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Marktführer bei den Beruhigungsmit- teln in der Bundesrepublik.Thalido- mid war auch ein Exportschlager und in über 40 Ländern erhältlich. 1960-1961 häuften sich Berichte über Nebenwirkungen nach längerer Einnahme, die zu teilweise irreversi- blen Nervenschädigungen an den Ex- tremitäten führten.Thalidomidhaltige Präparate wurden deswegen im Herbst 1961 in einigen Bundeslän- dern unter Rezeptpflicht gestellt. Im Herbst 1961 tauchte erstmals der Ver- dacht auf, Contergan könnte auch für die starke Zunahme von Kindesmiss- bildungen verantwortlich sein. Dieser Verdacht bestätigte sich später,ins- gesamt wurden etwa 8 000–10 000 missgebildete Kinder geboren (siehe Infokasten auf S. 213). Nachdem das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar geworden war, versuchte man aus allen Blickwin- keln zu verstehen, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte. Letztlich trugen viele Faktoren dazu bei, z.B. das völlig unzureichende Zulassungs- perimenten an Ratten und Mäusen ließ die Firma Chemie-Grünenthal ei- ne klinische Studie durchführen, in der sich K17 auch im Menschen als wirksames Beruhigungsmittel erwies. Unter dem Namen Thalidomid [2] wurde der Wirkstoff (Abbildung 1) in den Beruhigungsmitteln Contergan ® und Contergan forte ® am 1. Oktober 1957 in den Handel gebracht und war in allen Apotheken der Bundes- republik rezeptfrei erhältlich. Contergan schien ein Wundermit- tel zu sein. Im Gegensatz zu den da- mals üblichen Barbituraten zeigte Thalidomid keine akute Toxizität, der Blutdruck senkte sich nicht nach Ein- nahme, man wurde nicht süchtig und selbst bei absichtlicher Überdosie- rung mit über 100 Tabletten war ein Selbstmord nicht möglich.Kein Wun- der also, dass Contergan und andere thalidomidhaltige Präparate von Ärz- ten und Apothekern mit voller Über- zeugung auch für Kinder und Schwangere empfohlen wurden. Nach zwei Jahren war Contergan MAGAZIN | 212 | © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 212 – 217 Das Beruhigungsmittel Contergan ® war das größte Unglück der Pharmaindustrie. Tausende missgebilde- te Kinder wurden zwischen 1958 und 1962 geboren. Bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Tragödie wurde entdeckt, dass von den beiden spiegelbildli- chen Formen (Enantiomere) des Wirkstoffs Thalido- mid eine beruhigend, die andere aber fruchtschädi- gend wirkt. Hätte Contergan allein das Thalidomid mit dem „richtigen“ Spiegelbild enthalten, wäre die Katastrophe ausgeblieben. Diese bewegende Darstellung überzeugt sehr ein- drucksvoll, dass nicht die Mischungen spiegelbildli- cher Wirkstoffmoleküle, sondern immer nur das „richtige“ eingesetzt werden sollte. Aber stimmt dies im Falle des Thalidomids überhaupt? Oder entstand durch die Fehlinterpretation einer wissenschaftlichen Untersuchung eine unwahre Geschichte, die nur we- gen ihrer didaktischen Wirkung in Schul- und Lehr- büchern und vielen Aufsätzen immer und immer wieder erzählt wird? K17 war die 17.Verbindung, die Dr. W.Kunz im Forschungslabor der Fir- ma Chemie-Grünenthal 1954 herge- stellt hatte. K17 wirkte im Tierver- such als Beruhigungsmittel mit gerin- ger Toxizität [1]. Nach weiteren Ex- KURIOS, SPANNEND, ALLTÄGLICH... | Mutter, ihr missgebildetes Kind zwei Frauen zeigend. Francisco de Goya (1746 – 1828) [Sammlungen des Louvre. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung] ABB. 1 | THALIDOMID Der Wirkstoff mit dem rationellen Namen 2-(2,6-Dioxo-3-piperidinyl)-1H-isoindol- 1,3-(2H)-dion besitzt ein Kohlenstoffatom mit vier verschiedenen Substituenten (mit * markiert), so dass zwei zueinander spiegelbildliche Isomere (Enantiomere) möglich sind. Die räumliche Anordnung (R- oder S-Konfiguration) der vier Substitu- enten in beiden Enantiomeren wird nach dem Cahn-Ingold-Prelog-Regelwerk ermit- telt. Enantiomere drehen die Ebene des linear polarisierten Lichts (optische Akti- vität) und der gemessene Drehsinn (+) oder (-) wird häufig zusätzlich angegeben. Zwischen der Konfiguration und dem experimentellen Drehsinn besteht kein direk- ter Zusammenhang. Eine unendliche chemische Geschichte

Eine unendliche chemische Geschichte

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Marktführer bei den Beruhigungsmit-teln in der Bundesrepublik.Thalido-mid war auch ein Exportschlagerund in über 40 Ländern erhältlich.1960-1961 häuften sich Berichteüber Nebenwirkungen nach längererEinnahme, die zu teilweise irreversi-blen Nervenschädigungen an den Ex-tremitäten führten.ThalidomidhaltigePräparate wurden deswegen imHerbst 1961 in einigen Bundeslän-dern unter Rezeptpflicht gestellt. ImHerbst 1961 tauchte erstmals der Ver-dacht auf, Contergan könnte auch fürdie starke Zunahme von Kindesmiss-bildungen verantwortlich sein. DieserVerdacht bestätigte sich später, ins-gesamt wurden etwa 8 000–10 000missgebildete Kinder geboren (sieheInfokasten auf S. 213).

Nachdem das ganze Ausmaß derKatastrophe sichtbar geworden war,versuchte man aus allen Blickwin-keln zu verstehen, wie es zu dieserTragödie kommen konnte. Letztlichtrugen viele Faktoren dazu bei, z.B.das völlig unzureichende Zulassungs-

perimenten an Ratten und Mäusenließ die Firma Chemie-Grünenthal ei-ne klinische Studie durchführen, inder sich K17 auch im Menschen alswirksames Beruhigungsmittel erwies.Unter dem Namen Thalidomid [2]wurde der Wirkstoff (Abbildung 1) inden Beruhigungsmitteln Contergan®

und Contergan forte® am 1. Oktober1957 in den Handel gebracht undwar in allen Apotheken der Bundes-republik rezeptfrei erhältlich.

Contergan schien ein Wundermit-tel zu sein. Im Gegensatz zu den da-mals üblichen Barbituraten zeigteThalidomid keine akute Toxizität, derBlutdruck senkte sich nicht nach Ein-nahme, man wurde nicht süchtig undselbst bei absichtlicher Überdosie-rung mit über 100 Tabletten war einSelbstmord nicht möglich. Kein Wun-der also, dass Contergan und anderethalidomidhaltige Präparate von Ärz-ten und Apothekern mit voller Über-zeugung auch für Kinder undSchwangere empfohlen wurden.Nach zwei Jahren war Contergan

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212 | © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2005, 39, 212 – 217

Das Beruhigungsmittel Contergan® war das größteUnglück der Pharmaindustrie. Tausende missgebilde-te Kinder wurden zwischen 1958 und 1962 geboren.Bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Tragödiewurde entdeckt, dass von den beiden spiegelbildli-chen Formen (Enantiomere) des Wirkstoffs Thalido-mid eine beruhigend, die andere aber fruchtschädi-gend wirkt. Hätte Contergan allein das Thalidomidmit dem „richtigen“ Spiegelbild enthalten, wäre dieKatastrophe ausgeblieben.

Diese bewegende Darstellung überzeugt sehr ein-drucksvoll, dass nicht die Mischungen spiegelbildli-cher Wirkstoffmoleküle, sondern immer nur das„richtige“ eingesetzt werden sollte. Aber stimmt diesim Falle des Thalidomids überhaupt? Oder entstanddurch die Fehlinterpretation einer wissenschaftlichenUntersuchung eine unwahre Geschichte, die nur we-gen ihrer didaktischen Wirkung in Schul- und Lehr-büchern und vielen Aufsätzen immer und immerwieder erzählt wird?

K17 war die 17.Verbindung, die Dr.W. Kunz im Forschungslabor der Fir-ma Chemie-Grünenthal 1954 herge-stellt hatte. K17 wirkte im Tierver-such als Beruhigungsmittel mit gerin-ger Toxizität [1]. Nach weiteren Ex-

K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H . . . |

Mutter, ihr missgebildetes Kind zwei Frauen zeigend.Francisco de Goya (1746 – 1828) [Sammlungen des Louvre.Nachdruck mit freundlicher Genehmigung]

ABB. 1 | THALIDOMID

Der Wirkstoff mit dem rationellen Namen 2-(2,6-Dioxo-3-piperidinyl)-1H-isoindol-1,3-(2H)-dion besitzt ein Kohlenstoffatom mit vier verschiedenen Substituenten(mit * markiert), so dass zwei zueinander spiegelbildliche Isomere (Enantiomere)möglich sind. Die räumliche Anordnung (R- oder S-Konfiguration) der vier Substitu-enten in beiden Enantiomeren wird nach dem Cahn-Ingold-Prelog-Regelwerk ermit-telt. Enantiomere drehen die Ebene des linear polarisierten Lichts (optische Akti-vität) und der gemessene Drehsinn (+) oder (-) wird häufig zusätzlich angegeben.Zwischen der Konfiguration und dem experimentellen Drehsinn besteht kein direk-ter Zusammenhang.

Eine unendliche chemischeGeschichte

D I E CO N T E RG A N -T R AG Ö D I E [ 2 4 ] |Thalidomid wurde von der Firma Chemie-Grü-nenthal (Aachen) entwickelt [1]. An Nagetieren[25] erwies sich der Wirkstoff als ausgezeichne-tes Beruhigungsmittel mit extrem geringer Toxi-zität. Die gute Verträglichkeit beim Menschenbestätigte eine klinische Studie an dreihundertPatienten in der Universitätsklinik Köln. Am 11.Juni 1956 wurde beim nordrhein-westfälischenInnenministerium die Genehmigung beantragt.Da ein öffentlich-rechtliches Zulassungsverfah-ren damals nicht existierte, wurde bereits vierWochen später die Erlaubnis zur rezeptfreien Ab-gabe erteilt. Unter dem Handelsnamen Conter-gan (25 mg) und Contergan forte (100 mg) warder Wirkstoff Thalidomid ab 1. Oktober 1957 alsSchlaf- und Beruhigungsmittel in allen Apothe-ken frei erhältlich.

Es begann ein beispielsloser Siegeszug: Con-tergan eroberte innerhalb von 3 Jahren fast dieHälfte des bundesdeutschen Schlafmittelmark-tes [26]. Zwischen Oktober 1957 und November1961 nahmen ca. 5 Millionen Verbraucher 300Millionen Tagesdosen ein. Auch internationalwar Thalidomid ein Verkaufsschlager: in 48 Län-dern wurden thalidomidhaltige Medikamentevermarktet.

In der ausschließlich an Ärzte und Apothekergerichteten Werbung wurde die hervorragendeVerträglichkeit hervorgehoben: Contergan sei„so ungiftig, dass es selbst Säuglingen undKleinkindern verabreicht werden kann“. KeinWunder also, dass die Ärzte Contergan auch zurLinderung der morgendlichen Übelkeit beiSchwangeren empfahlen.

Erste NebenwirkungenAb Oktober 1959 häuften sich Meldungen überaufgetretene Nervenschäden nach längerer Ein-nahme von Contergan. Bis Ende November 1961informierten etwa 1500 Ärzte und Apothekerund mehr als 300 Verbraucher das Unterneh-men über mehr als 3000 Fälle.

Bei der Contergan-Polyneuritis handelte essich um eine Nervenerkrankung, die zu typi-schen Reiz- und Ausfallerscheinungen der peri-pheren Nervenenden vor allem an den Füßenund Händen führte. Patienten klagten über Be-schwerden beim Gehen: Das Auftreten schmerzeso, dass sie Schaumgummi oder Filzeinlagen indie Schuhe legen müssten; sie gingen wie überspitze Steine, Glasscherben, Glassplitter, Steck-nadeln oder über 10000 tausend spitze Nägel,die ins Fleisch eindrängen.

Bereits Ende April 1960 berichtete der Düssel-dorfer Neurologe Ralf Voss auf einer Fortbil-dungsveranstaltung über die Nebenwirkungen.Die Forschungsabteilung der Firma Grünenthalversuchte, die Nervenschädigungen an Rattenzu reproduzieren. Ohne Erfolg. Der Forschungs-leiter Mückter schloss daraus: „Damit dürftenalle Meldungen über Nebenwirkungen nachlangfristiger Contergan-Anwendung dahinge-hend ausgelegt werden, dass es sich bei diesenFällen um besondere Situationen handelt, für

die Contergan allein ursächlich nur selten in Fra-ge kommen dürfte“.

Am 31. Dezember 1960 erschien die erste Pu-blikation über Nervenschädigungen durch Thali-domid. „Is Thalidomid to blame?“ fragte die Ärz-tin Leslie Florence im British Medical Journal. ImFebruar 1961 kam es zu Gesprächen von Fir-menvertretern mit dem Direktor der Kölner Uni-versitätsnervenklinik Werner Scheid. Er fordertedie sofortige Rezeptpflicht des Medikaments. DieFirma Grünenthal bestritt jedoch weiterhineinen ursächlichen Zusammenhang zwischenThalidomid und den beobachteten Nervener-krankungen, beantragte jedoch am 26. Mai1961 beim nordrhein-westfälischen Innenmini-sterium die Rezeptpflicht. Nach Eingang einesunterstützenden Gutachtens des Bundesgesund-heitsamtes in Berlin wurde Thalidomid in Nord-rhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württem-berg am 1. August 1961 unter Rezeptpflicht ge-stellt.

Erst jetzt berichtet erstmals die Presse überContergan: in zwei Artikeln informierte der Spie-gel unter dem Titel „Zuckerplätzchen forte“ überdie Nervenschäden. Dies führte zu einem drasti-schen Umsatzeinbruch.

Verdacht von MissbildungenSeit 1959 wurde in der Bundesrepublik einedeutliche Zunahme von Missbildungen bei Neu-geborenen beobachtet. In der ersten Fachpubli-kation berichtete Wiedemann im September1961 [27], dass in der Städtischen KinderklinikKrefeld in den vorausgegangenen 10 Monaten13 Fälle von Gliedmaßenfehlbildungen beobach-tet worden sind. Akribisch führt er alle Fälle sei-ner Klinik auf und verweist darauf, dass weder inder damaligen DDR noch in derSchweiz oder in Belgien eine Zu-nahme solcher Fehlbildungenbeobachtet wurde. Wiedemannvermutet „einen in unserem en-gerem Zivilisationsbereich neu-erdings eingeführten toxischenFaktor – aber wir kennen ihnnicht“.

Im Spätherbst 1961 äußer-ten zwei Mediziner, der Ham-burger Kinderarzt WidukindLenz [28] und der australischeGynäkologe William GriffithMcBride unabhängig voneinan-der den Verdacht [29], dassThalidomid für Missbildungenvon Neugeborenen verantwort-lich sein könnte. Seinen Ver-dacht teilte Lenz am 15. No-vember 1961 dem Forschungs-leiter der Firma Grünenthal tele-fonisch mit.

Nun nahm die Auseinander-setzung einen dramatischenVerlauf: 24. November 1961: Ineiner Besprechung im Düssel-

dorfer Innenministerium wurde Chemie Grü-nenthal aufgefordert, alle Thalidomidpräparatesofort vom Markt zu nehmen. Die Firma lehntedies ab, drohte bei einem Verbot mit Regressan-sprüchen und schlug ihrerseits vor, alle Packun-gen mit der Aufschrift „Nicht in der Schwanger-schaft zu nehmen“ zu kennzeichnen.

25. November 1961: Das nordrhein-westfäli-sche Innenministerium unterrichtet die anderenGesundheitsbehörden der anderen Länder, dasBundesinnenministerium, das Bundesgesund-heitsamt sowie die Ärzte- und Apothekenkam-mern über den Verdacht.

26. November 1961: Die „Welt am Sonntag“berichtet unter der Überschrift „Missgeburtendurch Tabletten? Alarmierender Verdacht einesArztes gegen ein weit verbreitetes Medikament“erstmals über den Verdacht.

27. November 1961: Die Firma Grünenthalzieht sämtliche thalidomidhaltige Präparate„bis zur wissenschaftlichen Klärung der aufge-worfenen Fragen“ zurück [30].

Erst nach der Rücknahme von Conterganwurde das ganze Ausmaß der Katastrophe klar:zwischen 1958 und 1962 wurden weltweit etwa10 000 Kinder mit schweren Missbildungen vorallem an den Gliedmaßen geboren. Allein inDeutschland etwa 4000, von denen 2800 über-lebten. Die zeitliche Korrelation zwischen denContergan-Verkaufszahlen und den beobachte-ten Missbildungen belegt den kausalen Zusam-menhang (Abbildung 4). Es stellte sich heraus,dass die Einnahme einer einzigen Tablettewährend der 4. – 6. Schwangerschaftswochemit hoher Wahrscheinlichkeit zu Missbildungenführte.

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Die völlig identische zeitliche Entwicklung des Nettover-kaufserlöses von Contergan (durchzogene Linie) und derAnzahl der missgebildeten Neugeborenen (gestrichelte Li-nie) zeigt eindeutig den kausalen Zusammenhang an. DieVerschiebung beider Kurven um etwa 8 Monate entsprichtder Zeitdifferenz zwischen der schädigenden Einnahme inder 4.–6. Schwangerschaftswoche und der Geburt.

ABB. 4 | CONTERGAN VERBRAUCH UND MISSBIL-DUNGEN BEI NEUGEBORENEN IN DER BUN-DESREPUBLIK ZWISCHEN 1958 UND 1962

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verfahren, die nicht standardisiertentierexperimentellen Studien, die da-mals unüblichen Untersuchungen aufFruchtschädigung (Teratogenität) anmehreren Spezies, gesetzgeberischeMängel, eine ziemlich unkoordinierteArbeitsweise der Ministerien und denihnen unterstellte Behörden in deneinzelnen Bundesländern und diemangelnde Sorgfaltspflicht der Her-stellerfirma bzw. einzelner handeln-der Personen [3].

Aus rein chemischer Sicht warvon Bedeutung, dass der WirkstoffThalidomid als Racemat eingesetztwurde, d.h. als 1:1-Mischung beiderEnantiomere. Nicht untersucht wur-de vor der Markteinführung, ob beideEnantiomere identische oder unter-schiedliche physiologische Wirkun-gen hatten. Hier beginnt unsere un-endliche chemische Geschichte, diesich um folgende Frage dreht: Hättedie Katastrophe verhindert werdenkönnen, wenn Thalidomid nichtaus einem Racemat, sondern nuraus einem der beiden Enantiomerebestanden hätte?

1. KapitelNein, die Katastrophe hätte nichtverhindert werden können! DieThalidomid-Enantiomere racemi-sieren schnell. 1965, also vier Jahre nach der Markt-rücknahme wurden die beiden Thali-domid-Enantiomere erstmals getrennthergestellt [4], so dass nun separateUntersuchungen der beiden Enantio-mere durchgeführt werden konnten.Das Ergebnis war eindeutig: es mach-te keinen Unterschied, ob das Race-mat oder das reine R- bzw. S-Thalido-

mid-Enantiomer oral verabreicht wur-den, „alle drei optischen Formen desThalidomids sind im Kaninchen(weißes Neuseeländer) fruchtschä-digend (teratogen)“ [5].

Dieser Befund überraschte, dennprinzipiell müssten sich die Enantio-mere in ihrer physiologischen Wir-kung unterscheiden: Da die körperei-genen Bindungspartner (z.B. Enzyme)vor allem aus Aminosäuren bestehen,selbst also reine Enantiomere sind,sollten sie die Thalidomid-Enantiome-re grundsätzlich unterschiedlich bin-den [6]. Da dies nicht der Fall war,müssen sich die beiden Enantiomere

im Organismus bei 37°C schnell in-einander umgewandelt haben (Race-misierung) (Abbildung 2).

2. KapitelJa, die Katastrophe hätte verhin-dert werden können! Die Thali-domid-Enantiomere racemisierennicht. Es war schon eine kleine Sensation,als G. Blaschke, F. Köhler und Mitar-beiter 1979 an Mäusen und Rattengenau das gegenteilige Resultat er-hielten: „Es erwies sich nach intra-peritonealer [7] Applikation nurdas (−)-Enantiomer als teratogen

ABB. 2 | RACEMISIERUNG VON THALIDOMID

Das am Kohlenstoffatom mit den vier verschiedenen Substitutenten gebundeneWasserstoffatom dissoziiert besonders im Basischen leicht als Proton ab. In derkonjugierten Base, dem resonanzstabilisierten Anion ist das entsprechende Kohlen-stoffatom nun sp2-hybridisiert, die drei verbliebenen Substituenten also mit einemBindungswinkel von 120° planar angeordnet. Die Reprotonierung des Anions kannvon beiden Seiten mit gleicher Wahrscheinlichkeit erfolgen. Eine Racemisierung istdie Folge.

Abb. Die beiden spiegelbild-lichen Formen (Enantiomere) des Thalidomids unter-scheiden sich voneinander wie die linke von der rechten Hand.

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wirksam“. Auch in der kurz danachin den Chemischen Berichten er-schienenen Arbeit des Autorenteamshieß es [8]: „Während (–)-Thalido-mid im Vergleich zum Racematstärker teratogen wirkt, ist die (+)-Form selbst bei höchster Dosierungnicht teratogen“

Obwohl dies nicht explizit vonden Autoren gesagt wurde, folgertendie Leser daraus, dass die Contergan-Katastrophe hätte verhindert werdenkönnen, wenn anstelle des Racematsdas beruhigend wirkende und nicht-teratogene (R)-(+)-Enantiomer verab-reicht worden wäre [9]. Das war dieGeburtsstunde des „guten“ und des„bösen“ Thalidomids, von denen seit-her in unzähligen Artikeln [10], Lehr-büchern [11] und populärwissen-schaftlichen Publikationen [12] im-mer und immer wieder erzählt wird.

Daran änderten auch viele vorge-brachte ernste Zweifel nichts [13];die Geschichte scheint unvergänglichzu sein.

3. KapitelNein, die Katastrophe hätte nichtverhindert werden können! DieThalidomid-Enantiomere racemi-sieren schnell. Von zwei Untersuchungen mit ge-gensätzlichen Schlussfolgerungenkann nur eine korrekt durchgeführtbzw. interpretiert worden sein.Aberwelche?

Die Tierexperimente von Blasch-ke, Köhler et al. beruhten auf einemVersuchsprotokoll, mit dem schon1970 die teratogene Wirkung von ra-cemischem Thalidomid in Mäusenund Ratten nachgewiesen wordenwar [14]. Leider konnte das von F.

Köhler entwickelte Tiermodell vonanderen Autoren nicht reproduziertwerden. Unter dem Titel „Non-confir-mation of Thalidomide Induced Te-ratogenesis in Rats and Mice“ er-schien schon 1977 eine Untersu-chung, nach der Thalidomid in Rattenund Mäusen überhaupt keine Frucht-schädigungen hervorrief, diese Tierefür den Nachweis einer Teratogenitätalso völlig ungeeignet waren [15].Heute werden Teratogenitäts-Studiennur mit wenigen Kaninchensortenund am zuverlässigsten mit Affendurchgeführt [16].

G. Blaschke, der Erstautor einerder sich widersprechenden Arbeiten,untersuchte zur Klärung des Wider-spruchs die Geschwindigkeiten derRacemisierung beider Enantiomerein vitro und nach intravenöser Gabein vivo [17] (Tabelle 1). Das Ergebnis

D E R „ CO N T E RG A N - PRO Z E S S “ |1968 begann der Prozess vor der Strafkammerdes Aachener Landgerichts gegen den Firmen-inhaber und acht leitende Angestellte im Falleder Nervenschädigungen wegen fahrlässigerund vorsätzlicher Körperverletzung und im Fal-le der Missbildungen wegen fahrlässiger Kör-perverletzung, teilweise mit Todesfolge. Es warein Mammutprozess: fast tausend Seiten Ankla-geschrift, 29 Sachverständige, 352 Zeugen undüber 400 Nebenkläger. Am 18. Dezember 1970,nach 283 Verhandlungstagen, wurde das Ver-fahren eingestellt. Zwar sah das Gericht dieKausalität zwischen Thalidomid und den Ner-venschädigungen und Missbildungen für erwie-sen an, jedoch bewertete es die Schuld der An-geklagten als „geringfügig“ und stellte fehlen-des öffentliches Interesse an der Weiterführungdes Prozesses fest. Dieser auf den ersten Blickunverständliche Prozessausgang war die Folgeeiner außergerichtlichen Einigung zwischen denVertretern der Opfer und der Chemie Grünen-thal. Die Herstellerfirma zahlte 110 MillionenDM in eine Stiftung zur Unterstützung derüberlebenden Contergan-Opfer ein [31]. Da-durch bekamen die bereits schulpflichtigen Kin-der und deren Eltern endlich eine finanzielle Un-terstützung und nicht erst nach jahrelangenzivilrechtlichen Auseinandersetzungen. Zudemhatte die Firma Chemie-Grünenthal Rechts-sicherheit, denn alle angemeldeten zivilrechtli-chen Ansprüche waren mit der Einstellung desVerfahrens erloschen.

In der Begründung des Einstellungsbeschlus-ses lässt das Gericht erkennen, dass es sich der

schwierigen Situation von leitenden Mitarbei-tern eines Wirtschaftsunternehmens sehr wohlbewusst ist: „Soweit die Angeklagten Kaufleutesind, war ihnen naturgemäß in erster Linie dieWahrnehmung der wirtschaftlichen Interessendes Unternehmens übertragen. Hinzu kam einedurch den beruflichen Werdegang bedingte en-ge Bindung gerade an diese Firma und damitdie Gefahr der Einengung des Gesichtskreises.Die Versuchung, die vermeintlichen Interessendes Unternehmens gegenüber den Bedenkenvon meist nachgeordneten Mitarbeitern mitganz anderer und weitergehender Ausbildungdurchzusetzen, war groß. Die Mediziner undChemiker dagegen sahen sich in ein Unterneh-men eingebunden, dessen Organisation undZielrichtung wissenschaftlichen Mitarbeiternund ärztlichen Gesichtspunkten eine nachge-ordnete Rolle zuwiesen. Der Kampf um eine an-gemessene Position verlangte die nachdrückli-che Förderung der kaufmännischen Unterneh-mensziele“.

Dies spräche für die Angeklagten, deren indi-vidueller Entscheidungsspielraum begrenzt war,niemand hätte uneingeschränkte, alleinige Ver-antwortung getragen.

„Demgegenüber ist fahrlässiges Verhalten[..] insoweit zu bejahen, als das Gesamtverhal-ten, wie es aus der Firma Chemie-Grünenthalnach außen in Erscheinung getreten ist, nichtden Anforderungen entspricht, wie sie an einenordentlichen und gewissenhaften Arzneimittel-hersteller zu stellen sind.“

Entlastend wurde dabei bewertet:

„dass die Angeklagten nicht wesentlich an-ders gehandelt haben, als es in der pharmazeu-tischen Industrie damals größtenteils üblichwar. Sie haben weder später gewarnt, als es dieMehrzahl der anderen Arzneimittelhersteller zutun pflegte, noch unterschieden sich ihre Warn-hinweise nach Inhalt und Form von denen an-deren Hersteller. Haben die Angeklagten somitweitgehend branchenüblich gehandelt, so istihr Verhalten [..] deshalb nicht rechtmäßig.Nicht die Branchenüblichkeit entscheidet, wasrechtens ist; maßgeblich ist allein, welche Sorg-falt bei objektiver Betrachtungsweise gebotenist.“

Die Contergan-Tragödie zog erhebliche poli-tische und gesetzgeberische Konsequenzennach sich. Die Gesundheitsbehörden des Bun-des und der Länder wurden reorganisiert. DieNovellierung 1964 und vor allem die Neufas-sung des Arzneimittelgesetzes im Jahre 1976wurden unter dem Eindruck der Contergan-Tragödie verfasst. Insbesondere sind die Anfor-derungen für die Herstellung und Zulassung ei-nes Arzneimittels wesentlich erhöht worden.Von Seiten des Herstellers müssen umfangrei-che vorklinische und klinische Untersuchungenzur Zulassung vorgelegt werden, wobei die Prü-fung auf Fruchtschädigung (Teratogenität)heute Standard ist. Auch der Isomerenreinheitwird heute große Aufmerksamkeit geschenkt.So wurden im Jahre 2000 fast 40% aller Wirk-stoffe weltweit mit einem Marktwert von über100 Milliarden Euro [32] enantiomerenrein her-gestellt.

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war eindeutig: in Blut beträgt dieHalbwertszeit [18] der beiden Enan-tiomere nur einige Minuten, es findetalso eine schnelle Umwandlung (Ra-cemisierung) statt: „Folglich, muss

die Enantioselektivität von Thalido-mid in Hinblick auf teratogene Ef-fekte neu bewertet werden.“ [19]

4. Kapitel Nein! Die Enantiomere wandelnsich zwar schnell ineinander um,dabei entsteht aber nur beinaheein Racemat, trotzdem hätte dieTragödie nicht verhindert wer-den können. Bei einer Halbwertszeit von einigenMinuten macht es keinen Unter-schied, ob das Racemat oder einEnantiomeres verabreicht wird. Essteckt aber noch etwas mehr dahin-ter. In Abbildung 3 oben ist die zeitli-che Änderung der Plasmakonzentrati-on von racemischem Thalidomidnach oraler Aufnahme dargestellt. DerVerlauf spiegelt das typische Zusam-menspiel zwischen Absorption undEliminierung [20] wieder: zunächststeigt die Plasmakonzentration durchdie Aufnahme im Magen-Darmtraktan, überschreitet einen Maximalwert

und nimmt durch Eliminierung bzw.Abbau wieder ab.

Während die zeitliche Konzentra-tionsänderung des Racemats (oben)völlig unauffällig ist, erbrachte dieorale Gabe von nur einem Enantio-mer eine Überraschung (Mitte undunten): beide Enantiomere werdenzwar gleich schnell aufgenommenund wandeln sich rasch ineinanderum, aber das (S)- wird signifikantschneller eliminiert als das (R)- Enan-tiomer. Dies führt nach einigen Stun-den zur Einstellung eines Pseudo-gleichgewichts mit einem Konzentra-tionsverhältnis (R)/(S) von etwa 1.7.Die Konzentration von (R) ist größerals die von (S), und zwar unabhängigdavon, ob ursprünglich das reine (R)-oder das reine (S)-Enantiomer oralaufgenommen wurde. Es tritt alsokeine vollständige Racemisierung imstrengen Sinn ein, jedoch ist dies fürdie Bewertung des Wirkstoffs ohneBedeutung, eine beruhigende bzw. te-ratogene Wirkung kann nicht einem

TA B . 1 | HALBWERTSZEITEN VON (+)- UND (−)-THALIDOMID

Phosphatpuffer (+)-Thalidomid 228888..88

(−)-Thalidomid 226600..55

Phosphatpuffer mit Humanen Serumalbumin (+)-Thalidomid 1188..55

(−)-Thalidomid 99..55

Blutplasma (+)-Thalidomid 1111..55

(−)-Thalidomid 88..33

Die Halbwertszeit beider Enantiomere in Phophatpuffer mit289 und 260 Minuten ist im Rahmen der Messgenauigkeitidentisch. Im menschlichen Blutplasma verringern sich dieseWerte auf 11.5 bzw. 8.3 Minuten. Da annähernd die gleichenHalbwertszeiten in Phosphatpufferlösungen nach Zusatz vonhumanem Serumalbumin (HSA) beobachtet werden, kann dieVerkürzung der Halbwertszeiten auf eine katalytische Wir-kung des HSA zurückgeführt werden [40].

Medium Substrat Halbwerts-zeit [min]

T H A L I D O M I D H E U T E |Thalidomid gilt heute als ein hochpotenterWirkstoff, dessen Anwendungsbreite noch nichtausgeschöpft ist [33]. Die Renaissance verdan-ken wir einem fast unglaubhaft klingenden Zu-fall: 1964, also drei Jahre nach der Marktrück-nahme, wollte der israelische Arzt J. Sheskin inseinem Krankenhaus in Jerusalem spät abendseinem schwer leprakranken Patienten helfen,der wegen seiner großer Schmerzen keinenSchlaf finden konnte. Der Patient litt unter einertypischen Sekundärkomplikation, dem Erythe-ma nodosum leprosum (ENL), mit schmerzhaf-ten Hautentzündungen, die letztlich zu den ty-pischen Verkrüppelungen an Händen undFüßen führen. Er fand in der Krankenhausapo-theke eine Schachtel Contergan und gab demmännlichen Patienten die übliche Dosis. Der Pa-tient fand nicht nur Schlaf, sondern zur großenÜberraschung ließen die äußerst schmerzhaf-ten Symptome nach und der Patient stand amnächsten Morgen erstmals seit Wochen aus ei-gener Kraft auf. Eine klinische Studie bestätigte,dass 70% der Patienten positiv auf den Wirk-stoff ansprachen [34]. 1998 wurde Thalidomidvon der US-amerikanische ZulassungsbehördeFDA für die Behandlung von Leprakranken [35]zugelassen und die WHO verteilt kostenlos denWirkstoff an viele der ca. 3 Millionen Lepra-kranken in Drittweltländern [36].

Erst über 20 Jahre nach Zufallsentdeckungkonnte die Wirkungsweise des Thalidomids auf-geklärt werden [37]: Thalidomid hat eine aus-gesprochen immunosuppressive Wirkung, indem die Produktion des Tumornekrose-FaktorTNFα verringert wird, einer Verbindung die inder Kontrolle des Immunsystems eine zentraleRolle einnimmt. ENL-Patienten haben einen ex-trem hohen TNFα – Spiegel, der nach Gabe vonThalidomid sinkt und zum Abklingen der ent-zündlichen Prozesse führt. Daraufhin wurdenauch andere Krankheiten mit hohen TNFα -Werten behandelt. Über erste beachtliche Heil-erfolge bei Autoimmunerkrankungen wie rheu-matische Arthritis, Lupus erythematodes, Mor-bus Behçet, Sjogren Syndrom, Multipler Sklero-se, Morbus Crohn und zur Unterdrückung vonchronischen Abstoßungsreaktionen bei Kno-chenmarks-Transplantationen wurde berichtet.

Aber auch die eigentliche Ursache der Miss-bildungen des Fötus, nämlich die Störung derBildung neuer Blutgefäße wird heute therapeu-tisch genutzt [38]. Tumore ab einer Größe voneinigen Millimetern induzieren für ihr schnellesWachstum die Bildung neuer Blutgefäße. Thali-domid hemmt diese Neubildung und dies führtzum Absterben der Tumore. Ein typisches Bei-spiel ist die Hemmung des krankhaften Wachs-tums von Blutgefäßen im Auge von Diabetis-

Patienten, das häufig zur Blindheit führt. Auchüber erste Anwendungen bei Geschwüren imMund- und Rachenraum und dem Karposi Sar-kom bei HIV-Patienten [39] und bei vielen ande-ren Tumorerkrankungen (Prostata-, Nieren-und bestimmte Hirntumore) ist berichtet wor-den. Hervorzuheben ist besonders der Einsatzin Patienten mit multiplem Myelom, einer be-sonders aggressiven Form des Knochmark-krebses. Selbst mit hochdosierten Chemothera-pien sind viele Patienten nicht mehr therapier-bar und in diesen Fällen ist Thalidomid die ein-zige Behandlungsalternative. Zwar ist für die-sen Patientenkreis Thalidomid in einigen Län-dern (Australien, Israel, Türkei) zugelassen,aber in Deutschland steht dies noch aus.

Bei allen neuen Therapien muss auf die be-kannten Nebenwirkungen, insbesondere dieNervenerkrankungen in den Extremitäten be-sonders geachtet werden. Ironischerweise istdie beruhigende Wirkung des Thalidomids heu-te eine unerwünschte Nebenwirkung. Die Pati-enten bekommen das Mittel vorzugsweise spätabends verabreicht, damit ihr normaler Tages-ablauf möglichst wenig beeinträchtigt wird.

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<< oben: Nach oraler Gabe von 200 mg (rac)-Thalidomid entspricht die Zeitabhängigkeitder Thalidomid-Konzentration im Blutplasmadem typischen Verlauf eines Wirkstoffs.Zunächst führt die Aufnahme (rac)-Thalido-mids (Summe beider Enantiomere) im Magen-Darm-Trakt zum Anstieg der Plasmakonzen-tration, erreicht nach etwa 4 Stunden ein Ma-ximum und nimmt dann durch den hydrolyti-schen Abbau (Eliminierung) ab [41].

Mitte: Nach oraler Aufnahme von 100 mg rei-nem (R)-Thalidomid erreicht dessen Konzen-tration nach kurzer Zeit ein Maximum undnimmt dann rasch ab. Dabei wird das aufge-nommene (R)-Thalidomid nicht nur hydroly-tisch abgebaut, sondern wandelt sich in seinEnantiomer um. Dies spiegelt sich im entspre-chenden Konzentrationsverlauf des (S)-Enan-tiomers wider. Nach einigen Stunden wirdaber nicht eine vollständige Racemisierung,d.h. eine 1:1-Mischung beider Enantiomere be-obachtet, sondern es stellt sich ein Pseudo-gleichgewicht von etwa (R)/(S) = 1,7 ein, dadas (S)-Enantiomer schneller abgebaut wirdals das (R)-Enantiomer [42].

unten: Nach oraler Aufnahme von 100 mg rei-nem (S)-Thalidomid ergibt sich eine analogeAbhängigkeit. Durch den schnelleren Abbaudes (S)-Thalidomids und gleichzeitiger Umla-gerung in das (R)-Enantiomer stellt sich nacheinigen Stunden zwischen den beiden Enantio-meren ein Pseudogleichgewicht von (R)/(S) =1,7 ein. Im Falle der Aufnahme von reinem (S)-Enantiomer wird dabei nach etwa sechs Stun-den tatsächlich ein Punkt erreicht, bei dem imBlutplasma eine völlige Racemisierung einge-treten ist.

ABB. 3 | THALIDOMID-KONZENTRATION IM MENSCHLICHEN BLUTPLASMA

der beiden Enantiomeren zugeschrie-ben werden [21].

ZusammenfassungDas Beruhigungsmittel Contergan®

enthielt den Wirkstoff Thalidomid alsracemische Mischung, d.h. als 1:1-Mi-schung beider Enantiomere. 1979veröffentlichten deutsche Wissen-schaftler eine Studie, nach der alleindas (S)-Enantiomer fruchtschädigendwirken sollte. Diese an Ratten undMäusen durchgeführte Studie wurdespäter, auch von den Autoren selbst,kritisch bewertet. Zwar ist die Phar-makologie des Thalidomids im Detailkompliziert, jedoch steht schon seit

vielen Jahren fest, dass die Conter-gan-Katastrophe durch die Verabrei-chung des reinen (R)-Enantiomersnicht hätte verhindert werden kön-nen, da im Blutplasma eine schnelleUmwandlung zwischen beiden Enan-tiomeren erfolgt.Trotzdem findet dieGeschichte vom „guten“ und „bösen“Thalidomid-Enantiomeren immerwieder Erzähler. Bei einigen Wirkstof-fen ist tatsächlich ein Enantiomertherapeutisch wirksam und das ande-re schädlich [22], beim Thalidomidaber eben nicht: die Gabe eines rei-nen Thalidomid-Enantiomershätte die Contergan-Katastrophenicht verhindert [23]!

Literatur[1] W. Kunz, H. Keller und H. Mückter,

Arzneimittel-Forschung, 11995566 , 6, 426.[2] Bei Arzneimittel unterscheidet man den

Marken- bzw. Handelsnamen desPräparats, z.B. Contergan und deninternational nicht geschützten Namendes Wirkstoffs (INN), z.B. Thalidomid. Derrationelle Name der chemischenVerbindung lautet: 2-(2,6-Dioxo-3-piperidyl)-1H-isoindol-1,3-(2H)-dion.

[3] Der Contergan-Fall, B. Kirk, 11999999,Wissenschaftliche VerlagsgesellschaftStuttgart; H.-J. Luhmann, Umweltmed.Forsch. Prax. 22000000, 5, 295.

[4] Y.F. Shealy et al., Chem.& Industry 11996655,1030.

[5] S. Fabro et al., Nature, 11996677, 215, 296.[6] Ein Bild verdeutlicht dies: ergreift man bei

geschlossenen Augen mit der rechtenHand (Enzym, Rezeptor) eine Hand (ein

DanksagungenDer Autor danktden folgenden Kollegen für vielewertvolle Hinweiseund Hilfen: Dr. H.Bauer, Schering AGBerlin, Prof. G.Blaschke, Univer-sität Münster, Prof. D. Neubert,FU Berlin, Dr. N.Rippel, Pharmion,Hamburg und Dr.K. Zwingenberger,Aachen.

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Thalidomid-Enantiomer), spürt mansofort, ob man eine linke oder eine rechteHand (Enantiomer) ergriffen hat.

[7] Dabei wird der gelöste Wirkstoff in dieBauchhöhle injiziert.

[8] G. Blaschke et al, Chem. Ber. 11998800, 113,2318.

[9] Diese Vorstellung ist allerdingsunrealistisch, denn um 1960 warenklassische Racematspaltungen imtechnischen Maßstab nur sehr schwierigzu bewerkstelligen.

[10] Die Geschichte vom „guten“ und „bösen“Enantiomer wird in den renommiertestenJournalen erzählt, z.B. J.M. Brown undS.G. Davies, Nature, 11998899, 342, 631; A.Prasanna des Silva, Nature, 11999955, 374,310 ; J. Rubner, Nature 11999966, 382, 104.Selbst das Nobel-Komitee konnte esanlässlich der Verleihung desNobelpreises für Chemie 2001 an W.S.Knowles, R. Noyori und K.B. Sharpless inseiner Presseerklärung nicht lassen :(http://nobelprize.org/chemistry/laureates/2001/public.html ). Prompt landetedie Geschichte in der Tages- undpopulärwissenschaftlichen Presse(Spektrum der Wissenschaften, 22000011,,Heft 12, 22).

[11] Die Liste wäre lang, hier nur wenigeBeispiele: Stereochemie, S. Hauptmannund G. Mann, 11999966, 223, SpektrumAkademischer Verlag, Heidelberg;Organic Chemistry, R.C.Atkins undF.A.Carey, 11999977, 200, McGraw-Hill, NewYork; Chemistry and the Living Organism,M.M. Bloomfield und L. J. Stephens, 6th

edition, 11999966, 386, Wiley&Sons,Chichester; Organische Chemie, A.Wollrab, 22000022, 287, Springer Verlag,Heidelberg; Organic Chemistry, M.A. Foxund J.K.Whitesell, 2nd edition, 11999977, 19-28, Jones & Bartlett, Sudbury;Fundamentals of General, Organic, andBiological Chemistry, J.R. Holum, 6th

edition 11999988, 513, Wiley, Chichester.[12] Eine kleine Auswahl: Chemie der Zukunft

– Magie oder Design, P. Ball, 11999966,, 87,VCH Weinheim; Facetten einerWissenschaft, H. Brunner (A. Müller, H.-J.Quadbeck-Seeger, E. Diemann, eds.),22000044, 176, Wiley-VCh, Weinheim, G.L.Anderson und S.T. Page, J.Chem.Educ.22000044, 81, 971; R. Demuth und O. Reiser,Spektrum der Wissenschaften 22000055(Februar), 70.

[13] Deutlich formulierte Richtigstellungenfindet man z.B. bei: W. Winter und E.Frankus, The Lancet, 11999922, 339, 365; E.L.Eliel, Chirality, 11999977, 9, 428. Damit keinfalscher Eindruck entsteht: natürlichstellen viele Lehrbücher den Sachverhaltrichtig dar.

[14] F. Köhler et al, Experientia 11997700, 26,1157, 1236.

[15] W.J. Scott et al. Teratology, 11997777, 16,333.

[16] R. Neubert und D. Neubert in Handbookof Experimental Pharmacology 124, II,11999977, 41, Springer Verlag, Berlin.

[17] B. Knoche und G. Blaschke, J.Chromatogr. A, 11999944, 666, 235.

[18] Die Halbwertszeit gibt an, nach welcherZeit nur noch die Hälfte derAusgangskonzentration vorhanden ist.

[19] „Thus, the enantioselectivity ofthalodomide in relation to teratogeniceffects has to be re-evaluated.“

[20] Die Eliminierung des Thalidomids erfolgtim wesentlichen über eine nicht-enzymatische Hydrolyse der labilenAmidgruppen, wobei über ein Dutzendverschiedene Abbauprodukte entstehenkönnen. siehe H. Schumacher et al, Br. J.Pharmacol. 11996655, 25, 324 und 338.

[21] Viele Studien an zum Thalidomidstrukturell verwandten Verbindungen,die langsamer oder nicht racemisierenkönnen, deuten darauf hin, dass eventuelldoch das R-Enantiomer beruhigend unddas S-Enantiomer das viel wirksamereEnantiomer sein könnte, das z.B. in dasImmunsystem eingreift. Wir wissen esaber nicht sicher. Aber selbst wenn wir eswüssten, würde es uns nichts nutzen,denn durch die schnelle Umwandlungsind im Blut immer beide Enantiomerepräsent. Siehe z.B. J. Knabe et al. Arch.Pharm. 11998899, 322, 499;Arzneimittelforsch. 11999900, 40, 32 ; T.Eriksson et al, J. Pharm.Pharmacol. 22000000,52, 807.

[22] J. Knabe Pharm. Unserer Zeit 11999955, 24,324.

[23] Zu dieser eindeutigen Bewertung kamauch die US-amerikanischeZulassungsbehörde für Arzneimittel FDA(Federal Drug Administration): siehe W.H. DeCamp, Chirality, 11998899, 1, 2.

[24] Die Contergan-Tragödie wurde von BeateKirk in Ihrer pharmaziehistorischenDissertation an der Universität Greifswaldmit dem für eine neutrale Bewertungnotwendigen historischen Abstand sehrgelungen aufgearbeitet. Auf dieserschönen Doktorarbeit beruht die hiergegebene Darstellung ganz wesentlich.siehe [3]

[25] In der Bundesrepublik entschied damalsder Hersteller selbst, wie neueArzneistoffe vor der Markteinführungpharmakologisch untersucht wurden.Eine Prüfung auf Fruchtschädigung war inden fünfziger Jahren nicht üblich.

[26] Contergan und andere thalidomidhaltigePräparate waren in der damaligen DDRnie erhältlich.

[27] H.-R. Wiedemann, Die MedizinischeWelt, 11996611 (September), 1863.

[28] Lenz war sich sehr wohl darüber bewusst,dass er nur einen Verdacht äußerte, dersich wissenschaftlich noch nicht beweisenließ. Noch am 19. November 1961 sagteer: „Ein ätiologischer Zusammenhang

zwischen der Aufnahme der Substanzund den Missbildungen ist durch nichtsbewiesen. Vom wissenschaftlichenGesichtspunkt aus wäre es verfrüht,darüber zu sprechen. Ein Zusammenhangist aber denkbar. Als Mensch undStaatsbürger kann ich es daher nichtverantworten, meine Beobachtungen zuverschweigen.“

[29] McBrides Bericht erschien EndeDezember 1961in „Lancet“ (11996611, 1358).Zu diesem Zeitpunkt war Conterganzumindest in Deutschland bereitszurückgezogen.

[30] Obwohl die Gesundheitsbehörden allerBundesländer im Juli 1961 über eineEmpfehlung zur Einführung derRezeptpflicht des Bundesgesundheits-amtes informiert worden waren,schafften es Bayern, Berlin und Nieder-sachsen bis zur Marktrücknahme nicht,Contergan unter Rezeptpflicht zu stellen.

[31] Zusätzlich zu den 110 Mio DM zahlte dieBundesrepublik Deutschland(=Steuerzahler) bis Januar 1997 über 551Mio DM an die Betroffenen aus.

[32] G.L. Anderson und S.T. Page ,J.Chem.Educ. 22000044, 81, 971.

[33] R. von Moos et al, Swiss. Med. Wkl. 22000033,133, 77.

[34] J. Sheskin, Clin. Pharmacol. Ther. 11996655, 6,303; J. Sheskin und J. Convit, DerHautarzt, 11996666, 17, 548.

[35] J.R. Bernstein, Clin. Toxicol.Rev. 11999999, 21No 5.

[36] Dies ist nicht unproblematisch. Zwarmüssen sich gebärfähige Patientinnenverpflichten, zwei wirksame Verhütungs-methoden gleichzeitig einzusetzen,trotzdem wurden in Brasilien zwischen1963 und 1994 über 60 Kinder mitMissbildungen geboren, die nachweislichdurch die Einnahme von Thalidomidwährend der Schwangerschaft bedingtwaren. Diese an sich segensreicheMaßnahme der WHO wird deswegenkontrovers diskutiert: J. Cutler, Lancet11999944, 343, 795.

[37] G. Kaplan et al. Proc. Natl. Acad. Sci. USA11999933, 90, 5974.

[38] Die Ursachen der Teratogenität sind nachvierzig Jahren immer noch nichtvollständig aufgeklärt. Zuunterschiedlichen Vorstellungen siehe:

C.J. Tabin, Nature 11999988, 396,322; R. Neubert etal. Nature 11999999, 400, 419 und C.J. Tabin,ibid. 420.

[39] P. Richardson, Ann.Rev. Med. 22000022, 53,629.

[40] B.Knoche und G. Blaschke, J.Chromatogr.A, 11999944, 666, 235.

[41] T.-L. Chen et al., Drug. Metab. Dispos.11998899,17, 402.

[42] T. Eriksson et al., Eur.J.Clin.Pharmacol.22000011, 57, 365

Autor dieser Rubrikist Prof. Klaus Rothvon der FreienUniversität Berlin.E-Mail: [email protected]