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Ekkehart Krippendorff Unzufrieden. 40 Jahre politische Wissenschaft Abschiedsvorlesung, Freie Universität Berlin, 8. Juli 1999 In der Idee leben heißt das unmögliche behandeln als wenn es möglich wäre. Goethe Unzufrieden – wie anders könnte und dürfte ich meine Gefühle nennen bei dem Versuch, eine persönliche Bilanz zu ziehen anläßlich des Abschiedes von einer Tätigkeit als Hochschullehrer, die ich an dieser Freien Universität, meiner alma mater, zwanzig Jahre lang ausgeübt habe, mit der aber eigentlich eine vierzigjährige Lebenszeit an ihr Ende kommt .Sie war einem großen Projekt gewidmet: Der Politischen Wissenschaft. Ich nenne es ein Projekt, weil diese Disziplin, in Deutschland ohne akademische Tradition, es sich zur Aufgabe gestellt hatte, die Welt in der wir leben, und die Gesellschaft, die wir nach den ersten zwölf von 1000 Jahren vorgefunden hatten, später einmal freundlicher, friedlicher, sicherer und versöhnlicher zu hinterlassen. Dieses Projekt Politische Wissenschaft, an dem ich mitgearbeitet habe, hatte sich geistig und moralisch orientieren wollen an der Perspektive des verschütteten aber nicht zerstörten Erbes von Aufklärung und Humanismus: Friedrich Meinecke, der Gründungsrektor der Freien Universität – und es mag umstandsbedingt gewesen sein, aber doch nicht ohne inneren Zusammenhang, daß hier später die größte deutsche politikwissenschaftliche Fakultät entstand – erhoffte sich nach der "Deutschen Katastrophe" mit der Bildung von netzwerkartigen "Goethe-Gemeinden" ein Signal zu setzen für den dauerhaften Ausstieg Deutschlands aus der Machtpolitik und ersten Schritt zu einem Wiederaufbau, der ein wirklicher Neubeginn wäre. Heute ist gewaltgestützte Machtpolitik wieder voll da, ist Deutschland bzw. die deutsche politische Klasse und ihre wissenschaftlich gestützte politische Publizistik stolz darauf und zufrieden damit, daß dieses Deutschland endlich alle Ansätze zu einem solchen oder irgendeinem anderen "Sonderweg" hinter sich gelassen hat, mit dem eine echte geistig-politische Konsequenz aus der Katastrophe von 1933 gezogen worden wäre: Deutschland ist, zur Erleichterung all derer, die die Anstrengung der Innovation und den Mut zur selbstbestimmten Politik scheuen, endlich so normal geworden, wie die anderen Staaten auch. Noch bis vor wenigen Wochen gab es in Deutschland ein seit 1945 geltendes wissenschaftliches und intellektuelles Tabu: Dem Krieg wurde der althergebrachte Anspruch abgesprochen, ein legitimes Mittel der Politik zu sein, deren ultima ratio. Nicht, daß wir die Augen verschlossen hätten vor der auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie abgerissenen Kette von Kriegen, aber sie waren gleichwohl moralisch und politisch als Instrument und Methode der Konfliktaustragung delegitimiert. Jetzt ist auch dieses Tabu gefallen - ein nur scheinbar geringfügiger, Ekkehart Krippendorff http://userpage.fu-berlin.de/~kpdff/texte/unzufrieden.htm 1 von 11 23.12.2011 01:53

Ekkehart Krippendorff Abschiedsvorlesung FU Berlin

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Ekkehart Krippendorff

Unzufrieden. 40 Jahre politische Wissenschaft

Abschiedsvorlesung, Freie Universität Berlin, 8. Juli 1999

In der Idee leben heißt

das unmögliche

behandeln als wenn es

möglich wäre.

Goethe

Unzufrieden – wie anders könnte und dürfte ich meine Gefühle nennen beidem Versuch, eine persönliche Bilanz zu ziehen anläßlich des Abschiedes voneiner Tätigkeit als Hochschullehrer, die ich an dieser Freien Universität, meineralma mater, zwanzig Jahre lang ausgeübt habe, mit der aber eigentlich einevierzigjährige Lebenszeit an ihr Ende kommt .Sie war einem großen Projektgewidmet: Der Politischen Wissenschaft. Ich nenne es ein Projekt, weil dieseDisziplin, in Deutschland ohne akademische Tradition, es sich zur Aufgabe gestellthatte, die Welt in der wir leben, und die Gesellschaft, die wir nach den ersten zwölfvon 1000 Jahren vorgefunden hatten, später einmal freundlicher, friedlicher,sicherer und versöhnlicher zu hinterlassen. Dieses Projekt Politische Wissenschaft,

an dem ich mitgearbeitet habe, hatte sich geistig und moralisch orientieren wollenan der Perspektive des verschütteten aber nicht zerstörten Erbes von Aufklärungund Humanismus: Friedrich Meinecke, der Gründungsrektor der Freien Universität– und es mag umstandsbedingt gewesen sein, aber doch nicht ohne innerenZusammenhang, daß hier später die größte deutsche politikwissenschaftlicheFakultät entstand – erhoffte sich nach der "Deutschen Katastrophe" mit derBildung von netzwerkartigen "Goethe-Gemeinden" ein Signal zu setzen für dendauerhaften Ausstieg Deutschlands aus der Machtpolitik und ersten Schritt zueinem Wiederaufbau, der ein wirklicher Neubeginn wäre. Heute ist gewaltgestützteMachtpolitik wieder voll da, ist Deutschland bzw. die deutsche politische Klasseund ihre wissenschaftlich gestützte politische Publizistik stolz darauf und zufriedendamit, daß dieses Deutschland endlich alle Ansätze zu einem solchen oderirgendeinem anderen "Sonderweg" hinter sich gelassen hat, mit dem eine echtegeistig-politische Konsequenz aus der Katastrophe von 1933 gezogen wordenwäre: Deutschland ist, zur Erleichterung all derer, die die Anstrengung derInnovation und den Mut zur selbstbestimmten Politik scheuen, endlich so normalgeworden, wie die anderen Staaten auch.

Noch bis vor wenigen Wochen gab es in Deutschland ein seit 1945 geltendeswissenschaftliches und intellektuelles Tabu: Dem Krieg wurde der althergebrachteAnspruch abgesprochen, ein legitimes Mittel der Politik zu sein, deren ultima ratio.Nicht, daß wir die Augen verschlossen hätten vor der auch nach dem ZweitenWeltkrieg nie abgerissenen Kette von Kriegen, aber sie waren gleichwohlmoralisch und politisch als Instrument und Methode der Konfliktaustragungdelegitimiert. Jetzt ist auch dieses Tabu gefallen - ein nur scheinbar geringfügiger,

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kaum wahrgenommener geschweige denn reflektierter Vorgang auf der sprachlich-diskursiven Ebene. Aber deutlich spürbar die Folgen: Die große Mehrheit derweitverbreiteten Kriegskritik der letzten Wochen bewegte sich wieselbstverständlich und als wäre nichts gewesen, innerhalb der alten, traditionellenParameter, als hätte es diese letzten 50 Jahre des "Krieg ist kein Mittel der Politikmehr"nicht gegeben. So haben wir in diesen letzten Wochen exemplarisch diestillschweigende Rückkehr zu historisch überholt geglaubten Politikbegriffen undHandlungsoptionen direkt miterlebt. Auf einmal ist es nicht mehr im Grundsatzfalsch und ohne Wenn und Aber zu verurteilen, ein Land mit Krieg zu überziehen,also den Krieg als Mittel zur Erreichung - durchaus legitimer! - Zweckeeinzusetzen, sondern dieser Krieg war nur eben nicht genügend durchdacht, wardisproportional in Mittel und Zweck, auch inkonsequent, weil z.B. auf Luftangriffebeschränkt oder vor allem deswegen zu kritisieren, weil er die gewünschtenResultate nicht in der erwarteten Weise erbracht hat. Dieser Paradigmen-Rückfallist schlimm und gravierend genug – für mich selbst aber enthält er eine zusätzlicheDimension kritisch-bitterer Bilanz, für die das bescheidene Wort "unzufrieden"nicht ausreicht.

Denn zu der Geschichte, die ich mit meiner Disziplin habe, gehört auch meinfrühzeitiges Engagement für eine deutsche Friedensforschung – ja, ich darf ohnefalsche Bescheidenheit behaupten, Mitte der 60er Jahre einer der ersten gewesenzu sein, die dafür in der Bundesrepublik wissenschaftlich geworben haben. Daswar damals nicht leicht, meinten doch die meisten politologischen odersozialwissenschaftlichen Kollegen: ‚Ich mache Forschung, ich bin für den Frieden,also mache ich doch längst Friedensforschung.‘ Als es dann dank der sozial-liberalen Koalition plötzlich Geld und einen Forschungsverbund gab, waren sienatürlich alle dabei – und sprangen dann eben so rasch wieder ab, als dieKonjunktur vorüber war; trotzdem blieben wenigstens zwei großeFriedensforschungsinstitute übrig bzw. gingen daraus hervor. Aber der Punkt, aufden es ankommt ist, daß diese sich zwischen die etablierten Disziplinen zuschiebende Friedensforschung den gesellschaftlichen Auftrag hatte, neueParadigmen der Politikanalyse zu entwickeln – insbesondere für die Außen- unddie Internationale Politik; oder ich sollte bescheidener sagen: dieses war meineVorstellung, meine Hoffnung für dieses Projekt. Zumindest die institutionalisierteFriedensforschung hat nun in den zweieinhalb Monaten NATO-Krieg ihre Stundeder Wahrheit gehabt (wozu die Stellungnahmen einzelner etablierterFriedensforscher zum Golfkrieg vor acht Jahren das Vorspiel waren). Und dieseWahrheit ist, daß von einem neuen politischen Paradigma, von einer radikalen undfundamentalen Politikkritik durch das Aufzeigen und die Entwicklung von nicht-kriegerischen Mitteln zur Lösung sozio-politischer und zwischenstaatlicherKonflikte nichts zu sehen war und ist; nur von daher aber, von der präventivenEntfaltung .politischer Phantasie der Gewaltfreiheit bezieht die Friedensforschungihre Legitimation. Tatsächlich haben die großen Institute, obwohl an ihnen vielegute und moralisch engagierte Wissenschaftler tätig sind, in den fast dreißig Jahrenihrer Existenz weder einen politologischen Innovations- und Kreativitätsschubbewirkt, noch zu einer gesteigerten moralischen Sensibilisierung derwissenschaftlich-intellektuellen Diskussion beigetragen. Und wer nun gar in diesemZusammenhang ganz leise an Friedrich Meinecke und seine Goethe-Gemeindenerinnert als an eine ethisch-politische Haltung, aus der sich ganz andereHandlungsstrategien hätten entwickeln lassen, der wird von den kritischenRealisten natürlich nicht einmal belächelt.

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Ich habe mein Studium der Politikwissenschaft im Sommersemester 1954 inFreiburg begonnen. Genaugenommen im Wintersemester danach – denn daß esüberhaupt so etwas wie ein Fach "Politische Wissenschaft" gab, das wußte ichzunächst gar nicht, als ich nach dem Abitur das Studium der Germanistik (oder vonirgendetwas Geisteswisssenschaftlichem) beginnen wollte – und ich konnte es auchnicht wissen, gab es doch damals in Deutschland überhaupt nur zwei Lehrstühleeines so ausgewiesenen Faches (den anderen hatte Theodor Eschenburg inTübingen inne, zu dem ich dann später auch überwechselte). Der freiburgerLehrstuhlinhaber war Arnold Bergstraesser, soeben erst aus der amerikanischenEmigration zurückgekehrt mit dem "Projekt", die "Wissenschaft von der Politik"an deutschen Universitäten zu etablieren, was bedeutete, sie gegen den Argwohnund das disziplinbornierte Mißtrauen von Jurisprudenz ("das machen wir dochlängst im Staatsrecht") und Geschichte ("Politik ist bereits unser ureigenstesThema") mühsam durchzusetzen. (Die Jüngeren unter Ihnen seien daran erinnert,daß die Deutsche Hochschule für :Politik in Berlin, das "Stammhaus" des heutigenOSI, nicht nur einzigartig in Deutschland war, sondern eben nicht zur Universitätgehörte, weil ihr Gegenstand, die Politik, von den akademisch etabliertenDisziplinen als nicht-wissenschaftsfähig galt.) So jung war dieses Fach damals, daßich glaube, der erste Politologe der Bundesrepublik geworden zu sein: Denn als ich1959 in Politikwissenschaft in Tübingen promovierte, hatten das vor mir zwarschon einige getan – aber sie waren alle "Quereinsteiger", kamen aus derPhilosophie, der Geschichte oder der Jurisprudenz und hatten nicht, wie ich,"schmalspurig" Politik von Anfang an als Hauptfach studiert. Arnold Bergstraessernun, von dessen Vorlesungen und Seminaren ich begeistert war und der mir ineinem Orientierungsgespräch, zu dem ich ihn aufgesucht hatte, schlicht und bündigerklärte: "Sie studieren Politikwissenschaft!", der hatte in seinem geistigen Gepäckein Buch mitgebracht, das er gleich nach Kriegsende in den USA als Antwort aufdie deutsche Katastrophe und die Sinnkrise des europäischen Zusammenbruchsgeschrieben hatte: "Goethe‘s Image of Man and Society". Aus diesem Horizontlehrte Bergstraesser – und lernte ich – Politikwissenschaft; hier, in Literatur,Dichtung und Philosophie, verortete er die Frage nach dem Politischen inGesellschaft und Geschichte; die Frage der griechischen Polis-Philosophie nachdem Schönen und Guten war organisch und selbstverständlich integriert in dieVorlesungen, Seminare und auch in unsere Referate zu konkreten politischenThemen. Denn, um da keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen:Bergstraesser war auch z.B. einer der Begründer der Disziplin InternationaleBeziehungen in der Bundesrepublik - als erster Herausgeber der bis heutebestehenden "Jahrbücher" der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik -arbeitete und lehrte also sehr wohl auch empirisch und gewissermaßen"traditionell". Mir dedizierte er damals zur Begründung unserer Lehrer-Schüler-Beziehung einen Goethe-Aufsatz mit der Widmung: "Herrn Ekkehart Krippendorffzu seinen Bemühungen um eine geistig verstandene Politik. A.B." Mehr als dreißigJahre später schrieb ich, wie einige von Ihnen vielleicht wissen, mein erstesGoethe-Buch.

Aber welcher Abstand trennt unsere heutige Disziplin von solcher "geistigbegründeten" Politik und Politikkritik! An die Hoffnung und Erwartung, mit derEtablierung des neuen Faches in Deutschland nach der Katastrophe einenParadigmenwechsel der Politik aus dem Geiste von Aufklärung und weimarerHumanismus einzuleiten, erinnert so gut wie nichts und niemand mehr. Meineeigenen bescheiden-unbescheidenen Bemühungen der letzten fünfzehn Jahre, andiese Tradition heute wieder anzuknüpfen, sie auszuarbeiten, zu erweitern und zuvertiefen, hat innerhalb der Disziplin – Sie wissen es – bisher kaum Resonanz

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gefunden; es wurde freundlich-milde belächelt, daß "Krippendorff sich mit Goethe– oder Shakespeare oder Verdi - beschäftigt" (eigentlich sollte er lieberEinführungskurse machen). Unsere Politologie hat ihre humanistische Herkunftund ihre Fundierung in einer demokratischen Ethik als Antwort auf dentotalzerstörerischen Nihilismus des Nazismus weitgehend vergessen und verdrängt– ihr bisweilen noch erinnertes frühes Selbstverständnis als"Demokratiewissenschaft" ist davon nur als eine rudimentäre Verkürzungübriggeblieben. Jenes mögliche andere Erbe wurde nicht zuletzt begraben unterden Anstrengungen einer Normalisierung des Faches im Kontext der Stabilisierungder restaurierten bundesrepublikanischen Gesellschaft und ihres Staates. Diezweite Politikwissenschaftler-Generation richtete ihre Karrieren und die jungeDisziplin an der angelsächsischen bzw. US-amerikanischen "Political Science" ausals dem wissenschaftlichen Standard – und ich muß autobiographisch-selbstkritischhinzufügen, daß ich dazu nicht unwesentlich aktiv beigetragen habe: Mein erstesBuch, entstanden vor dem Hintergrund der enormen emanzipatorischenFreiheitserfahrung, die ein US-Aufenthalt Anfang der 60er Jahre noch hatte, trugeben den Titel Political Science und versammelte exemplarische Texte, die alsmethodisches Vorbild für die damals noch junge deutsche Disziplin gemeint waren.Leider ist diese Saat inzwischen in einem geradezu verhängnisvollen Umfangeaufgegangen und hat jene geistigen Begründungen der Politik, die den Humus fürihre Kritik ausmachen, weitgehend unter ihrem Empirismus und Positivismusbegraben (wohinter sich immer auch zugleich, wenn nicht gar primär,akademischer Opportunismus verbirgt: Substanziell kritische Positionen undFragestellungen sind, nach ihrer kurzen karriereförderlichen Blütezeit zu Beginnder 70er Jahre, eher hinderlich auf dem Weg ins wissenschaftliche Establishment).Dabei haben wir uns hierzulande nicht, was ja auch denkbar gewesen wäre, daslebendige kritische Potential der amerikanischen Sozialwissenschaften angeeignet– an großen amerikanischen Radikalen wie C.Wright Mills oder Noam Chomskyhat sich keiner unserer etablierten amerikophilen Soziologen oder Politologenproduktiv orientiert.

Aber selbst wenn: Mir scheint, die Kritik selbst – die kritischePolitikwissenschaft zuvörderst – bedarf der Kritik, denn sie ist in ihrer heutigenForm stumpf geworden. Dort, wo sie innerhalb der sozialwissenchaftlichenDisziplinen noch als ruhe- und konsensstörend abgewiegelt wird und ihrenpotentiellen Protagonisten beizeiten und prophylaktisch möglicheKarriereschwierigkeiten signalisiert werden (die der wissenschaftliche Nachwuchsdann antizipierend verinnerlicht, indem er sich beizeiten stromlinienförmig anpaßt),sind solche Sensibilitäten des Establishments heute fast durchweg Atavismen.Ähnlich wie die mittels der katastrophalen paranoiden Berufsverbote blockierten"Radikalen im öffentlichen Dienst" zu keiner Zeit auch nur entfernt eine Gefahrfür die Stabilität der Bundesrepublik dargestellt haben, geht heute – oder ginggestern – von einer systemimmanent kritischen Politikwissenschaft keineBedrohung für irgend jemanden aus. Was Herbert Marcuse vor dreißig Jahren aufden Begriff der "repressiven Toleranz" brachte, hat sich inzwischen alspostmoderne Kultur des "anything goes" ausgebreitet und alle Bereiche von Politikund Gesellschaft durchdrungen. Die traditionelle aufklärerische Kritik auch derPolitikwissenschaft basierte ja doch auf der schlichten Voraussetzung einerwachsamen und aktiven Öffentlichkeit, die auf jeden Nachweis von mehr oderminder substanziellen Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit,zwischen empirischer Evidenz und behaupteter Absicht im Handeln der politischenKlassen und Repräsentanten mit einem "Aufschrei der Empörung" reagiert, dieMachthaber zur Rechenschaft und dann entweder zu einem Kurswechsel oder zum

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Machtverzicht zwingt. Diese Annahme aber scheint nicht mehr – oder immerweniger – haltbar zu sein. Dafür, daß die wache, kritische, demokratischeÖffentlichkeit auf dem Rückzug ist und zunehmend von einer solchen ersetzt wird,die unterhalten werden will, die die Politik vor allem als Schauspiel auf einerFernsehbühne wahrnimmt und sich zu ihr entsprechend verhält, gibt es reichlicheIndizien und überzeugende wissenschaftliche Analysen. Was jedoch fehlt – und essollte eine Maxime jeder Kritik sein, immer auch und zuerst die eigene Rolle undMitverantwortung für einen beklagten Zustand zu reflektieren – ist das m.E.notwendige Eingeständnis, daß unsere Disziplin selbst einen nicht unbeträchtlichenAnteil daran gehabt hat und weiterhin hat, diese Öffentlichkeit zu entmündigen,indem sie sie zur realpolitischen Passivität erzogen und damit den Boden bereitethat, auf dem die Polit-Unterhaltungsindustrie gedeihen konnte. Es hat sich,vergleichbar mit der Rolle des Sports, gegenüber der Politik eine Art"Zuschauermentalität" ausgebreitet, der eine auf Neutralität und Distanz bedachtePolitikwissenschaft ungewollt zuarbeitet, indem sie sich sowohl vor einerdeutlichen und klaren Sprache scheut (Max Weber z.B. hatte noch den Mut, diedeutschen Regierenden des Ersten Weltkrieges "eine Horde Irrsinniger" zunennen), als auch immer weniger den Mut zum Urteilen aufbringt. Zwei Seiten derselben Medaille: die szientifistische Sprache verdrängt die Urteilskraft, so wie derVerzicht auf das Urteil durch eine sterile Sprache kompensiert wird.. DieBefähigung zum Urteil jedoch ist die wichtigste republikanische Qualifikation, dieÖffentlichkeit dazu auszubilden die wichtigste Aufgabe unserer Wissenschaft; aberwir haben es – mit – zugelassen, daß aus dem immer zu begründenden Urteil diebeliebige und unverbindliche Meinung als Orientierungsnorm der Politik gewordenist, der Umfrageforscher und Politiker gleichermaßen hinterher rennen. Von einerUrteilsforschung, die ja die "Wahrheitsfrage" wenigstens zu berücksichtigen hättebei der Bewertung der Politik, hat die unsere Wissenschaft anscheinend nochnichts gehört.

Zu exemplifizieren wäre diese Mitverantwortung der Wissenschaft an derfatalen Zuschauermentalität mit Studium und Lehre der InternationalenBeziehungen, einem meiner eigenen Arbeitsgebiete. Vierzig Jahre Kalten Krieghaben wir hinter uns – aber in den sich anschließenden zehn Jahren keinerleisystematische Selbstkritik geleistet an den Kategorien, Methoden, Begriffen undder Sprache, mittels derer diese ungeheuerliche Pathologie, dieser in derGeschichte der Menschheit wohl höchste Gipfel politischer Unvernunft in dieKöpfe der Menschen gepflanzt wurde, dergestalt, daß vom gebildetstenMeinungsmacher bis hin zum letzten Zeitungsleser "alle" davon überzeugt waren,daß der "Rüstungswahnsinn" eben kein Wahnsinn sondern rationale Politik sei. Diepolitischen Klassen in Ost und West hätten diese höchst erstaunliche Leistung, dieunglaublichsten Absurditäten als die Staatskunst der Sicherheitspolitik zuverkaufen, ohne die Unterstützung der Wissenschaft nicht zustande gebracht. Undes waren recht eigentlich Politikwissenschaftler in vorderster Front, die sich jeneabenteuerlichen Gedankenkonstruktionen und Theorien der"Abschreckungspolitik" in allen ihren Facetten überhaupt erst ausgedacht hatten,darüber Bücher, ja ganze Bibliotheken vollschrieben, Konferenzen und Seminareabhielten, um dieser "Logik der Unvernunft" dann über ihre Studenten, die späterJournalisten und Außenpolitikexperten wurden, öffentliche Akzeptanz zuverschaffen. Wir mögen heute, wo wir "noch einmal davongekommen" scheinen,darüber lächeln und zu neuen Tagesordnungen übergehen – aber nichts wäreverhängnisvoller. Nur wer es ernst nimmt, daß in den ganzen achtziger Jahren inden USA jeden Monat eine "Raketenbedrohungskonferenz" abgehalten wurde, diedie Einsatzbereitschaft und Zielplanung für 12.500 Atomwaffen (alle mit

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mehrfacher Hiroshima-Sprengkraft) überprüfte – spiegelbildlich dürfte dasselbe inder Sowjetunion stattgefunden haben – und die damit die amerikanische Politik mittechnischer Präzision und ohne Skrupel (die kamen einigen Wenigen erstnachträglich, als sie aus dem Amt geschieden waren und ihnen aufging, was sie dagetan hatten) auf den nuklearen Weltuntergang ausrichtete: Nur wer sich das sokonkret wie möglich in allen Details und Konsequenzen des ständig geplantenErnstfalls vorstellt, der beginnt etwas von der sog. "Außen- und Sicherheitspolitik"zu verstehen als einer hochgradig krankhaft-kriminellen Veranstaltung gefährlicherGeisteskranker (die übrigens damals die bezeichnende Abkürzung MAD =Mutually Assured Destruction – zu deutsch: "verrückt" trug). Nach einem kurzenInterludium hat die amerikanische Regierung unter Clinton ihrAtomrüstunsprogramm wieder voll in die strategische Linie des Kalten Kriegesgebracht und "modernisieren" die russischen Strategen ihrerseits ihre atomare"Abschreckung" (wie es scheint aus der Furcht: ‚nach Serbien sind wir dran‘) - vonChina, Indien, Pakistan etc. ganz zu schweigen. Man kann davon bisweilen und beigenauem Hinsehen in den zugänglichen Zeitungen lesen, auch mit kritischem Tonberichtet. Aber welche wissenschaftliche Kritik nennt diese "Politik" bei ihremwahren Namen, erkennt dies als die rationale Planung von Verbrechen, alsDummheit in intelligenter Potenz, nicht den Namen und die Würde des BegriffsPolitik verdienend, sondern nur mit klinischen Kategorien zu verstehen und zuverurteilen. Geben wir unseren Studierenden die intellektuellen Werkzeuge, dieMaßstäbe und die analytischen Kategorien mit, die es ihnen erlauben, den Sachenauf den Grund zu gehen, nicht nur deskriptiv zu recherchieren und ihre angeleseneEmpirie dann mit bedeutend klingenden Begriffen zu schmücken, sondern auchden Mut zum klaren Urteil zu entwickeln? Lehren wir – sofern wir es selbstpraktizieren – das Kant’sche , sapere aude: Habe den Mut, dich deines eigenenVerstandes zu bedienen?

Nirgendwo ist die Versuchung so groß wie in der Politik, offensichtlichIrrationales als Vernunft auszugeben, die ungeheuerlichsten Absurditäten instaatsmännisches Handeln umzuerklären. Ja, die Politikwissenschaft scheintgeradezu von diesem verhängnisvollen Geschäft zu leben. Sie treibt es dem/derjungen Studierenden aus, so naive Fragen zu stellen (um bei der aktuellenAußenpolitik zu bleiben) wie die, warum die mühsam bewilligte europäischeWirtschaftshilfe für den Wiederaufbau des kriegsverwüsteten Bosnien ungefähr soviel ausmacht, wie ein einziger NATO-Kriegstag gegen Serbien, für den wiederumkein Parlament oder Ministerrat je eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt hatund wo wirtschaftliche Anlagen zerstört werden, die anschließend zum dreifachenPreis mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut werden müssen, während dasjugoslawische Militär, das erklärte Ziel der Angriffe, überhaupt nur fünf Prozentdes materiellen Schadens der jugoslawischen Zerstörungen erlitten hat. Am Endeerklärt die politikwissenschaftliche Analyse alles – und versteht nichts. Nirgendsscheint gesunder Menschenverstand, eine unverstellte Vernunft so untauglich zumVerstehen der Wirklichkeit wie in der Politik – und nirgends ist sie zugleich dochso lebensnotwendig: Denn Politik im ursprünglichen Sinne dieser ungeheurenErfindung vor zweieinhalbtausend Jahren hieß doch und heißt noch immer nichtsGeringeres als die Selbstbestimmung von Bürgern in ihrem Gemeinwesen durchden selbständigen Gebrauch ihrer Vernunft.

Was die Politikwissenschaft verlernt hat und fast durchgängig nicht mehrlehrt, ist die Legitimierung direkter, naiver Fragen, die Fragen des Sokrates oderauch die Brecht’schen des lesenden Arbeiters. Denn natürlich ist es "naiv", wenn

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der zeitunglesende Student – bzw. die Studentin – etwa die 1,2 Millionen ausSteuergeldern bezahlten Mark, die eine einzige Bundeswehrrakete kostet, inBeziehung setzt zu den eingesparten 600 DM, die für Tutoren oderBibliotheksaufsichtsstellen nicht mehr vorhanden sind, und wenn er/sie dannweiter liest, daß die Bundeswehr davon in Jugoslawien 240 u.a. aufKrankenhäuser, Elektrizitätswerke, Wasserwerke, Kirchen und Museenverschossen hat, die demnächst auch mit deutschen Steuergeldern wiederaufgebaut werden sollen. Natürlich ist es "naiv", zu fragen, was damit gewonnenist, wenn für sieben Milliarden (von den nicht berechenbaren ökologischen Kostenganz zu schweigen) eine Magnetbahn von Berlin nach Hamburg gebaut werdensoll, damit einige Bankiers, Manager oder Spitzenbeamte eine Stunde Wegzeiteinsparen, und es ist natürlich auch "naiv", dieses Projekt auf seine demokratischeLegitimation hin zu befragen und den Protestunterschriften von mehr als 100.000Bürgerinnen und Bürgern auch nur irgendeine Bedeutung beizumessen gegenüberdem Sachverstand der Regierenden. Politologen haben zu verstehen – und denBürgerInnen als professionelle Publizisten, Journalisten oder auch Politiker dannzu erklären – daß z.B. ein Militär-, pardon: Verteidigungshaushalt des Bundesnichts mit dem Wissenschaftsetat der Länder zu tun hat und daß wir in einerrepräsentativen Demokratie leben, in der die Parlamente und nicht dieBürgerInnen direkt entscheiden. Es ist "naiv" zu erwarten, daß die Regierendenihren WählerInnen die Wahrheit über die enormen Probleme und potentiellenKatastrophen sagen, die auf uns in Wirtschaft und Ökologie zukommen, wennnicht ein ernsthafter Kurswechsel mit Reduktion eines offensichtlich überhöhtenKonsumismus, genannt "Wohlstand", versucht wird, weil sie ja alle entwedergewählt oder wiedergewählt werden wollen – und die Politologie wird diesesLeben in der Lüge als den für die Demokratie zu zahlenden Preis wissenschaftlichbegründen und rechtfertigen.-

Mein zweiter politikwissenschaftlicher Lehrer, ich erwähnte es schon, warTheodor Eschenburg in Tübingen, zu dem mich Arnold Bergstraesser selbsthingeschickt hatte. Hatten wir in Freiburg über Politisches literarisch undphilosophisch diskutiert (mein erstes Referat hatte ich über die Marx’schenFrühschriften gehalten), eröffnete Eschenburg das erste Seminar, das ich bei ihmbesuchte, mit der Frage: "Hat Premierminister Macmillan vom Froschmann Crabetwas gewußt oder nicht?" Natürlich fiel ich da aus allen Wolken geistigbegründeter Politik (es ging damals, 1956, um einen dramatischen Zwischenfallwährend des ersten sowjetischen Flottenbesuchs in England, den der englischeGeheimdienst dazu benutzt hatte, um einen Taucher – den "Frogman Crab" – zurEntdeckung möglicher kriegstechnologischer Geheimnisse unter den Kiel dessowjetischen Kreuzers zu schicken, von wo er mysteriöserweise nur als geköpfteLeiche wieder auftauchte) – und lernte hier eine andere Lektion: Die Pflicht derPolitik zur Einhaltung ihrer eigenen Gesetze und Regeln, die konfliktkanalisierendeund friedensermöglichende Rolle von Institutionen, daß Politik etwas mit Dienenund Amtsverantwortung zu tun hat, daß Verfasssungen respektiert werden müssen,wenn sie die Freiheit aller sichern sollen, und nicht "oben" anders und großzügigerausgelegt werden dürfen als "unten" (um solche Amtsverantwortung war es damalsbei der Frage gegangen, ob ein Premierminister davon informiert sein muß, wassein Geheimdienst tut – Eschenburg eröffnete jedes Seminar mit einerGrundsatzfrage aus der Tagespolitik), daß Korruption – die Vorteilnahme im Amt,aber auch, und gefährlicher weil subtiler, die Arroganz der Macht als eine ihrervielen Erscheinungsformen – die größte Bedrohung für Rechtsstaat unddemokratisches Regieren darstellt. Es gibt so etwas wie eine Moral behördlicherKorrektheit des politischen Handelns, das Ethos der Transparenz, das nicht zuletzt

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den gesellschaftlich Schwachen zum Schutze dient. Auch innerhalb der Institution,in der wir tätig und für deren Verfassung wir zuständig sind: der Universität; wieman diese korrumpieren, sie, ohne den Buchstaben des Gesetzes zu verletzen,innerlich zerstören kann, haben wir bei den vergangenen Präsidentenwahlenmiterlebt. Ich selbst habe von Theodor Eschenburgs rigoroser Institutionen-Ethikprofitiert: Als mich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät derFreien Universität 1970 bei der Habilitation durchfallen ließ, war mein tübingerLehrer so empört über dieses offensichtlich politisch motivierte Votum, daß ermich zur Habilitation nach Tübingen einlud – und als dort auch einigeFakultätskollegen gegen den "linksradikalen Krippendorff" protestierten, erklärteer ihnen mit der ihm eigenen großen Autorität kurzerhand, sie hätten nicht diePolitik des Habilitanden zu bewerten (mit der er selbst alles andere alseinverstanden war!), sondern nur seine wissenschaftliche Leistung; auf dieseWeise wurde ich dann knapp zehn Jahre später für die FU doch noch gerade soeben wieder akzeptabel.- Aber das Grundsätzliche sei auch hier nicht aus denAugen verloren: In der realistisch-empiristischen Politologie wird uns begrifflichbeizeiten die natürliche Differenz zwischen Verfassungsrecht undVerfassungswirklichkeit beigebracht und daß das Studium der Politik die Letztere,also die "Wirklichkeit" zum Gegenstand habe (eine empirische Untersuchung der"Verfassungswirklichkeit" der FU-Selbstregierung wäre eine höchstwünschenswerte und notwendige politologische Aufgabe); tatsächlich gehört dasGrundgesetz, dessen 50.Geburtstag derzeit überall publizistisch gefeiert wird, zuden bei PolitologInnen eher ungelesenen Texten. Politik als Selbstbestimmung undSelbstregierung von Bürgerinnen und Bürgern eines Gemeinwesens ist ohneNormen – geschriebene aber ebenso ungeschriebene – nicht möglich, und die Rolleder Wissenschaft von der Politik besteht auch darin, immer wieder unerbittlich aufder Normativität im politischen Handeln zu bestehen, Maßstäbe zu setzen bzw. diegesetzten Maßstäbe einzuklagen. Zwar lebt sie von der Diskrepanz zwischen Seinund Sollen, Recht und Wirklichkeit, öffentlicher Bekundung und realer Praxis –fiele beides zusammen bestünde die Welt aus Engeln und wäre Erkenntnisarbeitweder möglich noch überhaupt nötig - aber ihre intellektuelle Würde undwissenschaftliche Rechtfertigung als akademische Disziplin bezieht die Politologieaus eben jener Aufgabe, über die Moral der Politik und der politischen Klasse zuwachen. Sie ist entweder eine Ethik-Disziplin oder gar keine. Damit hatte dasöffentliche Philosophieren des Sokrates begonnen, das lehrt uns die Leidenschaftder politischen Analyse eines Max Weber, aus diesem Impuls war dieWissenschaft von der Politik nach der deutschen Katastrophe entstanden und hattesie ihre ersten Schüler rekrutiert.

Darum machen wir uns mitschuldig an der politisch-geistigen Misere und densich häufenden Katastrophen in Ökologie und Apparate-Welt, (von Krieg, Gewaltund Hunger ganz zu schweigen), für die unmittelbar die Arroganz derHerrschenden in Chefetagen und Ministerien mit Namen und Adresse, mittelbaraber auch wir verantwortlich sind, wenn wir Symptome kritisieren ohneUrsachenforschung zu betreiben im Sinne der Aufdeckung jener Unvernunft, die inden Strukturen der Herrschaft von Menschen über Menschen angelegt ist. "Warumwurde mir nicht die Gedankenkraft, die geschändete Menschheit zu einemAufschrei zu zwingen? Warum ist meine Gegenruf nicht stärker...?" fragte sichKarl Kraus angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkrieges, mit dem dieKatastrophen des 20.Jahrhunderts eingeleitet, von dem sie ausgelöst wurden. DiePolitikwissenschaftliche Disziplin ist international gesehen ein Produkt desselbenWeltkrieges (auch die berliner Hochschule für Politik). Wir müssen uns der Fragestellen, warum es trotzdem zu den folgenden politischen Katastrophen gekommen

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ist. Wann und wo haben die Vertreter unserer Disziplin wenigstens versucht, habensie es überhaupt als unsere Aufgabe erkannt, "die geschändete Menschheit zueinem Aufschrei zu zwingen"? - was ja nur ein kräftigeres – vielleichtangemesseneres, in jedem Falle leidenschaftlicheres – Wort ist für Aufklärung, fürdas Sapere aude. Versuchen wir es, erkennen wir es heute? Ich glaube, daß wirangesichts der sich inmitten unseres Wohlstandes verdunkelnden Horizonte allenGrund haben, mit uns unzufrieden zu sein.

Und zwar unzufrieden nicht nur wegen fehlender Radikalität und fehlendemMut zum Urteil. Der "Mut", von dem hier unter Berufung auf Kant appellativ dieRede ist, ist weniger eine Charakterfrage als ein wissenschafts-immanentesProblem: Diese Wissenschaft ist – wiederum nicht ohne unser aller Zutun –sprachlich derart verarmt, daß wir Vieles, was wir wissen und eigentlich sagenmöchten, nicht mehr ausdrücken können, weil uns die lebendige Sprache abhandengekommen ist. Unsere Fachterminologie ist so dürr und kalt, die Begrifflichkeit sostarr und standardisiert geworden, daß die so formulierten Ergebnisse – diewissenschaftlichen Aufsätze, Publikationen und unzähligen Konferenzpapiere –untereinander geradezu austauschbar werden, in jedem Falle sich aber dadurch"auszeichnen", keinen auch nur andeutungsweise persönlichen Stil, keinepersönliche Schreib- und Ausdrucksweise mehr erkennen zu lassen. Zwar ist es inallen Gesellschaften und Kulturen immer nur Wenigen gegeben, das, was sie – oftstellvertretend für ihre Mitmenschen – sehen, fühlen und wahrnehmen auch inangemessene Worte zu fassen, Sprachewerden zu lassen: Wir nennen sie dannunsere "Dichter" oder wenigstens "Schriftsteller". Aber die heutigePolitikwissenschaft hat sich, wie mir scheint mehr noch als andereSozialwissenschaften, um einem selbst schon extrem verengten und verkümmertenspätneuzeitlichen Begriff von Wissenschaft zu genügen, sprachlich in ein Gehäusezurückgezogen, in eine Begriffsfestung, von der aus sie die Wirklichkeit nur nochdurch Sehschlitze wahrnimmt, also in verkümmerter, begrenzter und verkürzterErscheinungsform. Nur über das, wofür sie ihre fachspezifischen Begriffe undKategorien hat, kann und will sie ihre "wissenschaftlichen" Aussagen machen,auch wenn die einzelnen Wissenschaftler selbst tatsächlich oft sehr viel mehrwahrnehmen und wissen – aber sie haben in der Regel nicht den Mut, dieseneigenen Wahrnehmungen zu vertrauen und nicht mehr die Sprache, ihnenAusdruck zu verleihen. In der "Festschrift", die meine langjährigen akademischenFreunde aus Anlaß meines Abschieds zusammengestellt haben, plädiert derLiteraturwissenschaftler Leo Kreutzer in genau diesem Sinne Für eine lebendige

Wissenschaft des Politischen durch einen an der Goethe’schenWissenschaftssprache orientierten Sprachgebrauch, "der genau, aber zugleichliterarisch ‚versatil‘ ist" und vor dem "die radikal entliteralisierte ‚Exaktheit‘ vonvorab definierten Begriffen...als Künstliche Dummheit" erscheint. Um meineDisziplin und mich selbst aus eben dieser Zwangsjacke nur-politologischenWirklichkeitsverständnisses (und damit einhergehender Regression politologischerKritikfähigkeit) zu befreien, habe ich mich seit meiner Rückkehr aus Italien nachBerlin, 1978, darum bemüht, literarische Welt-Wahrnehmung, literarischesPolitikverständnis und, darüber vermittelt, auch die Sprache der Literaturinterdisziplinär fruchtbar zu machen. Ich gestehe, daß ich mit den konkretenErgebnissen dieser Ausbruchsversuche nur in wenigen Fällen zufrieden bin – undam allerwenigsten dort, wo es um politikwissenschaftliche Texte im disziplinärenSinne geht.

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Die formal vielgestaltigen und inhaltlich vielthematischen Beiträge des soebenzitierten Bandes lassen erahnen, was eine zukünftige, lebendige Wissenschaft desPolitischen alles leisten könnte – und welche Disziplin dürfte, recht betrieben,aufregender sein! Er wird eingeleitet durch einen Offenen Brief meines FreundesWolf-Dieter Narr über "Politikwissenschaft als Beruf, den wir mein(t)en", der eineArt Summe der Erfahrungen und Motive zumindest einiger aus unserersozialwissenschaftlichen Generation zieht, die in diesen Jahren ihre Lehrstühleverlassen haben oder in Bälde verlassen werden. Sofern die Jüngeren unter Ihnen(und irgendwie unterstelle ich das optimistischerweise) ein Interesse daran haben,zu wissen, wer wir waren, wie wir wurden was wir sind, möchte ich Ihnen diesenText ganz besonders ans Herz legen. Wir haben uns auf dieses Fach, diesen Berufeingelassen insgeheim angetrieben von der traumatischen Erfahrung desNationalsozialismus. "Insgeheim" heißt, daß es uns erst im Laufe unserer Jugend-und dann Studentenzeit langsam aber unaufhaltsam alle anderen Erfahrungen,Probleme, Fragen und Hoffnungen durchdringend bewußt wurde, was daUngeheuerliches eigentlich geschehen war – ohne nun deswegen paranoid überallden "Neofaschismus" wittern zu wollen. Es geht da um mehr als ein rhetorisch-selbstgerechtes "Nie Wieder" sondern um die viel radikalere und schwierigereFrage: "Wie konnte es geschehen?" Und für uns konkret: Wie war und ist esmöglich, "daß alles so weiter geht, daß die Geschichte nicht einmal 1945 einen‚Sprung‘ erhalten hat." Der Blick zurück ist die Voraussetzung für den Blick nachvorn. Die Nazismus-Erfahrung hat uns im Bösen gelehrt, was wir im Guten lernenmüssen: Hier wurden von Menschen staatlich organisierte und legitimierteVerbrechen begangen, die sich keine, auch nicht die schwärzeste politischePhantasie hat vorstellen können; das war ein schwerer Fehler aus unreflektiertemVertrauen auf traditionelle Politik- und Verhaltensmuster. Spiegelbildlich nunbeobachteten wir mit der Restauration – bald nach "1945" (als Metapherverstanden) – die Rückkehr zu eben jenen traditionellen Politikformen undGesellschaftsstrukturen, die doch eigentlich hätten diskreditiert sein müssen, durchdas, was möglich gewesen war. Warum hat die Politikwissenschaft es nicht überdie schüchternen Ansätze des Neudenkens der Politik, die ich anfangs erinnerthabe, hinausgebracht? Es gibt für diese Befangenheit damals gute und plausibleErklärungen – aber keine Entschuldigungen. Und es gibt sie in unserer Situationvergleichsweiser Ruhe schon gar nicht. "Phantasie, Phantasie und noch einmalPhantasie, Vorstellungskraft, Einbildungskraft, das ist die sozialwissenschaftlichintellektuelle Forderung des bleibenden Tages", schreibt Narr in seinem OffenenBrief. Ich sähe diese Worte gern in großen Lettern über dem Eingang zu dieseminzwischen langsam historisch werdenden Institut.

Es geht hier nicht um eine Aufforderung zum Träumen mit geschlossenenAugen oder zur Entwicklung von schönen Utopien: Politische,politikwissenschaftlich kontrollierte Phantasie ist vielmehr eine absolutlebensnotwendige Ressource im Umgang mit den vielen dramatischen Problemender Zeit, zu deren "Lösung" der Rekurs auf die traditionellen Instrumente undMethoden immer weniger beizutragen in der Lage ist. Konkret und an den Anfangmeiner kritischen Unzufriedenheit zurückkehrend: Die Tatsache, daß einekriminelle Regierungspolitik mitten in Europa keine anderen Interventions-, also"Einmischungs"-Methoden durch die demokratischen Gesellschaften provozierthat als die militärischen, ist ein eklatantes Beispiel für nicht mobilisierte zivilePhantasie. Was wäre da nicht alles planspielerisch möglich gewesen, um jenesRegime und seine Exekutoren aufzuhalten und von einem verführten Volk zutrennen, um es dann zu stürzen: Eine Strategie totaler internationaler Isolierung,eine massive Aufklärung der desinformierten Bevölkerung über die Verbrechen,

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die in seinem Namen begangen werden, mittels einfallsreicher Formen derKommunikation (Flugblätter, mobile Fernseh- und Rundfunkstationen), einesystematische Verwarnung aller militärischen Einheiten, sich an keinenVertreibungsaktionen oder anderen Kriegsverbrechen zu beteiligen mitgleichzeitiger Ankündigung von internationalen Prozessen, die Errichtung voninternationalen Tribunalen für Minderheitenschutz unter der Voraussetzunggewaltfreien Widerstandes gegen Unterdrückung, der Einsatz jener Tausenden vonjungen Leuten, die in den letzten Jahren politische Mediation gelernt und geübthatten - - kurz: zu jeder Form der Gewalt gibt es - wenn wir es uns selbst gestatten,politische Phantasie zu entwickeln - zivile, gewaltfreie Alternativen.

Es darf, ja es muß daran erinnert – und wieder angeknüpft – werden, daß diebuchstäblich dramatische Erfindung und Entdeckung der Politik in dengriechischen Poleis des 6. vorchristlichen Jahrhunderts (sie war "dramatisch" auchinsofern, als sie sich auf der Bühne vollzog und durch die Tragödie sanktioniertwurde) ein Phantasieprodukt zur gewaltfreien Konfliktlösung ohne historischeVorbilder war. Und so muß die Politik immer wieder neu erfunden, immer wiederneu entdeckt werden. Ihr potentieller Formenreichtum ist unendlich vielgestaltiger,als es eine sich selbst beschränkende und sich die eigene kreative Phantasieverbietende Politologie derzeitiger Lehre und Forschung zu erkennen bereit und inder Lage ist. Das bedeutet auch, auf das zu hören, das aufzunehmen, wasaußerhalb des Faches politisch gesehen, gedacht und in vielgestaltiger Weise z.B.den "neuen sozialen Bewegungen" gelebt wird. Goethe war der Meinung, es sei"niemand, der nicht seinen Beitrag den Wissenschaften anbieten dürfte. Wie vielessind wir nicht dem Zufall, dem Handwerk, einer augenblicklichen Aufmerksamkeitschuldig. Alle Naturen, die mit einer glücklichen Sinnlichkeit begabt sind, Frauen,Kinder, sind fähig, lebhafte und wohlgefaßte Bemerkungen mitzuteilen."

Sie werden es mir nicht verdenken, wenn ich mit einem weiteren Goethe-Zitatschließe. Es entstammt einer von mir zusammengestellten Sammlung seiner"Schriften zur wissenschaftlichen Methode", die ich nicht zuzletzt, ja eigentlichzuvörderst meiner Disziplin, meinen KollegInnen und StudentInnen hatte ans Herzlegen wollen, was allerdings – auch das Grund für eine mildere Form vonUnzufriedenheit – bisher kaum bemerkt worden ist. "Die Wissenschaft hilft uns vorallem, daß sie das Staunen, wozu wir von Natur berufen sind, einigermaßenerleichtere, sodann aber, daß sie dem immer gesteigerten Leben neue Fertigkeitenerwecke, zu Abwendung des Schädlichen und Einleitung des Nutzbaren." (Goethe)

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