3
Wird bei Kindern mit Kraniosynosto- sen das Wachstum des Sinus frontalis und der Supraorbitalregion durch ein frühes frontoorbitales Advancement negativ beeinflußt? Ist die Stirnhöhle als gestaltender Faktor der äußeren Kontur anzusehen? Diese beiden Fra- gen werden in der Literatur kontrovers diskutiert [3, 4, 7]. McCarthy et al. [4] kamen bei ihrer 1990 vorgelegten re- trospektiven Studie zu dem Ergebnis, daß das Trauma eines frühen Eingriffs zur mangelhaften Pneumatisation der Stirnhöhle führe. Dies habe in der Mehrzahl der Fälle Wachstumsstörun- gen mit Abflachung und Einziehungen zur Folge, die in unausweichlichen Se- kundäroperationen nur sehr schwer korrigiert werden könnten. Marchac et al. [3] sahen in ihrer Arbeit von 1995 dagegen nur eine geringe Beeinträchti- gung des supraorbitalen Wachstums nach frühem Advancement. Sie wiesen darauf hin, daß bei ihren Patienten kei- ne Korrelation zwischen dem ästheti- schen Ergebnis und dem Pneumatisati- onsgrad des Sinus frontalis bestehe. Z. B. sei dieser bei Kindern mit Trigono- zephalus um 17% vermindert, bei Pa- tienten mit Brachyzephalus sogar um 58%. Ziel unserer Arbeit sollte die Überprüfung des eigenen Patienten- guts im Hinblick auf die Indikation ei- nes frühen frontoorbitalen Advance- ments sein. Patienten und Methode Wir haben retrospektiv die Krankengeschichten von 12 Kindern mit Kraniosynostosen nachun- tersucht, die an der Universität Tübingen in den Jahren von 1987–1989 einem frontalen Advan- cement unterzogen worden waren. Die Opera- tionen wurden von der Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und der Abteilung für Neurochirurgie gemeinsam durchgeführt. Bei den Krankheitsbildern entfielen 2 Fälle auf den Morbus Crouzon und 4 Fälle auf das Apert- Syndrom. Dazu kamen 5 Kinder mit einem Tri- gonozephalus sowie 1 mit Plagiozephalus. Das Durchschnittsalter der Patienten zum Operati- onszeitpunkt betrug beim Morbus Crouzon 4 Monate, beim Plagiozephalus 2 Monate, beim Trigonozephalus 6 Monate und beim Apert- Syndrom 7 Monate (Tabelle 1). Das Nachsor- geintervall erstreckte sich mindestens bis zum 8. Lebensjahr. Um bei den geringen Patientenzah- len, die sich auch noch in verschiedene Krank- heitsbilder aufsplittern, mit der Literatur ver- gleichbare Ergebnisse zu erhalten, haben wir uns eng an das Untersuchungsschema von Mc- Carthy et al. [4] und Marchac et al. [3] gehalten. Dazu wurde der Entwicklungsgrad der Stirn- höhle im Röntgenbild beurteilt, wozu folgende Einteilung herangezogen wurde: 1. kein Sinus frontalis, 2. rudimentärer Sinus frontalis, Mund Kiefer GesichtsChir (1998) 2 [Suppl 2] : S41–S43 © Springer-Verlag 1998 Einfluß von frühem frontoorbitalem Advancement auf das Wachstum von Stirnhöhle und Supraorbitalregion C. Reichel, B. Will, C. P. Cornelius, N. Schwenzer Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Eberhard-Karls-Universität, Tübingen Dr. C. Reichel, Osianderstraße 2–8, D-72076 Tübingen S41 Zusammenfassung Bei 12 Patienten mit Kraniosyn- ostosen wurde der Einfluß eines frühen frontoorbitalen Advance- ments auf das Wachstum von Stirn- höhle und Supraorbitalregion un- tersucht. Dabei zeigte sich bei ei- ner Untersuchung im 8. Lebens- jahr eine Verminderung der Pneu- matisation um 50%. Dieser Wert korrelierte jedoch nicht mit der äußeren Kontur. Der Stirnhöhle kann kein dominierender Einfluß auf das Wachstum der Supraorbi- talregion zugeschrieben werden. Der sehr frühe Operationszeit- punkt führte in 9 von 12 Fällen nicht zu Wachstumsstörungen. Ei- ne weitere Untersuchung des Pati- entenkollektivs mit 16 Jahren nach vollständigem Abschluß des Wachstums wäre wünschenswert. Schlüsselwörter Kraniosynostose · Frontoorbitales Advancement · Wachstumsstörun- gen der Stirnhöhle und Supraorbi- talregion ORIGINALIEN Tabelle 1 Alter zum Zeitpunkt der Operation Krankheitsbild Alter [Monate] Morbus Crouzon 4 Plagiozephalus 2 Trigonozephalus 6 Apert-Syndrom 7

Einfluß von frühem frontoorbitalem Advancement auf das Wachstum von Stirnhöhle und Supraorbitalregion

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Wird bei Kindern mit Kraniosynosto-sen das Wachstum des Sinus frontalisund der Supraorbitalregion durch einfrühes frontoorbitales Advancementnegativ beeinflußt? Ist die Stirnhöhleals gestaltender Faktor der äußerenKontur anzusehen? Diese beiden Fra-gen werden in der Literatur kontroversdiskutiert [3, 4, 7]. McCarthy et al. [4]kamen bei ihrer 1990 vorgelegten re-trospektiven Studie zu dem Ergebnis,daß das Trauma eines frühen Eingriffszur mangelhaften Pneumatisation derStirnhöhle führe. Dies habe in derMehrzahl der Fälle Wachstumsstörun-gen mit Abflachung und Einziehungenzur Folge, die in unausweichlichen Se-kundäroperationen nur sehr schwerkorrigiert werden könnten. Marchac etal. [3] sahen in ihrer Arbeit von 1995dagegen nur eine geringe Beeinträchti-gung des supraorbitalen Wachstumsnach frühem Advancement. Sie wiesendarauf hin, daß bei ihren Patienten kei-ne Korrelation zwischen dem ästheti-schen Ergebnis und dem Pneumatisati-onsgrad des Sinus frontalis bestehe. Z.B. sei dieser bei Kindern mit Trigono-zephalus um 17% vermindert, bei Pa-tienten mit Brachyzephalus sogar um58%. Ziel unserer Arbeit sollte dieÜberprüfung des eigenen Patienten-guts im Hinblick auf die Indikation ei-nes frühen frontoorbitalen Advance-ments sein.

Patienten und Methode

Wir haben retrospektiv die Krankengeschichtenvon 12 Kindern mit Kraniosynostosen nachun-tersucht, die an der Universität Tübingen in denJahren von 1987–1989 einem frontalen Advan-cement unterzogen worden waren. Die Opera-tionen wurden von der Abteilung für Mund-,Kiefer- und Gesichtschirurgie und der Abteilungfür Neurochirurgie gemeinsam durchgeführt.Bei den Krankheitsbildern entfielen 2 Fälle aufden Morbus Crouzon und 4 Fälle auf das Apert-Syndrom. Dazu kamen 5 Kinder mit einem Tri-gonozephalus sowie 1 mit Plagiozephalus. DasDurchschnittsalter der Patienten zum Operati-onszeitpunkt betrug beim Morbus Crouzon 4Monate, beim Plagiozephalus 2 Monate, beimTrigonozephalus 6 Monate und beim Apert-Syndrom 7 Monate (Tabelle 1). Das Nachsor-geintervall erstreckte sich mindestens bis zum 8.Lebensjahr. Um bei den geringen Patientenzah-len, die sich auch noch in verschiedene Krank-heitsbilder aufsplittern, mit der Literatur ver-gleichbare Ergebnisse zu erhalten, haben wiruns eng an das Untersuchungsschema von Mc-Carthy et al. [4] und Marchac et al. [3] gehalten.Dazu wurde der Entwicklungsgrad der Stirn-höhle im Röntgenbild beurteilt, wozu folgendeEinteilung herangezogen wurde:

1. kein Sinus frontalis,2. rudimentärer Sinus frontalis,

Mund Kiefer GesichtsChir (1998) 2 [Suppl 2] : S41–S43 © Springer-Verlag 1998

Einfluß von frühem frontoorbitalem Advancement auf das Wachstum von Stirnhöhle und Supraorbitalregion

C. Reichel, B. Will, C. P. Cornelius, N. SchwenzerKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Eberhard-Karls-Universität, Tübingen

Dr. C. Reichel, Osianderstraße 2–8, D-72076Tübingen

S41

Zusammenfassung

Bei 12 Patienten mit Kraniosyn-ostosen wurde der Einfluß einesfrühen frontoorbitalen Advance-ments auf das Wachstum von Stirn-höhle und Supraorbitalregion un-tersucht. Dabei zeigte sich bei ei-ner Untersuchung im 8. Lebens-jahr eine Verminderung der Pneu-matisation um 50%. Dieser Wertkorrelierte jedoch nicht mit deräußeren Kontur. Der Stirnhöhlekann kein dominierender Einflußauf das Wachstum der Supraorbi-talregion zugeschrieben werden.Der sehr frühe Operationszeit-punkt führte in 9 von 12 Fällennicht zu Wachstumsstörungen. Ei-ne weitere Untersuchung des Pati-entenkollektivs mit 16 Jahren nachvollständigem Abschluß desWachstums wäre wünschenswert.

Schlüsselwörter

Kraniosynostose · FrontoorbitalesAdvancement · Wachstumsstörun-gen der Stirnhöhle und Supraorbi-talregion

O R I G I N A L I E N

Tabelle 1Alter zum Zeitpunkt der Operation

Krankheitsbild Alter[Monate]

Morbus Crouzon 4Plagiozephalus 2Trigonozephalus 6Apert-Syndrom 7

3. einseitiger Sinus frontalis,4. doppelseitiger Sinus frontalis.

Die äußere Kontur wurde an hand von Fotos undFernröntgenbildern überprüft, wobei folgendeBewertung verwendet wurde:

1. normales Erscheinungsbild,2. befriedigendes Ergebnis,3. partiell chirurgische Revision nötig,4. komplette Revision nötig.

Ergebnisse

Bezogen auf alle Patienten war diePneumatisation der Stirnhöhle im 8.Lebensjahr im Vergleich mit einer un-

operierten Kontrollgruppe um 50%verringert (Tabelle 2). Aufgrund dergeringen Fallzahl kann nicht differen-ziert werden, ob die in Tabelle 2 dar-gestellten unterschiedlichen Pneuma-tisationsgrade zwischen den einzelnenKrankheitsbildern auf diese selbstzurückzuführen sind oder ob es sichhierbei um zufällige Schwankungenhandelt. In 2 Fällen fanden sich im Al-

ter von 8 Jahren noch Knochende-fekte, die sowohl röntgenologisch im-ponierten als auch mit deutlich sicht-baren Weichteileinziehungen einher-gingen. Eine Korrelation zwischen derGröße der Stirnhöhle und dem ästheti-schen Ergebnis konnte nicht gefundenwerden. Abb.1 zeigt das Röntgenbildeines neugeborenen Jungen mit Ver-schluß von Frontal- und Koronarnaht.Die Operation erfolgte mit 8 Monaten.Bei vollständiger knöcherner Konsoli-dierung war röntgenologisch im Altervon 9 Jahren eine Stirnhöhle nichtnachweisbar, während die Supraorbi-talregion ein annähernd normalesWachstum zeigt (Abb.2). In den übri-gen 4 Fällen, in denen ein Trigonoze-phalus vorlag, war die Stirnhöhle da-gegen wenigstens einseitig pneumati-siert. Bei den Patienten mit ästhetischweniger guten oder schlechten Ergeb-nissen (3 Fälle) war dies auf Ein-ziehungen der Weichteile zurückzu-führen, denen die lokale knöcherneUnterlage fehlte.

S42

O R I G I N A L I E N

Mund Kiefer GesichtsChir (1998) 2 [Suppl 2] :S41–S43© Springer-Verlag 1998

The influence of early fronto-orbital advancement on the growth of the frontal sinus and supraorbital region

C. Reichel, B. Will, C. P. Cornelius, N. Schwenzer

Summary

In 12 patients with craniosynosto-sis the influence of early fronto-or-bital advancement on the growthof the frontal sinus and supraor-bital region was examined. A fol-low-up examination at the age of 8years showed a lack of pneumati-sation of about 50%. However,there was no correlation betweenthis score and the external contour.The frontal sinus has no dominantinfluence on the growth of thesupraorbital region. In 9 out 12 ofcases the very early operation timedid not lead to disturbances ofgrowth. A further follow-up exam-ination of the patients after termi-nation of growth at the age of 16 isplanned.

Key words

Craniosynostosis · Fronto-orbitaladvancement · Disturbance ofgrowth in the frontal region

Tabelle 2Pneumatisation des Sinus frontalis nach Krankheitsbildern

Krankheitsbild n = 12 Nein Rudimentär Unilateral Bilateral

Plagiozephalus 1 0 1 0 0Morbus Crouzon 2 0 1 0 1Apert-Syndrom 4 1 2 1 0Trigonozephalus 5 1 0 3 1

Abb.1. Röntgenbild eines neugeborenen Jun-gen mit prämaturem Verschluß von Frontal- undKoronarnaht sowie medial hochgezogenemsteilgestelltem Orbitadach (Trigonozephalus)

Abb.2 a, b. Im Alter von 9 Jahren weitgehend normales Aussehen mit unauffälliger Kontur derknöchernen Orbita

a b

Diskussion

Die Schwierigkeiten der Interpretationliegen zum einen in der geringen Fall-zahl, zum anderen darin, daß sich dieAuswirkungen der verschiedenen Er-krankungen nicht genau differenzierenlassen. Hat ein unbefriedigendes Er-gebnis seinen Ursprung in der Krank-heit selbst oder liegt es an einer insuf-fizienten Behandlungstechnik? Dazukommt, daß das Stirnhöhlenwachstumerst im 2. Lebensjahrzehnt abgeschlos-sen ist. Aus anthropologischer Sichtwird das Aussehen der Supraorbitalre-gion klar von der Form und Größe derStirnhöhle bestimmt. So korrespon-diert die gewöhnlich flache Stirn beiaustralischen Aborigines oder bei denEskimos mit einem nur rudimentäroder gar nicht vorhandenen Sinus fron-talis, während bei Schwarzafrikanerneine gewöhnlich gut pneumatisierteStirnhöhle oftmals auch mit einer ho-hen Stirn verbunden ist [2, 5]. Diesermehr statischen Sicht stehen die Un-

tersuchungen von Enlow [1] und Pre-vot et al. [6] gegenüber, die dem Zugder angreifenden Muskulatur die grö-ßere Bedeutung zusprechen. UnserePatienten betreffend kann gesagt wer-den, daß trotz sehr frühem frontoorbi-talem Advancement keine gravieren-den Wachstumsstörungen aufgetretensind und daß keine Korrelation zwi-schen der Größe der Stirnhöhlen undder äußeren Kontur gefunden werdenkonnten. Es konnte nicht nachgewie-sen werden, daß die Indikation zurfrühen Operation nur sehr streng ge-stellt werden kann. Um die definitivenUnterschiede zu einer unoperiertenKontrollgruppe zu bestimmen, wäreeine weitere Untersuchung der Patien-ten mit 16 Jahren wünschenswert.

Literatur

1. Enlow DH (1968) An account of the postna-tal growth and development of the craniofa-cial skeleton. In: The human face. Harper &Row, New York, 1992

2. Hanson CL, Owsley DW (1980) Frontal sinussize in Eskimo populations. Am J Phys An-thropol 53 :251

3. Marchac D, Renier D, Arnaud E (1995) Eval-uation of the effect of early mobilisation of thesupraorbital bar on the frontal sinus andfrontal growth. Plast Reconstr Surg 95 : 802–811

4. McCarthy JG, Karp NS, La Trenta GS,Thorne CH (1990) The effect of early fron-toorbital advancement on frontal sinus devel-opment and forehead aesthetics. Plast Recon-str Surg 86 : 1078–1084

5. Moss ML, Young RW (1960) Afunctional ap-proach to craniology. Am J Anthropol 18 :281–289

6. Prevot M, Renier D, Marchac D (1993) Lackof ossification after cranioplasty for cran-iosynostosis: a review of relevant factors in592 consecutive patients. J Craniofac Surg 4 :247–254, Discussion 255–256

7. Tessier P (1971) The definitive plastic surgi-cal treatment of the severe facial deformitiesof craniofacial dysostosis: Crouzon’s andApert’s diseases. Plast Reconstr Surg 48 : 419

S43