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Inhalt Einleitung 7 I Schulden 20 Kapitalangebot 24 Verschuldungsstimmung 27 Von Kontrolle auf Sorge 30 Soziotechnische Innovationen 38 Auf- und Abwertungsmechanismen 42 #haben 50 II Haben 53 Von System zu Praxis 55 Ökonomische Praktiken 60 Kapitalistische Praktiken 65 #können 70 III Können 73 Geschriebene Werte 75 Verteilungsanstalten 82 Kapitalproduzenten 87 #aneignen 91 IV Aneignen 94 Zum Dualismus in der Politischen Ökonomie 97 Vermögensinflation 104 Plünderungszirkel 110 Zinsgewinne 118 #verändern 125

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Inhalt

Einleitung 7

I Schulden 20Kapitalangebot 24Verschuldungsstimmung 27Von Kontrolle auf Sorge 30Soziotechnische Innovationen 38Auf- und Abwertungsmechanismen 42#haben 50

II Haben 53Von System zu Praxis 55Ökonomische Praktiken 60Kapitalistische Praktiken 65#können 70

III Können 73Geschriebene Werte 75Verteilungsanstalten 82Kapitalproduzenten 87#aneignen 91

IV Aneignen 94Zum Dualismus in der Politischen Ökonomie 97Vermögensinflation 104Plünderungszirkel 110Zinsgewinne 118#verändern 125

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V Verändern 128Legitimatorische Obdachlosigkeit 131Instabil und dysfunktional 141Banken ökonomisieren? 145Geldschöpfung demokratisieren? 152#keystrokes 160

Literatur 163Zum Autor 176

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Einleitung

Es gibt auf der Welt derzeit etwa 256 Billionen US-DollarPrivatvermögen. Diese Zahl ist gut 800 Mal so groß wieder Staatshaushalt der Bundesrepublik Deutschland imJahr 2016 und etwa dreieinhalb Mal so groß wie die glo-bale Wirtschaftsleistung.1 In wohlhabenden OECD-Län-dern wie den USA, Großbritannien oder Frankreich ent-spricht das Privatvermögen etwa fünf- bis sechsmal derSumme des jährlich erwirtschafteten Wertes. Und auch impoststaatswirtschaftlichen China ist das Privatvermögeninzwischen auf das Viereinhalbfache der Wirtschaftsleis-tung angewachsen.2

Dieser Rekordwohlstand steht im Kontext zweierweiterer Befunde, die zusammen auf eine gesellschaftlicheKrise verweisen und das Thema dieses Buches bilden.Gleichzeitig zum prosperierenden Privatvermögen kämpftdie Welt mit einem Höchststand an Schulden: Staaten,realwirtschaftliche Unternehmen und Konsumenten sindmit 152 Billionen Dollar verschuldet,3 hinzu kommen gut45 Billionen Dollar Schulden der Finanzindustrie.4 Dassdie Welt ungeheures Privatvermögen anhäufen kann undgleichzeitig in einem solchen Maße verschuldet ist – in der

1 Diese kollektive Wertschöpfung wird vom Internationalen Wäh-rungsfonds (IWF) für das Jahr 2015 auf etwa 73 Billionen US-Dollar(im Folgenden: Dollar) geschätzt. Vgl. zu diesen Daten Credit Suisse,Global Wealth Databook 2016.

2 Alvaredo u. a., »Global Inequality Dynamics«.3 Daten des IWF, abrufbar unter https://www.imf.org/en/Data.4 McKinsey Global Institute, »Financial Globalization: Retreat or Re-

set?«.

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Mitte des 20. Jahrhunderts unvorstellbar –, ist selbstre-dend kein Zufall. Natürlich sind die Schulden des einendie Vermögen des anderen. Die gute Hälfte des Privat-vermögens besteht aus Finanzanlagen, also Bankgutha-ben, Ansprüchen gegenüber Fonds oder Versicherungen,Staatskrediten, Aktien usw.5 Werten also, die nur deswe-gen Vermögen sind, weil ein anderer versprochen hat,Zahlungen zu leisten – und von jenen gibt es immer mehr.Viele Experten warnen seit Jahren davor, dass die privatenund öffentlichen Schulden Höhen erreicht haben, diedurch die mit normalen ökonomischen Prozessen gene-rierten Einnahmen nie wieder abzutragen sein werden.6

Das Wachstum privater Vermögen und die zuneh-mende Verschuldung der OECD-Welt stehen darüber hi-naus aber auch in einem dynamischen Kausalzusammen-hang, der auf die Ungleichheitswende verweist – dendritten Ausgangsbefund. Denn sowohl Einkommen undVermögen als auch die Schulden selbst sind zunehmendungleichmäßig verteilt. Zwar sind im weltweiten Maßstabdie Einkommen der sogenannten »globalen Mittelklas-sen« in den letzten Jahren gestiegen und haben insoferndie Ungleichheit zwischen den Ländern relativ gesehen et-was abnehmen lassen,7 allerdings zeigt der Blick in ein-zelne der wohlhabenden Länder ein ganz anderes Bild.Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Anteil, den die ein-kommensstärksten und reichsten oberen Prozent der Ver-

5 Vgl. Credit Suisse, Global Wealth Databook 2016.6 Vgl. Streeck, Gekaufte Zeit; Crouch, »Privatised Keynesianism«;

Keen, Debunking Economics; Pettifor, Production of Money;McKinsey Global Institute, »Financial Globalization: Retreat or Re-set?«.

7 Milanovic, Die ungleiche Welt.

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mögenspyramide bei sich konzentrieren konnten, in vie-len entwickelten OECD-Ländern zunächst gesunken. Diedadurch geschürte Hoffnung auf sich zunehmend unddauerhaft egalisierende Gesellschaften allerdings wurdeenttäuscht.8 Seit den späten 1970er Jahren wird die Vertei-lung des Einkommens und besonders die Verteilungdes Privatvermögens wieder zunehmend asymmetrischer.Zwischen 1978 und 2015 ist beispielsweise die tatsächliche,inflationsbereinigte Kaufkraft des Einkommens der ärme-ren Hälfte der amerikanischen Bevölkerung um ein Pro-zent gefallen. Im gleichen Zeitraum hat das tatsächlicheEinkommen des reichsten einen Prozents der Einkom-mensverteilung um fast 200 Prozent zugenommen.9 InFrankreich, das unter Umständen als Repräsentant eineswesteuropäischen Musters gelten kann,10 ist das Einkom-men seit Mitte der 1970er um etwa ein Prozent pro Jahr ge-wachsen. Zieht man allerdings das eine Prozent der Bevöl-kerung mit den höchsten Einkommen ab, so bleiben nurnoch 0,6 Prozent für die verbleibenden 99 Prozent. Für die

8 Diese Erwartung geht nicht zuletzt auf die einschlägigen Studien vonSimon Kuznets zurück (siehe etwa: Kuznets, »Economic Growth andIncome Inequality«). In der neueren Ungleichheitsforschung wirdvielfach auf diese enttäuschte Erwartung Bezug genommen: Piketty,Das Kapital, S. 25–34; Atkinson, Ungleichheit, S. 63f.; Milanovic, Dieungleiche Welt, S. 55; Bourguignon, Die Globalisierung der Un-gleichheit, S. 65f.; Galbraith, Inequality, S. 29f. Man glaubte, in denWorten Pikettys, dass »die ausgleichenden Kräfte von Wachstum,Wettbewerb und technologischem Fortschritt von selbst zu einerVerringerung der Ungleichheit und einer harmonisierenden Stabili-sierung in den fortgeschrittenen Entwicklungsphasen« (Piketty, DasKapital, S. 13) von Volkswirtschaften führen würden.

9 Alvaredo u. a., »Global Inequality Dynamics«.10 Ebd., S. 4.

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meisten Länder des OECD-Raums lässt sich Vergleichba-res feststellen.11

Die Verteilung von Vermögen zeigt dieselbe Entwick-lung: Anfang der 1960er besaßen die reichsten zehn Pro-zent in Großbritannien beispielsweise etwa 67 Prozent desPrivatvermögens und in Frankreich und den USA warenes etwa 70 Prozent. Zwanzig Jahre später war dieser Anteilzunächst auf unter 50 Prozent respektive gut 60 Prozent inden USA gesunken.12 Dann kam die Trendwende, um 2010besaßen die reichsten Bürger Großbritanniens bereitswieder annähernd 54 Prozent, Frankreichs etwa 56 Prozentund der USA knapp 74 Prozent des gesamten Privatver-mögens.13

Ökonomische Ungleichheit kann deswegen von derSoziologie heute, wie Pierre Rosanvallon bemerkt, nichtals »eine Erblast der Vergangenheit« behandelt und etwamit einem Verweis auf langfristige Trends der Egalisie-rung beiseitegeschoben werden.14 Vielmehr haben wir esmit der »Umkehr einer säkularen Tendenz« zu tun, einem»spektakulären« und »historische[n] Bruch«.15 Es gilt, nachden Ursachen für diesen Bruch zu forschen.

Beobachter und Beobachterinnen mit einem wirt-schaftsliberal imprägnierten sozialen Sensorium kriti-sieren die Ungleichheitsforschung manchmal dafür, amInteresse der Menschen vorbeizudenken. Anstatt sich dar-

11 OECD, Divided We Stand.12 Daten der World Income and Wealth Database (www.wid.world)

und der OECD (stats.oecd.org/).13 Förster u. a., »Trends in Top Incomes and their Taxation in OECD

Countries«; OECD, In It Together.14 Rosanvallon, Gesellschaft der Gleichen, S. 12.15 Ebd., S. 15.

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über zu echauffieren, dass einige Wenige fast das gesamteKapital der Welt besitzen, und damit Neiddebatten anzu-heizen, solle man sich auf die Kritik und Bekämpfung vonArmut konzentrieren.16 Gegen Armut könne man, so dieBegründung des Einwands, mit wenig Aufwand großeVerbesserungen erreichen. Schon geringe Investitionenhätten hier weit größere Effekte als etwa teure, aufwendigeund normativ umstrittene Umverteilungspolitiken. Da istetwas dran, doch letztlich steckt im Verweis auf Armut alseigentliches Problem ein problematisches theoretischesKonstrukt des (Neo)liberalismus: die Vorstellung näm-lich, Ökonomie sei letztendlich eine Veranstaltung von In-dividuen – und nicht, wie es die Perspektive der Wirt-schaftssoziologie voraussetzt, eine Sache von Strukturen.Die liberalistische Wirtschaftstheorie von Adam Smith bisMilton Friedman denkt Ökonomie als Veranstaltung au-tonom entscheidender Haushalte, die Kapital einsetzen,um ihre Situation zu verbessern. Armutsbekämpfungheißt in dieser Tradition die Verbesserung der »Markt-chancen« kapitalloser Haushalte durch Transferzahlungenund Ausbildung, die die »Marktgängigkeit« der Menschenerhöhen. In der Forderung, sich statt mit Ungleichheitdoch lieber mit Armut zu beschäftigen – die nicht zufälligmit dem Morgengrauen des neoliberalen Zeitalters envogue wurde –, steckt also bereits die theoretische An-nahme einer klassisch liberalistisch gedachten (politi-schen) Ökonomie, die strukturelle Bedingungen wieasymmetrischen Kapitalbesitz oder die ungleich verteiltenBegünstigung durch wirtschaftliche Systeme oder gesell-

16 Zu diesem Einwand: Atkinson, Ungleichheit, S. 35ff.

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schaftliche Bedingungen schlicht ignoriert.17 Damit solldie in den meisten Fällen lebensbedrohliche Dramatikvon Armut als gesellschaftlichem Problem keinesfalls inAbrede gestellt werden. Armutsbekämpfung ist wichtigund sie muss ausgeweitet werden, weil sie Leben rettet.Aber von den Sozialwissenschaften zu fordern, sich des-wegen nicht mehr mit ökonomischer Ungleichheit zu be-schäftigen, ist keine wissenschaftliche, sondern eine poli-tische Forderung, die denjenigen in die Hände spielt, dievon diesem System so viel stärker profitieren als die großeMehrheit. Der Versuch, mit dem Verweis auf die Armutvon der Ungleichheit abzulenken, verhindert sogar einewirksame Armutsbekämpfung, wie nicht zuletzt die Welt-bank betont.18 Es gilt also – und dazu versucht dieser Essayeinen Beitrag zu leisten – die Strukturen zu identifizieren,die einige wenige bevorzugen und so viele benachteiligen.Eine dieser Strukturen ist das Finanzsystem.

Finanzvermögen sind noch ungleicher verteilt als dieVermögen insgesamt. In den USA gehören über 90 Prozentder Unternehmensanteile, Schuldverschreibungen sowieFonds- und Stiftungsforderungen den reichsten zehn Pro-zent; bei Lebensversicherungen, Bankeinlagen und Pensi-onsforderungen sind es jeweils gute 60 Prozent. Eine rela-tiv kleine Minderheit besitzt also eine deutliche Mehrheitder Finanzanlagen – und das gilt praktisch für die ganzeWelt.19 Je weiter man in der Vermögensverteilung nachoben schaut, desto mehr Finanzvermögen im Verhältnis

17 Ebd., S. 37.18 World Bank, Poverty and Shared Prosperity 2016: Taking on Inequa-

lity.19 Brandmeir u. a., Allianz Global Wealth Report 2015, S. 19.

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zu Sachvermögen wird man sehen. Das ist nun vor allemdeswegen beachtenswert, weil der Halter einer Finanzan-lage – der Gläubiger – Anrechte auf Tilgungs- und Zins-zahlungen des Schuldners sein Eigen nennt. Anders alsSachwerte wie Häuser, Autos, Maschinen, Land usw. sindFinanzwerte also immer auch Transferbeziehungen. Ein-kommen aus diesen Transferbeziehungen werden mehrund wichtiger für das Gesamteinkommen, je näher mander Spitze der Vermögenspyramide kommt.20

Die Schuldner dieser Transferbeziehungen finden sichin der Mehrheit in den ärmeren Schichten der Vermö-gensverteilungen: Während die Bürgerinnen und Bürgerder Eurozone beispielsweise im Durchschnitt (also inklu-sive der reichsten zehn Prozent) Schulden in der Größen-ordnung von etwa 20 Prozent ihrer Vermögen haben, sohaben die einkommensschwächsten 20 Prozent mit etwa110 Prozent mehr Schulden als Vermögen, sind im Durch-schnitt also komplett überschuldet.21 Anfang der 1980erJahre waren die einkommensschwächeren 95 Prozent derUS-Bevölkerung im Durchschnitt weniger verschuldet alsdie oberen fünf Prozent. Mitte der 2000er hingegen warendie 95 Prozent deutlich überschuldet (ihre Schuldenquotehat sich verdoppelt), während die einkommensstärkerenfünf Prozent ihre Verschuldung sogar reduziert hatten.22

De facto, unabhängig von einer Bewertung dieser Ent-wicklung, ist das Finanzsystem in den letzten 25 Jahrenasymmetrischer geworden. Weil Finanzvermögen (vor al-

20 Förster u. a., »Trends in Top Incomes«.21 Credit Suisse, Global Wealth Databook 2016.22 Kumhof/Rancière, »Leveraging Inequality«; Goda/Lysandrou, »The

Contribution of Wealth Concentration to the Subprime Crisis«.

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lem bei sehr Wenigen versammelt) und Schulden (vor al-lem bei der großen Mehrheit zu finden) zwei Enden einerBeziehung sind, die man Zahlungsversprechen nennenkann, hat das System der Finanzanlagen intrinsischeWohlstandseffekte: Die wohlhabende Spitze der Vermö-gensverteilung und die ärmere untere Hälfte stehen sichnicht nur als unabhängige Gruppen gegenüber, die »Ha-benden« auf der einen Seite der Mauer, die »Nichthaben-den« auf der anderen; vielmehr ist die Minderheit an derSpitze als Halter der meisten Finanzanlagen Gläubiger derMehrheit. Die Finanzanlagen leiten als Zahlungsverspre-chen Zins- und Tilgungszahlungen von der Schuldner-mehrheit zur Gläubigerminderheit. Das Finanzsystemfunktioniert als gewaltiges Transfersystem von unten nachoben. Um die Trinität aus privatem Wohlstand, Schulden-rekord und der Ungleichheitswende zu durchschauen,muss man deswegen verstehen, wie das Finanzsystem sogroß und wichtig und gleichzeitig zunehmend asymme-trisch werden konnte.

Die wachsenden Finanzvermögen der Wenigen, diegleichzeitig die wachsenden Schulden der Mehrheit dar-stellen, verweisen genauer gesagt auf eine Restrukturie-rung des globalen Kapitalismus in der zweiten Hälfte des20. und den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts. Der ersteAspekt dieser Restrukturierung ist der Prozess der Finan-zialisierung: Ausgelöst durch eine Lockerung der Spiel-regeln für die Finanzwirtschaft und die Erfindung innova-tiver Produkte wurde das Finanzsystem seit den späten1970er Jahren zu einem immer attraktiveren Ort für Kapi-talakkumulation. Das heißt, immer mehr Kapitaleinnah-men wurden durch Investitionen in Schulden generiert,immer weniger durch die Investition in Arbeitskraft, In-

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dustrie oder sonstige Realwirtschaftsbereiche. Wer verste-hen will, warum es so viel Privatvermögen gibt, das gleich-zeitig so ungleich verteilt ist, der muss sich zunächstanschauen, warum überhaupt so viele Finanzwerte – unddamit so viele Schulden – produziert werden und warumdiese Investments so ertragreich wurden. Die Grundlagendafür legt das erste Kapitel und verweist dabei auf die Be-sonderheit des Treibstoffs der Finanzialisierung, den Kre-dit.23

Die Trinität aus wachsendem privaten Wohlstand,anschwellenden Schuldenbergen und zunehmender Un-gleichheit verweist auf eine besondere Struktur im Ma-schinenraum des Kapitalismus. Diese Struktur wird inAnalysen und Kritiken allzu oft unterschätzt. Auch deswe-

23 Offensichtlich kann die Ungleichheitswende nicht durch singuläreFaktoren erklärt werden. Die Ursachen der zunehmenden Einkom-mens- und Vermögenskonzentration lassen sich grob in drei Kate-gorien einteilen: Die Ökonomen Atkinson und Milanovic verweisenfür eine Erklärung der Ungleichheitswende auf die Umstrukturie-rung der Arbeitsmärkte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,die man unter dem Titel Globalisierung und technologischer Wandelzusammenfassen kann. (Milanovic, Eine ungleiche Welt, S. 18; At-kinson, Ungleichheit, S. 111 ff.). Die Globalisierung von Arbeits-märkten begünstigt, verschärft von der steigenden Technologieab-hängigkeit der Produktionsketten, gut ausgebildete Arbeitskräfte insogenannten wissensintensiven Betätigungsfeldern und benachtei-ligt einfache Industriearbeiter. Diese Einschätzungen teilen viele in-stitutionelle Beobachter der Ökonomie (ILO, World of Work Report2011; OECD, Employment Outlook 2007; OECD, Growing Unequal?;European Commission, Employment in Europe 2007; IMF, WorldEconomic Outlook 2007). Piketty, Das Kapital, oder Stiglitz, Reichund Arm, diskutieren weitere Faktoren, die soziologische Debattesowieso, einen Überblick bieten Mau/Schöneck (Hg.), (Un-)Ge-rechte (Un-)Gleichheiten; Bude/Staab (Hg.), Kapitalismus und Un-gleichheit.

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gen fehlen uns derzeit vernünftige und zielführende Ant-worten auf die ökonomischen Krisen und neuen globalenVerwerfungen. Wenn man von Kapitalismus spricht, dannwird der Begriff zumeist gleichbedeutend mit »kapitalis-tischer Ökonomie« verwendet. Kapitalismus gilt uns alseine spezielle Form, ökonomische Wertschöpfungspro-zesse zu organisieren, was auch erklärt, warum kritischeAnalysen dieser Organisationsform des Ökonomischenhäufig auf alternative Wirtschaftsmodelle abzielen. Digi-talisierungseuphoriker wie Jeremy Rifkin oder Paul Ma-son beispielsweise sehen durch die neuen Internettech-nologien postkapitalistische Wertschöpfungsprozesse amHorizont aufziehen, weil dank dezentraler Produktion(z. B. durch den heimischen 3D-Drucker) und freiem In-formationsaustausch (z. B. die Muster, die dem 3D-Dru-cker sagen, was er zu tun hat) Produkte ressourcenscho-nend, dezentral und ohne Gewinnoptimierungszwanghergestellt werden könnten.24 In anderen kapitalismuskri-tischen Studien und Kommentaren liest man von nicht-kapitalistischen Wertschöpfungsprozessen, die sich aufGemeineigentum, lokale Tausch- und Geschenkprojekte,urbane Selbstversorgungsexperimente, solidarische Netz-werke und viele andere auf Hoffnung beruhende Alter-nativen beziehen.25 Das Problem dieses Denkmusters istdabei die unhinterfragte Identifikation von Kapitalismusund kapitalistischer Ökonomie. Auf den ersten Blick sug-geriert die Redeweise von einer kapitalistischen Ökono-

24 Rifkin, Null-Grenzkosten-Gesellschaft; Mason, Postkapitalismus;vgl. zur These der Digitalökonomie als nichtkapitalistische Wert-schöpfungsform: Elder-Vass, Profit and Gift in the Digital Economy.

25 Vgl. exemplarisch Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Commons.

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mie zwar, dass »Kapitalismus« und »Ökonomie« zwei dif-ferenzierbare Konzepte sind. Dann aber wird in einemzweiten Schritt so argumentiert, als könne man allein ka-pitalistische Wertschöpfungsprozesse von prä- oder post-kapitalistischen unterscheiden, über das Gegenteil wirdnicht gesprochen. Denn wenn »Kapitalismus« und »Öko-nomie« zwei differenzierbare Konzepte sind, dann muss esauch so etwas geben können wie einen nichtökonomischenKapitalismus. Das zweite Kapitel wird sich bemühen zu er-gründen, was man sich darunter vorstellen kann.

Die Identifikation von nichtökonomischen – oder,wie es später etwas abgeschwächter heißen wird: paraöko-nomischen, aber dennoch kapitalistischen – Wertschöp-fungsprozessen ist für eine Analyse (und eine Kritik) derTrinität von wachsendem privaten Wohlstand, anschwel-lenden Schuldenbergen und zunehmender Ungleichheitentscheidend. Denn die Finanzialisierung, die im erstenKapitel in ihre Einzelteile zerlegt wird, wird von einersolchen paraökonomischen Wertschöpfung angetrieben:dem Privileg privater Banken, Geld durch die Vergabevon Krediten aus dem Nichts zu erschaffen. Dieses Geld-schöpfungsprivileg wird im dritten Kapitel vorgestellt. Diegewaltigen Kapitalmengen, die seit Jahrzehnten den Auf-stieg des Finanzsystems und damit die Ausdehnung derSchuldenmenge antreiben, kommen nicht, wie manch-mal in der Alltagskommunikation unterstellt wird, durchArbeit in die Welt, sie werden auch nicht, wie die meis-ten vermuten,26 durch die Regierungen produziert undauch nicht, wie in Ökonomielehrbüchern häufig zu lesen

26 Cobden Centre, Public Attitudes to Banking.

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ist, durch die Zentralbanken. Vielmehr sind es heute pri-vate Geschäftsbanken, die einen Großteil des Geldkapi-tals durch die Vergabe von Krediten »aus dem Nichts« er-schaffen, unabhängig von der Kontrolle durch Regierungoder Zentralbank, einfach, indem sie eine Zahl auf einemComputerkeyboard eintippen und mit der Eingabetastebestätigen. Geldkapital wird heute durch Tastendruck– »keystroke« – erzeugt.27

Die Tatsache, dass Banken heute bei der Vergabe vonKrediten Kapital aus dem Nichts erzeugen können, ohnedabei auf den verfügbaren Bestand an Kapitaleigentumangewiesen zu sein, unterläuft nicht nur eingespielte Ver-ortungen des kapitalistischen Kommandozentrums beiden Kapitaleigentümern, sondern auch die politische Se-mantik, mit der die Zusammenhänge von Finanzialisie-rung und radikal ungleichmäßiger Vermögensbildunggemeinhin beschrieben und diskutiert werden. Die Wert-schöpfung von Banken ist eine Ausnahme im Herzen deskapitalistischen Systems – nicht, weil sie nicht kapitalis-tisch agieren würden, sondern im Gegenteil, weil sie soagieren können, ohne den Beschränkungen zu unterlie-gen, die allgemein für Akteure in ökonomischen Syste-men unterstellt werden. Diese Ausnahmesituation, in derKapital einfach »auf Knopfdruck« entsteht, nenne ichKeystroke-Kapitalismus.28

Während die ersten drei Kapitel zu erklären versuchen,wieso die Schulden und das private Vermögen im letztenVierteljahrhundert derartig stark zugenommen haben,

27 Wray, Modern Money Theory, S. 81.28 Vgl. zu diesem Begriff Sahr, »Reichtum aus Feenstaub«, und ders.,

Das Versprechen des Geldes.

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stellt das vierte Kapitel die Verbindung zum dritten Teilder Triade her, der Ungleichheitswende. Es wird darumgehen, genauer zu verstehen, wie – auf welche Weise, durchwelche Strukturierungen oder Kanäle – Akteure von demGeldschöpfungsprivileg privater Banken profitieren. Inder Ungleichheitsforschung wird allzu häufig übersehen,dass im Kapitalismus der Gegenwart ökonomische undparaökonomische Verteilungseffekte zusammenwirken.Dieser blinde Fleck verhindert auch eine wirksame Son-dierung möglicher Dimensionen für Veränderung – dasThema des abschließenden fünften Kapitels. Der Umver-teilungsstaat muss eben nicht nur gegen die Effekte vonProzessen arbeiten, die von Kapitaleigentümern angesto-ßen werden, sondern auch gegen solche, die auf Kapital-produzenten – Banken – zurückzuführen sind. Will mandiesen ungleichen 2-gegen-1-Kampf gewinnen, darf mannicht nur über Umverteilung reden, sondern muss auchden Keystroke-Kapitalismus selbst zur Disposition stellen.