Elias Zivilisation

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    Exzerpt zu Norbert Elias:ber den Prozess der Zivilisation

    - 1936; hier zit. nach 1969, suhrkamp TB -Der Text besteht aus zitierten Passagen, die gelegentlich gekrzt wurden,

    die Kommasetzung wurde behutsam korrigiert. Zwischentitel, Zustze in Klammern und Funoten: MK

    berblickEs geht um den Wandel der Affekt- und

    Kontrollstrukturen von Menschen, der wh-rend einer ganzen Reihe von Generationenin ein- und dieselbe Richtung ging, nmlich5in die Richtung einer zunehmenden Straf-fung und Differenzierung der Kontrollen(Bd. 1, S. IX). Vom spten Mittelalter undder frhen Renaissance an erfolgte einbesonders starker Schub der individuellen10Selbstkontrolle, auf die man heute be-zeichnenderweise mit Begriffen wie 'verin-nerlicht' oder 'internalisiert' hinweist. DieseVerwandlung zwischenmenschlicherFremdzwnge in individuelle Selbstzwnge15fhrte dazu, dass viele Affektimpulse we-niger spontan auslebbar waren und seithersind. Die derart im Zusammenleben er-zeugten selbstttigen, individuellen Selbst-kontrollen, etwa das 'rationale Denken'20oder das 'moralische Gewissen', schiebensich nun strker und fester gebaut als jezuvor zwischen Trieb- und Gefhlsimpulseauf der einen Seite und den Krper auf deranderen Seite. (Bd. 1, S. LXI).25

    Vorrcken der Scham- und Pein-lichkeitsgrenzen: TischsittenAus: Erasmus, Tischsitten um 1500;

    Gabeln gibt es kaum oder allenfalls nurzum Herbernehmen des Fleisches von der30Platte. Messer und Lffel werden sehr oftgemeinsam verwandt. Es ist nicht immerfr jeden ein gesondertes Gert da: wennman dir etwas Flssiges reicht, sagt Eras-mus, koste es und gib den Lffel zurck,35wenn du ihn abgewischt hast. (Bd. 1,S. 70) Alle, vom Knig und der Knigin biszum Bauern und der Bauersfrau, essen mitden Hnden. In der Oberschicht gab esdafr gewhltere Formen. Man soll sich die40Hnde vor der Mahlzeit waschen, sagtErasmus Man greift in guter Gesellschaftnicht mit beiden Hnden in die Schssel.Am vornehmsten ist es, nur drei Finger derHand zu benutzen. Das ist eines der Dis-45tinktionsmerkmale zwischen den oberenund den unteren Schichten. (Bd. 1, S. 71)Oft bietet man anderen sein Glas zumTrinken an oder es trinken alle aus einemgemeinsamen Krug. Erasmus ermahnt:50'Wisch dir den Mund vorher ab. () Wenn

    du etwas nicht herunterbekommst, drehdich unauffllig um und wirf es irgendwo-hin.' (Bd. 1, S. 72)

    Die Verhaltensformen beim Essen sind55nichts Isoliertes. Sie sind ein Ausschnitt ein sehr charakteristischer Ausschnitt aus dem Ganzen der gesellschaftlich ge-zchteten Verhaltensformen. Ihr Standardentspricht einer ganz bestimmten Gesell-60schaftsstruktur. Die Verhaltensformen dermittelalterlichen Menschen waren nichtweniger fest mit ihren gesamten Lebens-formen, mit dem ganzen Aufbau ihres Da-seins verknpft, als unsere Art des Verhal-65tens und unser gesellschaftlicher Code mitunserer Lebensweise und dem Aufbau un-serer Gesellschaft.

    Ein venezianischer Doge heiratete im11. Jahrhundert eine griechische Prinzes-70sin. In deren byzantinischem Kreis war dieGabel offenbar in Gebrauch. Das gab inVenedig einen furchtbaren Skandal. () Eshat noch etwa fnfhundert Jahre gedauert,bis der Aufbau der menschlichen Bezie-75hungen sich so nderte, dass der Gebrauchdieses Instruments einem allgemeinenBedrfnis entsprach. Vom 16. Jahrhundertab kommt die Gabel von Italien her zu-

    nchst in Frankreich, dann auch in England80 und Deutschland, mindestens in der Ober-schicht, langsam als Essinstrument inGebrauch, nachdem sie vorher eine Zeit-lang nur zum Herbernehmen der festenSpeisen von der Platte gedient hatte. Hein-85rich III brachte sie, wahrscheinlich ausVenedig, nach Frankreich. Man verspotteteseine Hflinge nicht wenig wegen dieser'affektierten' Art zu essen, und sie warenmit dem Gebrauch dieses Instrumentes90zunchst auch noch nicht ganz vertraut.Wenigstens erzhlte man sich, dass dieHlfte der Speisen auf dem Wege der Ga-bel vom Teller zum Mund wieder herunter-fiel. Was wir als das Selbstverstndliche95empfinden, weil wir von klein auf in diesenStandard der Gesellschaft eingepasst undauf ihn hin konditioniert werden, musstevon der Gesellschaft als Ganzem erst mh-sam und langsam erworben und durch-100formt werden. (Bd. 1, S. 87f)

    Menschen, die so miteinander essen,wie es im Mittelalter Brauch ist, standen ineiner anderen Beziehung zueinander alswir; und zwar nicht nur in der Schicht ihres105klar und przise begrndeten Bewusst-

    seins, sondern offenbar hatte ihr emotio-nales Leben eine andere Struktur und ei-nen anderen Charakter. Ihr Affekthaushaltwar auf Formen der Beziehung und des110

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    Verhaltens hin konditioniert, die entspre-chend der Konditionierung in unserer Welt,heute als peinlich, mindestens als weniganziehend empfunden werden. Was indieser hfischen Welt [des Mittelalters]115fehlte oder sich jedenfalls nicht in der glei-chen Strke ausgebildet hatte, war jeneunsichtbare Mauer von Affekten, die sich

    gegenwrtig zwischen Krper und Krperder Menschen, zurckdrngend und tren-120nend, erhebt, der Wall der heute bereitsbei der bloen Annherung an etwas spr-bar ist, das mit Mund oder Hnden einesanderen in Berhrung gekommen ist, undder als Peinlichkeitsgefhl bei dem bloen125Anblick vieler krperlicher Verrichtungeneines anderen in Erscheinung tritt, oft auchnur bei deren bloer Erwhnung, oder alsSchamgefhl, wenn eigene Verrichtungendem Anblick anderer ausgesetzt sind, und130gewiss nicht nur dann. (Bd. 1, S. 88f)

    Die Vorschrift, beim Essen nicht zuschmatzen, findet sich hufig auch in denmittelalterlichen Vorschriften. Aber seineVerarbeitung in einer Schrift ber zivilisier-135tes Benehmen um 1600 hat sich gegen-ber den Empfehlungen ein Jahrhundertvorher bereits gendert: In dieser Schriftwird erzhlt, wie einmal ein Graf als Gastbei einem Bischof laut beim Essen140schmatzt. Der Gastgeber sagt nichts. BeimAbschied begleitet ein Mann aus der Um-gebung des Bischofs diesen Graf und sagtzum Schluss, der Bischof wolle ihm zumAbschied ein Geschenk machen, nmlich145

    folgenden Hinweis geben: Der Bischof ha-be nie im Leben einen Edelmann von bes-seren Manieren gesehen als den Grafen. Erhabe nur einen einzigen Fehler an ihmentdeckt, er schmatze zu laut mit den Lip-150pen beim Essen und mache dabei mit demMunde ein Gerusch, das fr andere belzu hren sei. Ihm das mitzuteilen sei dasAbschiedsgeschenk des Bischofs, das erbitte, nicht bel aufzunehmen. Die Dar-155stellung dieser Begebenheit zeigt deutlich,was sich gendert hat. Sie demonstriertnicht nur, welche Wichtigkeit man nun

    dem 'guten Benehmen' beizumessen be-ginnt. Sie zeigt vor allem auch, wie der160Druck, den die Menschen in dieser Rich-tung aufeinander ausben, sich verstrkt.Diese hfliche, uerlich sanfte und ver-gleichsweise rcksichtsvolle Art zu korri-gieren ist viel zwingender als Mittel der165gesellschaftlichen Kontrolle als Beleidigun-gen, Verspottungen oder irgendeine Be-drohung mit uerer krperlicher Gewalt.

    Es bilden sich also im Innern pazifizierteGesellschaften. Der alte Verhaltenscode170wandelt sich nur schrittweise. Aber diegesellschaftliche Kontrolle wird bindender.

    Und vor allem ndert sich langsam die Artund der Mechanismus der Affektmodellie-rung durch die Gesellschaft. Im Laufe des175Mittelalters hat sich offenbar der Standard

    der Sitten und Unsitten bei allen regiona-len und sozialen Verschiedenheiten nichtentscheidend gewandelt. Immer wiederwerden durch die Jahrhunderte hin die180gleichen Sitten und Unsitten erwhnt. Dergesellschaftliche Code verfestigte sich nurin begrenztem Mae im Menschen selbstzu dauernden Gewohnheiten. Jetzt, mit

    dem Umbau der Gesellschaft, mit einer185neuen Anlage der menschlichen Beziehun-gen, tritt hier langsam eine nderung ein:Der Zwang zur Selbstkontrolle wchst.(Bd. 1, S. 106f).

    Vorrcken der Scham- und Peinlich-190keitsgrenzen: Nacktheit, Krper-funktionenhnlich verhlt es sich mit der Entbl-

    ung. Zunchst (um 1600) wird es zu ei-nem peinlichen Versto, sich in irgendeiner195Form entblt vor Hherstehenden oder

    Gleichgestellten zu zeigen; im Verkehr mitNiedrigerstehenden kann es sogar ein Zei-chen des Wohlwollens sein [das ffentlicheZeremoniell des Aufstehens und Anklei-200dens an Adelshfen; MK]. Dann aber,wenn alle sozial gleicher werden, wird eslangsam zu einem allgemeinen Versto.Die Gesellschaftsbezogenheit der Scham-und Peinlichkeitsgefhle tritt mehr und205mehr aus dem Bewusstsein zurck. Geradeweil das gesellschaftliche Gebot, sich nichtentblt oder bei natrlichen Verrichtun-gen zu zeigen, nun gegenber allen Men-schen gilt und in dieser Form dem Kinde210

    eingeprgt wird, erscheint es dem Erwach-senen als Gebot seines eigenen Innerenund erhlt die Form eines mehr oder weni-ger totalen und automatisch wirkendenSelbstzwanges.215

    Aber diese Aussonderung der natrli-chen Verrichtungen aus dem ffentlichenLeben und die entsprechende Regelungoder Modellierung des Trieblebens war nurmglich, weil mit der wachsenden Emp-220findlichkeit zugleich ein technischer Appa-rat entwickelt wurde, der dieses Problemder Ausschaltung solcher Funktionen aus

    dem gesellschaftlichen Leben und ihreVerlegung hinter dessen Kulissen einiger-225maen befriedigend lste. Es verhielt sichauch damit wie mit der Esstechnik. DerProzess der seelischen Vernderung, dasVorrcken der Schamgrenze und der Pein-lichkeitsschwelle ist nicht von einer Seite230und ganz gewiss nicht aus der Technikoder der wissenschaftlichen Entdeckungenzu erklren. Im Gegenteil, es wre nichtschwer, die Soziogenese und Psychogene-se dieser Empfindungen und Entdeckungen235aufzuzeigen. (Bd. 1, S. 189) [Geschichtedes Wasserklosetts, des Toilettenpapiers,

    des Papiertaschentuchs ...; MK]Aber nachdem einmal mit einer gene-

    rellen Umlagerung der menschlichen Be-240ziehungen eine Umformung der mensch-

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    lichen Bedrfnisse in Gang gesetzt war,bedeutete die Entwicklung einer dem ver-nderten Standard entsprechenden Appa-ratur eine auerordentliche Verfestigung245der vernderten Gewohnheiten. Diese Ap-paratur diente zugleich der stndigen Re-produktion des Standards und seiner Aus-breitung.

    Es ist nicht uninteressant zu beobach-250ten, dass nun heute (d.h. 1936) nachdemdieser Stand des Verhaltens in ganz ho-hem Mae verfestigt und selbstverstnd-lich geworden ist, vor allem gegenberdem 19. Jahrhundert eine gewisse Locke-255rung eintritt, zum mindesten was dasSprechen von den natrlichen Verrichtun-gen angeht1. Die Freiheit, die Unbefangen-heit, mit der man sagt, was zu sagen ist,und zwar ohne Verlegenheit, ohne das260gepresste Lcheln und Gelchter der Tabu-bertretung, ist in der Nachkriegszeit of-

    fenbar grer geworden. aber das ist, ganzhnlich wie bei den Bade- und Tanzsittender neueren Zeit, in dieser Form nur mg-265lich, weil der Stand der Gewohnheiten, dertechnisch-institutionell verfestigten Selbst-zwnge, das Ma der Zurckhaltung deseigenen Trieblebens und des Verhaltensselbst entsprechend dem vorgerckten270Peinlichkeitsgefhl zunchst im Groenund Ganzen gesichert ist. Es ist eine Lo-ckerung im Rahmen des einmal erreichtenStandards. (Bd. 1, S. 190)

    Abtrennung der Kindheit275

    Der Standard, der sich in unserer Phaseder Zivilisation herausbildet, ist durch einemchtige Distanz zwischen dem Verhaltender sog. 'Erwachsenen' und der Kindercharakterisiert. Die Kinder mssen in ver-280hltnismig wenig Jahren den vorgerck-ten Stand der Scham und Peinlichkeitsge-fhle erreichen, der sich in vielen Jahrhun-derten herausgebildet hat. Ihr Trieblebenmuss rasch jener strengen Regelung und285jener spezifischen Modellierung unterwor-fen werden2, die unseren Gesellschaftendas Geprge gibt, und die sich in der ge-

    schichtlichen Entwicklung ganz langsamentwickelte. Die Eltern sind dabei nur die 290oft unzulnglichen Instrumente, die pri-mren Exekutoren der Konditionierung3,

    1An dieser Stelle wre einmal eine Aktualisierung

    von Elias Theorie berfllig: Sex and the City,

    das Dr. Sommer-Team in Bravo usw.

    2Auch hier wre eine Weiterschreibung angezeigt:

    Kinder an die Macht, von Kindern lernen usw.?

    3Konditionierung hier bei Elias immer als Erziehung

    zu verstehen, nicht im Pawlowschen Sinne. hnlich

    verhlt es sich mit Ausdrcken wie Zchtung,

    aber durch sie, durch tausend andere In-strumente ist es immer die Gesellschaft alsGanzes, das gesamte Geflecht der Men-295schen, das seinen Druck auf die Heran-wachsenden ausbt und sich ihn vollkom-mener oder unvollkommener zurechtformt.(Bd. 1, S. 190f)

    Auch heute wird dem Kind eingeschrft,300

    nicht sofort nach etwas zu greifen, was aufdem Tisch steht, wenn es Lust dazu hat,und sich nicht zu jucken oder nicht beiTisch Nase, Ohren oder andere Teile seinesKrpers zu berhren. Das Kind wird ge-305lehrt, mit vollem Mund nicht zu sprechenund zu trinken oder sich nicht auf denTisch zu 'lmmeln' und was dergleichenmehr ist. Ein guter Teil dieser Vorschriftenfindet sich beispielsweise auch in Tannhu-310sers 'Hofzucht' (1200 1250), aber siesind hier ganz und gar nicht nur an Kinder,sie sind unzweideutig auch an Erwachsene

    gerichtet. Und das wird noch deutlicher,wenn man die Art betrachtet, in der frher315die Erwachsenen ihre natrlichen Bedrf-nisse erledigten. Es geschah sehr oft ineiner Weise, die man heute gerade nochKindern nachzusehen bereit wre. Manerledigte sie hufig genug, wann und wo320sie einem gerade ankamen. Das Ma vonTriebverhaltung und regelung, das dieErwachsenen voneinander erwarteten, warnicht viel grer als das den Kindern aufer-legte. Die Distanz zwischen Erwachsenen325und Kindern war, gemessen an der heuti-gen Distanz, gering (vor 1800; MK).

    Heute legt sich der Ring von Vorschrif-ten und Regelungen so eng um den Men-schen, die Zensur und der Druck des ge-330sellschaftlichen Lebens, die seine Gewohn-heiten formen, ist so stark, dass es fr denHeranwachsenden nur eine Alternativegibt: sich der gesellschaftlich gefordertenGestaltung des Verhaltens zu unterwerfen335oder vom Leben in der 'gesitteten Gesell-schaft' ausgeschlossen zu bleiben. EinKind, das nicht auf den Stand der gesell-schaftlich geforderten Affektgestaltunggelangt, gilt in verschiedenen Abstufungen340

    als 'krank', 'anormal', 'kriminell' oder auchnur als 'unmglich', von einer bestimmtenSchicht her gesehen, und bleibt dement-sprechend von deren Leben ausgeschlos-sen. (...) Nur die Psychoanalyse entdeckt345solche Triebrichtungen in der Form unaus-gelebter und unauslebbarer Neigungen, dieman als 'Unterbewusstsein' oder Traum-schicht bezeichnen kann. Und diese Nei-gungen haben in unserer Gesellschaft in350der Tat den Charakter eines 'infantilen'berbleibsels, weil der gesellschaftlicheErwachsenenstandard eine vllige Unter-drckung und Umbildung dieser Triebrich-

    angezchtet: Es geht nicht um biologische, son-

    dern um Erziehungsprozesse.

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    tung erforderlich macht, so dass sie beim355Auftreten im Erwachsenen als ein 'ber-bleibsel' aus der Kindheit erscheinen.(Bd. 1, S. 192f)

    (Nach 1600) beginnt die Gesellschaft anbestimmten Krperfunktionen die positive360Lustkomponente durch die Erzeugung vonAngst immer strker zu unterdrcken

    oder genauer: zu 'privatisieren', nmlichins 'Innere' des einzelnen, in die 'Heimlich-keit' abzudrngen, und die negativ gelade-365nen Affekte, Unlust, Abscheu, Peinlichkeitallein als die gesellschaftsblichen Empfin-dungen in der Konditionierung (gemeint:Erziehung; MK) herauszuarbeiten. Abergerade mit dieser strkeren gesellschaftli-370chen Verfemung vieler Triebuerungenund mit ihrer 'Verdrngung' von der Ober-flche sowohl des gesellschaftlichen Le-bens wie des Bewussteins wchst notwen-digerweise auch die Distanz zwischen dem375

    Seelenaufbau und dem Verhalten der Er-wachsenen und dem der Kinder. (Bd. 1,S. 194)

    Wandlungen in der Einstellung zuden Beziehungen von Mann und380FrauDem Betrachter aus der neueren Zeit

    erscheint es verwunderlich, dass Erasmus(um 1500) in seinen Erziehungsgespr-chen zu einem Kind von Dirnen und den385Husern, in denen sie leben, berhauptspricht. Den Menschen unserer Phase derZivilisation (1936; MK) erscheint es als

    unmoralisch, von solchen Institutionen ineinem Schulbuch berhaupt Notiz zu neh-390men. Sie existieren gewiss als Enklavenauch in der Gesellschaft des 19. und 20.Jahrhunderts. Aber die Schamangst, mitdenen man den sexuellen Bezirk des Trieb-haushalts, wie viele andere, von klein auf395belegt, der 'Bann des Schweigens', mit denman ihn im gesellschaftlichen Verkehrumgibt, ist so gut wie vollkommen. Schondie bloe Erwhnung solcher Meinungenund solcher Institute im gesellschaftlichen400Verkehr der Menschen ist unerlaubt, und

    der Hinweis auf sie im Verkehr mit Kindernist ein Verbrechen, eine Beschmutzung derKinderseele, zum mindestens ein Erzie-hungsfehler schlimmster Art. In Erasmus'405Zeit war es ebenso selbstverstndlich,dass die Kinder von dem Bestand dieserInstitutionen wussten. Niemand verheim-lichte sie vor ihnen. Allenfalls warnte mansie davor. Eben das tut Erasmus. (Bd. 1,410S. 240f)

    Die kuflichen Frauen, oder, wie mansie in Deutschland oft nannte, die 'schnenFrauen', die 'Hbscherinnen', bildeten um1500 innerhalb des Stadtwesens wie jede415

    andere Berufsgattung eine Korporation mitbestimmten Rechten und Pflichten. (...)Ihre soziale Stellung war mit einem Worthnlich wie die des Henkers, niedrig und

    verachtet, aber durchaus ffentlich und420nicht mit Heimlichkeit umgeben. (Bd. 1,S. 242)

    Der Zug ins Brautgemach erfolgte (imMittelalter) unter Vorantritt aller Brautfh-rer. Die Braut wurde von den Brautjung-425fern entkleidet; sie musste allen Schmuckablegen. Das Brautbett musste dann in

    Gegenwart von Zeugen beschritten wer-den, sollte die Ehe gltig sein. Man 'legtesie zusammen' (Zit. aus einer Kultur-430schrift: Wie man frher heiratete; 1891).Im spteren Mittelalter nderte sich derBrauch allmhlich dahin, dass die Braut-leute sich angekleidet aufs Bett legenkonnten. (...) Im 19. und 20. Jahrhundert435wird auch unter Erwachsenen alles, wasdas sexuelle Leben betrifft, in relativ ho-hem Mae verdeckt und hinter die Kulissenverwiesen; deswegen wird es mglich unddeswegen ist es auch ntig, diese Seite440

    des Lebens lange Zeit fr die Kinder mehroder weniger erfolgreich zu verdecken.(Bd. 1, S. 243) Und erst dann, wenn dieseDistanz zwischen den Erwachsenen undden Kindern wchst, wird das, was wir die445'die sexuelle Aufklrung' nennen, zu einem'brennenden Problem'. (Bd. 1, S. 245).

    Der Pdagoge von Raumer hat im Jahre1857 eine kleine Schrift ber 'Die Erzie-hung der Mdchen' herausgegeben. Was er450darin ber das Modellverhalten der Er-wachsenen bei der Begegnung mit dersexuellen Frage ihrer Kinder vorschreibt,(...) ist fr den Standard des 19. Jahrhun-

    derts in hohem Mae bezeichnend, und455zwar nicht nur fr den Standard der Auf-klrung von Mdchen, sondern auch frden der Aufklrung von Knaben.

    ...Andere Mtter dagegen bertreiben vonder anderen Seite, indem sie dem kleinen Md-460chen ber jene Verhltnisse ('der Familie, selbstdie Beziehungen der Geschlechter zueinander')so manches sagen, was ihnen, sobald sie heran-wachsen, als vllig unwahr einleuchten muss.

    Dies ist, wie schon erwhnt, in allen Fllen, so465auch in diesem, verwerflich. Man berhre allediese Dinge berhaupt nicht in Gegenwart der

    Kinder, am wenigsten auf eine geheimnisvolleArt, welche geeignet ist, die Neugier zu reizen.Lasse man die Kinder, so lange es immer geht,470bei dem Glauben, ein Engel bringe der Mutterdie kleinen Kinder; welche in manchen Gegen-den bliche Sage viel besser ist, als die an ande-ren Orten gewhnliche vom Klapperstorch.Kinder werden, wenn sie wirklich unter den475

    Augen der Mutter aufwachsen, selten frwitzigeFragen ber diesen Punkt tun (...). fragen spterdie Mdchen, wie es denn eigentlich mit denkleinen Kindern zugehe, so sage man: Der liebeGott gibt der Mutter das kleine Kind, das seinen480Schutzengel im Himmel hat, der gewiss unsicht-

    bar dabei geschftig war, als wir so groe Freu-de erlebten. Wie Gott die Kinder gibt, dasbrauchst du nicht zu wissen und knntest es auchnicht verstehen. An hnlichen Antworten ms-485

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    sen sich Mdchen in hundert Fllen begngen(...) Eine Mutter sollte nur einmal ernst sagen:

    Es wre gar nicht gut fr dich, wenn du so etwaswsstest, du musst vermeiden davon sprechen zuhren. Ein recht sittsam erzogenes Mdchen490wird von da an eine Scheu empfinden, von Din-gen der Art reden zu hren. (Bd. 1, S. 246)

    Es sind ganz offenbar nicht rationale

    Motive, die hinter Raumers Modell (dersexuellen Aufklrung) stehen. Im Vorder-495grund steht die Notwendigkeit, Scheu vordiesen Dingen, nmlich Scham-, Angst-,Peinlichkeits- und Schuldgefhle zu zch-ten oder, genauer gesagt, ein Verhalten,das dem gesellschaftlichen Standard ge-500m ist. Erst allmhlich gelangte man da-zu, bessere Methoden der Einpassung desKindes an das hohe Ma von sexuellerZurckhaltung, von Regulierung, Umfor-mung und Peinlichkeitsbelastung dieser505Triebe zu finden, das fr das Leben in die-

    ser Gesellschaft nun vollkommen unerlss-lich war.4Auch die Sexualitt wird im Prozess der

    Zivilisation mehr und mehr hinter die Ku-510lissen des gesellschaftlichen Lebens verlegtund in einer bestimmten Enklave, derKleinfamilie, gleichsam eingeklammert;ganz entsprechend werden auch im Be-wusstsein die Beziehungen zwischen den515Geschlechtern eingeklammert, ummauertund 'hinter die Kulissen' verlegt. NichtZweckmigkeitsgrnde sind primr frdiese Haltung bestimmend, sondern diezum Selbstzwang gewordene Scham des520

    Erwachsenen selbst. Es sind die gesell-schaftlichen Verbote und Widerstnde inihrem Inneren, es ist ihr eigenes ber-Ich,das ihnen den Mund schliet. (Bd. 1,S. 247f)525

    ... die Badesitten. Undenkbar in derTat, dass im 19. Jahrhundert eine Frau inder ffentlichkeit eines jener Badekostmehtte tragen knnen, die heute gang undgbe sind, ohne der gesellschaftlichen530Feme zu verfallen. Aber diese Wandlungund mit ihr die gesamte Ausbreitung desSports fr Mnner wie fr Frauen, alles das

    hat einen sehr hohen Standard der Trieb-gebundenheit zur Voraussetzung. Nur in535einer Gesellschaft, in der ein hohes Mavon Zurckhaltung zur Selbstverstndlich-keit geworden ist, und in der Frauen wieMnner absolut sicher sind, dass starkeSelbstzwnge und eine strikte Umgangs-540etikette jeden Einzelnen im Zaume halten,knnen sich Bade- und Sportgebruchevon solcher Art und solcher Freiheit entfal-ten. Es ist eine Lockerung, die sich voll-kommen im Rahmen einer automatischen,545als Gewohnheit angezchteten Bindung

    4So passen dann Elias Beobachtungen auch zum

    Dr.-Sommer-Team und zu Sex and the City.

    und Umformung der Affekte hlt. (Bd. 1,S. 257)

    Funktion der KleinfamilieEs ist nicht ohne einen gewissen Beige-550

    schmack von Paradoxie: Je grer die Um-formung, die Regelung, die Zurck- undGeheimhaltung des Trieblebens ist, die das

    gesellschaftliche Leben von dem Einzelnenverlangt, und je schwieriger dementspre-555chend die Konditionierung des Heranwach-senden wird, desto strker konzentriertsich die Aufgabe der ersten Zchtung die-ser gesellschaftlich notwendigen Triebge-wohnheiten im intimen Zirkel der Kleinfa-560milie, also bei Vater und Mutter. Hier aller-dings vollzieht sich die Konditionierung,was ihren Mechanismus angeht, im Grundekaum anders als in frheren Zeiten, nm-lich nicht eigentlich durch eine genauere565bersicht ber die Aufgabe und eine be-

    wusstere Planung, die den besonderenGegebenheiten des Kindes und seiner LageRechnung trgt, sondern vorwiegend au-tomatisch und gewissermaen durch Re-570flexe: Die soziogenen Triebfiguren undGewohnheiten der Eltern lsen Trieb-figuren und Gewohnheiten bei dem Kindaus. (...) Die Verflechtung von Gewohnhei-ten der Eltern und der Kinder, in der der575Triebhaushalt des Kindes langsam seineModellierung, seinen Charakter erhlt, istmit anderen Worten zum geringsten rati-onal bestimmt. (Bd. 1, S. 260)

    Entsprechend der wachsenden Teilung580

    des Verhaltens in ein ffentlich erlaubtesund ein ffentlich nicht erlaubtes baut sichauch das psychische Gefge des Menschenum. Die durch gesellschaftliche Sanktionengesttzten Verbote werden dem Indivi-585duum als Selbstzwnge angezchtet. DerZwang der Zurckhaltung von Triebue-rungen, die soziogene Scham, die sie um-gibt, werden ihm so zur Gewohnheit ge-macht, dass er sich ihrer nicht einmal er-590wehren kann, wenn er allein, wenn er imintimen Raum ist. In ihm selbst kmpfendie lustversprechenden Triebuerungen

    mit den unlustversprechenden Verbotenund Einschrnkungen, den soziogenen595Scham- und Peinlichkeitsempfindungen.Dies ist, wie gesagt, offenbar der Sachver-halt, den Freud durch Begriffe wie ber-Ich und Unbewusstes oder, wie es derVolksmund nicht unfruchtbar nennt, Un-600terbewusstsein zum Ausdruck zu bringensucht. Aber wie immer man es ausdrckt,der gesellschaftliche Verhaltenscode prgtsich in dieser oder jener Form dem Men-schen so ein, dass er gewissermaen ein605konstitutives Element des individuellenSelbst wird. Und dieses Element, das ber-

    Ich, ebenso wie das psychische Gefgeund das individuelle Selbst als Ganzes,wandelt sich notwendigerweise in steter610Korrespondenz mit dem gesellschaftlichen

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    Verhaltenscode und mit dem Aufbau derGesellschaft. (Bd. 1, S. 262)

    ber die Wandlungen derAngriffslust615(Es ist nicht etwa so, dass die Men-

    schen des Mittelalters) immer mit finsterenGesichtern, mit zusammengezogenen Stir-

    nen und martialischen Mienen als uerenSymbolen ihrer kriegerischen Tchtigkeit620herumgegangen wren; im Gegenteil:Eben waren sie noch beim Scherz, dannverspotten sie sich, ein Wort gibt das an-dere, und pltzlich knnen sie mitten ausdem Scherz in der uersten Fehde sein.625Vieles von dem, was uns als Gegensatzerscheint, die Intensitt der Frmmigkeit,die Gewalt ihrer Hllenangst, ihrer Schuld-gefhle, ihrer Bue, die immensen Ausbr-che von Freude und Lustigkeit, das pltzli-630che Aufflackern und die unbezhmbare

    Kraft ihres Hasses und ihrer Angriffslust,alles das, ebenso wie der relative rascheUmschlag von einer Stimmung zur ande-ren, sind in Wahrheit Symptome ein und635derselben Gestaltung des emotionalenLebens. Die Triebe, die Emotionen spieltenungebundener, unvermittelter, unverhll-ter als spter. Nur uns, bei denen allesgedmpfter, gemigter, berechneter ist,640und bei denen die gesellschaftlichen Tabusweit mehr als Selbstzwnge in den Trieb-haushalt selbst eingebaut sind, erscheintdie unverhllte Strke dieser Frmmigkeitund die Strke dieser Angriffslust oder645

    dieser Grausamkeit als ein Gegensatz. (...)Und weil also hier die Emotionen in einerWeise zum Ausdruck kommen, die wir imeigenen Lebensraum im allgemeinen nurnoch bei Kindern beobachten knnen,650nennen wir ihre uerungen und Gestal-tungen kindlich. (Bd. 1, S. 276f)

    Staat, Konkurrenz und Moral desBrgertumsDas Brgertum ist (im 19. Jahrhundert)655

    von dem Druck der absolutistisch-stndi-schen Gesellschaftsverfassung befreit.

    Sowohl der brgerliche Mann wie die br-gerliche Frau ist nun all der uerenZwnge, denen sie als zweitrangige Men-660schen in der stndischen Gesellschaft (desMittelalters) unterworfen waren, enthoben.Aber die Handels- und Geldverflechtung,deren Fortschritt ihnen die gesellschaftli-che Strke zur Befreiung gegeben hatte,665ist gewachsen. In dieser Hinsicht ist auchdie gesellschaftliche Gebundenheit desEinzelnen strker als zuvor. Das Schemader Selbstzwnge, das den Menschen derbrgerlichen Gesellschaft im Zusammen-670hang mit ihrer Berufsarbeit auferlegt wird,

    ist in mancher Hinsicht von dem Schema,nach dem die hfischen Funktionen denTriebhaushalt modellieren, verschieden.Fr viele Seiten des Affekthaushaltes ist675

    jedenfalls der Selbstzwang, den die br-gerlichen Funktionen, den vor allem dasGeschftsleben verlangt und produziert,noch strker als der, den die hfischenFunktionen erforderten. Warum der Stand680der gesellschaftlichen Entwicklung, warum,genauer gesagt, die Berufsarbeit, die mitdem Aufstieg des Brgertums zur allge-

    meinen Lebensform wird, gerade eine be-sonders strenge Disziplinierung der Sexua-685litt notwendig machte, ist eine Frage frsich. (Bd. 1, S. 255)

    Bis zur Gegenwart differenzieren sichdie gesellschaftlichen Funktionen untereinem starken Konkurrenzdruck mehr und690mehr. Je mehr sie sich differenzieren, des-to grer wird die Zahl der Funktionen unddamit der Menschen, von denen der Ein-zelne bei allen seinen Verrichtungen, beiden simpelsten ebenso wie bei den kompli-695zierteren und selteneren, bestndig ab-

    hngt. Das Verhalten von immer mehrMenschen muss aufeinander abgestimmt,das Gewebe der Aktionen muss immer ge-nauer und straffer durchorganisiert sein,700damit die einzelne Handlung darin ihregesellschaftliche Funktion erfllt. Der ein-zelne wird gezwungen, sein Verhalten im-mer differenzierter, immer gleichmigerund stabiler zu regulieren. Dass es sich705dabei keineswegs nur um eine bewussteRegulierung handelt, ist schon hervorge-hoben worden. Gerade dies ist charakteris-tisch fr die Vernderung des psychischenApparates (sic!) im Zuge der Zivilisation,710

    dass die differenziertere und stabilere Re-gelung des Verhaltens dem einzelnen Men-schen von klein auf mehr und mehr als einAutomatismus angezchtet wird, alsSelbstzwang. (Bd. 2, S. 316f)715

    Die eigentmliche Stabilitt der psychi-schen Selbstzwang-Apparatur, die als ent-scheidender Zug im Habitus jedes zivili-sierten Menschen hervortritt, steht mitder Ausbildung von Monopolinstituten der720krperlichen Gewalttat und mit der wach-senden Stabilitt der gesellschaftlichenZentralorgane in engstem Zusammenhang.

    Erst mit der Ausbildung solcher stabilerMonopolinstitute stellt sich jene gesell-725schaftliche Prgeapparatur her, die deneinzelnen von klein auf an ein bestndigesund genau geregeltes An-sich-Halten ge-whnt; erst im Zusammenhang mit ihrbildet sich in dem Individuum eine stabile-730re, zum guten Teil automatisch arbeitendeSelbstkontrollapparatur. (Bd. 2, S. 320)

    Und ganz in der gleichen Richtung wir-ken die waffenlosen Zwnge und Gewal-ten, denen der einzelne unmittelbar in den735befriedeten Rumen selbst ausgesetzt ist,also etwa die wirtschaftlichen Zwnge.

    Auch sie sind weniger affektgesttigt, auchsie sind gemigter, stabiler und wenigersprunghaft als die Zwnge, die in einer740monopolfreien Kriegergesellschaft der

  • 7/26/2019 Elias Zivilisation

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    Mensch auf den Menschen ausbt. Undauch sie, verkrpert in den gesamtenFunktionen, die sich dem Einzelnen in derGesellschaft erffnen, zwingen zu einer745unaufhrlichen Rck- und Voraussicht berden Augenblick hinaus, entsprechend denlngeren und differenzierteren Ketten, indie jede Handlung sich nun automatisch

    verflicht; sie fordern von dem Einzelnen750eine bestndige Bewltigung seiner au-genblicklichen Affekt- und Triebregungenunter dem Gesichtspunkt der fernerenWirkung seines Verhaltens (...); der Ein-zelne wird bereits von frhester Jugend an755auf jene bestndige Zurckhaltung undLangsicht abgestimmt, die er fr die Er-wachsenenfunktionen braucht. (Bd. 2,S. 328f)

    Strungen760Diese Selbstzwnge (...) erzeugen auch

    eigentmliche Spannungen und Strungenim Verhalten und Triebleben des Indivi-duums. Sie fhren unter Umstnden zueiner bestndigen Unruhe und Unbefrie-765digtheit des Menschen, eben weil ein Teilseiner Neigungen und Triebe nur noch inverwandelter Form, etwa in der Phantasie,im Zusehen oder Zuhren, im Tag- oderNachttraum Befriedigung finden kann; und770manchmal geht die Gewhnung an eineAffektdmpfung so weit bestndige Ge-fhle der Langeweile oder Einsamkeits-empfindungen sind Beispiele dafr dassdem Einzelnen eine furchtlose uerung775

    der verwandelten Affekte, eine geradlinigeBefriedigung der zurckgedrngten Triebein keiner Form mehr mglich ist. (Bd. 2,S. 331f)

    Die Spannungen zwischen den Staaten,780die im Zwange des Konkurrenzmechanis-mus miteinander um die Vormacht bergrere Herrschaftsgebiete ringen, uernsich fr die Individuen in ganz bestimmtenVersagungen und Restriktionen; sie brin-785gen den einzelnen Menschen einen ver-strkten Arbeitsdruck und eine tiefgreifen-

    de Unsicherheit. Alles das, Entbehrungen,Unruhe und Arbeitslast nicht weniger alsdie unmittelbare Bedrohtheit des Lebens790(im Mittelalter; MK), zeugt ngste. Undnicht anders verhlt es sich mit den Span-nungen innerhalb der verschiedenen Herr-schaftseinheiten. Die irregulierbaren, diemonopolfreien Konkurrenzkmpfe zwi-795schen den Menschen der gleichen Schichtauf der einen Seite, auf der anderen dieSpannungen zwischen verschiedenenSchichten und Gruppen, sie wirken sichebenfalls fr den Einzelnen in einer be-800

    stndigen Unruhe, in ganz bestimmtenVerboten oder Beschrnkungen aus; undauch sie zeugen ihre spezifischen ngste:ngste vor der Entlassung, vor dem unmit-telbaren Ausgeliefertsein an Mchtigere,805vor dem Fall an die Hunger- und Elends-grenze (Bd. 2, S. 448f).

    Die stete Besorgnis von Vater und Mut-ter, ob ihr Kind den Verhaltensstandardsder eigenen oder gar einer hheren810Schicht erreichen, ob es das Prestige derFamilie aufrechterhalten oder vergrern,ob es sich in den Ausscheidungskmpfender eigenen Schicht bewhren werde

    ngste dieser Art umspielen das Kind hier815von klein auf, und zwar in den mittleren, inallen aufstiegswilligen Schichten noch weitstrker als in den oberen. (Bd. 2, S. 449)

    des Exzerptes: Michael Kraus, Mrz 2006