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Psychotherapeutische Praxis (2002) 1, 26-34 © Hogrefe-Verlag, Göttingen 2002 Aus Wissenschaft und Forschung Komorbidität psychischer Störungen bei jungen Frauen Ergebnisse der Dresdner Studie Eni S. Becker, Veneta Türke, Simon Neumer, Ulrich Soeder und Jürgen Margraf Kurze Zusammenfassung Komorbidität, d. h. das gemeinsame Auftreten mehrerer Störungen, ist ein häufiges Problem bei Patienten, die ambulante oder auch stationäre Hilfe aufsuchen. So ent- steht eventuell in der Praxis ein verzerrtes Bild. Es stellt sich die Frage, inwieweit Komorbidität ein Problem in der Bevölkerung darstellt und wie sich diese auswirkt. Hier sollen die Daten des ersten Messzeitpunktes einer prospektiven Längsschnittstudie vorgestellt werden. 1877 junge Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren nah- men an unserem diagnostischen Interview teil und bear- beiteten eine Fragebogenbatterie. Rund 40% der jungen Frauen war schon mindestens einmal von einer psychi- schen Störung betroffen, wobei Angststörungen am häu- figsten auftraten. Besonders hohe Komorbiditätsraten wurden zwischen Angst-, affektiven und Kinderstörun- gen beobachtet. Von mehr als einer Störung betroffen zu sein, zieht erheblich stärkere Beeinträchtigungen nach sich als „nur" an einer psychischen Störung zu leiden. Einleitung In der Allgemeinbevölkerung haben psychische Störun- gen hohe Häufigkeitsraten. Angststörungen und depres- sive Störungen sind, neben substanzbezogenen Störun- gen, die häufigsten Störungen in den westlichen Indu- strieländern. Frauen sind - abgesehen vom Substanz- missbrauch - dabei häufiger betroffen als Männer. Die vorliegende Studie betrachtete junge Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren in Dresden. Es wurden Daten zu Prävalenz (Häufigkeit) und Inzidenz (Neuauftreten) von Angststörungen, affektiven Störungen, somatofor- men Störungen, substanzbezogenen Störungen und Ess- störungen erfasst. Dabei galt ein besonderes Augenmerk DOI: 10.1026//1616-1041.2.1.26 auch den längerfristigen Auswirkungen von komorbid auftretenden Störungen. Allgemein bekannt ist, dass Per- sonen, die therapeutische Hilfe aufsuchen, meistens unter mehreren Störungen leiden und insgesamt deutlich stär- kere Beeinträchtigungen aufweisen, als Personen, die nur von einer einzelnen Störung betroffen sind. Inwieweit diese Beobachtungen auch für junge Frauen aus der All- gemeinbevölkerung gelten, möchten wir im vorliegenden Beitrag betrachten. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, wie häufig psychische Störungen gerade auch in der All- gemeinbevölkerung - insbesondere bei Frauen - sind. So wurden Ein-Jahres-Prävalenzen zwischen 15 und nahe 25% bei Frauen der Allgemeinbevölkerung beob- achtet (Offord, Boyle, Campbell, Goering, Lin, Wong und Racine, 1996; National Comorbidity Survey, Kessler et al., 1994). Kessler und Mitarbeiter (1994) fanden eine Lebenszeit-Prävalenz von 30,5% für das Auftreten ir- gendeiner Angststörung bei Frauen. Das bedeutet, dass innerhalb eines Jahres etwa jede vierte bis fünfte Frau von einer Angststörung betroffen ist, im Laufe de s Le- bens sogar fast jede dritte Frau zu irgendeinem Zeitpunkt an einer solchen Störung leidet. Bei affektiven Störungen variieren die beobachteten Auftretensraten stärker - je nach betrachtetem Zeitfenster - da diese Störungen ei- nem phasischen Verlauf unterliegen. Offord und Kolle- gen (1996) fanden bei Frauen eine Ein-Jahres-Prävalenz von 5,9% für affektive Störungen. Angaben für die Lebenszeitprävalenz affektiver Störungen liegen zwi- schen 23 und 33% (Kessler et al., 1994; Lewinsohn, Hops, Roberts, Seeley und Andrews, 1993). Das bedeu- tet, dass im Laufe ihres Lebens etwa jede dritte bis vierte Frau irgendwann von einer affektiven Störung betroffen ist. Am häufigsten sind schwere depressive Störungen. Für den deutschsprachigen Raum existieren kaum derartige Studien. Erwähnt werden muss an dieser Stelle

Eni S. Becker, Veneta Türke, Simon Neumer, Ulrich Soeder ......Angststörungen und dort vor allem Spezifische und So ziale Phobien aus. Für den Ein-Jahres-Zeitraum ergab sich eine

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Psychotherapeutische Praxis (2002) 1, 26-34 © Hogrefe-Verlag, Göttingen 2002

Aus Wissenschaft und Forschung Komorbidität psychischer Störungen

bei jungen Frauen Ergebnisse der Dresdner Studie

Eni S. Becker, Veneta Türke, Simon Neumer, Ulrich Soeder und Jürgen Margraf

Kurze Zusammenfassung

Komorbidität, d. h. das gemeinsame Auftreten mehrerer Störungen, ist ein häufiges Problem bei Patienten, die ambulante oder auch stationäre Hilfe aufsuchen. So ent­steht eventuell in der Praxis ein verzerrtes Bild. Es stellt sich die Frage, inwieweit Komorbidität ein Problem in der Bevölkerung darstellt und wie sich diese auswirkt. Hier sollen die Daten des ersten Messzeitpunktes einer prospektiven Längsschnittstudie vorgestellt werden. 1877 junge Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren nah­men an unserem diagnostischen Interview teil und bear­beiteten eine Fragebogenbatterie. Rund 40% der jungen Frauen war schon mindestens einmal von einer psychi­schen Störung betroffen, wobei Angststörungen am häu­figsten auftraten. Besonders hohe Komorbiditätsraten wurden zwischen Angst-, affektiven und Kinderstörun­gen beobachtet. Von mehr als einer Störung betroffen zu sein, zieht erheblich stärkere Beeinträchtigungen nach sich als „nur" an einer psychischen Störung zu leiden.

Einleitung

In der Allgemeinbevölkerung haben psychische Störun­gen hohe Häufigkeitsraten. Angststörungen und depres­sive Störungen sind, neben substanzbezogenen Störun­gen, die häufigsten Störungen in den westlichen Indu­strieländern. Frauen sind - abgesehen vom Substanz­missbrauch - dabei häufiger betroffen als Männer. Die vorliegende Studie betrachtete junge Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren in Dresden. Es wurden Daten zu Prävalenz (Häufigkeit) und Inzidenz (Neuauftreten) von Angststörungen, affektiven Störungen, somatofor­men Störungen, substanzbezogenen Störungen und Ess­störungen erfasst. Dabei galt ein besonderes Augenmerk

DOI: 10.1026//1616-1041.2.1.26

auch den längerfristigen Auswirkungen von komorbid auftretenden Störungen. Allgemein bekannt ist, dass Per­sonen, die therapeutische Hilfe aufsuchen, meistens unter mehreren Störungen leiden und insgesamt deutlich stär­kere Beeinträchtigungen aufweisen, als Personen, die nur von einer einzelnen Störung betroffen sind. Inwieweit diese Beobachtungen auch für junge Frauen aus der All­gemeinbevölkerung gelten, möchten wir im vorliegenden Beitrag betrachten.

Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, wie häufig psychische Störungen gerade auch in der All­gemeinbevölkerung - insbesondere bei Frauen - sind. So wurden Ein-Jahres-Prävalenzen zwischen 15 und nahe 25% bei Frauen der Allgemeinbevölkerung beob­achtet (Offord, Boyle, Campbell, Goering, Lin, Wong und Racine, 1996; National Comorbidity Survey, Kessler et al., 1994). Kessler und Mitarbeiter (1994) fanden eine Lebenszeit-Prävalenz von 30,5% für das Auftreten ir­gendeiner Angststörung bei Frauen. Das bedeutet, dass innerhalb eines Jahres etwa jede vierte bis fünfte Frau von einer Angststörung betroffen ist, im Laufe des Le­bens sogar fast jede dritte Frau zu irgendeinem Zeitpunkt an einer solchen Störung leidet. Bei affektiven Störungen variieren die beobachteten Auftretensraten stärker - je nach betrachtetem Zeitfenster - da diese Störungen ei­nem phasischen Verlauf unterliegen. Offord und Kolle­gen (1996) fanden bei Frauen eine Ein-Jahres-Prävalenz von 5,9% für affektive Störungen. Angaben für die Lebenszeitprävalenz affektiver Störungen liegen zwi­schen 23 und 33% (Kessler et al., 1994; Lewinsohn, Hops, Roberts, Seeley und Andrews, 1993). Das bedeu­tet, dass im Laufe ihres Lebens etwa jede dritte bis vierte Frau irgendwann von einer affektiven Störung betroffen ist. Am häufigsten sind schwere depressive Störungen.

Für den deutschsprachigen Raum existieren kaum derartige Studien. Erwähnt werden muss an dieser Stelle

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Komorbidität psychischer Störungen bei jungen Frauen

die Studie von Wittchen, Nelson und Lachner (1998) in München. Sie beobachteten bei 14 bis 24-jährigen Frauen eine Lebenszeit-Prävalenz von 20,3% für Angst­störungen und eine Ein-Jahres-Prävalenz von 13,8%. Die Raten für das Auftreten affektiver Störungen lagen für die Ein-Jahres-Prävalenz bei 13,8% und die Lebenszeit­Prävalenz bei 20,8%, wobei das Auftreten einer einzel­nen depressiven Episode am häufigsten war (10,9%). Damit kann davon ausgegangen werden, dass die Häufig­keit von affektiven und Angststörungen in Deutschland vermutlich ähnlich hoch ist, wie die Raten, die in den USA und Kanada beobachtet wurden. Weiterhin zeigt sich, dass auch schon sehr junge Leute häufig unter einer psychischen Störung leiden.

Komorbiditätsmuster haben große klinische Bedeu­tung, jedoch wurden bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre hinein komorbide psychische Störungen praktisch ignoriert, was möglicherweise eine Ursache im weitver­breiteten Schichtenmodell von Jaspers hatte. Seit dem Er­scheinen des DSM-III-R ist die Vergabe mehrerer Diag­nosen möglich. Die frühere Praxis, nur eine Diagnose zu vergeben, ist unzureichend, um das eigentliche Ausmaß der Psychopathologie widerzuspiegeln. Dabei zeigen ver­schiedene Studien, dass die Mehrzahl von Patienten, die therapeutische Hilfe suchen, mehrere psychische Störun­gen aufweisen (Sanderson & Wetzler, 1991 ). Boyd und Mitarbeiter (1984) kommen zu dem Schluss, dass das Vorhandensein einer Störung deutlich die Wahrschein­lichkeit erhöht, eine zweite zu haben. Im allgemeinen gilt, je mehr Störungen eine Person hat, desto schwieri­ger ist ihre Behandlung und desto geringer ist die Chance eines Therapieerfolges (Fyer, Liebowitz & Klein, 1990) und auch die Rückfallquote scheint erhöht zu sein (Cory­ell, Endicott, Andreasen, Keller, Clayton & Hirschfeld, 1988). Insbesondere muss das Vorliegen mehrerer Stö­rungen auch bei der Therapieplanung berücksichtigt wer­den, was natürlich auch eine gründliche Diagnostik vor­aussetzt, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, auch weniger offensichtliche Störungen zu erkennen. Nicht er­kannte Störungen können die Behandlung einer anderen Störung, die im Vordergrund des Beschwerdebildes steht, erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Verlauf, Pro­gnose und Therapieerfolg unterscheiden sich sehr deut­lich bei Patienten mit nur einer einzelnen Störung oder Patienten mit mehreren komorbiden Störungen.

Unsere Studie bietet die Möglichkeit, bei jungen Frauen aus der Allgemeinbevölkerung in Deutschland mit einem strukturierten Interview psychische Störungen zu erfassen und damit neben der Prävalenzerfassung nach den aktuellen Diagnosekriterien auch gerade Ko­morbiditätsmuster zu betrachten. Darüber hinaus können auch Aussagen über die Auswirkungen der Komorbidität gemacht werden.

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Methode

Die vorliegende Studie „Gesundheit junger Frauen in Dresden" wurde innerhalb des Public Health Verbundes Sachsen durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Dieses Projekt ist eine prospektive epidemiologische Studie, bei der sowohl Prä­valenz- und lnzidenzraten sowie Verlauf psychischer Stö­rungen als auch Risiko- und protektive Faktoren in Be­zug auf das psychische Befinden untersucht werden. Eine repräsentative Stichprobe junger Frauen nahm zu den vorgesehenen zwei Messzeitpunkten teil. Die erste Erhebungswelle erstreckte sich von Juli 1996 bis Sep­tember 1997. Mit den Teilnehmerinnen wurde ein strukturiertes diagnostisches Interview geführt, und sie bearbeiteten eine umfangreiche Fragebogenbatterie.

Stichprobe:

Zum Zeitpunkt der Stichprobenziehung durch das Einwoh­nermeldeamt Dresden lag das Alter der in Frage kommen­den Teilnehmerinnen zwischen 18 und 24 Jahren, 58,9% der von uns erreichten Frauen nahmen an der Studie teil.

Im vorliegenden Beitrag wird sich auf 1877 Teilneh­merinnen beschränkt, die bei der ersten Erhebung sowohl am Interview teilnahmen als auch die Fragebogenbatterie bearbeiteten. Die Mehrzahl der 1877 jungen Frauen war zum Erhebungszeitpunkt nicht verheiratet (95,1 %), aber hatten einen festen Partner (66,1 %). Nur wenige waren verheiratet ( 4,3%) und noch weniger lebten bereits wieder getrennt oder waren geschieden (0,4%). Etwa die Hälfte der jungen Frauen lebte bei den Eltern, ca. ein Viertel zu­sammen mit dem Partner und etwa 15% lebten allein. 6,6% der Frauen hatten Kinder. Einige Frauen gingen noch zur Schule (3,5%). Ein großer Teil (ca. 40%) studierte, ins­gesamt waren noch fast 55% der Befragten in Ausbildung (vgl. Abb. 1). Nur 0,3% hatten die Schule ohne Abschluss verlassen. Der kleinste Teil (3,5%) hatte die Hauptschule besucht oder einen ähnlichen Abschluss abgelegt, etwa ein Drittel hatte einen POS- oder Realschulabschluss und ca. 60% hatten das Abitur. Dieser Anteil an Abiturienten mag auf den ersten Blick hoch erscheinen, kann aber aufgrund des hohen Studentinnenanteils in einer Stadt wie Dresden durchaus als repräsentativ angesehen werden. Die über­wiegende Mehrzahl der Untersuchungsteilnehmerinnen befand sich noch in beruflicher Ausbildung. Fast die Hälfte der Frauen arbeitete; 30,2% arbeiteten Vollzeit, 16,2% Teilzeit. An dieser Stelle könnte sich die Frage er­geben, wieso fast die Hälfte der Teilnehmerinnenerwerbs­tätig ist aber auch über die Hälfte sich noch in Ausbildung befindet. Dies ist so zu erklären, dass gerade viele Lehr­linge schon arbeiten und ebenso Studentinnen oftmals par­allel zum Studium einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Etwa 5% waren arbeitslos. Abbildung 1 zeigt die höchsten er­reichten Schulabschlüsse und die Ausbildungsabschlüsse in der betrachteten Stichprobe.

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Haupt­schule

4%

keinen

0%

noch keinen

4%

Hochschule 1%

Fachhoct>-schule

3%

Fachschule 5%

10. KJaSM 32%

Lehre 18%

Abbildung 1. Höchster erreichter Schulabschluss und Ausbildungsabschluss

Befragungsinstrumente:

• Das diagnostische Interview

Das F-DIPS (Margraf, Schneider, Soeder, Neumer & Becker, 1996) ist eine überarbeitete Version des Diagno­stischen Interviews bei Psychischen Störungen (DIPS, Margraf et al„ 1991 ). Es erfasst Angststörungen, affektive Störungen, somatoforme Störungen, Abhängigkeit und Missbrauch von Substanzen, Essstörungen und Störungen des Kindes- und Jugendalters auf Basis der DSM-IV-Kri­terien (APA, 1994). Darüber hinaus enthält es Screenings für körperliche Krankheiten und nicht-organische Psycho­sen und einen einleitenden soziodemographischen Teil. Es werden außerdem eine psychiatrische Anamnese, eine Fa­milienanamnese psychischer Störungen und die Achsen IV (Schwere psychosoziale Belastungsfaktoren) und V (GAF-global assessment of functioning, generelles An­passungsniveau) des DSM-IV erfasst. Ein Interview auf Basis des F-DIPS dauerte beim ersten Erhebungszeitpunkt durchschnittlich knapp zwei Stunden (111,14 min), wobei die Standardabweichung bei 40 Minuten lag. Interviewer waren speziell geschulte Psychologiestudenten in der zweiten Hälfte ihrer Ausbildung oder Ärzte.

Eni S. Becker et al.

• SCL-90-R

Bei der Symptomcheckliste nach Derogatis (deutsche Bearbeitung von Franke, 1995) handelt es sich um einen Selbstbeurteilungsfragebogen bezüglich verschiedener Symptome innerhalb eines Zeitraums von sieben Tagen. Es wird ein breites Spektrum psychischer Beschwerden erfasst (Franke, 1995) und auf neun Skalen abgebildet (Somatisierung, Zwanghaftigkeit, Interpersonale Sensiti­vität, Depression, Ängstlichkeit, Aggressivität/Feindse­ligkeit, Phobische Angst, Paranoides Denken, Psychoti­zismus ). Außerdem liefert der Fragebogen einen Gesamt­wert, der als Maß der allgemeinen Psychopathologie an­gesehen werden kann.

• BDI

Das Beck-Depressions-Inventar (deutsche Version von Hautzinger, Bailer, Worall & Keller, 1995) ist ein Selbstbeurteilungsinstrument zur Einschätzung der Schwere depressiver Symptome. Somit kann es auch als kontinuierliches Maß für Depression angesehen werden. Es besteht aus 21 Items und weist eine hohe Reliabilität und Validität auf (Hautzinger et al., 1995). Es wird ein Summenwert der einzelnen Itemratings, die zwischen 0 und 3 liegen können, ermittelt.

• BAI

Auch das Beck-Angst-Inventar enthält 21 Items und ist ein Selbstbeurteilungsfragebogen. Es erfasst das Aus­maß von Angstsymptomen und hat sich als nützliches Instrument in der Erkennung klinisch relevanter Ängste bewährt. Der BAI weist eine hohe interne Konsistenz und Retest-Reliabilität auf (Beck, Epstein, Brown & Steer, 1988).

• Fragen zum Beratungswunsch

Dies ist eine Zusammenstellung von Fragen, die die Häufigkeit von Arztbesuchen und das Inanspruchnahme­verhalten von professioneller Beratung oder Psychothe­rapie erfasst. Dabei wird nicht nur die tatsächliche Inan­spruchnahme sondern auch der Wunsch nach Beratung erfragt.

Ergebnisse

Prävalenzraten

In Tabelle 1 sind die 12-Monats-Prävalenzen (Vorliegen einer Störung innerhalb der letzten zwölf Monate vor dem Interview) und die Lebenszeitprävalenzen (Vorlie­gen einer Störung irgendwann im Laufe des Lebens) zu­sammengestellt. In unserer Studie war also jede vierte junge Frau in den vergangenen zwölf Monaten von einer psychischen Störung betroffen. Bezogen auf die Lebens­zeit erfüllte sogar fast jede zweite Frau irgendwann ein-

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Komorbidität psychischer Störungen bei jungen Frauen

mal die Kriterien einer psychischen Störung. Dies sind recht alarmierende Zahlen. Einen großen Teil machen Angststörungen und dort vor allem Spezifische und So­ziale Phobien aus. Für den Ein-Jahres-Zeitraum ergab sich eine Prävalenz von 20,7% und für die Lebenszeit von 27,5%, das heißt, dass jede fünfte der befragten Frauen in den vergangenen zwölf Monaten von einer Angststörung betroffen war, im bisherigen Leben sogar jede vierte. In unserer Stichprobe wurde bei den affekti­ven Störungen als häufigste Diagnose eine Schwere De­pressive Störung vergeben. Hier ist erwartungsgemäß der Unterschied zwischen Ein-Jahres- und Lebenszeitpräva­lenz höher, was auf den episodischen Verlauf zurückge­führt werden kann. Mit den beobachteten Raten von 5,5% bzw. 13,4% liegen unsere Zahlen zwar niedriger als die Ergebnisse anderer Studien, jedoch immer noch in einem alarmierenden Bereich. Bei den Abhängigkeits­und Missbrauchsproblemen verdoppelt sich die Rate von der Ein-Jahres-Prävalenz (0,9%) zur Lebenszeitprävalenz (1,8%). Diese Angaben stellen sicherlich konservative Schätzungen dar, da wir nur auf die selbst gemachten Angaben unserer Teilnehmerinnen zurückgreifen kön­nen. Die Prävalenzen von Ess- und somatoformen Stö­rungen liegen etwa ähnlich hoch; Bezogen auf die letzten zwölf Monate sind somatoforme Störungen mit 2,3% et­was häufiger als Essstörungen mit 1,4%, in Hinblick auf die Lebenszeit sind Essstörungen mit 3,8% etwas häufi­ger als somatoforme Störungen mit 3,2%. Diese Zahlen sind durch die betrachtete Altersgruppe erklärbar: Ess­störungen treten gerade bei jungen Frauen auf und soma­toforme Störungen beginnen zwar häufig auch in einem Alter zwischen 20 und 30 Jahren, sind aber bei jüngeren Frauen doch noch etwas seltener.

Auch Störungen des Kindesalters stellen ein häufiges Problem dar, wobei diese natürlich im letzten Jahr vor der Erhebung seltener diagnostiziert wurden, da das Alter der jungen Frauen zwischen 18 und 25 Jahren lag. Bei dieser Störungsgruppe ist es stets interessant, wie sich das Befinden Betroffener im späteren Leben ändert. Darauf und auf andere Komorbiditätsmuster zwischen Störungsgruppen und einzelnen Störungen soll im Weite­ren eingegangen werden.

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Komorbiditäten

Wie bisher soll auch hier zwischen Lebenszeit und einem Jahr als möglichen Zeitfenstern unterschieden werden. Das heißt, bei einer Lebenszeit-Komorbidität müssen die Störungen nicht gleichzeitig aufgetreten sein, die betrof­fene Person hat irgendwann in ihrem Leben verschiedene Diagnosen erfüllt. Einleitend als Überblick soll Abbil­dung 2 verdeutlichen, wie viele Probandinnen wie viele Störungen aufweisen. In den Kreisdiagrammen sind nur die Probandinnen enthalten, die mindestens eine Störung aufweisen. Bezogen auf die Lebenszeit sind dies 758 (von 1877) und bezogen auf das letzte Jahr vor dem In­terview 480 (von 1877). (Die Differenz zu Tabelle 1 ist auf fehlende zeitliche Einordnungen bei fünf Probandin­nen zurückzuführen). Die beiden Kreisdiagramme zeigen sehr eindrücklich, dass der Anteil derer, die nur eine Stö­rung aufweisen bei Erfassung eines engeren Zeitfensters deutlich höher liegt als bei der Betrachtung der Lebens­zeit. Fast die Hälfte Betroffener weist im Leben mehr als eine Störung auf. Ca. ein Drittel weist innerhalb eines Jahres mehr als eine Störung auf.

• Lebenszeit-Komorbidität (mehrere Störungen irgend­wann im bisherigen Leben):

Die Komorbidität zwischen Angststörungen und af­fektiven Störungen ist auch in unserer Stichprobe sehr hoch (vgl. Tabelle 2). Geht man von den Angststörungen aus, weist etwa jede dritte Betroffene zusätzlich eine af­fektive Störung auf; geht man von den affektiven Störun­gen aus, leiden fast zwei Drittel aller Betroffenen über die affektive Störung hinaus auch an einer Angststörung. Durchgehend hohe Komorbiditätsraten sind auch mit den Kinderstörungen feststellbar. Die Prozentzahlen unter der Spalte ,,Anteil" deuten die Prozentrate der Indexdiag­nose an. Hätten beispielsweise 10 Personen eine Angst­störung und von diesen 3 zusätzlich eine affektive Stö­rung, hätten 30% der Patienten mit einer Angststörung auch eine affektive Störung. Gibt es nun insgesamt 6 Pa­tienten, die an einer affektiven Störung leiden, dann wä­ren 50% der Patienten mit einer affektiven Störung auch von einer Angststörung betroffen. Die Spalte „Anzahl"

Tabelle 1. Prävalenzraten von DSM-IV-Diagnosen zu Tl (N = 1877)

F-DIPS/DSM-IV-Diagnosegruppen

Psychische Störungen insgesamt Angststörungen Affektive Störungen Somatoforme Störungen Substanzmissbrauch und -abhängigkeit Ess-Störungen Störungen des Kindes- und Jugendalters

12-Monats-Prävalenz

485 (25,8%) 388 (20,7%) 104 (5,5%) 44 (2,3%) 16 (0,9%) 27 (1,4%) 11 (0,6%)

LZ-Prävalenz

758 (40,4%) 517 (27,5%) 251 (13,4%)

61 (3,2%) 33 (1,8%) 72 (3,8%)

180 (9,6%)

Anmerkung: Für die 12-Monats-Prävalenz und die Lebenszeitprävalenz sind jeweils die Fallzahlen und der prozentuale Anteil an der Gesamtstichprobe angegeben.

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30 En i S. Becker et a 1.

Tabelle 2. Komorbiditätsraten und Odds Ratios zwischen den betrachteten Diagnosegruppen bezogen auf die Lebenszeit

Indexdiagnose Komorbide Störung Anteil Anzahl OR 95% CI

Angststörung Affektive Störung 29,2% 151 5,20 (3,94 - 6,87) Somat. Störung 5,6% 29 2,47 (1,48 - 4,12) Substanzstörung 3,7% 19 3,67 (1,83 - 7,37) Essstörung 6,2% 32 2,18 (1,35 - 3,51) Kinderstörung 16,4% 85 2,62 (1,92 - 3,58)

Affektive Störung Angststörung 60,2% 151 5,20 (3,94 - 6,87) Somat. Störung 6,4% 16 2,39 (1,33 - 4,30) Substanzstörung 4,4% 11 3,34 (1,60 - 6,98) Essstörung 10,0% 25 3,72 (2,24 - 6,16) Kinderstörung 18,7% 47 2,59 (1,80 - 3,72)

Somat. Störung Angststörung 47,5% 29 2,47 (1,48 - 4,12) Affektive Störung 26,2% 16 2,39 (1,33 - 4,30) Substanzstörung 6,6% 4 4,32 (1,47 - 12,71) Essstörung 9,8% 6 2,89 (1,20 - 6,96) Kinderstörung 27,9% 17 3,92 (2,19 - 7,02)

Substanzstörung Angststörung 57,6% 19 3,67 (1,83 - 7,37) Affektive Störung 33,3% 11 3,34 (1,60 - 6,98) Somat. Störung 12,1% 4 4,32 (1,47 - 12,71) Essstörung 12,1% 4 3,60 (1,23 - 10,54) Kinderstörung 30,3% 10 4,28 (2,00 - 9,15)

Essstörung Angststörung 44,4% 32 2,18 (1,35 - 3,51) Affektive Störung 34,7% 25 3,72 (2,24 - 6, 16) Somat. Störung 8,3% 6 2,89 (1,20 - 6,96) Substanzstörung 5,6% 4 3,60 (1,23 - 10,54) Kinderstörung 12,5% 9 1,37 (0,67 - 2,79)

Kinderstörung Angststörung 47,2% 85 2,62 (1,92 - 3,58 Affektive Störung 26,1% 47 2,59 (1,80 - 3,72) Somat. Störung 9,4% 17 3,92 (2,19 - 7,02) Substanzstörung 5,6% 10 4,28 (2,00 - 9,15) Essstörung 5,0% 9 1,37 (0,67 - 2,79)

Anmerkung: Bei allen fettgedruckten Odds Ratios handelt es sich um signifikante Zusammenhänge.

zeigt das beobachtete „n" für die jeweils betrachteten zwei Störungsgruppen. Mit „OR" wird Odds Ratio abge­kürzt, was ein Chancenverhältnis anzeigt; und zwar um wie viel die Chance steigt, eine bestimmte Diagnose zu erfüllen, wenn bereits eine bestimmte andere Störung diagnostiziert wurde. Die letzte Spalte enthält das 95%­Konfidenzintervall für das Odds Ratio; dieses Intervall lässt Rückschlüsse auf die Signifikanz des Chancenver­hältnisses zu. Wenn es den Wert „ 1" NICHT mit ein­schließt, ist das OR statistisch signifikant. Beispielsweise liegen bei 151 Probandinnen sowohl eine Angststörung als auch eine affektive Störung vor, von den Probandin­nen mit einer Angststörung sind dies knapp 30%. Das

Vorliegen einer Angststörung erhöht die Chance, auch eine affektive Störung aufzuweisen um etwas mehr als das fünffache, wobei dies ein statistisch signifikanter Zusammenhang ist.

• „Ein-Jahres-Komorbidität" (mehrere Störungen in den letzten zwölf Monaten vor dem Interview):

Die Komorbiditätsraten für die letzten zwölf Monate liegen natürlich niedriger als die Raten für die Lebens­zeit. Beachtenswert ist, dass trotz der reduzierten Anzahl viele der Zusammenhänge signifikant bleiben. Weiterhin besonders hoch ist die Überschneidung zwischen Angst-

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Komorbidität psychischer Störungen bei jungen Frauen

2%

1%

0%

!•eine mzwei •drei Dvier CJfünf msechs !

27%

55%

2%

0%

0%

0%

!•eine mlzwei •drei Dvier Clfünf lihechs •sieben •acht !

Abbildung 2. Anzahl von Störungen: links im letzten Jahr, rechts Lebenszeit

und affektiven Störungen. Die Komorbidität mit Sub­stanzstörungen bleibt jedoch nur noch bei den somatofor­men Störungen statistisch signifikant.

Auswirkungen von Komorbidität

Nachdem die Arten bei einer Person auftretender Störun­gen betrachtet wurden, erscheint es auch relevant zu un­tersuchen, wie sich das Vorliegen mehrerer Störungen im Vergleich mit dem Bestehen nur einer Störung oder auch keiner Störung niederschlägt. Für diesen Zweck sollen im Folgenden die Achse V - Werte (Generelles Anpas­sungsniveau: aktuell und letzte zwölf Monate), BDI -und BAI - Summenwerte sowie der GSI-Wert (global severity index) aus der SCL-90-R vergleichend betrach­tet werden. Hierbei soll sich jedoch auf die Komorbiditä­ten der letzten zwölf Monate beschränkt werden, da kei­nes der anderen Maße die gesamte Lebenszeit erfasst sondern eher noch kürzere Zeiträume als ein Jahr. Es gab

31

332 Personen, die genau eine Störung aufwiesen, 108 mit zwei Störungen, 27 mit drei, 7 mit vier, 5 mit fünf und eine Person, die innerhalb der letzten zwölf Monate die Kriterien für sechs Diagnosen erfüllte. Für die statisti­sche Auswertung wurden vier Gruppen gebildet:

(1) keine Störung, (2) eine Störung, (3) zwei Störungen und (4) drei oder mehr Störungen.

In Tabelle 4 sind die Mittelwerte und Standardabwei­chungen Geweils in Klammern) der erfassten Vergleichs­maße aufgeführt. Die statistischen Vergleiche erfolgten mittels einer Varianzanalyse.

Schon beim flüchtigen Betrachten der Tabelle fallen die unterschiedlichen Werte auf, die mit zunehmender Anzahl bestehender Störungen auch auf eine zuneh­mende Beeinträchtigung bzw. auf eine abnehmende Lebensbewältigung und -qualität (GAF) deuten. Für alle erfassten Kennwerte erreichen diese augenscheinlichen Unterschiede auch statistische Signifikanz.

Diese Zahlen zeigen sehr deutliche Auswirkungen von Komorbidität auch innerhalb einer Stichprobe der Allgemeinbevölkerung. Interessant wäre nun noch die Betrachtung, inwieweit von mehreren Störungen Betrof­fene auch ein stärkeres Bedürfnis nach professioneller Hilfe haben und ob sie diese auch in Anspruch nehmen. Diesem Problem soll mit Hilfe der eingangs beschriebe­nen Fragen zum Beratungswunsch nachgegangen wer­den. Da die Zellgröße innerhalb der berechneten Kreuz­tabelle mit der bisher verwendeten Gruppeneinteilung zu gering ausfällt, wurden nur drei Gruppen verglichen. Es wurden die dritte und vierte Gruppe zusammengefasst, so dass also Personen mit (1) keiner Störung, (2) einer Störung und (3) zwei oder mehr Störungen verglichen wurden. In Tabelle 5 sind die beobachteten Zellenhäufig­keiten und die Zeilenprozent - also die Anteile der je­weiligen Gruppe (1), (2) oder (3) angegeben.

Im x2-Test ergab sich ein X2 von 160,04 (df=4, p =

.000), was auf einen höchstsignifikanten Zusammen­hang hinweist. Betrachtet man die standardisierten Resi­duen, wird auch die Richtung des Zusammenhanges schnell deutlich: Je mehr Diagnosen, desto mehr wird Beratung gewünscht und auch aufgesucht; je weniger Diagnosen, desto weniger besteht dieser Wunsch. Dies ist kein überraschendes Ergebnis. Es zeigt aber sehr deut­lich, dass auch die hier innerhalb einer Bevölkerungs­stichprobe erfassten Störungen eine ganz erhebliche Lebensbeeinträchtigung und Behandlungsbedürftigkeit nach sich ziehen. Interessant und evtl. auch verwunder­lich ist, dass bei nur ca. 50% der jungen Frauen, die min­destens zwei Diagnosen erhalten haben, ein Beratungs­wunsch besteht. Somit geht die Diagnose einer Stö­rung - oder auch mehrerer Störungen - nicht unbedingt mit Hilfesuchverhalten einher. Dieses Ergebnis bedarf ei­ner weiteren Untersuchung.

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Tabelle 3. Komorbiditätsraten und Odds Ratios zwischen den betrachteten Diagnosegruppen bezogen auf das letzte Jahr

Indexdiagnose Komorbide Störung Anteil Anzahl OR 95% CI

Angststörung Affektive Störung 14,2% 55 4,87 (3,25 - 7,28) Somat. Störung 4,4% 17 2,47 (1,33 - 4,59) Substanzstörung 1,5% 6 2,32 (0,84 - 6,43) Essstörung 3,1 % 12 3,13 (1,45 - 6,75) Kinderstörung 1,8% 7 6,84 (1 ,99 - 23,50)

Affektive Störung Angststörung 52,9% 55 4,87 (3,25 - 7,28) Somat. Störung 6,7% 7 3,38 (1 ,47 - 7,77) Substanzstörung 0% 0 - -Essstörung 5,8% 6 5,10 (2,01 - 12,93) Kinderstörung 4,9% 5 14,99 (4,50 - 49,98)

Somat. Störung Angststörung 38,6% 17 2,47 (l ,33 - 4,59) Affektive Störung 15,9% 7 3,38 (1,47 - 7,77) Substanzstörung 4,5% 2 6,18 (1,36 - 28,04) Essstörung 4,5% 2 3,44 (0,79 - 14,98) Kinderstörung 0% 0 - -

Substanzstörung Angststörung 37,5% 6 2,32 (0,84 - 6,43) Affektive Störung 0% 0 - -

Somat. Störung 12,5% 2 6,18 (1 ,36 - 28,04) Essstörung 6,3% 1 4,70 (0,60 - 36,93) Kinderstörung 0% 0 - -

Essstörung Angststörung 44,4% 12 3,13 (1,45 - 6,75) Affektive Störung 22,2% 6 5,10 (2,01 - 12,93) Somat. Störung 7,4% 2 3,44 (0,79 - 14,98) Substanzstörung 3,7 % 1 4,70 (0,60 - 36,93) Kinderstörung 3,7% 1 7,06 (0,87 - 57,16)

Kinderstörung Angststörung 63,6% 7 6,84 (1,99 - 23,50) Affektive Störung 45,5% 5 14,99 (4,50 - 49,98) Somat. Störung 0% 0 - -Substanzstörung 0% 0 - -Essstörung 9,1 % 1 7,06 (0,87 - 57,16)

Anmerkung: Bei allen fettgedruckten Odds Ratios handelt es sich um signifikante Zusammenhänge.

Diskussion

Psychische Störungen sind auch in der Allgemeinbevölke­rung bei Frauen sehr häufig. Im Laufe eines Jahres ist jede vierte Frau von irgendeiner psychischen Störung betrof­fen, im Laufe ihres Lebens jede zweite bis dritte. Dies sind alarmierend hohe Raten. In unserer Stichprobe wurden Angststörungen am häufigsten beobachtet, wobei die Zah­len ähnlich hoch sind wie die in anderen Studien gefunde­nen Prävalenzen. Bezogen auf affektive Störungen liegen die Ergebnisse unserer Studie ebenfalls in ähnlichen Grö­ßenordnungen wie die Raten, die in anderen Studien er-

mittelt wurden. Sehr deutlich zeigt sich auch bei uns die große Häufigkeit von depressiven Störungen.

Komorbidität ist ein häufiges Phänomen. Etwa ein Drittel derer, die im Laufe eines Jahres an einer psychi­schen Störung leiden, weist mindestens eine weitere Stö­rung auf. In Hinblick auf die Lebenszeit liegt bei fast jeder zweiten Frau, die von einer psychischen Störung betroffen ist, mindestens eine weitere Störung vor. Be­sonders hoch sind die Überschneidungen zwischen Angststörungen, affektiven Störungen und Kinderstörun­gen. Beachtenswert sind aber auch die hohen Über­schneidungsraten zwischen Substanzstörungen und Stö-

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Komorbidität psychischer Störungen bei jungen Frauen 33

Tabelle 4. Vergleich der Beeinträchtigungen aufgrund verschiedener Anzahlen von Diagnosen

GAF GAF SCL-GSI BDI- BAI-(letzte Woche) (letztes Jahr) Summenwert Summenwert

(1) 89,20 88,3 1 0,28 4,39 3,85 keine Störung (8,15) (8,60) (0,24) (4,25) (4,15)

(2) 80,18 77,17 0,44 6,96 6,11 eine Störung (9,68) (10,99) (0,36) (6,18) (5,77)

(3) 74,19 72,02 0,73 10,38 9,47 zwei Störungen (10,51) (10,38) (0,53) (6,49) (8,43)

(4) mind. 65,13 63,75 0,84 13,98 12,75 drei Störungen (9,94) (12,01) (0,55) (8,76) (9,93)

Anmerkung: Die Einteilung in die Gruppen ( 1) bis ( 4), also keine Störung bis mind. drei Störungen, basiert auf der Anzahl von Diagnosen innerhalb der letzten zwölf Monate vor dem Interview.

Tabelle 5. Zusammenhang zwischen Anzahl von Störungen und Beratungswunsch

Kein Beratungswunsch Beratungswunsch, Beratungswunsch aber keine Hilfe gesucht und Hilfe gesucht

(1) 1232 93 58 keine Störung 89,1 % 6,7% 4,2%

i t t (2) 246 52 34 eine Störung 74,1 % 15,7% 10,2%

(i) i i (3) 77 40 31 mind. 52,0% 27,0% 20,9% zwei Störungen t i i

Anmerkung: Die Pfeile deuten jeweils die Richtung der Abweichung von der erwarteten Häufigkeit an. Alle Abweichungen erreichen deutliche statistische Signifikanz, mit Ausnahme des in Klammern gesetzten Pfeils (Interpretation der standardisierten Residuen).

rungen aus anderen Bereichen. So weist mehr als die Hälfte der Betroffenen im Laufe des Lebens zusätzlich eine Angststörung auf, etwa je ein Drittel eine affektive Störung oder eine Kinderstörung und jeweils etwa ein Achtel eine somatoforme bzw. Essstörung.

Das Vorliegen von komorbiden Störungen stellt einen ganz erheblichen Belastungsfaktor dar, der sich auch in Selbstbeurteilungsmaßen deutlich niederschlägt. Dabei scheint es keine besondere Rolle zu spielen, an welchen Störungen eine Betroffene leidet, allein der Fakt, an mehr als einer Störung zu leiden, bringt massive zusätzliche Be­einträchtigungen mit sich. Somit ist es nicht verwunder­lich, dass gerade bei Patienten, die Hilfe gesucht haben, fast immer mehrere Störungen vorliegen. Aber auch bei jungen Frauen, die keine Hilfe suchen, sind mehrere psy­chische Störungen keine Seltenheit. Komorbidität stellt also auch hier ein großes Problem dar. Von den jungen Frauen, die „nur" eine Diagnose erfüllten, verspürten nur ein Viertel den Wunsch nach Beratung, Hilfe gesucht ha­ben gar nur 10%. In der Praxis stellen sich also vorwiegend

Personen mit mehreren Störungen vor. Diese erfordern eine sehr sorgfältige Diagnostik und Therapieplanung. Nur so kann diesen Patienten auch langfristig geholfen werden.

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Dr. Eni Becker

Diplom-Psychologin Geb. 1965

TU Dresden Klinische Psychologie und

Psychotherapie D-01062 Dresden

Telefon (0351) 463-36900 Fax (0351) 463-36984

E-mail [email protected]. tu-dresden. de

Derzeitige Tätigkeit: Hochschulassistentin an der TU Dres­den - Klinische Psychologie und Psychotherapie

Veneta Türke Diplom-Psychologin

Affiliation: TU Dresden

Dr. Simon Neumer Diplom-Psychologe

Affiliation: TU Dresden

Ulrich Soeder Diplom-Psychologe

Affiliation: TU Dresden

Prof. Dr. Jürgen Margraf Diplom-Psychologe

Affiliation: PUK Basel