestellt. In jedem dieser Fälle in der Theoriekonstruktion wird die Wiederkehr des zunächst Ausgeschlossenen jedoch präzise bezeichnet und analysiert. Betont wird dadurch die Notwendigkeit jeder Theoriekonstruktion, sich der eigenen Kontingenz bewusst zu sein. Kontingenz bezeichnet in diesem Sprachgebrauch die Ungewissheit einer Aussage, die jedoch nicht zufällig ist, sondern in dieser Theoriekonstruktion notwendig. („Es ist für diese Theoriekonstruktion erforderlich, man könnte es aber auch ganz anders machen; es entstände dann aber eine andere Theorie.“) In diesem Sinne sind auch die Cohnschen drei Axiome sowohl paradox wie kontingent.

Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Übertragung der These von Maturana, dass biologische Systeme sich selbst erschaffen, auf soziale Systeme. Dadurch wird die These der Selbstregulation eines Systems gesteigert zur Annahme der Autopoiese (Selbsterzeugung) eines sozialen (und auch psychischen) Systems. Das System erschafft sich deshalb selbst, weil seine Operationen auf seinen vorherigen Operationen aufbauen und von diesen bestimmt sind, nicht aber von Interventionen von außen, und weil die aktuellen Operationen wiederum die nachfolgenden Operationen bestimmen werden.

Die Übernahme der Autopoiese-These in die Theorie sozialer und psychischer Systeme hat zur Folge, dass sich aus der System-theorie in zweierlei Hinsicht eine Differenztheorie entwickelt. Die erste Differenz entsteht (durch den Beobachter) zwischen System und Umwelt. Das System ist gegenüber der Umwelt operational geschlossen, aber kausal und funktional offen5. In zweiter Hin-sicht besteht eine Differenz zwischen sozialen und psychischen Systemen. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen, nicht aus Personen. Kommunikationen sind soziale Operationen, nicht psychische. Psychische und soziale Operationen sind different, auch wenn sie strukturell gekoppelt sind. Das Interaktionssystem einer Gruppe ist ein soziales System, das heißt es besteht aus einer Aneinanderkettung von Kommunikationen. Inwieweit psychi-sche Operationen damit gekoppelt sind, ist für das Operieren des sozialen Systems nicht relevant. Obwohl diese Aussagen zunächst überraschen mögen, sind sie in der Gruppentheorie nicht völ-lig neu. Die Matrix in der psychoanalytischen Gruppentheorie von Foulkes entsteht aus der Verknüpfung der Elemente, die die Teilnehmer in die Gruppe einbringen und wirkt determinierend

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6 George Spencer-Brown, The Laws of Form.

für die weiteren Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen und Äußerungen in der Gruppe. Obwohl hier anders als bei Luh-mann über das Unbewusste eine Kopplung von Sozialem und Psychischen angenommen wird, ist doch das Grundmuster eines selbstregulativen Geflechts vergleichbar.

Eine Paradoxie der Beobachter- und Differenztheorie besteht darin, dass einerseits die Welt als grundsätzlich intransparent und nicht beobachtbar angenommen wird, andererseits Aussagen über das Verhältnis eines Systems zu seiner Umwelt gemacht werden. Der Beobachter, in unserem Falle das Interaktionssystem, das ge-meinsame Konstruktionen über seine Umwelt entwickelt, kann die eigenen Beobachtungen nicht beobachten. Ein Beobachter der 2. Ordnung, in unserem Falle etwa ein Beobachter der Beob-achtungen des Interaktionssystems, kann wiederum seine blinden Flecken in der Beobachtung der Beobachtung nicht erkennen; erst bei einem Beobachter der 3. Ordnung, der beobachtet, wie der Beobachter der 2. Ordnung die Beobachtungen der Be-obachter 1. Ordnung beobachtet, besteht eine Chance, dass alle Beobachtunghintergründe und Kriterien bekannt werden, was nicht heißt, dass die Beobachtung „richtiger“ werden würde, nur reflektierter. Dies ist eine Struktur, die in Therapie, Beratung und Gruppenarbeit, nicht nur im systemischen Konzept, allgemein bekannt und angewendet wird, etwa in der Konstellation: Klient – Therapeut-Supervisor oder Gruppenteilnehmer- Leiter- Koleiter oder Supervisor.

In seinem Spätwerk beschäftigt sich Luhmann zunehmend mit der Erkenntnistheorie. Er greift dabei zurück auf einen ur-sprünglich mathematischen Text6, der in seiner philosophischen Relevanz der Frage nachgeht, wie es möglich sein kann, die Welt zu beobachten. Die Welt gilt als intransparent und unbeobachtbar. Aussagen über die Umwelt werden möglich durch eine erste Un-terscheidung: die Unterscheidung zwischen System und Umwelt, die in den unmarkierten Raum (der unbeobachtbaren Welt) eine Markierung macht: durch eine Benennung, die zugleich eine Unterscheidung und eine Grenze zwischen System und Umwelt setzt, das heißt einen Ausschnitt aus der Welt (kontingent) mar-kiert. Weitere Unterscheidungen, die Unterscheidungen erzeugen, schließen sich an die erste Unterscheidung an, so dass das Sys-tem autopoietisch in einem fortlaufenden Prozess seine Umwelt erzeugt. Die Theorie unterscheidet zwischen der so markierten Umwelt und der unbeobachtbaren Welt, dem unmarkierten Raum. Aufschlussreich ist, dass Luhmann die Tradition für den Gedanken eines unmarkierten, weil unbeobachtbaren Raums nicht in der Mathematik findet, sondern in der Theologie. „Realität“ ist für ihn das Jenseits von Unterscheidung und Nicht-Unterscheidung, das Jenseits der Unterscheidung von Umwelt und System, das

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Theoretische Beiträge

unbeobachtbare ganz Andere. Er findet seinen erkenntnistheo-retischen Gewährsmann in Nikolaus von Kues (1401–1464), für den Gott die unendliche Entfaltung der Einheit der Welt ist. Nach Luhmann heißt das, was damals Gott hieß, heute Welt (zitiert nach Urban, 2009, 46). Sprachlich muss der Unterschied zwischen Umwelt (dem Benannten und Unterschiedenen) und Welt (dem unmarkierten Raum) festgehalten werden.

Ich nehme an, dass die persönliche religiöse Überzeugung Ruth Cohns, die sich stets auf den Pantheismus Goethes berief, mehr an der Selbstoffenbarung des göttlichen Prinzips in der Schöpfung orientiert ist als an dem Gedanken des Jenseits von Allem, was gesagt oder gedacht werden kann. Jedenfalls betonen ihre Aussagen zum Globe das Einfühlbare in den Kosmos, der sich im Leben widerspiegelt. Die Kommunikative Theologie von Matthias Scharer weist beide Komponenten auf: In seinem Schaubild der Denk- und Handlungsbewegung in der Kommunikativen Theologie (Scharer, 2009, 220) ist am basalen Platz des Globes notiert: „Selbstmitteilung Gottes in Schöpfung, Geschichte und Menschwerdung; Gott als nicht verfügbares Geheimnis.“ Die beiden Perspektiven sind durch ein Semikolon getrennt und verbunden.

Anregungen für eine Präzisierung des Globe-Begriffs

Der kurze Überblick über einige relevante Theoriepositionen Luhmanns fördert neben den Unterschieden auch Parallelen zu TZI zu Tage. Parallelen könnten gesehen werden im konstruk-tivistischen Ansatz, in der Bedeutung der Beobachtung 2. und 3. Ordnung, in der Betrachtung des Kommunikationssystems der Gruppe als Einheit (Wir). Überraschend war für mich die Pa-rallele, dass die erkenntnistheoretische Frage bei Ruth Cohn und bei Niklas Luhmann letztlich in Gebiete einmündet, die von der Theologie besetzt sind. Unterschiede zwischen den Positionen der TZI und der Luhmannschen Theorie sehe ich vor allem in der apodiktischen Trennung, die Luhmann zwischen sozialen und psychischen Systemen vornimmt. Dies entspricht nicht unseren Erfahrungen in Arbeits-und Lerngruppen und am wenigsten in Therapiegruppen. Die Orientierungen der Erklärungsweisen sind sehr unterschiedlich: In der TZI geht es um das Anteilnehmen, in der Luhmannschen Theorie um die Möglichkeit einer rationalen Beschreibung gesellschaftlicher Entwicklungen. Dennoch können wichtige Anregungen für eine theoretische und handlungsprakti-sche Präzisierung des Globe-Begriffs benannt werden:

1. In einer konstruktivistischen Sichtweise steht der Begriff Globe als inhaltlich noch nicht gefüllter Platzhalter und als ständige Erinnerung für die These, dass alle Kommunikationen in einem

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7 Dennoch können Aufschlüs-selungen spezifischer Glo-be-Aspekte in bestimmten Beufsfeldern sehr anregend sein, siehe Langmaack, 1991, 70–75; Greving, 2003, 67.ff.

Lern-, Arbeits- oder Lebenszusammenhang von den Konstrukti-onen geprägt sind, die sich in der Kommunikation als Weltsichten und Aussagen über die Umwelt herausbilden. Der Globe (als Umwelt) wird konstruiert in der Kommunikation der Beteilig-ten. Die Leitfrage für die Leitung heißt deshalb: Wie entsteht im Interaktionssystem die Vorstellung von Umwelt? Aus konstrukti-vistischer Sicht „ist“ der Globe nicht, sondern er wird von einem bestimmten Ort aus so gesehen und so konstruiert7. So sehen Lehrer das System Schule anders als Eltern oder Schüler. Würde ich mit Schulverwaltungsbeamten arbeiten, wären wir sicherlich „in einem ganz anderen Film“. Das System Schule operiert je-doch ungeachtet dieser interessengeleiteten Sichtweisen nach dem Prinzip der Selbsterhaltung der eigenen Struktur.

2. Grundsätzlich würde ich an die Spitze der Aufgaben eines TZI-Leiters für die Einbeziehung des Globe die Beobachtung der Wahrnehmungen von Globe-Aspekten setzen und zwar unter dem Fokus, wie die Wahrnehmungen Einzelner in Sichtweisen einge-hen, die von den Teilnehmern verhandelt, geteilt oder abgelehnt werden. Dies erfordert etwas mehr Distanz in der Balance von Anteilnehmen und Beobachten als die rasche Identifikation mit den Anliegen von Teilnehmern und schützt nach meiner Erfahrung gut gegen Ohnmachts- und Allmachtsphantasien. Zudem bleibt der TZI-Gruppenleiter „bei seinen Leisten“; er muss nicht für alle möglichen Globe-Aspekte sozialwissenschaftliche Konzepte parat haben, was mitunter voreilig gefordert wird.

3. Bei allen Problemen, bei denen personenunabhängige Struk-turen in den Blick geraten, ist für eine gewisse Zeitdauer der Bearbeitung die Verwendung des Luhmannschen Systembegriffs hilfreich, nach dem nicht Personen, sondern Kommunikationen die Elemente der Struktur eines sozialen Systems bilden. In der TZI-Arbeit wird vom Erleben der Personen ausgegangen, das häufig an Personen haftet, die Funktionen in Systemen wahrneh-men. Darüber sollte nicht versäumt werden, eine Zeit lang von personalen Beziehungen abzusehen und die Wahrnehmung auf die Strukturen des Systems zu richten.

4. Noch wichtiger erscheint mir, den Globe als Umwelt im Sinne der Systemtheorie neu zu definieren. Bei Ruth Cohn sind Umwelt und Welt im Globe-Begriff vereint. Ich plädiere dafür, den Bezug zur Transzendenz, auf den TZI nicht verzichten kann, aus dem Globe-Begriff heraus zu nehmen und ihn an dem ge-eigneten Platz in der Systematik der TZI zu belassen: im zweiten Axiom. Der Globe-Begriff sollte beschränkt werden auf die in der Interaktion hergestellte Konstruktion von Umwelt. Die Vision des Globe als eines Orts des „guten“ Lebens bleibt damit noch deut-licher erhalten, da es dann um die Gestaltung der Umwelt geht, nicht mehr um das von Menschen nicht gestaltbare Universum.

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8 Kommentar zur Terminolo-gie: Die Begriffe „Gruppe“, „Gruppenleiter“ etc. wurden zur Bezeichnung der Arbeits-situation der TZI nicht mehr verwendet, da das Konzept der TZI für alle Interaktions-situationen, nicht nur für Gruppen, anwendbar ist. Um den Sprachfluss zu gewähr-leisten, wurden Rollenbe-zeichnungen in der üblichen, männlichen Sprachform als geschlechtsübergreifende Begriffe verwendet.

TZI stellt die Frage nach der persönlichen Verantwortung, die jeder Einzelne für ein „besseres“ Leben aller Menschen und der Natur übernimmt.

5. Damit wird fraglich, ob der Globe weiterhin als gleichwertiger und gleich wichtiger Faktor in der dynamischen Balance der 4 Faktoren geführt werden kann. Die drei Faktoren im Dreieck be-schreiben das Interaktionssystem. Dieses steht an allen Ecken, Linien, Punkten, Kringeln seiner Struktur (um im graphischen Bild zu blei-ben) in Beziehung zu den im Kommunikationssystem ausgetausch-ten und sich durchsetzenden Konstruktionen über die Umwelt. Es kreiert die System-Umwelt-Differenz. Eine Arbeitsgruppe in der werkstatt 3 präsentierte eine Abbildung, in der das Dreieck anstatt von einer schalenartig aufgeschlüsselten Kugel von einem unendli-chen polidimensionalen, aber intransparenten Raum umgeben wird, in dem sich an den verschiedensten Stellen durch eine Benennung und Unterscheidung etwas zu Konturen formt, die sichtbar werden: Konstruktionen der Beobachter. Dieses Bild erinnert mich an die schwindelerregende Fülle der Zurufe beim Globe-Bild, von dem Ruth Cohn erzählte. Eine andere Arbeitsgruppe konstatierte, es müsse eigentlich nicht „Vier-Faktoren-Modell“ heißen, sondern „Drei-plus-x- Faktorenmodell“. Die meisten Kurzbeschreibungen der TZI betonen ja auch die Beachtung von Ich, Wir und Es und fügen dann in einem eigenen Satz oder Halbsatz die Beachtung der Umwelt/des Kontextes hinzu.

6. In der Bearbeitung von Globe-Bezügen würden religiöse und spirituelle Fragen dann auftreten, wenn sie als Aspekte der Umweltkonstruktionen von Teilnehmern eingebracht werden, und würden als solche behandelt werden.

7. Die Beobachtung der 3. Ordnung (zusätzlicher Leiter oder Su-pervisor) des Beobachters der 2. Ordnung (Leiter) sollte zum Stan-dard werden. In der Selbstreflexion der Leitung einer TZI-Arbeit, sei es im Alltagsleben, in einer Fortbildungs-, Lern-, Arbeitsgruppe oder in einer Beratungsarbeit sollten regelmäßig reflektiert werden, wie im Interaktionssystem der Globe wahrgenommen wird.8

Literatur

Cohn, Ruth C.: Wir sind Teil des Universums und wir nehmen Anteil: Der Globe. In: Themenzentrierte Interaktion, 2. Jg. 1988, Heft 2, 3–6.

Cohn, Ruth C. Verantworte dein Tun und dein Lassen, persönlich und gesellschaftlich. In: Themenzentrierte Interaktion, 8. Jg. 1994, Heft 2, 85–87.

Dlugosch, Andrea: Kritische Anfragen an das Konzept. In: Schneider-Landolf, M., Spielmann, J. und Zitterbarth, W. (Hg.): Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI). Göttingen 2009, 237–241.

Greving, Heidi: TZI- ein Rädchen im Getriebe eines mächtigen Globe? Oder eine Alternative Lebendigen Lernens? In: Themenzentrierte Interaktion, 17. Jg. 2003, Heft 2, S. 67–81.

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Reiser, Eine konstruktivistische Sichtweise des Globe

Lotz, Walter: Zur pädagogischen Konzeption der TZI. In: Themenzentrierte Interaktion, 11.Jg. 1997, Heft 2, 23–34.

Lotz Walter: Sozialpädagogisches Handeln. Eine Grundlegung sozialer Beziehungsarbeit mit themenzentrierter Interaktion. Mainz 2003.

Langmaack Barbara: Themenzentrierte Interaktion. Einführende Texte rund ums Dreieck. Weinheim 1991.Luhmann, Niklas: Die operationale Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme. In: Fischer, H.-R., Retzer,

A. und Schweizer, J.: Das Ende der großen Entwürfe. Frankfurt/M. 1993, 117–131.Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg 2002.Nelhiebel, Walter: Globe. In: Schneider-Landolf, M., Spielmann, J. und Zitterbarth W. (Hg.): Handbuch Themen-

zentrierte Interaktion (TZI). Göttingen 2009, 134–40.Reiser, Helmut: Gruppe und Gruppenleitung aus Sicht der Themenzentrierten Interaktion und des systemisch-

konstruktivistischen Ansatzes. In: Themenzentrierte Interaktion 18. Jg. 2004, Heft 1), 44–63.Reiser, Helmut: Psychoanalytisch-systemische Pädagogik. Erziehung auf der Grundlage der Themenzentrierten

Interaktion. Stuttgart 2006.Röhling Jens G.: TZI als Lebenskunst. In: Schneider-Landolf, M., Spielmann, J. und Zitterbarth,W. (Hg.): Handbuch

Themenzentrierte Interaktion (TZI). Göttingen 2009, 222–227.Scharer, Matthias: Kommunikative Theologie. In: Schneider-Landolf, M., Spielmann,J. und Zitterbarth, W. (Hg.):

Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI). Göttingen 2009, 217 –221.Urban, Michael: Form, System und Psyche. Zur Funktion von psychischem System und struktureller Kopplung

in der Systemtheorie. Wiesbaden 2009.Zitterbarth, Walter: Ausdifferenzierung des Vier-Faktoren-Modells. In: Schneider-Landolf,M., Spielmann, J. und

Zitterbarth, W. (Hg): Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI). Göttingen 2009, 213 –216.