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Myriam Bienenstock Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen Difficile Lib erte, aus der Feder von Ennmanuel Levinas stammend, ist kein einheitliches Werk, sondern eine Sammlung von Aufsatzen und anderen Texten unterschiedlicher Provenienz. Mit der Zeit hat Levi- nas selber die Zusammensetzung der Sammlung geandert.' Alle Ban- de sind aus Gelegenheitsschriften zusammengesetzt worden. Keines- wegs bedeutet dies, dass es sich nicht lohnen wiirde, sie zu studieren - ganz im Gegenteil: Viele der wichtigsten und einsichtsvollsten Ge- danken Levinas' sind in Texten solcher Art erschienen. Zur Ehre Le- vinas' konnte man sogar so weit gehen zu sagen, dass die »ungezi,i- gelte Form« (»la forme effrenee«) vieler seiner Schriften diejenige des Talmuds nachahmt: Eine Form, iiber welche er selber sagt, dass sie »keineswegs, wie dies die Nichtfachleute ofters denken, dem Cha- os einer unordenthchen Kompilation« entsprache. Eher entspricht sie der »unaufh6rlichen Wallung« (»le bouillonnement incessant«), wel- che denjenigen ergreift, der sich hinein stiirzt: Eine solche Form ent- spricht »einem Denkmodus, fiir welchen die Schematisierung immer zu friih« (DL, S. 166, Fui^note 1) kommen wiirde. Wie verhiilt sich aber ein »ungeziigelter« Denker wie Levinas zum Denken eines Philosophen, welcher ein systematischer Denker, vielleicht einer der systematischsten Philosophen aller Zeit gewesen ist, namlich Spinoza? Spinoza, dies wissen wir alle, ist einer der crs- ten, wichtigsten Denker der Freiheit - der politischen Freiheit und mit ihr der Denkfreiheit - gewesen. Inshesondere die religiose Tole- ranz wollte er fordern: Denn ganz am Ende seines beriihmten Theo- logisch-politischen Traktats schreibt er, dass nichts die Sicherheit des Staates besser gewahrleistet, als wenn From- migkeit und ReUgion hloS in der Ubung der Nachstenliebe und der Billig- • Siehe hierzu ausfiihrlicher die Einleitung in diesem Band. Unter dem Sigle DL wird hier aus der letzten zu Lebzeiten von Levinas erschienen Ausgabe zitiert: Emmanuel Levinas, Difficile Liberie: i's.';ai.< swr le judaifme, l^aris, Albin Michel, 4. Auflage, 1994. ALBER PHILOSOPHIE Alfred Bodenheimer / Miriam Fischer-Geboers (Hg.) Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen keit bestehen und wenn das Recht der hochsten Gewalten in geistlichen und weitlichen Dingen sich nur auf Handlungen bezieht, im Ubrigen aber jedem das Recht zugestanden wird, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt|...].2 1st Levinas mit solchen Ideen - der Freiheit, auch der religiosen Tole- ranz - einverstanden gewesen ? Hat er Spinoza geschatzt - oder nicht ? Levinas hat sich nur ganz wenig zu Spinoza geaufiert. Von eini- gen eher beilaufigen Bemerkungen in anderen Texten abgesehen, gibt es nur zwei Aufsatze, die er diesem Autor ausdriicklich gewidmet hat. Beide beziehen sich nicht auf Spinozas Ethik, sondern auf seinen beriihmten, beriihmt-beriichtigten Theologisch-politischen Traktat; beide sind in die Sammlung Difficile Liberte aufgenommen worden. Es handelt sich zunachst um »Le cas Spinoza*, also »Der Fall Spino- za*: ein ganz kurzer, weniger als sechs Druckseiten umfassender Bei- trag, der urspriinglich im Dezember 1955/Januar 1956 in einer wohl ephemeren, jiidischen Zeitschrift (Trait d'union) veroffentlicht wur- de. Bei dem zweiten Aufsatz, »Avez-vous relu Baruch?«, »Haben Sie Baruch erneut gelesen?«, handelt es sich um die urspriinglich 1966 (in der Zeitschrift Les Nouveau Cahiers. N 7) erschienene Rezension des im Vorjahr veroffentlichten Spinoza-Buches von Sylvain Zac.^ Meines Wissens wurde dieser zweite Aufsatz noch nicht ins Deutsche iibersetzt. In dem ersten Aufsatz, »Le cas Spinoza*, behauptete Levinas, dass Spinoza ein »Verrater« des Judentums oder an der jiidischen Sache gewesen sei: un traitre d la cause du judaisme. »Wir sind*, so auCerte er sich dort, »mit unserem wunderbaren verstorbenen Freund Jakob Gordin volhg einer Meinung: es gibt einen Verrat Spi- nozas*. Dieser Verrat bestehe darin, dass Spinoza »in der Geschichte der Ideen die Wahrheit des Judentums der Offenbarung des Neuen Testaments untergeordnet hat*"*. - Ich zitiere: Ein Judentum, das Jesus priifiguriert - damit liefi der Spinozismus das irre- ligiose Judentum eine Bewegung voUziehen, der es sich, als reUgioser, sieb- zehn Jahrhunderte lang widersetzte. Wie vielen jiidischen Intellektuellen, ^ Der Traktat wird hier in der Ubersetzung von Carl Gebhardt zitiert: Vgl. Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Leipzig, Diirr, 1908 (Philosophische Bibliothek; 93). Sigle Geb., vgl. hier Geb., S. 361 f. ' Sylvain Zac, Spinoza et Vinterpretation de I'Lcriture, Paris, Presses universitaires de France, 1965. DL, S. ISS; SF, S. 106. Lesarten der Freiheit

Emmanuel Levinas ladt ein, was Spinoza erneut zu lesen

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Myriam Bienenstock

Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen

Difficile Lib erte, aus der Feder von Ennmanuel Levinas stammend, ist kein einheitliches Werk, sondern eine Sammlung von Aufsatzen und anderen Texten unterschiedlicher Provenienz. M i t der Zeit hat Levi­nas selber die Zusammensetzung der Sammlung geandert.' Al le Ban-de sind aus Gelegenheitsschriften zusammengesetzt worden. Keines­wegs bedeutet dies, dass es sich nicht lohnen wiirde, sie zu studieren -ganz i m Gegenteil: Viele der wichtigsten und einsichtsvollsten Ge-danken Levinas' sind i n Texten solcher A r t erschienen. Z u r Ehre Le­vinas' konnte man sogar so weit gehen zu sagen, dass die »ungezi,i-gelte Form« (»la forme effrenee«) vieler seiner Schriften diejenige des Talmuds nachahmt: Eine Form, iiber welche er selber sagt, dass sie »keineswegs, wie dies die Nichtfachleute ofters denken, dem Cha­os einer unordenthchen Kompilation« entsprache. Eher entspricht sie der »unaufh6rlichen Wallung« (»le bouillonnement incessant«), we l ­che denjenigen ergreift, der sich hinein sti irzt : Eine solche Form ent­spricht »einem Denkmodus, f i i r welchen die Schematisierung immer zu friih« (DL, S. 166, Fui^note 1) kommen wiirde.

Wie verhii lt sich aber ein »ungeziigelter« Denker wie Levinas z u m Denken eines Philosophen, welcher ein systematischer Denker, vielleicht einer der systematischsten Philosophen aller Zeit gewesen ist, namlich Spinoza? Spinoza, dies wissen w i r alle, ist einer der crs-ten, wichtigsten Denker der Freiheit - der politischen Freiheit und m i t ihr der Denkfreiheit - gewesen. Inshesondere die religiose Tole-ranz wol l te er fordern: Denn ganz am Ende seines beri ihmten Theo-logisch-politischen Traktats schreibt er,

dass nichts die Sicherheit des Staates besser gewahrleistet, als wenn From-migkeit und ReUgion hloS in der Ubung der Nachstenliebe und der Billig-

• Siehe hierzu ausfiihrlicher die Einleitung in diesem Band. Unter dem Sigle D L w i r d hier aus der letzten zu Lebzeiten von Levinas erschienen Ausgabe zitiert: Emmanuel Levinas, Difficile Liberie: i's.';ai.< swr le judaifme, l^aris, A l b i n Michel , 4. Auflage, 1994.

A L B E R P H I L O S O P H I E A l f r e d B o d e n h e i m e r / M i r i a m F i s c h e r - G e b o e r s (Hg.)

Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen

keit bestehen und wenn das Recht der hochsten Gewalten in geistlichen und weitlichen Dingen sich nur auf Handlungen bezieht, im Ubrigen aber jedem das Recht zugestanden wird, zu denken, was er wi l l , und zu sagen, was er denkt|...].2

1st Levinas m i t solchen Ideen - der Freiheit, auch der religiosen Tole-ranz - einverstanden gewesen ? Hat er Spinoza geschatzt - oder nicht ?

Levinas hat sich nur ganz wenig zu Spinoza geaufiert. Von e ini ­gen eher beilaufigen Bemerkungen in anderen Texten abgesehen, gibt es nur zwei Aufsatze, die er diesem A u t o r ausdriicklich gewidmet hat. Beide beziehen sich nicht auf Spinozas Ethik, sondern auf seinen beri ihmten, beri ihmt-beri ichtigten Theologisch-politischen Traktat; beide sind i n die Sammlung Difficile Liberte aufgenommen worden. Es handelt sich zunachst u m »Le cas Spinoza*, also »Der Fall Spino­za*: ein ganz kurzer, weniger als sechs Druckseiten umfassender Bei-trag, der urspri inglich i m Dezember 1955/Januar 1956 in einer w o h l ephemeren, jiidischen Zeitschrift (Trait d'union) veroffentlicht wur­de. Bei dem zweiten Aufsatz, »Avez-vous relu Baruch?«, »Haben Sie Baruch erneut gelesen?«, handelt es sich u m die urspriinglich 1966 (in der Zeitschrift Les Nouveau Cahiers. N 7) erschienene Rezension des i m Vorjahr veroffentlichten Spinoza-Buches von Sylvain Zac.^ Meines Wissens wurde dieser zweite Aufsatz noch nicht ins Deutsche iibersetzt.

I n dem ersten Aufsatz, »Le cas Spinoza*, behauptete Levinas, dass Spinoza ein »Verrater« des Judentums oder an der jiidischen Sache gewesen sei: un traitre d la cause du judaisme. »Wir s ind*, so auCerte er sich dort, »mit unserem wunderbaren verstorbenen Freund Jakob Gordin volhg einer M e i n u n g : es gibt einen Verrat Spi­nozas*. Dieser Verrat bestehe darin, dass Spinoza »in der Geschichte der Ideen die Wahrhei t des Judentums der Offenbarung des Neuen Testaments untergeordnet hat*"*. - Ich zitiere:

Ein Judentum, das Jesus priifiguriert - damit liefi der Spinozismus das irre-ligiose Judentum eine Bewegung voUziehen, der es sich, als reUgioser, sieb-zehn Jahrhunderte lang widersetzte. Wie vielen jiidischen Intellektuellen,

^ Der Traktat wird hier in der Ubersetzung von C ar l Gebhardt zitiert: V g l . Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Leipzig, Diirr , 1908 (Philosophische Bibliothek; 93). Sigle Geb. , vgl. hier Geb., S. 361 f. ' Sylvain Zac, Spinoza et Vinterpretation de I'Lcriture, Paris, Presses universitaires de France, 1965.

D L , S. ISS; SF, S. 106.

L e s a r t e n d e r F r e i h e i t

Myriam Bienenstock

die von jedem religiosen Glauben losgelost sind, erscheint die Gestalt Jesus nicht als die VoUendung der Lehren der l^ropheten, auch wenn dieser Ge­stalt oder diesen Lehren in ihrem Geist die Helden der Franzosischen i^evo-lution oder der Marxismus folgen. Einem Leon Brunschvicg, dessen Anden-ken wir verehren, einem Jankelevitch, den wir bewundern, ist das None Testament weit gelaufiger als das Alte, und haufig wird dieses durch jenos erhellt. [...] Dank dem von Spinoza geforderten Rationalismus triumphiert heimlich das Christentum.^

Fast am Ende dieses kurzen ersten Beitrags iiber Spinoza f i igt Levinas noch folgende Satze hinzu, Satze, die er iibrigens noch ofters wieder-holen soUte - und die eines der Kennzeichen seiner Position gewor-den sind:

Unsere Sympathie fiir das Christentum ist ungeschmalert, aber sie bleibt freundschaftiich und briiderlich. Sie kann nicht vaterlich werden. Wir kiin-nen kein Kind anerkennen, das nicht das unsere ist. Gegen seine Anspriiche auf die Erbschaft, gegen seine Ungeduld als Erbe protestieren wir, lebhali und gesund. / Der I^rozess wahrt seit zweitausend Jahren.*̂

In dem zweiten der Aufsatze, die Levinas Spinoza widmet , der Rezen­sion des Jahres 1966 (also etwa zehn Jahre spater entstanden als der friihere, eben zitierte Text), driickt er sich aber ganz anders aus. So-wohl der Ton als auch die sachlichen Argumente scheinen a m k ' i s orientiert zu sein:

II faut insister - man muss auf der Freiheit bestehen, mit welcher Spinoza -trotz des hiiufigen Zuriickgreifens auf eine christliche Terminologie, inn/ des Ressentiments, das er der jiidischen Gemeinde gegeniiber, die ihn ban behandelt hatte, behalten haben mag - den beiden Testamenten [also dem Alten und dem Neuen] einen gleichen Wert zuerkannte, jedem in seiner Perspektive - und dass er dem Alten Testament gelegentlich gegeniiber dem Neuen sogar die Uberlegenheit zugesteht.''

Levinas f i igt an dieser Stelle eine lange FuGnote ein, in welcher er Beispiele anf i ihrt , u m zu zeigen, wieso Spinoza das Al te Testameni hoher als das Neue bewertet habe:

Spinozas politisches Ideal ware auf den jiidischen Staat in der Zeit der Kii li ter iibertragen worden; der Weg des Alten Testaments zur Gerechtigkeii bleibt die uniiberschreitbare Grundlage des politischen Lebens; der Dekaiog von Moses ist die Rede Gottes und ihm wurde nie widersprochen, docli

5 SF, S. 107; D L , S. 155.

' SF, S. 108; D L , S. 157.

' D L , S. 162.

136 A L B E R P H I L O S O P H I E A l f r e d B o d e n h e i m e r / M i r i a m F i s c h e r - G e b o e r s {Hf,)

Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen

hiiluMi die Propheten in ihren Predigten ihre Lehre an das Gesetz Moses' iiiinepassl und so aus ihm die Religion ihres Vaterlandes geschaffen; der riiliiolismus der alten Hebraer stammt aus der Liebe und nicht aus der I u i i i i i Gottes; die Biicher des Neuen Testaments unterscheiden sich nicht vim iler Lehre des Alten; das Judentum ist Staatsreligion, das Christentum I ' ln i ' Religion des Individuums, doch ist der christliche Universalismus ein liloK'tT Anspruch geblieben [ . . . ] . "

I liid an lien Schluss seiner A n m e r k u n g stellt Levinas noch diese Fra-m', die er offen lasst: »Ob Bergson, als er den allerletzten Punkt ver-t',iil>, andere Lehrer als Spinoza gehabt hat?***

i 'iese Ausf i ihrungen werfen die Frage auf, ob Levinas seine Ein-'.i l i i i izung Spinozas vol l ig gewandelt, sie geradezu ins Gegenteil ge-k f l i i i liat: Denkt er denn nun nicht mehr, dass Spinoza ein Verrater W i l l , wie er dies zehn Jahre vorher behauptet hatte?

I >ies ist, glaube ich, keineswegs der Fall. Seine eigenen Uberzeu-f'.MMni'n hat er nicht vergessen, i m zweiten Aufsatz treten sie aber I ' i i i i in den Fufinoten hervor und nur selten i m Haupttext selber. I >nii werden sie auch ganz knapp formul ier t - u m zu verstehen, was I ' l 'iii)',en w i l l , miisste man fast »zwischen den Zeilen« lesen, wie uns di i " . Leo Strauss gelehrt hat^"; denn er scheint ad captum vulgi zu '11 l i i e i l u M i : in anderen Worten, er scheint sich auf dasjcnige zu be-• i i l i i . i i i k e n , was seine Leser anzunehmen bereit sein mogen. Nicht

* I )|., S. 162, A n m . 1 : »Par exemple: I'ideal politique de Spinoza aurait etc caique sur I I i i i i {uii ii I'epoque des juges; la voie de la justice de I 'Ancien Testament reste le l i i n i l r i i i e n l indepassable de la vie poUtique; le Decalogue de Moise est Parole de Dieu,

i i ' i i l i i M K i i s ete contredite, mais les prophetes conformant leurs enseignements a la I Ml i l l - Miiise la prechent comme religion de la I'atrie; le patriotisme des hebreux du a I .111111111 I ' l non pas a la crainte de Dieu (108); les livres du Nouveau Testament ne i l i l l r i i ' i u p a s de la doctrine de I 'Ancien; le judaisme religion d'Etat, le christianisme nllKli in l i e I 'individu (101); mais I 'universalisme chretien est reste pure pretention (Mil l

• //ill/ •Hcigson a-t-il eu sur ce point d'autres maitres que Spinoza pour oublier le l i i i i i i l t ' i n i c i |)oint ?«

"' I i i ' i l l inweis auf den deutsch-jiidischen, spater amerikanischen Philosophen Leo 'iliiiiiHs (1899-1973), den Levinas ganz am Anfang seines zweiten Spinoza-Aufsatzes Hllii, H i i l l i e uns vorsichtig machen. D e n n Leo Strauss, heute weltberiihmt, hatte sich m l u i i i giin/. am Anfang seines Weges ins Studium von Spinozas T/iPc)/o^'isc/i-po/i(i--1 / i i ' i Ahluinilhirti; vertieft und begonnen, zwischen einer exoterischen und einer eso-1 . i i - i . lirn Schieibart zu unterscheiden. M i t Strauss, welchen Levinas direkt am A n -1 111); • . l i n e s zweiten Spinoza-Aufsatz zitiert, zeigt Levinas sich aber nicht einverstan-.liM I Mr I'hilosophiegeschichte, sagt er, sei mit der Detektivkunst, der Kunst des I' i i i i i i i i . i l p o l i / i s i e n , keineswegs zu verwechseln (vgl. D L , S. 158).

I t*\M irn d e r F r e i h e i t A-

Myriam Bienenstock , . ( 4 tb, 01 J h

alles kann und muss gesagt werden: Dies hatte Spinoza selber audi schon gewusst!

Levinas ladt uns ein, Spinoza neu zu lesen. U m zu verstehen, was er sagen mochte und wie w i r Spinoza lesen sollten, miissen w h uns aber daran erinnern, dass Levinas zwar i n einer franzosischen und/oder deutschen, jedenfalls »abendlandischen« philosophischen Tradit ion geschult wurde, aber auch u n d vielleicht sogar zuallerersi i n einer jiidischen: i n einer Tradit ion, in welcher es extrem wicht i ; ; ist, in den Dialog zu treten. Es ist entscheidend zu verstehen, dass die jiidische, »talmudische« Tradit ion keineswegs eine »spekulativ-dog-matische«, wie diejenige Spinozas, ist, sondern eine Tradit ion des Dialogs, vielleicht sogar die dialogische Tradit ion par excellence. Dies betont Levinas ganz stark, z.B. i m zweiten seiner Spinoza-Aufsatze:

Vielleicht ist es der Talmud, welcher am besten die Idee Eines Geistes |seiiu' Formulierung »d'un Esprit un« driickt dies emphatisch aus] einfiihrt, diuxh welchen die Menschen in Dialog treten, und die Idee, der zufolge Thcsen, die sich widersprechen, die Rede eines lebendigen Gottes ausspro-chen 1. . . ] ."

Dass Levinas in beiden Aufsatzen dieselben Grundthesen verteidi; ; ! , zeigt sich am Beispiel der ersten, die es verdienen wiirde, hier eni wickelt zu werden, und die i n seinen beiden Spinoza-Beitragen wie-derholt w i r d : »la critique biblique«, die Bibelkrit ik, die von Spinoza in Gang gebracht wurde, kann den jiidischen Glauben keineswegs ei schiittern - auch nicht, wenn, wie bei Spinoza behauptet w i r d , Mose^• keineswegs der einzige A u t o r des Pentateuchs gewesen ist und dieses Buch aus unterschiedlichen Fragmenten besteht. - Umso wahrer isi die jiidische Bibel, erwiderte Levinas schon in seinem ersten Spinoza-Beitrag: das »Wunder« ware umso wunderbarer, wenn es sich in liei hebraischen Bibel u m zahlreiche, disparate Fragmente handeho. W i r d die hebraische Bibel vom Talmud her betrachtet, dann kann die These, nach welcher der Pentateuch mehrere Autoren hatte und nicht nur Moses, den religiosen W e r t dieses Textes nicht mejir m Frage stellen. - Also hat die Spinoza-Krit ik von Levinas m i t der >l'.i belkritik« wenig zu t u n . Diesen hochinteressanten Punkt werde n i i hier nicht naher ausfiihren konnen.'^ Stattdessen werde ich mich aul

" D L , S. 166.

'2 V g l . D L , S. 154; SF, S. 106.

" V g l . meinen Aufsatz: »>Von Angesicht zu Angesicht<, d.h. >ohne einen M i i i l e i ' : Cohen und die evangelische Vermittlungstheologie«, in : I L - M . Dober und M . Mm

A L B E R P H I L O S O P H I E A l f r e d B o d e n h e i m e r / M i r i a m F i s c h e r - G e b o e r s (I I); 1

Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen

zwei andere Griinde konzentrieren, welche die kritische Hal tung Le­vinas' gegeniiber Spinoza erklaren konnten. Auch diese werde ich Iciiler nur skizzenhaft andeuten konnen, denn Levinas selbst hat sie nl( III wirkl ich ausgefiihrt, sondern uns eher eingeladen, Spinoza und dm selber (und auch andere Texte) erneut zu studieren, u m die For-M l i i i i i g weiterzufi ihren. Was er aber bei Spinoza stark kritisierte, ist ( I ) (lessen rein »pohtische« Auffassung der hebraischen Religion, und (,'') das Hild, das Spinoza i m Traktat v o m »Pharisaer«, von den Juden III'. " I ' l iarisaern* gibt. Beide Punkte sind in Difficile Lfi^erft'besonders m i l vertreten und i n beiden ist »Freiheit« eingeschlossen - was hier nu'i i i I iauptthema ist.

I.

Vii'lsagend ist bereits der Anlass, aus welchem Levinas den ersten Hcmer Aufsatze, »Der Fall Spinoza«, i m Jahre 1955 verfasste. Ende lies Inhres 1953 hatte David Ben Gurion, der damalige Prasident des Similes Israel, i n der »Labour«-Zeitschrift Davar einen Aufsatz ver-i i l le i i i l i cht , i n welchem er dazu aufgerufen hatte, »das Schiefe« oder " Verdrehte* zu reparieren (miiJDn JlK ]pn]: ne-taken et ha-me'uvat): l i . h. »die Werke des seit zweitausend Jahren schopferischsten und lielsieii Denkers unter den Hebraern |namlich Spinoza], wieder in Vi ' i l i i i idung zu stellen zur hebraischen Sprache und Kul tur* ' " * . Fiir Hen Gurion war der Bann, die Exkommunikat ion Spinozas, welche il l Amsterdam i m 17. Jahrhundert von der dortigen Gemeinde erlas-Meii wurde, und dessen mogliche Aufhebung nicht die Hauptsache, m u l l wenn er manchmal so verstanden wurde. Fiir Ben Gurion ist (lie ( i i i l t igkei t oder die Aufhebung des Bannes eher als ein his tor i -iiclies Kuriosum zu betrachten, denn empirisch-geschichtHch gesehen iii'i tier Bann ohnehin schon aufier Kraft gesetzt worden, da Spinoza nli'is auch jiidische Leser hatte. Doch meinte Ben Gurion, dass die liehitiische Literatur unvoUstandig bleiben wiirde, solange nicht die p.i".aniieii Schriften Spinozas ins moderne Hebraisch iibersetzt wor-

( ( I ' l i i l i ' i n ( l lg . ) , Religion aus den Quellen der Vernunft. Hermann Cohen und das fi'iiiif^elisehe Christentum, Tubingen, M o h r Siebeck, 2012, S. 55-68. ' ' I i.ivid Hen C u r i o n , »Let Us Make Amends« , Davar, Dec. 27, 1953: »To restore to .'III I ichrcw language and culture, the writings of the most original and profound i l i ink . i iluii appeared amongst the Llebrew people in the last two thousand years.«

I rv.ii ti'ii d e r F r e i h e i t A-

Myriam Bienenstock

den waren. Diese Schriften solken dem hebraischen Volk zugangHch sein und also zur Verfxigung gestellt werden.

A u f diese Ausf i ihrungen von Ben Gurion reagierte Levinas m i t seinem ersten Aufsatz iiber Spinoza. Es ist seine Absicht - daran kann w o h l nicht gezweifelt werden - , Ben Gurions Forderung zu wider­sprechen. Sein Aufsatz beginnt m i t Ben Gurion^' und endet m i t einem nachdriickhchen A n g r i f f auf Ben Gurions Vorschlag einer Re­vision des Urteils iiber Spinoza, denn eine solche Revision wi irde »die grofie Gewissheit unserer Geschichte« i n Frage stellen.'*" Die Re-aktion von Levinas auf Ben Gurion war keineswegs so enthusiastisch wie die vieler Israelis damals - und noch heute. Zwar zeigte er sich durchaus bereit anzuerkennen, dass Spinoza auf die westliche W e i l (»l'Occident«) einen entscheidenden Einfluss i m Hinbl ick auf die grundsatzliche Frage, die ideengeschichthche Frage der Freiheit, der Freiheit des Geistes, welche grundsatzlich ware, hatte. »Abendland« -»l'Occident« - , schrieb er, bedeute gerade »Freiheit des Geistes«: »liberte de l'esprit«. Diese Freiheit stiinde in engem Zusammenhang m i t der »Vernunft«, derjenigen Vernunft , welcher das W e r k Spino­zas »die hochste und gewiss anerkannte Huldigung darbringt«. Das Judentum konne sich von dieser Vernunft , diesem Rationalismus, nicht trennen, es konne gegeniiber der »Demokratie und der sozialen Frage nicht gleichgii lt ig werden«, so wenig wie es »den Mathemat i -kern nicht den Riicken kehren« konne.'^ Gleichzeitig erklarte er aber auch, dass Spinoza »einen entscheidenden, antijiidischen Einfluss* auf die Geschichte des Rationalismus ausgeiibt'** und dass er »eine unheilvolle RoUe [. . . ] beim Zerfal l der jiidischen Intelligenzija« ge-spielt habe. Es gebe dem Judentum gegeniiber »einen Verrat Spino­zas*''*. - Aber w a r u m , w i r d man fragen - aus welchen Griinden? Dies erklart er nirgendwo.

Doch erwahnt er i n diesem Zusammenhang Jakob Gordin (1896-1947) namentlich: »Wir sind,« schreibt er, »mit unserem w u n ­derbaren verstorbenen Freund Jakob Gordin vol l ig einer M e i n u n g : es gibt einen Verrat Spinozas* Wer war denn Jakob Gordin, und was hat er iiber Spinoza gesagt?

15 V g l . D L , S. 152; SF, S. 104.

1" V g l . D L , S. 155-157; SF, S. 106-108.

V g l . D L , S. 153; SF, S. 105.

" V g l D L , S. 154; SF, S. 106.

" D L , S. 155; SF, S. 106.

2" D L , S. 155; SF, S. 106.

A L B E R P H I L O S O P H I E Alfred B o d e n h e i m e r / M i r i a m F i s c h e r - G e b o e r s ( H e )

Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen

lakob Gordin war ein russischer Gelehrter, so wie Levinas selber: gi ' l ioien i m Jahre 1896, hat er i n Berlin, an der Berliner »Akademie l i i r die Wissenschaft des Judentums*, eine Dissertation iiber Her­mann Gohen verfasst.-' Danach lebte er i n Paris, wo er als Bibliothe-kar an der »Alliance Israelite Universelle« arbeitete. Auch wenn er /leinlich j u n g starb, hat er einen betrachtlichen Einfluss auf die »Er-ni'uerung des Judentums* ausgeiibt, die i n Frankreich nach dem /weiien Weltkrieg stattfand und iiber welche Levinas sich ofters au-Iseile - manche gingen sogar so weit , von einer Schule zu sprechen, "I'Ecole d'Orsay*, wenn sie ihr W i r k e n zu beschreiben suchten, doch isi diese Bezeichnung wohl unangemessen, nicht zuletzt wei l es in jener »Schule* ganze verschiedene Stromungen und Orientierungen f'.id). M i t alien ist Levinas nicht einverstanden gewesen. Auch miisste lunzugefiigt werden, dass er selber an den Orsay-Seminaren selten i i ' i l n a h m . Einmal sagte er, die Orsay-Schule sei von den EEIF, der liidischen Pfadfinderbewegung i n Frankreich, stark gepragt worden, er selber sei aber kein Pfadfinder gewesen. Ob dies der wahre Grund •n'iner Abwesenheit war, ist nicht sicher - moglicherweise war er m i t rini);en Denkrichtungen der Organisatoren nicht ganz einverstanden.

( lo rd in , welchem Levinas 25 Jahre nach seinem Tode ( im Jahre I '•1/2] einen Nachruf widmete,-* richtete sich nicht gegen die Philoso-l>lnr Spinozas, diejenige also, die w i r i n der Ethik f inden - eher gait diese l i i r ihn als eine der grofiten Leistungen in der gesamten Phi-lohophiegeschichte. I h m ging es vielmehr darum, dass Spinoza gera­de, weil er ein wichtiger Philosoph war, vielleicht sogar einer der gilil.sten, die es gab, eine antijiidische Rolle m i t katastrophalen Folgen liaiie spielen konnen - »eine fast satanische Lebenskraft* hatte er ei wiesen (une vigueur presque satanique}^^ - und zwar m i t seinem tiiiklut, von welchem Jakob Gordin glaubte, er konne darin »einen

I lei gewaltigsten Angr i f f e nicht nur gegen die biblischen Auffassun-yyw, sondern auch gegen die geistliche Tatigkeit des jiidischen Volkes

' liikoh Ciordin, Untersuchungen zur Theorie des unendlichen Urteils, Berlin, A k a -i lnnie-Verlag, 1929.

I liescr Nachruf wurde ebenfalls in Difficile Liberie veroffentlicht: vgl. D L , S. 234 -MO

" Vgl. \ Ciordin, »Les crises religieuses dans la pensee juive« [1946], heute zugang-l l i h in: D e r s . , Ecrita: le renouveau de la pemee juive en France (Sigle: Gordon, Ecriti). V o r w o i I von Leon Askenazi , textes reunis et presentes par Marcel Goldmann, Paris, All . in Michel, 1995, S. 58-69, hier S. 67.

I i-\,iiic-n d e r F r e i h e i t A-

Myriam Bienenstock i i s i'-i,' ,X'>i '<f'

insgesamt«^'* erkennen. Die Nahe zu Levinas ist unleugbar, auch wenn er in der Beschuldigung Spinozas vielleicht noch weiter als Le­vinas gegangen ist.-^ Seinen eigenen Hauptaufsatz gegen Spinoza -»Benedictus ou maledictus. Le cas Spinoza« (den Untert i te l iiber-n i m m t Levinas!) hat er erstmals i m Jahre 1935 veroffentlicht und i m Jahre 1954-'' nachgedruckt, also i n zeitlicher Niihe zu Levinas' eigenem Aufsatz m i t fast demselben Ti te l : »Le cas Spinoza«. Seinen Aufsatz hat Gordin m i t einer ausfiihrlichen Wiedergabe des Banns des Herems gegen Spinoza begonnen, u m ihn dann zu rechtfer-tigen.-^ Gordin zufolge ist Spinoza von einer Lehre durchdrungen gewesen, welche markionitische und sozzinistische Quellen hatte; eine Lehre, die i h n dazu gefi ihrt habe zu behaupten, dass die Religion der hebraischen Bibel keineswegs eine Religion der »Liebe« zu Gott gewesen sei, sondern die eines »blinden Gehorsams«; eines Gehor-sams, welcher aus einer korperlichen, materiellen Angst hervorgehe. Auch sei Spinoza der Urheber der seitdem aufierst popularen Ident i -f izierung der jiidischen Religion m i t einer Anzahl politisch-strategi-scher Regeln: »Zeremonien«, oder »Zeremonialgesetze«, die »nichts zur Gliickseligkeit beitragen, sondern sich blo6 auf die zeitliche Wohl fahr t eines Staates beziehen«. I n den sogenannten f i in f Biichern Moses, so schreibt Spinoza i m Kap. V seines Traktats, und Gordin zit iert i h n ,

wird [...] nichts anderes verheil^en als diese zeitliche Wohlfahrt, namlich Ehren, Ruhm, Siege, Reichtum, Freuden und Gesundheit. Allerdings ent-halten jene fiinf Biicher au6er den Zeremonien auch viele Sittenlehren, aber auch diese nicht als Sittenlehren, die fiir alle Menschen giiltig sind, sondern bloiS als Gebote, die hauptsachlich der Fassungskraft und dem Cha-rakter hXoQ des hebraischen Volks angepasst sind, und die darum auch nur den Nutzen seines Reiches bezwecken. So lehrt z.B. Moses den Juden nicht

»Independamment de la valeur philosophique intrinseque de \'V.thique, il est hors de doute que I'ouvrage de Spinoza qui nous revele la veritable cuisine ou se labriquent les theoremes de VEthique, c'est le Traile theologico-politique qui represente une des plus violentes attaques, non seulement envers les conceptions bibliques, mais envers I'aetivite spirituelle du peuple juif, en general*. (Gordon, Ecrits, S. 65).

V g l . die These, der zufolge Spinoza »beim Zerfall (»decomposition«) der jiidischen Seele eine schicksalshafte Rolle« gespielt hatte (Gordon, Ecrits, S. 147).

Jacob Gordin, »Benedictus ou maledictus. Le cas Spinoza* [1935/1954], heute / u -ganghch in : Gordon, Ecrits, S. 145-164.

Ibid., S. 147: »Der Fall Spinoza, welcher durch den Bannspruchakt symbohsch fesl-gestellt wurde, bleibt aktuell. Der 27. Juli 1656 ist ein denkwiirdiges Datum (u7ie dale memorable}^.

A L B E R P H I L O S O P H I E A l f r e d B o d e n h e i m e r / Miriam F i s c h e r - G e b o e r s (Hg.)

Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen

ols Lehrer oder Prophet, sie sollten nicht toten und nicht stehlen, sondern Ills Gesetzgeber und Fiirst; denn er begriindet seine Lehre nicht durch die Veriuinft, sondern fiigt seinen Befehlen eine Strafe bei, und Strafen konnen luid miissen ja nach dem Charakter der einzelnen Volker verschieden sein

Dngegen habe Christus »das allgemeine Gesetz*, die Sittengesetze, lelnen wollen; diese seien auch »von den Staatsgesetzen zu unter-•iclieiden, und zwar i n erster Linie wegen der Unwissenheit der Pha-risiier, welche glaubten, nur der lebe gliickselig, der die Staatsrechte oiler das mosaische Gesetz aufrecht halte*-'*. U m zu begriinden, dass in i i i i eine i r r t i iml iche Auffassung solcher Staatsgesetze entwickle, i n -dciii man sie m i t den sitthchen, moralischen Gesetzen zusammen-Nielle, und sei es nur teilweise, bemiihte sich Spinoza zu beweisen, dass »die Gesetze des Al ten Testamentes blo6 den Juden offenbart i i iul vorgeschrieben worden sind*-^". - Daraus w i r d geschlossen, dass ••die I lebraer nach den Geboten der Religion keine Verpf l ichtung ge-p.ciiiiber den Volkern hatten, die i n diesem Vertrag [dem Vertrag m i t ( i i i i t , den sie geschlossen hatten] nicht einbegriffen waren, sondern li'dif'Jich gegen ihre Volksgenossen.*^'

Aus diesem »extrem egoistischen Partikularismus* - dieser .Aiistlruck stamiTit von Gordin - folgt, dass - u n d hier ist es Spinoza, den er zit iert :

I lie l.iebe der Hebraer zu ihrem Vaterlande keine einfache Liebe war, son-i l i ' i i i i r o i T i m i g k e i t , die zugleich mit dem Hass gegen die ubrigen Volker • lu l l h Jen taglichen Kult so gehegt und gepflegt wurde, dass sie ihnen zur /we i i en Natur werden musste [...] Es musste darum [...] ein bestandiger I In:-', entspringen, der tiefer als irgendetwas in der Seele Wurzel fassen ki i i ime. War es doch ein Hass, der aus tiefer Verehrung oder Frommigkeit I 'Mlsprang, und der fiir fromm gehalten wurde, und einen tieferen und hart-iiiickigeren Hass kann es nicht geben. Es fehlte auch an der gewohnlichen I l i ' . iu l ie nicht, die den Hass immer mehr und mehr entfacht, namlich seine I I wiclerting, denn die anderen Volker mussten auch ihnen mit dem erbit-ic i i ' .U 'n Masse begegnen.̂ ^

I ini diese Behauptungen zu begriinden, zieht Spinoza einen w o h l be-kiiniiien Satz aus dem Matthaus-Evangelium (V, 43) heran: »Ihr habt

'« V g l . K a p . V , Geb., S. 95. K l i p . V , Geb., S. 95 L

K i i p . I l l , Geb., S. 61.

" K l i p . X V U , Geb. S, 323.

'• Kii|. . X V I L G e b . , S. 3 1 4 L

I ("..ii trn der- F r e i h e i t Ar-

Myriam Bienenstock

gehoret, dass gesagt ist: D u sollst deinen Nachsten lieben, u n d deinen Feind hassen«. Er wendet ihn aber auf das A l t e Testament an, u m zu behaupten, dass der Hass gegen die anderen »nicht nur erlaubt, son­dern geradezu durch die Frommigkeit geweiht*-'-' ware. Hier sti itzt er sich auch auf Tacitus, was Jakob Gordin noch viel beredter findet --m i t Recht^* - u m zu dem Schluss zu kommen, es sei kein Wunder, dass sich die Juden »so viele Jahre hindurch i n der Zerstreuung und ohne eigenes Recht erhalten haben«, denn es sei »der Hass der Volker, der sie in erster Linie erhalt, das hat schon die Erfahrung gezeigt*^^.

A u f der Basis dieser Textstellen aus dem Theologisch-politischen Traktat kam Gordin zum Schluss, der Bannspruch sei vol l berechtigt gewesen. Darin war er Hermann Cohen gefolgt - Hermann Cohen, der die Weise beklagt hatte, i n welcher Spinoza die Bergpredigt ange-f i i h r t hatte, u m den Satz vom Hass des Feindes aufs Al te Testament zu beziehen; auch hatte Cohen jene Thesen beklagt, denen zufolge das Neue Testament eine allgemeine Rehgion ware, wohingegen dem A l t e n Testament die Allgemeinheit fehlen wiirde. I n erster Linie hatte sich Cohen gegen jene Bibellektiire erhoben, der zufolge die jiidische Religion nur Staatslehre, also keine Ethik, kein Prophetis-mus gewesen ware. '" Die Klage ist umso bitterer gewesen, wed Cx)-hen Spinozas Ethik also manchmal ganz nahe stand, sowohl phdoso-phisch als auch politisch. Bis zum Ende seines Lebens hatte sich Cohen f i i r den Kampf u m religiose A u f k l a r u n g und Toleranz enga-giert und auch anerkannt, dass der theologisch-politische Traktat Spi­nozas »eine Grundschrift des politisch-religidsen Liberalismus* ge­wesen sei^', und dass diese Schrift »in religioser wie i n politischer

" Kap. X V I I , Geb. 315. V g l . hierzu Rene Bloch, Antike Vorstellungen vom Judentum: Der Judenexkurs des

Tacitus im Rahmen der griechisch-rdmischen Ethnographic. Stuttgart, Franz Steiner, 2002 [Historia-Einzelschriften, Bd. 160] und sein neuer Aufsatz, ders., » T a d t u s ' Ex ­cursus on the Jews through the Ages: A n Overview of its [deception Story« , in: R. Asch (Hg.), O;c/orii Readings in Tacitus, Oxford, 2012, S. 377-410. " Kap. I l l , Geb. S. 75. Direkt danach kommt der Passus, der vielen Anhiingern von Ben Gurion vermutlich gefiel: »wenn die Grundsatze ihrer Religion ihren Sinn nichi verweichlichen, so mochte ich ohne weiteres glauben, dass sie einmal bei gegebenei Gelegenheit |...] ihr Reich wieder aufrichten und dass Gott sie von neuem aus-erwahlt« (Geb., S. 75).

"> V g l . z . B . den Spinoza-Aufsatz von 1915, in Cohen: Werke, hg. vom l l e r m a m v Cohen-Archiv unter der Leitung von H . Holzhey, Hildesheim/New York, G . Olms, 1978 sq., hier Band 16, S. 407ff. " V g l . Cohen, op.cit., S. 324.

144 A L B E R P H I L O S O P H I E A l f r e d B o d e n h e i m e r / M i r i a m F i s c h e r - G e b o e r s (Hg.)

Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen

l l i i i s icht die allgemeine A u f k l a r u n g gef6rdert« hatte.'** I n seinem Nachruf auf Jacob Gordin erwahnt Levinas sein »engouement« - sei­ne Schwiirmerei, seine Begeisterung - f i i r den Marburger Neukantia-nisniiis, sprich: f i i r Hermann C o h e n . O b e r Gordin hat Levinas Her-inarni C'ohen entdeckt, und ich vermute, dass lieide, Levinas u n d ( iordin , so manches Gesprach iiber Cohens virulente Opposition ge­gen Spinoza f i ihr ten - u m zu entdecken, dass sie m i t dieser Opposi-l i i in einverstanden waren, auf jeden Fall i m Hinbl ick auf den ersten Punkt: die Verk i i rzung der hebraischen Bibel zu einer rein politischen Leine.

II.

Fur Levinas mag es aber das Bi ld der Juden, der Juden als Pharisaer, gewesen sein, das i h n noch starker beriihrte und auf i h n wirkte . I n der Sannnlung Difficile Liberte gibt es einen anderen, ganz kurzen Bel­l i iig - er zahlt nur ganze vier Seiten - welcher den beredten Ti te l hagt: »Le pharisien est absent**"', »der Pharisaer ist abwesend« . . . Auch dieser Beitrag wurde nicht ins Deutsche iibersetzt, vermutl ich niclu nur, wei l er so kurz und daher unbedeutend erschien, sondern vielleicht auch, wei l Levinas dort versucht hat, die Figur des Pharisa-ei-, /,ii rehabilitieren: Ein wohl vergeblicher Versuch, noch vergeb-lii her als der Versuch, Spinoza erneut zu verbannen!

Heide Versuche sind aber miteinander verbunden, denn Spinoza 'lelher scheint zur Verbrei tung der abwertenden Bezeichnung »Pha-I I'.aer* ganz viel beigetragen zu haben. I n seinem Theologisch-politi-••I hen Traktat beschrieb er diese nicht nur als diejenigen, welche Pila-iiis tiazu gebracht hatten, Christus hinzurichten, »obgleich er |Pilntus| ihn [Christus] f i i r unschuldig hielt«, und er, Pilatus, ihren ••/orn« zu beschwichtigen versucht habe. Er begniigt sich nicht damit / I I heliaupten, dass die Pharisaer auch diejenigen gewesen seien, w e l -1 lie die Keligionsstreitigkeiten und die Anklagen gegen die Sadduzaer hegoiinen hatten, iiberall hatten sie »die Manner verfolgt, die sich dm i l l Kechtschaffenheit auszeichneten und durch Tiichtigkeit her-v o i I raien und darum dem Volke ein Dorn i m Auge waren; sie haben

Vgl. Cohen, op.cit., S. 321. Vgl. 1)1 „ S. 2.35. H I , S. 47-51.

I r\.u UMi d e r F r e i h e i t A -

Myriam Bienenstock AiS imwfij »ui''ff'«ff;?

ihre Meinungen offenthch verflucht und den Hass einer wilden M e n -ge gegen sie entf lammt«'" . Er verallgemeinert allerdings die Bedeu-t u n g des Wortes so sehr, dass er auch Maimonides als »Primus inter Pharisaeos«, den »ersten unter den Pharisaern* bezeichnet: habe er doch »offen« behauptet, die Schrift miisse der Vernunf t angepasst werden.**- A n vielen Stellen scheint das W o r t sogar alle traditions-gliiubigen Juden zu bezeichnen. Was hat i h n aber bewogen, f i i r t radi -tionsglaubige Juden Pharisiier zu sagen? Wie kam er dazu, statt von Juden von Pharisaern zu sprechen, und »seinen Glaubensgenossen das Stigma eines Namens aufzudriicken, der seit reichlich anderthalb Jahrtausenden i n seinem urspriinglichen Sinne aufier Gebrauch, langst schon lediglich i n alten Urkunden (Talmud und N.T.) ein u n -lebendiges Dasein fristete und hochstens noch i m christlichen Volks-munde als Bezeichnung f i i r Heuchler fortlebte?***' Inshesondere i n Deutschland, i n der letzten Halfte des 19. und wiihrend des 20. Jahr-hunderts, wurde das W o r t in solcher Weise ins antisemitische Vo-kabular aufgenommen, dass diese Fragen erneut gestellt und bis zu Spinoza und seiner Zeit zuriickverfolgt wurden***. W o h l wurde in christlichen Kreisen der damalige Streit zwischen Urie l da Costa -danach Spinoza - und der jiidischen Gemeinde als ein Kampf z w i ­schen Sadduzaern und Pharisaern beschrieben, damals aber ohne jede gehassige Nebenbedeutung. So kam es, dass das W o r t bei Spinoza allgemein alle Anhanger der jiidisch-rehgiosen Uberheferung meint .

Die Bedeutung, die Levinas dieser Bezeichnung gibt, ist genauso allgemein, aber auch genauso polemisch wie jene, welche ihr zur Zeit Spinozas gegeben wurde. Fiir i h n ist »Pharisaer« keineswegs die Be­zeichnung einer Richtung des religiosen Judentums, welche sich his-torisch entwickelt hatte, eher verweist sie auf Diskussionen, die ver­m u t l i c h wahrend seines Lebens, i n seiner Zeit stattgefunden haben: Diskussionen zwischen Anhangern einer hassidischen, eher m y s t i -schen Orient ierung und Anhangern derjenigen Richtung, welche -wie er selber - eher Bi ldung und Erkenntnis bevorzugen. Ziel seiner damaligen Angr i f fe waren diejenigen, welche »Enthusiasmus« bevor-

« Kap. X V I I I , Geb. S. 330. « Kap. X V , Geb. S. 261. ^ V g l . Natban Porges, »Das Wort Pharisaer bei Spinoza«, Monatsschrijt fiir Ge­schichte und Wissenschaft des judentums 61 (1917), S. 150-165, hier S. 156. *" V g l . dazu F. Niewohner, »Spinoza und die Pharisaer: Eine begriffsgeschichtliche Miszelle zu einem antisemitischen Slogan*, Studia Spinozana, vol. 1 (1985), S. 347 -355, hier S. 347. , ^ . , ,

146 ALBER PHILOSOPHIE Alfred Bodenheimer / Miriam Fischer-Geboers (Hg.)

Emmanuel Levinas ladt ein, Spinoza erneut zu lesen

/.iigten und m i t i h m »das Irrationale, das Numinose, das Sakramen-(nie* (I'irrationnel, le numineiix, le sacrarnentel*''): Immer wieder kommt das W o r t »Enthusiasmus« (Hebraisch: hit'lahavut) wieder, (Ins ein Kennzeichen f i i r den Hassidismus, inshesondere denjenigen von l-iuber, ist: die Hervorhebung eines religiosen Gefiihls, mittels welt Item die individuelle Seele sich i n Gott verliert, von Gott »beses-• . I ' l i " ist.**'' Buber benutzte auch das W o r t »Extase«, doch ware es u n -gei'if;net und sogar sinnlos, das Ziel von Levinas' Angr i f f en genauer piiizisieren zu wollen, denn die Zeiten haben sich geandert und es kiinnie wohl der Fall sein, dass Levinas sich heute gewissen Hassi-dii.clien Kreisen naher f i ihlen wiirde als einigen derjenigen, die sich

oder die w i r - als »Pharisaer« bezeichnen wi i rden . Wi i rde man eine gennui're Vorstellung der Menschen geben wollen, die er als »Phari-' i m ' i « heschreibt, miisste man Namen, d .h . Eigennamen geben. Tat-' M i i l i l icl i hat Levinas mehrmals betont, auch in seinen Spinoza-Auf-•Mii/.cn, dass er die Chance gehabt habe, die Geheimnisse der l i i idi l ionel len, talmudischen Methode unter der Leitung eines aufier-Hewcilinlichen Meisters ahnen zu lernen - und dass Spinoza diese ( li.ince nicht gehabt habe: Spinoza - so spricht sich Levinas aus -

Iicnii hei seinen jiidischen Studien »nur Lehrmeister[n] ohne For­m u l a (ilcti maitres sans envergure) begegnet zu sein."*^ Auch ist es ein hekiumies Prinzip, eine Regel der talmudischen Tradit ion, dass man di'iijenigen, von welchem man etwas lernt, immer zitieren soil, und / W i l l mit seinem Namen. Meistens erwahnt Levinas i n diesem K o n -i i - \ den Namen von Chouchani, dieser enigmatischen Figur, m i t de-i r n l l i l l e Levinas die jiidischen Studien, die er in Litauen, also i n Kn.'.1.111(1, angefangen hatte, i n Frankreich fortsetzen und vertiefen kdiinie. Ich wiirde aber auch denjenigen von Jakob Gordin h i n z u f i i -p . e i i i i i i d man konnte an einige andere Namen denken, die, auch wenn I c v i i K i s sie keineswegs kennen konnte, weil sie einer spiiteren Zeit . i i i ) ' , c l i c i n ' n , aber eine Rolle erf i i l len, die derjenigen ganz ahnlich ist, ( i i i l welche er hinweist.

I I war zu bescheiden, u m diese Benennung f i i r sich sell">er zu (ik/c|iiicren. Man konnte aber doch darauf hinweisen, dass es i h m (•(•hiiigen ist - und zwar nur teilweise, nicht ganz, denn die Zeiten w . i i c i i sdiwer - die pejorativen Nebenbedeutungen des Worts »Pha-

' V'̂ •,l I ) i , s. 17.

" V'nl I 'I , S. 22; vgl. auch das Ende dieses Beitrags. ' 11| , S I ''(>: Sr, S. 107; vgl. auch D L , S. 167.

I p\M ( O H del Freiheit A-

Myriam Bienenstock K * ^ ' ' ' > - ^ ' •

riseismus« aufzuheben. Der hebraischen Etymologic zufolge bezeich­net das W o r t C O n s diejenigen, die sich trennen - Trennung. Der grofite Erfolg Levinas' besteht zweifellos darin, dass er diesem Wort , das so lange negative Konnotationen hatte, eine positive u n d auch allgemeingiiltige Bedeutung gab: Frei kann man nicht sein ohne Trennung, in dem oben angefiihrten Sinn.

n •

ALBER PHILOSOPHIE

.'iftj u:. ij^.t iftwc ,ij^>', vi« ^K; ;fi!^:

Alfred Bodenheimer / Miriam Fischer-Geboers (Hg.)

Ihivid Pliiss

Difficile Liberte als theologische Religionskritik

1 Gespitzte Ohren

I • i l l i c i k ' Liberte hat mich iiber einige Jahre meines Lebens begleitet. I 111 ich in meinem Dissertationsprojekt das Verhii l tnis von Judentum u n d I'liilosophie bei Emmanuel Levinas i m Visier hatte, w^urde ich d i l l i l l die Texte von Difficile Liberte ( im Folgenden: DL) vielfalt ig i i M g e i e g t . ' Nach Abschluss der Promotion habe ich das Each gewech-neli u n d hefasse mich seither m i t Fragen der Liturgiewissenschaft, der Iviii i i i l i l ieorie und der gelebten Religion in Kirche und Gesellschaft. I i n i M ) leizvoller ist es, nach einigen Jahren den Band m i t den vielen l U i ' i ' . i i i t - M a r k i e r u n g e n und -Notizen wieder zur Hand zu nehmen i i i i d / , i i l e s e n , von Neuem und m i t neuen Augen. Dabei i iberkommt m i l II ein vertrautes Gefi ihl - wie bei der ersten Lektiire: das Gefi ihl v o n f.ioLser Niihe bei gleichzeitiger Fremdheit. Eine merkwi i rd ig ver-l i i i i i l e u n d zugleich andersartige Wel t t u t sich auf, in und zwischen i l i ' i i / e i l e n .

Pa ist von Texten die Rede, »die lebendiger [seien] als das Le-IMMI - (SF ' ) ) . ' Texte vol l grofier Weisheit. »Vielleicht ist ja alles schon I ' inmii l |...| von Denkern gedacht worden, die sich wenig um Ent-wi ik l i ingen scherten [...]« (SF 9), mutmaf i t Levinas. Er bezieht sich III I ' l i n i n i e r wieder auf uralte Texte, denen er zutraut, dass sie i n der I . i f , i - i iwart zum Leuchten gebracht werden konnen. Mehr noch: dass

' I i|r Alhoil Isi erschienen unter dem Titel : Pus Messianische - judentum und Phi-iin Werk von Emmanuel Levinas, Stuttgart etc. 2000.

' Itiei iiiul ini I'olgenden zitiere ich entweder aus der 4. Auflage der franzosischen I iilHliuiliiusgube: Emmanuel Levinas, Difficile liberte, I'aris 199.5 (zitiert als D L ) , oder nils ilrni von I'va Moldenhauer iibersetzten Band: Schwierige freiheit - Versuch iiber dii- tudciiliiiii, Frankfurt am M a i n 2. A u f l . 1996 (zitiert als SF) . Bekannthch wurde in illi'neni mil ein Teil der franzosischen Originalausgabe iibersetzt. Das (ranzosische I iiiHinul wurde 196,3, 1976 und 1995 ediert, wobei fiir die neuen Auflagen jeweils i i i ' i inr I fxie aufgenommen wurden. v r

I uMiirii der Freiheit A -