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Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier Von Fortschritt und Wandel Wer in der Welt herumreist, kann es direkt sehen und miterleben: Zur gleichen Zeit leben Menschen unter ganz verschiedenen Bedingungen und mit grossen Un- terschieden beim Lebensstandard. Doch auch bei uns sah der Lebensstandard vor drei, vier Generationen noch ganz anders aus. In den westlichen Ländern können heute weit mehr Dienstleistungen und Güter pro Kopf produziert werden als noch vor 100 Jahren: Die Wirtschaft ist gewachsen und hat unseren Lebensstandard drastisch erhöht. Wirtschaftswachstum beeinflusst unser Leben und schürt deshalb auch Ängste: Führt der technologische Fortschritt dazu, dass uns Roboter bald die Arbeit weg- nehmen? War das Wachstum seit der Industrialisierung etwa eine Ausnahmeerscheinung und gehen uns die Ideen für neue Erfindungen allmählich aus? Während der Baustein «Wachstum und Entwicklung» Auskunft über die Grundlagen und Zusammenhänge gibt, werden in diesem Blog-Dossier Themen beleuch- tet, die in der näheren Vergangenheit für Gesprächsstoff gesorgt haben. Lesen Sie, was das BIP als Wohlstandsindikator wirklich taugt, ob sich Ungleichheit auf das Wachstum auswirken kann oder wie mithilfe von Experimenten versucht wird, die Armut in Entwicklungsländern zu bekämpfen. Das Blog-Dossier «Entwicklung, Wachstum, Umwelt» eignet sich in Verbindung mit dem iconomix-Baustein «Wachstum und Entwicklung».

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier · glück (Gross National Happiness) ein, welches bis heute existiert. Hierbei wird der nachhaltigen Entwicklung und auch nicht-ökonomischen

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Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier Von Fortschritt und Wandel

Wer in der Welt herumreist, kann es direkt sehen und

miterleben: Zur gleichen Zeit leben Menschen unter

ganz verschiedenen Bedingungen und mit grossen Un-

terschieden beim Lebensstandard. Doch auch bei uns

sah der Lebensstandard vor drei, vier Generationen

noch ganz anders aus.

In den westlichen Ländern können heute weit mehr

Dienstleistungen und Güter pro Kopf produziert werden

als noch vor 100 Jahren: Die Wirtschaft ist gewachsen

und hat unseren Lebensstandard drastisch erhöht.

Wirtschaftswachstum beeinflusst unser Leben und

schürt deshalb auch Ängste: Führt der technologische

Fortschritt dazu, dass uns Roboter bald die Arbeit weg-

nehmen? War das Wachstum seit der Industrialisierung

etwa eine Ausnahmeerscheinung und gehen uns die

Ideen für neue Erfindungen allmählich aus?

Während der Baustein «Wachstum und Entwicklung»

Auskunft über die Grundlagen und Zusammenhänge

gibt, werden in diesem Blog-Dossier Themen beleuch-

tet, die in der näheren Vergangenheit für Gesprächsstoff

gesorgt haben.

Lesen Sie, was das BIP als Wohlstandsindikator wirklich

taugt, ob sich Ungleichheit auf das Wachstum auswirken

kann oder wie mithilfe von Experimenten versucht wird,

die Armut in Entwicklungsländern zu bekämpfen.

Das Blog-Dossier «Entwicklung, Wachstum, Umwelt»

eignet sich in Verbindung mit dem iconomix-Baustein

«Wachstum und Entwicklung».

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 2 | 25 www.iconomix.ch

Inhaltsverzeichnis

BIP – die mächtige Zahl 3

Experimente gegen Armut 5

Das Ende der Arbeit 7

Gute und schlechte Ungleichheit 9

Ende des Wachstums? 12

Exodus: Migration ökonomisch betrachtet 15

Wie wichtig gute Institutionen sind 17

Wer springt auf den Wachstumszug? 19

Wachstum ohne Ende? 21

Wissen – ein teilweise öffentliches Gut 23

Glossar 25

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 3 | 25 www.iconomix.ch

BIP – die mächtige Zahl

Als die Amerikaner das BIP einführten, wollten sie nicht

den Wohlstand der Bevölkerung messen. Dennoch dient

es genau diesem Zweck – trotz Schwächen. Wie kam es

dazu? Haben wir keine Alternativen?

Aussage des bhutanischen Königs aus dem Jahre 1972, hängt in einer Schule in Bhutan. (Bild: Wikipedia)

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Marktwert al-

ler im Inland hergestellten Güter und Dienstleistungen

für den Endgebrauch. Dividiert man die so erhaltene

Zahl durch die Anzahl Einwohner des Landes, erhält

man das BIP pro Kopf, welches als international ver-

gleichbares Wohlstandsmass gilt.

Gemäss Schätzungen des Internationalen Währungs-

fonds weisen derzeit folgende Länder weltweit das

höchste reale BIP pro Kopf auf (Stand Oktober 2013):

1. Katar, 2. Luxemburg, 3. Singapur. Die Schweiz liegt

auf Rang 8.

Nachteile des BIP

Seit Längerem ist bekannt, dass das BIP als Mass des

Wohlstandes Schwächen aufweist. Robert Kennedy,

Bruder des ehemaligen Präsidenten der USA, sprach

das Problem bereits 1968 an: «Das BIP misst in der kur-

zen Frist alles, ausser dem, was das Leben lebenswert

macht.»

Durch das BIP wird zwar die wirtschaftliche Leistung

ganzer Volkswirtschaften durch eine einzige Zahl ver-

anschaulicht, aber diese Zahl sagt nichts darüber aus,

ob diese gemessenen Leistungen auch wirklich wohl-

standssteigernd sind.

Exemplarisch einige Schwachpunkte des BIP:

Ein starkes Unwetter zieht über das Land. Zahlrei-

che Gebäude werden beschädigt und müssen an-

schliessend wieder repariert werden. Zusätzlich

muss die Feuerwehr viele überschwemmte Keller

auspumpen. Die Reparaturarbeiten sowie der Feuer-

wehreinsatz wirken sich positiv auf das BIP aus, ob-

wohl es den Leuten nicht besser geht als vor dem

Unwetter.

Eine Familie steht vor der Wahl: Soll sie sich selbst

um die kranke Grossmutter kümmern, oder soll sie

die Kosten für einen Pfleger übernehmen? Die erste

Möglichkeit beeinflusst das BIP nicht, im zweiten

Fall steigt es.

Eine Fabrik stellt ein Produkt unter enormer Um-

weltverschmutzung her. Die Anwohner leiden unter

der verschmutzten Luft. Der Produkterlös fliesst ins

BIP, die negativen Folgen für die Anwohner jedoch

werden nicht berücksichtigt.

Geschichtlicher Hintergrund

Das im Oktober 2013 erschienene Buch «Die Macht der

einen Zahl» von Philipp Lepenies widmet sich ganz der

politischen Geschichte des BIP. Dabei zeigt Lepenies

auf, wie diese Zahl so mächtig werden konnte.

Simon Kuznets, ein amerikanischer Ökonom, vertrat in

den 1930er-Jahren ein Konzept, das auf der Messung

der materiellen Wohlfahrt der Bevölkerung ausgerichtet

war. Elemente, die nicht den einzelnen Bürgern zugute

kamen, wurden herausgerechnet.

Gemäss Lepenies konnte sich dieses Konzept aufgrund

des Zweiten Weltkrieges nicht durchsetzen. Die USA

und Grossbritannien benötigten keine individualistische

Bürgersicht. Sie wollten eine Zahl, um konkrete Fragen

zu beantworten: Wie gross sind unsere Produktionska-

pazitäten? Wie viel davon können wir für militärische

Zwecke einsetzen? Reicht das für den Sieg über die

Achsenmächte?

Es ging nicht darum, den Wohlstand zu messen, die

reine Wirtschaftskraft sollte eruiert werden. Mit allen

verfügbaren Mitteln wollte man den Feind besiegen.

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 4 | 25 www.iconomix.ch

Deshalb schob man Kuznets Idee beiseite und entwi-

ckelte ein Konzept zur Messung der Produktionskapazi-

täten. Das war die Geburtsstunde des heutigen BIP.

Die Suche nach Alternativen

Das BIP ist nicht perfekt, dessen Macht mitunter histo-

risch bedingt. Da drängt sich eine Frage auf: Gibt es

keine geeignetere Messmethode für Wohlstandsverglei-

che? Versuche, das BIP durch eine andere Grösse zu

ersetzen, gab und gibt es.

Der bhutanische König führte 1972 das Bruttosozial-

glück (Gross National Happiness) ein, welches bis heute

existiert. Hierbei wird der nachhaltigen Entwicklung und

auch nicht-ökonomischen Werten Rechnung getragen.

Ökonomisches Wachstum wird nicht als Zweck an sich

gesehen, sondern als ein Mittel, um wichtigere Ziele zu

erreichen.

Einen ähnlichen Weg gingen auch Ecuador und Bolivien,

die das Prinzip des Sumak Kawsay («gutes Leben») im

Jahre 2008 bzw. 2009 in ihre Verfassung aufnahmen.

Sumak Kawsay bezeichnet ein Prinzip, welches materi-

elle, soziale und spirituelle Zufriedenheit für alle Mitglie-

der einer Gemeinschaft anstrebt, jedoch nicht auf Kos-

ten anderer Mitglieder oder natürlicher Lebensgrundla-

gen.

Das Bruttosozialglück wie auch Sumak Kawsay sind

stark in der jeweiligen Kultur verankert, deshalb für an-

dere Länder nur schwer adaptierbar. Es existieren je-

doch weitere, international anerkanntere, Alternativen:

Human Development Index (HDI): Wird von den Ver-

einten Nationen berechnet und berücksichtigt zu-

sätzlich zur Wirtschaftsleistung auch die Faktoren

Gesundheit und Ausbildung der Bevölkerung. Rang-

liste (Jahr 2012): 1. Norwegen, 2. Australien, 3. USA.

Schweiz auf Rang 9.

Happy Planet Index (HPI): Im Gegensatz zum BIP

und zum HDI wird das Kriterium der Nachhaltigkeit

mit einbezogen. Berücksichtigt werden Lebenszu-

friedenheit, Lebenserwartung und der ökologische

Fussabdruck. Rangliste (Jahr 2012): 1. Costa Rica,

2. Vietnam, 3. Kolumbien. Schweiz auf Rang 34.

Gini-Index: Ist ein Mass zur Messung der Ungleich-

heit der Vermögens- bzw. Einkommensverteilung.

Rangliste (d.h. Länder mit grösster Ungleichheit im

Einkommen): 1. Lesotho, 2. Südafrika, 3. Botswana.

Schweiz auf Rang 119. [1]

Genuine Progress Indicator (GPI): Misst, ob das

wirtschaftliche Wachstum eines Landes tatsächlich

zu steigendem Wohlstand bzw. Wohlbefinden führt.

Weltweite Vergleiche sind zurzeit noch nicht mög-

lich, da der Index noch nicht vereinheitlicht wurde.

Das Problem der meisten Messmethoden liegt in der

mangelnden Objektivität. Manch ein Konzept, zum Bei-

spiel der ökologische Fussabdruck, ist stark durch per-

sönliche Wertvorstellungen gefärbt. Dies erschwert ei-

nen direkten Vergleich zwischen Ländern. Auch liegen

oftmals keine zuverlässigen Daten vor.

Dies ist der grosse Vorteil des BIP: Es erfasst alle wirt-

schaftlichen Aktivitäten objektiv, ohne Werturteilung,

und ist international harmonisiert. Keine andere Mess-

grösse erreicht annähernd die Relevanz eines BIP bei

Wohlstandsvergleichen. Eine Machtablösung ist vorläu-

fig also nicht in Sicht.

[1] Die Ergebnisse des Gini-Index sind mit Vorsicht zu

geniessen, da die Daten der verschiedenen Länder aus

teilweise sehr unterschiedlichen Jahren stammen.

Pascal Züger, 4. März 2014

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 5 | 25 www.iconomix.ch

Experimente gegen Armut

Was bringt Entwicklungshilfe? Wer diese Frage stellt,

wagt sich auf ein ideologisches Minenfeld. Zwei junge

Forscher experimentieren mit den Ärmsten, um heraus-

zufinden, was wirklich hilft.

Bild: Wikipedia

Wie kann man die Ärmsten der Welt retten? Sollen die

Länder im Eilzugstempo die Industrialisierung nachho-

len? Oder genügt es, wenn die Märkte freigegeben wer-

den? Sollen wir Malarianetze nach Afrika senden oder

besser gar nichts tun?

Ideen und Rezepte aus der Ökonomengilde sind mannig-

faltig und sie haben eins gemein: Sie beruhen meist auf

wackligen Daten und auf einer einzigen, ideologisch ge-

trübten Theorie, die das Problem der Armut auf einmal

erklären soll.

Mit Experimenten gegen Ideologie

Doch so geht es nicht, plädieren zwei Forscher – die

Französin Esther Duflo und der Inder Abhijit Banerjee –

des renommierten Massachuchusetts Insitute of Tech-

nology (MIT): «Die Entwicklungsökonomie ist heute wis-

senschaftlich auf dem gleichen Stand wie die Medizin

im Mittelalter. Der Patientin wird ein Medikament ver-

schrieben. Geht es ihr besser, so lag es vielleicht am

Medikament oder an unzähligen anderen Faktoren. Über

die effektive Wirkung des Medikaments weiss man

nichts.»

Duflo und Banarjee machen dies anders. So, wie in der

heutigen Medizin die Wirkung von neuen Medikamenten

systematisch erforscht wird, testen sie die Effekte von

Entwicklungsmassnahmen. Fast zwei Jahrzehnte lang

taten sie dies. Denn nur mit kontrollierten Studien kann

man sagen, ob es hilft, Malarianetze zu verschenken, o-

der ob Bauern der Armutsfalle entkommen, wenn man

ihnen Dünger schenkt.

Wenn man versteht, wie die Ärmsten ticken, versteht

man auch besser, mit welchen Instrumenten man ihnen

am besten hilft. Und, das ist das Interessante an diesem

Buch: Menschen ticken oftmals eigenartig – anders, als

es die Armutsexperten im Westen hinter ihren Schreib-

tischen vermutet hätten. Gut gemeinte und vermeintlich

ausgeklügelte Entwicklungsprogramme scheitern daher

oft an kleinen Dingen.

Lieber fernsehen als essen

Wer an Armut denkt, denkt an Hunger. Mangelernährung

ist in der Tat ein grosses Problem in Entwicklungslän-

dern. Es ist dabei nicht nur eine Frage der Menge, son-

dern vor allem auch eine Frage der Qualität. Fehlende

Mikronährstoffe wie Jod, Vitamin A oder Eisen vermin-

dern die Leistungsfähigkeit und führen zu Krankheiten.

Gute Ernährung macht die Erwachsenen produktiver.

Sie hat aber vor allem auch einen grossen Einfluss auf

die zukünftige Leistungsfähigkeit von Kindern und Un-

geborenen.

Arme Menschen ernähren sich schlecht, wodurch sie

weniger leistungsfähig sind und so wiederum nicht ge-

nügend erwirtschaften, um sich besseres Essen leisten

zu können. Dieses Phänomen nennt man nahrungsbe-

dingte Armutsfalle.

Weshalb ernähren sich die Menschen nicht besser? Die

Antwort liegt auf der Hand: Weil sie es sich nicht leisten

können oder weil es schlicht zu wenig Nahrung gibt.

Eine folgerichtige Entwicklungsmassnahme wäre es

dann, den Menschen etwas Geld zu geben, damit sie

sich bessere Nahrung kaufen können. So die Theorie.

Die Realität sieht anders aus.

Abgesehen von verheerenden Hungersnöten durch Na-

turkatastrophen ist Nahrungsmittelknappheit selten ein

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

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Problem. Auch am tiefen Einkommen kann es nicht lie-

gen. Die Ärmsten, die mit ungefähr einem US-Dollar pro

Tag auskommen müssen, geben «nur» rund 36 bis 79

Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus.

Würde man nicht erwarten, dass Hungernde jeden ver-

fügbaren Cent in Lebensmittel stecken würden?

Duflo und Banarjee haben sich in abgelegene Dörfer ge-

wagt und in Experimenten einigen armen Menschen et-

was Geld gegeben. Ihre Erkenntnis: Menschen geben

das zusätzlichen Geld nicht für mehr oder bessere Nah-

rung aus, sondern für Dinge, die Spass machen: Fern-

sehgeräte, Alkohol, Zigaretten oder teure Feste. Wenn

sie mehr Essen gekauft haben, dann nicht unbedingt ge-

sünderes, sondern solches, das ihnen besser schmeckt.

Was im ersten Moment Kopfschütteln auslöst, ist eigent-

lich gar nicht so unverständlich. Hunger und Mangel-er-

nährung gehen nicht immer Hand in Hand mit Armut.

Wenn die Armen keinen Hunger haben, wieso sollten sie

dann das zusätzliche Geld für Nahrung ausgeben, die

zwar gesünder ist, aber weniger gut schmeckt?

Ein Fernsehgerät oder Alkohol bringt ihnen augenblick-

lich einen wesentlich höheren Nutzen. Zwar würde es

den Betroffenen in Zukunft besser gehen, wenn sie sich

besser ernähren würden, doch die Gegenwart scheint

ihnen wichtiger zu sein. Vielleicht weil der Nutzen einer

gesünderen Ernährung nicht direkt beobachtbar ist oder

weil die Gegenwart für sie höheres Gewicht hat.

Nicht entscheiden müssen ist Luxus

Ob in St. Moritz oder in einer Zeltstadt im Kongo – Men-

schen haben die Tendenz, die Gegenwart höher zu be-

werten und unangenehme, aber notwendige Aufgaben in

die Zukunft zu verschieben (Prokrastination). Nur sind

die Konsequenzen dieser kurzfristigen Sichtweise für

Menschen in Entwicklungsländern fataler.

Die Ärmsten müssen viel mehr aktive Entscheidungen

treffen – und dies, obwohl sie in der Regel schlechter

informiert sind als Menschen in Industrieländern. Uns

werden viele Entscheidungen abgenommen oder emp-

fohlen, zum Beispiel mit einer geregelten Altersvor-

sorge, dem Schulzwang oder mit Impfempfehlungen.

Banerjee formuliert dies so: «Wenn wir keine aktiven

Entscheidungen treffen, sind wir auf dem richtigen Weg.

Wenn die Armen dies nicht tun, sind die auf dem fal-

schen Weg.»

Auch Entwicklungshilfe, die darin besteht, Nahrungsmit-

tel zu verteilen, die zwar gesund sind, aber nicht gut

schmecken, funktioniert nicht. Es wird schlicht nicht ge-

gessen. Duflo und Banerjee schlagen daher vor, wich-

tige Nährstoffe irgendwo – zum Beispiel im Wasser o-

der im Salz – beizumischen. So wird den Ärmsten ganz

einfach eine von vielen Entscheidungen abgenommen.

Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 12. Februar 2014

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Das Ende der Arbeit

Eine kleine Elite wird einen gut bezahlten Job haben.

Alle anderen werden arbeitslos sein oder in einem mie-

sen Job ihr Dasein fristen. Weshalb wird in den USA

das Ende des Mittelstands verkündet?

Bild: Wikipedia

Haben Sie schon mal etwas von der automatischen

Hamburgermaschine gehört? Oder vom Pflegeroboter,

der Patienten nach dem Essen den Mund abwischt und

ihnen die Bettdecke zurechtzieht? Waren Sie schon

durstig und haben gehofft, jemand würde dies bemerken

und noch etwas Bier nachschenken? Kein Problem für

den Butlerroboter. Neue Maschinen und Roboter werden

uns in Zukunft das Leben angenehmer machen und uns

Arbeit abnehmen.

Quadratisch, praktisch, gut – diese Roboter? Nur für

wenige von uns. Zumindest was unsere zukünftige Ge-

halts- und Beschäftigungssituation angeht. Dies verkün-

den Bücher, die sich in den USA in den vordersten Rän-

gen der Bestsellerlisten tummeln. In Tyler Cowens «The

Average ist Over» oder Erik Brynjolfsson und Andrew

McAfees «Race Against the Machine» wird argumen-

tiert, dass die meisten Jobs in naher Zukunft schlicht

überflüssig werden, weil sie günstiger durch Roboter,

Software oder den Kunden selbst ausgeführt werden

können.

Nichts Neues?

Die Angst davor, unnütz zu werden, ist nicht neu. Zu

Beginn der industriellen Revolution waren es die Bau-

ern, etwas später die Industriearbeiter und heute sind

es die Menschen im sichergeglaubten Dienstleistungs-

sektor, die um ihren Job bangen müssen.

Alles schon gehabt? Nicht ganz, meinen die Autoren.

Die Geschwindigkeit dieser aktuellen Entwicklung ist

um ein Vielfaches höher. Dies macht die Anpassung,

zum Beispiel das Erlernen von neuen Fähigkeiten,

schwieriger.

Ausserdem werden dieses Mal nicht nur die «Büetzer»

von den Folgen betroffen sein. Auch akademische Be-

rufe wie Lehrerinnen, Ärztinnen und Anwälte – die bis

anhin meist von strukturellen Veränderungen verschont

wurden – werden getroffen. Immer besser werdende

Software wird es möglich machen, auch wissensinten-

sive Jobs zu ersetzen, so Cowen.

Während die Bauern im 19. Jahrhundert Zuflucht in der

Industrie fanden und die Industriearbeiter später im

Dienstleistungssektor, ist unklar, wo die wegrationali-

sierten Stellen im Dienstleistungssektor wieder ge-

schaffen werden sollen. Tyler Cowen ist aber der An-

sicht, dass es weiterhin genügend Arbeit geben wird.

Es findet «lediglich» eine Verschiebung innerhalb des

Dienstleistungssektors statt.

Diese Verschiebung hat es aber in sich, führt sie doch

dazu, dass der Mittelstand wegfällt. Sprich, ein Grossteil

der heute gut bezahlten Jobs wird nicht mehr konkur-

renzfähig mit den Maschinen sein. Viele Menschen wer-

den ins Tieflohnsegment abwandern müssen. Jobs an-

zubieten, lohnt sich nur, wenn Menschen die Arbeit

günstiger oder besser verrichten als ihre maschinelle

Konkurrenz.

Sieg für Freaks, Superstars und Kapital

Eine Umwälzung bringt immer Gewinner und Verlierer

mit sich. Rund 15 Prozent der amerikanischen Bevölke-

rung werden gemäss Cowen in Saus und Braus leben.

Dies sind zum einen die hochqualifizierten Technik-

freaks – diejenigen, die fähig sind, mit Maschinen zu ko-

operieren und diese zu entwickeln.

Zum anderen sind es die Superstars aus Musik und

Sport. Stars im Stile von Madonna, Roger Federer und

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 8 | 25 www.iconomix.ch

Heidi Klum dürfen sich weiterhin freuen. Globale Ab-

nehmermärkte ermöglichen ihnen gigantische Gehalts-

möglichkeiten. In diesem Zusammenhang sprechen die

Autoren von einem Winner-takes-it-all-Markt: Nur ganz

wenige schaffen es nach oben. Wenn sie es aber schaf-

fen, können sie so richtig absahnen.

Ebenfalls zu den Gewinnern gehören Menschen mit Ka-

pital. Sie können in die neuen Technologien investieren

und mit deren Rendite ein gutes Einkommen erzielen.

«Bullshit-Jobs»

Es gibt heute diverse Anzeichen dafür, dass der Faktor

Arbeit zunehmend an Bedeutung verliert. So hat der An-

teil des Kapitaleinkommens im Vergleich zum Anteil des

Arbeitseinkommens in den letzten 30 Jahren in vielen

Ländern zugenommen. Ein immer grösser werdender

Teil des Einkommenswachstums wird über Kapital ge-

neriert. Dies spricht dafür, dass immer mehr Arbeit von

Maschinen verrichtet wird.

Was heisst das genau? Haushalte können auf zwei Ar-

ten Geld einnehmen. Sie erhalten Löhne, Boni oder Ver-

gütungen, indem sie zur Arbeit gehen (Arbeitseinkom-

men), oder sie erhalten Zinsen, Dividenden oder Kapital-

gewinne auf ihr zur Verfügung gestelltes Kapital (Kapi-

taleinkommen). Der Anteil des Arbeitseinkommens am

gesamten Einkommen, also Arbeits- und Kapitaleinkom-

men, lag bis in die 1980er-Jahre bei ungefähr 70 Pro-

zent und ist in den letzten Jahren gesunken.

Radikal ist die Ansicht des Occupy-Aktivisten und Anth-

ropologen David Graeber. Seiner Auffassung nach tun

die meisten tief- bis mittelbezahlten vor dem Bildschirm

arbeitenden Angestellten heute nichts, was irgendeinen

ökonomischen Nutzen hätte. «Bullshit-Jobs» nennt er

diese Art von Arbeit, die die «herrschende Klasse» nur

anbiete, um die Leben der anderen zu kontrollieren.

Auch der weniger radikal gesinnte Denker Larry Sum-

mers, ehemaliger Finanzminister der USA unter Bill

Clinton, empfindet es als beängstigend, dass in den USA

der Anteil der Arbeitenden momentan auf dem tiefsten

Stand seit 1978 ist. Er sieht einen langfristigen Trend in

reichen Ländern zu einer geringeren Arbeitsquote. Wäh-

rend in den 1960er-Jahren noch 5 Prozent der Männer

nicht berufstätig waren, werden es in 10 Jahren rund 15

Prozent sein, prognostiziert Summers.

Dass die neuen Technologien wahrscheinlich mehr Stel-

len zerstören, als sie neue schaffen, würde erklären,

weshalb in den USA die Arbeitslosigkeit auf hohem Ni-

veau verharrt und die Löhne tief bleiben, trotz der ei-

gentlich hohen technischen Kreativität und der anzie-

henden Konjunktur. Für Tyler Cowen ist klar: Im Zuge

der Finanz- und Wirtschaftskrise wurden in den USA

viele Jobs gestrichen. Es ist eine Illusion, zu glauben,

dass diese Stellen nach der Krise wieder geschaffen

werden. Sie wurden schon durch Computer ersetzt.

Die Schweiz kann – zumindest vorübergehend – aufat-

men. Hier ist der Anteil des Einkommens, das durch Ar-

beit generiert wird, nach wie vor hoch. Danken müssen

wir dafür gemäss der Konjunkturforschungsstelle (KOF)

der ETH unserem Berufsbildungssystem. Lehrabgänger

in der Schweiz sind äusserst gut an neue Technologien

angepasst und werden daher weniger durch Kapital

(Maschinen) ersetzt. Ein weiterer Vorteil ist der relativ

flexible Arbeitsmarkt. Dadurch ist der Faktor Arbeit re-

lativ gesehen günstiger und so weniger anfällig, durch

Kapital ersetzt zu werden.

Kaffeesatzlesen

Sollten diese Szenarien wirklich eintreten, würde eine

starke Polarisierung stattfinden. Die Einkommens- und

Vermögensungleichheit würde sich weiter vergrössern.

Es ist absehbar, dass dies im Rahmen des politischen

Prozesses zu mehr Umverteilung führen wird. Nicht ab-

sehbar ist, was die gesellschaftlichen Folgen sind.

Müssen wir wirklich arbeiten, wenn es keine Arbeit

mehr gibt? Würde in diesem Rahmen ein staatlich gesi-

chertes Grundeinkommen Sinn machen? Braucht der

Mensch die Arbeit nicht auch für mehr als die reine fi-

nanzielle Existenzsicherung?

Vieles ist ungewiss, aber eines steht fest: Dies alles

sind Prognosen. Der unfehlbare, zukunftsvorhersagende

Ökonomieroboter wurde noch nicht erfunden.

Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 17. März 2014

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 9 | 25 www.iconomix.ch

Gute und schlechte Ungleichheit

Vielen ist sie ein Dorn im Auge. Mit diversen Initiativen

soll sie bekämpft werden: die ungleiche Verteilung von

Vermögen und Einkommen. Doch wann ist Ungleichheit

wirklich schlecht und wie wirkt man ihr am besten ent-

gegen?

Bild: P. Keller

«Die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermö-

gen ist zwar nicht schön, aber wir brauchen sie, damit

die Wirtschaft wächst.» Dies war die dominierende An-

sicht in der Ökonomie im letzten Jahrhundert. Man

musste sich zwischen zwei Übeln entscheiden: Un-

gleichheit oder tieferes Wirtschaftswachstum.

Diejenigen, die sich bei dieser Frage für mehr Ungleich-

heit entschieden, argumentieren, dass es mit Ungleich-

heit auch den Ärmsten in der Gesellschaft besser geht

als ohne Ungleichheit. Denn: Ungleichheit kurbelt das

Wachstum an. Und davon profitieren auch die Ärmsten

in einer Gesellschaft. So viel steht fest: Wirtschafts-

wachstum vermindert die Armut.

Wie kann Ungleichheit zu mehr Wachstum führen?

Eine Theorie, wie Ungleichheit zu mehr Wachstum füh-

ren kann, stammt von Milton Friedman. In ungleichen

Gesellschaften haben Menschen stärkere Anreize, sich

anzustrengen. Wer fleissig ist und etwas wagt, wird

durch ein höheres Einkommen belohnt. Dadurch steigt

die Produktivität und die Innovationsrate. Die Wirtschaft

wächst.

Wird die Ungleichheit jedoch durch Steuern verringert,

also Einkommen und Vermögen umverteilt, werden An-

reize zerstört. Weshalb soll Paula jeden morgen früh

aufstehen, sich ausbilden oder ein riskantes Unterneh-

men wagen, wenn ihre Anstrengung am Schluss gar

nicht belohnt wird?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Ungleichheit

auch mit einem anderen Argument verteidigt: «Wir brau-

chen ein paar Reiche, die Kapital zur Verfügung stellen.»

Menschen, die über ein sehr hohes Einkommen verfü-

gen, können nicht alles davon konsumieren. Spätestens

nach dem dritten Hummer und der fünften Flasche

Champagner vergeht auch den Superreichen die Lust

daran.

Den Teil ihres Einkommens, den sie nicht konsumieren,

können sie investieren. In Strassen, Maschinen, Unter-

nehmungen oder auch philanthropische Anliegen. Dies

ist vor allem am Anfang der wirtschaftlichen Entwick-

lung wichtig, weil dann physisches Kapital noch relativ

rar ist.

Gute und schlechte Ungleichheit

Seit geraumer Zeit wird das Thema Ungleichheit und

Wachstum aber auch in der Ökonomie differenzierter

betrachtet. Vermehrt werden Stimmen laut, dass sich

eine gleichmässigere Verteilung von Vermögen und Ein-

kommen und Wirtschaftswachstum nicht zwangsläufig

widersprechen müssen.

«Wie es gutes und schlechtes Cholesterin gibt, gibt es

auch gute und schlechte Ungleichheit», schreibt Branko

Milanovic in seinem Buch «The Have and the Have-

Nots». Gute Ungleichheit gibt den Menschen Anreize,

sich auszubilden, hart zu arbeiten oder riskante Unter-

nehmen zu wagen. Von schlechter Ungleichheit spricht

Milanovic, wenn die Ungleichheit ein Ausmass erreicht

hat, die nicht mehr dazu führt, dass man sich anstrengt,

sondern vor allem hilft, erlangte Positionen zu erhalten.

Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Reiche die Mittel

haben, die Politik so zu beeinflussen, dass Rahmenbe-

dingungen geschafft werden, die für sie vorteilhaft und

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 10 | 25 www.iconomix.ch

für die Allgemeinheit schädlich sind. In diesem Zusam-

menhang spricht man von «rent-seeking». Damit ist das

Streben nach Vorteilen gemeint, die man auf Kosten der

restlichen Bevölkerung, unter Beihilfe des Staates, er-

hält. Typisches Beispiel dafür sind wohlfahrtsschädliche

Monopole, die staatlich geschützt werden.

Ungleichheit ist aber vor allem schlecht, wenn sie den

Bildungsstand oder, anders gesagt, das Humankapital

einer Volkswirtschaft beeinträchtigt. Dies ist in Ländern

wie den USA problematisch, in denen gute Bildungsein-

richtungen in erster Linie Kindern von reichen Eltern

zur Verfügung stehen. Da das zukünftige Einkommen in

hohem Grad vom Ausbildungsstand abhängt, bleiben so

Kinder von reichen Eltern reich, während Kinder aus ar-

men Familien arm bleiben.

Abgesehen davon, dass diese mangelnde Chancen-

gleichheit von den meisten Menschen als unfair emp-

funden wird, führt dies auch zu wirtschaftlicher Ineffizi-

enz. Ein grosser Teil der Bevölkerung wird von der

Möglichkeit, eine gute Ausbildung zu absolvieren, aus-

geschlossen. Ein grosses volkswirtschaftliches Poten-

zial, nämlich höheres Humankapital, liegt brach. Dies ist

vor allem in hoch entwickelten Volkswirtschaften

schädlich. Dort können Wachstumsgewinne nicht mehr

in erster Linie durch mehr Maschinen, also zusätzliches

Kapital, getätigt werden, sondern vor allem durch Inno-

vationen. Und um Innovation zu erzeugen, braucht eine

Volkswirtschaft möglichst viele schlaue Köpfe.

Ein Punkt, der nicht unterschätzt werden darf, ist der

soziale Frieden. Länder mit sehr hoher Ungleichheit lau-

fen Gefahr, soziale Unruhen und Konflikte zu provozie-

ren. Dies führt einerseits zu einem Verlust von produk-

tiven Ressourcen, indem zum Beispiel Menschen krimi-

nell werden oder demonstrieren, anstatt zu arbeiten.

Andererseits schürt dies aber auch Unsicherheit, was

sich in zurückhaltender Investitionstätigkeit äussern

wird. Beides beeinträchtigt das Wachstum.

Ein weiterer Grund, weshalb Ungleichheit einen negati-

ven Effekt auf das Wachstum haben kann, liegt im politi-

schen Geschehen. Was passiert in einer Demokratie, in

der Vermögen und Einkommen ungleich verteilt sind?

Die Mehrheit der Bevölkerung wird dann hohe Steuern

und Umverteilung befürworten. Schliesslich profitiert

sie davon. Hohe Steuern auf Kapitaleinkommen führen

aber dazu, dass Investitionen gehemmt werden, was

wiederum wachstumsschädlich ist.

Was tun?

Empirisch lässt sich nicht klar festlegen, ob Ungleich-

heit einen positiven oder negativen Effekt auf die

Wachstumsrate ausweist. Die wissenschaftliche Litera-

tur ist widersprüchlich. Es gibt aber heute durchaus An-

zeichen dafür, dass weniger – nicht keine (!) – Un-

gleichheit gut für das Wirtschaftswachstum ist. Es ist

allerdings schwer zu sagen, bis wann gute und ab wann

schlechte Ungleichheit vorliegt.

Daneben gibt es auch nichtökonomische Aspekte, die

für eine geringere Ungleichheit sprechen. Ist doch sozi-

ale Gerechtigkeit ein Anliegen, das die meisten Men-

schen befürworten. Die Verhaltensökonomie konnte in

Experimenten gar beweisen, dass die meisten Men-

schen eine Präferenz für Fairness haben.

Die entscheidende Frage ist jedoch: Kann man die Un-

gleichheit reduzieren, ohne andere Variablen wie Inves-

titionen, Innovation, Risikowagnis und im Endeffekt die

Produktivität zu beeinflussen?

Umverteilung ist eine Möglichkeit, Ungleichheit zu redu-

zieren. Sie wirkt schnell, bringt aber hohe Kosten und

Ineffizienzen mit sich. Viel effektiver ist es, bei der Wur-

zel der Ungleichheit anzusetzen und allen Menschen den

Zugang zu einer hochwertigen Ausbildung zu ermögli-

chen. Schliesslich wirkt sich diese stark auf das zukünf-

tige Einkommen aus.

In jüngster Zeit gewinnt die Auffassung Raum, dass der

freie Zugang zu Bildungseinrichtungen alleine nicht

ausreicht: «50 Prozent der Einkommensunterschiede

lassen sich durch Faktoren erklären, die vor dem 18. Le-

bensjahr festgelegt werden», erklärt James Heckmann,

Wirtschaftsnobelpreisträger und prominentester Advo-

kat der Frühförderung, in einem Interview.

Fähigkeiten wie Selbstkontrolle oder Durchhaltevermö-

gen, die im späteren Leben entscheidend für ein gutes

Einkommen sind, werden durch das familiäre Umfeld

der Kinder geprägt. Kinder aus armen Familien sind

häufig grossem Stress ausgesetzt und können weniger

durch ihre Eltern schulisch und seelisch unterstützt

werden. Sie starten ihre Ausbildungskarriere bereits

mit viel schlechteren Karten.

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 11 | 25 www.iconomix.ch

Nicht nur Ökonominnen und Ökonomen, sondern auch

Pädagoginnen und Pädagogen plädieren daher für eine

Frühförderung von Kindern aus bildungsfernen Fami-

lien. Studien haben gezeigt, dass nur schon ein wö-

chentlicher Besuch einer Betreuerin einen grossen Ef-

fekt auf die schulische und soziale Entwicklung von Kin-

dern haben kann. Womöglich ist dies das effizienteste

Mittel gegen Ungleichheit. Und weil sich dadurch auch

das Bildungsniveau der Bevölkerung erhöht, kann sich

dies auch positiv auf das Wirtschaftswachstum auswir-

ken.

Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 12. November 2013

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 12 | 25 www.iconomix.ch

Ende des Wachstums?

«Worauf würden Sie lieber verzichten, auf das iPhone

oder auf die Toilette?», so der Ökonom Robert J. Gordon

im Herbst 2013 in Zürich. Seine provokative These: Das

Wachstum in den USA ist bald zu Ende.

Innovationen wie Smartphones sind unterhaltsam, bringen aber keine Produktivitätsgewinne, so Gordon. (Bild: Wikipedia)

«Herr Gordon, warum brauchen wir Wachstum?»

«Damit wir die Ressourcen haben, neue Probleme anzu-

gehen. Ohne Wirtschaftswachstum kann man sich

Neues nur leisten, wenn man auf etwas Bisheriges ver-

zichtet», so Robert Gordon auf die Frage eines

Zuhörers am Gottlieb Duttweiler Institut in Zürich am

11. September.

Doch genau an dieses wichtige Wirtschaftswachstum

glaubt der amerikanische Wirtschaftsprofessor nicht

mehr so recht. Die Wachstumsperiode der USA in den

letzten 200 Jahren ist in seinen Augen eine Ausnahme-

erscheinung.

Es ist unwahrscheinlich, dass in den nächsten Jahren

nochmals Innovationen getätigt werden, die die gleichen

Wohlstandsgewinne wie die Elektrizität, die Kanalisation

oder die Waschmaschine hervorbringen, so Gordon. Ne-

ben dem Abflauen der Innovationswelle wehen dem

Wirtschaftswachstum zusätzlich raue Winde entgegen.

Die demografische Entwicklung oder die anhaltende Un-

gleichheit in den USA zählen dazu.

Wie der Wohlstand steigt

Um seine Argumente verständlich zu machen, bringt

Gordon eine kurze Einführung in die Wachstumstheorie.

Ein guter – wenn auch nicht perfekter – Indikator für

den Wohlstand ist das Pro-Kopf-Einkommen bzw. das

Bruttoinlandprodukt pro Kopf. Das Pro-Kopf-Einkommen

steigt, wenn Menschen in einer Gesellschaft mehr ar-

beiten oder wenn wir produktiver werden.

Mehr Arbeitsstunden pro Einwohner heisst, dass ent-

weder jeder Mensch mehr Stunden arbeitet oder dass

der Anteil an arbeitenden Menschen in einer Gesell-

schaft steigt. Letzteres war beispielsweise mit dem Ein-

tritt der Frauen in die vom Bruttoinlandprodukt erfasste

Arbeitswelt der Fall.

Doch Menschen verbringen heute weniger Stunden pro

Tag mit Arbeiten. Der Wohlstandsgewinn der vergange-

nen Jahrzehnte beruht also nicht darauf, dass wir mehr

arbeiten. Entscheidend für das Pro-Kopf-Wachstum der

letzten zwei Jahrhunderte war das Produktivitäts-

wachstum.

Produktivität sagt aus, wie viel pro eingesetzte Arbeits-

stunde produziert wird. Produktivität kann erhöht wer-

den, indem man Maschinen einsetzt (Realkapital), Men-

schen besser ausbildet (Humankapital) oder produktivi-

tätssteigernde Innovationen erzeugt (technischer Fort-

schritt).

Toilette oder Smartphone?

Die Produktivitätsfortschritte der letzten 200 Jahre wa-

ren einzigartig. Eisenbahnen und Autos vervielfachten

die Transportgeschwindigkeit und befreiten die Stras-

sen von Unmengen an Pferdemist. Wasserversorgung

und Kanalisation erlösten die Frauen von stundenlan-

gem Wasserschleppen und ebneten dadurch den Weg

für produktivere Arbeiten.

Über den Zeitraum von 1891 bis 1972 stieg die Arbeits-

produktivität in den USA um durchschnittlich 2,3 Pro-

zent pro Jahr. Danach ging das Wachstum deutlich zu-

rück auf 1,4 Prozent zwischen 1972 und 1996. Der

Hauptgrund für diese Abnahme beruht gemäss Gordon

darauf, dass die in dieser Zeit getätigten Innovationen

weniger produktivitätsfördernd waren.

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 13 | 25 www.iconomix.ch

Wenn man den Wert von Innovation daran misst, wie

sehr sie zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität beitra-

gen, dann sind neuere Erfindungen wie Computer oder

Internet weit weniger wertvoll als Dampfkraft oder

Elektrizität. «Worauf würden Sie lieber verzichten»,

fragt Gordon, «auf ein funktionierendes Kanalisations-

system oder auf ihr Smartphone?». Viele Erfindungen

der letzten Jahre dienen in erster Linie der Unterhal-

tung. Es geht jedoch kaum eine produktivitätssteigernde

Wirkung von ihnen aus.

Raue Gegenwinde

Produktivitätssteigernde Innovationen wären aber drin-

gend nötig. Denn dem Wachstum des Pro-Kopf-Ein-

kommens wehen in den USA eiskalte Winde entgegen.

So führt die demografische Entwicklung dazu, dass der

Anteil an arbeitsfähigen Menschen in der Gesellschaft

immer kleiner wird. Dies hat zur Folge, dass weniger

Arbeitsstunden pro Einwohner geleistet werden, mit

dem negativen Effekt auf das Pro-Kopf-Einkommen.

Auch das Bildungssystem der USA trägt nicht mehr in

dem Ausmass zu Produktivitätsgewinnen bei, wie dies

im letzten Jahrhundert der Fall war. Die heutige Gene-

ration ist erstmals ungefähr gleich gut ausgebildet wie

diejenige der 1960er-Jahre. Kommt hinzu, dass das

Kosten-Nutzen-Verhältnis schlecht ist. Die Kosten im

Bildungsbereich sind in den USA förmlich explodiert.

Dem stehen die für westliche Verhältnisse schlechten

Pisa-Werte gegenüber. Zwar gibt es heute mehr Univer-

sitätsabgänger als früher, aber viele erledigen nach der

Ausbildung niedrig qualifizierte Arbeiten, wofür ihre

Ausbildungskosten eigentlich zu hoch sind.

Der orkanartigste Gegenwind ist gemässe Gordon aber

die frappierende Ungleichheit in den USA. Von 1993 bis

2008 wuchs das Pro-Kopf-Einkommen der gesamten

Bevölkerung um 1,3 Prozent pro Jahr. Aber: Für die ein-

kommensmässig unteren 99 Prozent der Menschen lag

das Wachstum lediglich bei 0,75 Prozent pro Jahr. Für

den grössten Teil der Bevölkerung wächst das Einkom-

men also weit weniger, als die Statistik im ersten Mo-

ment zu meinen vermag.

Peter Zweifel, Wirtschaftsprofessor an der Universität

Zürich, stellte Gordon die Frage: «Was ist denn eigent-

lich so schlecht an Ungleichheit? Kann es nicht sein,

dass Menschen in ungleichen Gesellschaften einen An-

reiz haben, nach oben zu kommen und so mehr zu leis-

ten?»

Eine gewisse Ungleichheit ist an sich kein Problem, ant-

wortete Gordon in der Diskussion. Aber in den USA hat

sie ein Ausmass erreicht, das schädlich ist, weil die

Aufstiegschancen schlicht zu klein sind, um Anreize zu

schaffen.

Auch die starke Verschuldung der amerikanischen

Haushalte und des amerikanischen Staates werden das

Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens auf absehbare

Zeit beeinträchtigen. Die Schulden müssen – zumindest

teilweise – zurückbezahlt werden. Das verfügbare Pro-

Kopf-Einkommen nach Rückzahlung der Schulden wird

daher kleiner.

Wie sieht die Situation ausserhalb der USA aus? In Eu-

ropa, insbesondere den nordischen Ländern und der

Schweiz, wehen die Gegenwinde etwas schwächer: Das

Bildungssystem ist effizienter, die Schuldenlast und die

Ungleichheit vergleichsweise gering. Dennoch wird

auch Europa unter dem Mangel an neuen produktivitäts-

fördernden Innovationen leiden.

Andere Pessimisten und Kritiker

In eine ähnliche Richtung wie Gordon argumentiert der

Ökonomieprofessor und Kolumnist Tyler Cowen in sei-

nem 2011 erschienen Buch «The Great Stagnation». Ge-

mäss Cowen lässt sich die Stagnation des mittleren Ein-

kommens seit den 1970er-Jahren in den USA damit er-

klären, dass in den Perioden davor «tief hängende

Früchte» geerntet werden konnten. Damit meint er z.B.

die Kultivierung von unberührtem Land, die Verbreitung

von technologischen Durchbrüchen oder die Ausbildung

breiter Bevölkerungsschichten. Die Zeit der revolutionä-

ren Erfindungen und Entdeckungen ist aber endgültig

vorbei und wir leben auf einem technologischen Pla-

teau.

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 14 | 25 www.iconomix.ch

Es ist wenig erstaunlich, dass Gordons und Cowens

pessimistische Zukunftsaussichten auch Kritiker auf

den Plan rufen. So z.B. den Ökonomen Erik Bryn-

jolfsonn des renommierten Massachusetts Institute of

Technology (MIT). In einem Ted-Talk kritisiert er z.B.

das Festhalten an der Wohlstandmessgrösse «Brutto-in-

landprodukt». Dieses unterschätze viele der in den letz-

ten Jahrzehnten entstandenen frei zugänglichen Innova-

tionen wie Wikipedia oder Google. Diese sind kostenlos

und fliessen daher nicht in die Wohlstandsstatistik ein.

Zudem sind für Brynjolfsonn die Produktivitätsgewinne

aus der digitalen Revolution noch lange nicht ausge-

schöpft.

Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 9. Oktober 2013

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 15 | 25 www.iconomix.ch

Exodus: Migration ökonomisch betrachtet

Immigrationsdebatten sind voller Ignoranz und Vorur-

teile. Immigration ist weder gut noch schlecht – es

kommt auf die Menge an, so der Ökonom und Afrikaex-

perte Paul Collier.

Diversität durch Immigration hat Vor- und Nachteile. (Bild: Wikipedia)

Unter Migration versteht man den dauerhaften Wohn-

ortswechsel von Menschen. Zurzeit gelten weltweit un-

gefähr 216 Millionen Menschen als Migranten. Das sind

rund 3 Prozent der Weltbevölkerung. Rund 8 Prozent

davon sind Asylanten.

«Ich war dumm genug, dieses heisse Thema anzuge-

hen», sagt Paul Collier in einem Interview. Geht es um

Einwanderung, wird es schnell emotional. Der Afrika-

experte und Entwicklungsökonom der Oxford University

versucht, sich in seinem neuen Buch «Exodus» dem

Thema mit ökonomischem Kalkül zu nähern.

Die richtige Frage lautet nicht, ob Migration gut oder

schlecht ist, sondern: «Wie viel Migration nützt wem?».

Was bringt Emigration den Übriggebliebenen in den Hei-

matländern oder den einheimischen Einwohnern im

Zielland? Und wie sieht die Bilanz für die Migranten

selbst aus?

Die Migranten: produktiver in Deutschland als in Nigeria

Wer von einem armen in ein reiches Land auswandert,

bezahlt erstmals. Die Reise und eine allfällige Vermitt-

lung ist relativ teuer. Emigranten, die sich diese «Inves-

tition» leisten können, gehören deshalb nicht zu den

ärmsten Menschen ihres Landes. Auswanderung ist ge-

mäss Collier in erster Linie ein Thema für Menschen der

Mittelschicht, die sich diese Investition leisten können.

Und diese Mittelschicht ist in den letzten Jahrzehnten

auch in armen Ländern gewachsen, weshalb Migrations-

bewegungen überhaupt erst zunahmen.

Aber die Investition zahlt sich in der Regel aus. Weil die

Produktivität der Migranten in einem reichen Land hö-

her ist, können sie mit einem höheren Lohn rechnen: Sie

erhalten in der neuen Heimat Löhne, die ungefähr dem

Niveau des reichen Landes entsprechen. Und dieses

liegt bis zu 10-mal höher.

Weshalb sind Menschen in einem anderen Land plötzlich

produktiver? Grund: Sie können aus den nicht funktio-

nierenden sozialen Strukturen des Heimatlandes aus-

brechen. Nimmt ein reiches Land Migranten auf, profi-

tieren diese von der guten Regierungsführung und der

Herrschaft des Rechts – oder allgemein: den guten Insti-

tutionen. Derselbe Fabrikarbeiter produziert in Nigeria

weniger als in Deutschland, weil die Umgebung in Nige-

ria wenig förderlich für produktives Arbeiten ist: Der

Strom fällt oft aus, Ersatzteile werden nicht rechtzeitig

geliefert und das Management ist damit beschäftigt, Be-

amte zu bestechen.

Der Lohn der Migranten hängt auch davon ab, wie viele

andere Migranten im Land sind. Andere Migranten sind

Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Sei es wegen Dis-

kriminierung, Sprachschwelle oder fehlendem Ver-

ständnis von sozialen Konventionen: Migranten bilden

eine von den einheimischen Arbeitnehmenden abgekop-

pelte Gruppe. Sie konkurrieren nicht in erster Linie mit

der heimischen Bevölkerung, sondern mit den anderen

Migranten. Zusätzliche Immigration führt deshalb dazu,

dass die Löhne der Migranten sinken.

Die Herkunftsländer: China profitiert, Haiti verliert

Für die armen Herkunftsländer fällt die Bilanz gemischt aus. Auch sie profitieren bis zu einem gewissen Grad von der Emigration. Emigranten senden Geld und gute Ideen nach Hause. Geschichten von Emigranten über

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

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den Lebensstandard in der reicheren Welt können den Daheimgebliebenen auch Anreize liefern, sich anzu-strengen, in der Aussicht auf ein ähnliches Leben mit höherem Wohlstand.

Wenn allerdings zu viele gebildete Menschen auswan-

dern, schadet dies den armen Ländern. Schliesslich

hätte ihre Wirtschaft gebildete Personen bitter nötig.

Dabei spricht man von Braindrain, also von der Abwan-

derung hoch qualifizierter Arbeitskräfte. In Haiti sind

zum Beispiel 85 Prozent der jungen, gebildeten Bevöl-

kerungsschicht ausgewandert.

Grosse, aufstrebende Volkswirtschaften wie China, In-

dien oder Brasilien profitieren von Emigration. Für sie

überwiegt der Effekt der zusätzlichen Anreize und fri-

schen Ideen. Die Abwanderung von ein paar Fachkräf-

ten fällt hier angesichts der Grösse nicht besonders ins

Gewicht.

Die Zielländer: kulinarische Spezialitäten und Misstrauen

Immigranten sind für die Einheimischen meist keine

Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Frische Köpfe mit

neuen Ideen und günstige Arbeitskräfte machen lokale

Firmen produktiver. Durch die höheren Gewinne dieser

Firmen steigt die gesamte Wirtschaftsleistung und so

auch das Einkommen für die einheimische Bevölkerung.

Auch in der Schweiz finden sich solche Beispiele. Es

waren findige Einwanderer wie Henri Nestlé, Franz

Saurer oder Charles Brown und Walter Boveri, die in

der Schweiz gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch

heute wohlbekannte Firmen gründeten. Aber auch diese

sind nur in die Schweiz gekommen, weil ihnen hier ein

Umfeld geboten wurde, in welchem sie ihre unterneh-

merischen Ideen umsetzen konnten.

Die Zielländer haben bis jetzt mehrheitlich von der Im-

migration profitiert. Dies könnte sich gemäss Collier

aber mit einer weiteren starken Zunahme ändern. Grund

für diese Annahme ist, dass ein Zuviel an Immigration

den Zusammenhalt in der Bevölkerung gefährden kann.

Immigration geht stets mit einer Erhöhung der kulturel-

len Diversität einher. Dies hat bis zu einem gewissen

Grad positive Effekte: neue Ideen und Ansichten – oder

mehr Abwechslung auf dem Teller durch Kebab und

Frühlingsrollen.

Ist die Diversität aber zu hoch, sinkt das Sozialkapital.

Sozialkapital beinhaltet das Vertrauen und die Koopera-

tionsbereitschaft in einer Gesellschaft. Diese sind wich-

tig für das Funktionieren einer Wirtschaft: Bei Geschäf-

ten gibt es auch mit aller juristischen Absicherung im-

mer noch Möglichkeiten, den Handelspartner über den

Tisch zu ziehen. Menschen brauchen also ein gewisses

Grundvertrauen in die andere Person, um sich über-

haupt auf Geschäfte einzulassen.

In diesem Zusammenhang verweist Paul Collier auf Ro-

bert Putnam, einen bekannten Soziologen der Oxford

University. Dieser hat herausgefunden, dass wir in Ge-

sellschaften mit hoher Diversität nicht nur Menschen

misstrauen, die nicht so sind wie wir, sondern auch sol-

chen, die so sind wie wir. Es sinkt also nicht nur das

Vertrauen gegenüber den Migranten, sondern auch ge-

genüber der heimischen Bevölkerung. Je tiefer das So-

zialkapital, desto weniger ist die lokale Bevölkerung be-

reit, öffentliche Güter bereitzustellen oder Umvertei-

lungsmassnahmen durchzuführen.

Entscheidend ist dabei der Prozess der Integration. Je

schneller Migranten in die neue Gesellschaft integriert

werden, desto weniger wird das Sozialkapital beein-

trächtigt, da die Diversität durch die Anpassung der

Migranten verringert wird.

Die Effizienz der Integration hängt aber wiederum von

der Menge an Immigranten ab. Je mehr Immigranten in

einem Land leben, desto geringer ist deren Anreiz, sich

den kulturellen Gegebenheiten des Ziellandes anzupas-

sen. Schliesslich funktioniert das alltägliche Leben auch

gut in der ausländischen Parallelgesellschaft.

Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 31. Oktober 2013

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 17 | 25 www.iconomix.ch

Wie wichtig gute Institutionen sind

Warum sind einige Länder so arm? Liegt es daran, dass

warmes Wetter faul macht? «Nein», sagt der Ökonom Do-

ran Acemoglu, «die Ursache liegt in schlechten Institutio-

nen.»

Bild: Wikipedia

Im Jahr 1948 wurde Korea in zwei Staaten aufgeteilt.

Nord- und Südkorea entstanden. Nordkorea schaffte den

Privatbesitz von Land und Kapital ab. Südkorea versuchte

die Wirtschaftsentwicklung über Märkte und private An-

reize zu fördern. Zum Zeitpunkt der Teilung hatten beide

Länder eine ähnliche Kultur, eine ähnliche Geografie und

einen ähnlichen Entwicklungsstand.

Wenige Jahrzehnte später: Südkorea boomt, während

Nordkorea auf einem nächtlichen Satellitenbild als dunk-

ler Fleck erscheint. Weshalb haben sich die beiden Nach-

barn so unterschiedlich entwickelt?

Eine Antwort liefert der Ökonom Daron Acemoglu. Er ist

der Meinung, dass geografische Unterschiede erklären,

warum die Menschen nach Südfrankreich und nicht in die

Arktis in die Ferien fahren, nicht aber, warum ein Land

arm oder reich ist.

Nicht heisses Klima oder Mangel an Rohstoffen sind

Gründe für Wohlstandsunterschiede zwischen Ländern.

Es sind die Institutionen, die über Arm oder Reich ent-

scheiden. «Menschen müssen gute Institutionen auf-bauen», so Acemoglu.

So weit, so gut. Doch was meint man mit dem Begriff In-

stitutionen?

Der Begriff Institution ist weit gefasst. Eine Institution

kann als ein System von Regeln verstanden werden.

Diese Regeln geben Individuen, Gruppen oder Gemein-

schaften vor, wie sie sich verhalten sollen. Institutionen reduzieren die Unsicherheit und die Willkür im menschli-chen Miteinander.

Gute Institutionen haben einen Einfluss auf den Wohl-

stand, weil sie bestimmen, was belohnt und was bestraft

wird. Menschen reagieren auf Anreize und sich bietende

Chancen – auf Regeln, welche von Institutionen geschaf-

fen werden.

Eine Schule oder ein Gefängnis ist ebenso eine Institution

wie die Güter «wirtschaftliche Freiheit» oder die «Rechts-

sicherheit». Sie alle haben gemeinsam, dass sie Regeln

vorgeben, nach denen sich Menschen verhalten. Je bes-

ser die Regeln sind, desto besser entwickelt sich die Wirt-

schaft.

Nur wenn in einem Land gute Institutionen geschafft wer-

den, kann langfristig Wohlstand gedeihen. Zu den wich-

tigsten guten Institutionen gehört laut Acemoglu die staat-

liche Ordnung: fähige Behörden, eine unabhängige Zent-

ralbank, eine freiheitliche Gesellschaftsordnung und

Rechtsstaatlichkeit. Die politische Macht sollte zudem

gleichmässig verteilt sein und keine Gruppe sollte eine

andere Gruppe politisch oder wirtschaftlich ausbeuten

können.

Ausbeutung führt dazu, dass die Menschen bald zu wenig

Anreiz haben, sich anzustrengen. Staaten mit einem ho-

hen Enteignungsrisiko und einer schlechten Institutionen-

qualität weisen einen wesentlich tieferen Wohlstand aus.

Institutionen sind besser, wenn die Herrschaft breit abge-

stützt ist und die Menschen an den Früchten ihrer Arbeit

teilhaben können – wie dies in der Schweiz der Fall ist.

Auch die Frage, weshalb ehemalige Kolonien sich unter-

schiedlich entwickelt haben, kann gemäss Acemoglu mit-

hilfe unterschiedlicher Institutionen geklärt werden.

Wieso florieren einige der ehemaligen europäische Kolo-

nien, wie die USA, Kanada, Australien, Neuseeland, wäh-

rend andere einen viel tieferen Lebensstandard aufwei-

sen?

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 18 | 25 www.iconomix.ch

In ursprünglich reichen Kolonien wie Indien, Brasilien o-

der Mexiko war die Siedlersterblichkeit, wegen Krankhei-

ten und eines ungewohnten Lebensumfelds, viel höher.

Weil diese Gegenden zudem noch sehr ressourcenreich

waren, stand eher eine kurzfristige Ausbeutung als eine

langfristige Niederlassung im Mittelpunkt. In der An-

nahme, das neue Land bald wieder zu verlassen, gaben

sich die Siedler erst gar keine Mühe, gute Institutionen

aufzubauen.

Im Gegensatz dazu bauten die Siedler in weniger dicht

besiedelten und rohstoffärmeren Gebieten Institutionen

nach europäischem Vorbild auf. Sie hatten vor, sich län-

gerfristig niederzulassen. Eigentumsrechte, Vertragssi-

cherheit, eine breite Mittelschicht und eine Vielzahl von

Unternehmen führten dazu, dass ursprünglich arme Kolo-

nien wie das britische Nordamerika Institutionen besas-

sen, die ihnen eine Industrialisierung ermöglichten.

Weil man es in der Kolonialzeit unterlassen hatte, gute In-

stitutionen zu verwirklichen, haben viele Entwicklungs-

länder noch heute einen grossen Rückstand. Institutionen sind in vielen Ländern nicht auf den Wohlstand der Be-völkerung, sondern auf den Nutzen der Machthaber aus-gerichtet. Korruption ist allgegenwärtig – Rechtssicher-

heit nur schwach vorhanden. Wachstumsschädigendes

Verhalten wird in Kauf genommen, wenn es den Machtha-

bern nützt. Innovationen werden verhindert, wenn sie die

Führung gefährden.

Für das iconomix-Team: Patrick Keller, 1. März. 2013

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 19 | 25 www.iconomix.ch

Wer springt auf den Wachstumszug?

Der Westen ist vorne weggezogen, Afrika hinkt hinten

nach: Eine Grafik über die letzten 60 Jahre zeigt, dass

sich die Erdregionen wirtschaftlich sehr unterschiedlich

entwickelt haben.

In Lateinamerika und den arabischen Ländern hat sich

das Wachstum nach anfänglichen Erfolgen deutlich ver-

langsamt. Und der ehemalige Ostblock erholt sich, nach-

dem er beim Übergang zur Marktwirtschaft einen Tau-

cher gemacht hat.

Atemberaubend ist die Entwicklung in Asien: Um 1950

der ärmste Kontinent der Welt, ist Asien heute bereits so

reich wie Europa es in den Fünfzigerjahren war. Asiens

Abstand zum Westen hat sich in einem halben Jahrhun-

dert nahezu halbiert!

Historisch ist dieses Wachstum beispiellos. Geradezu

beispielhaft ist es hingegen für die wachstumsökonomi-

sche Theorie – denn diese postuliert, dass ärmere Länder

im Vergleich zu ihren reicheren Mitstreitern grundsätz-

lich ein höheres Wachstumspotenzial haben. Reiche und

arme Länder sollten als Folge davon langfristig in ihrem

Wohlstandsniveau «konvergieren», wie es im Fachjargon

heisst.

Zumindest in Asien hat sich diese Annahme spektakulär

bestätigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es zunächst

die japanische Wirtschaft, die rapide zu wachsen begann;

bereits 1970 erreichte Japans BIP die Werte des Westens.

Südkoreas Wachstumsschub setzte in den Siebzigerjah-

ren ein; gegenwärtig schliesst das Land wohlstandsmäs-

sig zu Japan auf. Chinas Aufstieg nahm in den Achtziger-

jahren seinen Anfang. Sein BIP pro Kopf beträgt heute

rund 20 Prozent desjenigen der USA. Setzt sich der aktu-

elle Trend fort, könnte dieser Wert bereits 2030 bis auf

70 Prozent ansteigen.

Ökonom und Financial-Times-Kolumnist Martin Wolf

schreibt diese Entwicklung vor allem den Triebkräften der

Globalisierung zu. Diese beflügelt den weltweiten Aus-

tausch von Ideen, vereinfacht den Technologie- und Kapi-

taltransfer und multipliziert die globale Nachfrage – und

ermöglicht Entwicklungs- und Schwellenländern so eine

rasante Wirtschaftsentwicklung. So sieht Wolf nach zwei

Jahrhunderten der divergenten Entwicklung ein neues

Zeitalter im Anbruch: Er nennt es die «grosse Konver-

genz».

Tatsächlich weisen heute auch ausserhalb Asiens viele

Länder hohe Wachstumsraten auf. Beispiele sind Brasi-

lien, Russland und Indien, die bereits heute zu den wich-

tigsten Wirtschaftsmächten der Welt gehören. Die Invest-

mentbank Goldman Sachs glaubt derweil, bereits die

nächsten Wachstumskandidaten zu kennen. Auf ihre Liste

der «Next Eleven» hat sie Südkorea, Indonesien, die Phi-

lippinen und Vietnam zu künftigen Wirtschaftsmächten ge-

koren; ebenso zählt sie Pakistan, Bangladesch und den

Iran sowie die Türkei, Mexiko, Ägypten und Nigeria hinzu.

Doch wie steht es um die Länder, die in den letzten Jahr-

zehnten stets zuunterst auf der Reichtumsrangliste stan-

den? Harvard-Ökonom Dani Rodrik, bekannt als kritische

Stimme in den Wirtschaftswissenschaften, beobachtet die

Entwicklung vieler afrikanischer und lateinamerikanischer

Länder mit gemischten Gefühlen. Anstatt dass die Globali-

sierung mehr und mehr Arbeitskräfte in hochproduktive

Wirtschafssektoren verschiebt, nimmt der Anteil wenig

produktiver Jobs in manchen Ländern zu, schreibt er.

Vor allem in rohstoffreichen Ländern sei die Gefahr einer

«rückwärts gerichteten Entwicklung» vorhanden, so Ro-

drik.

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

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Sowohl Wolf als auch Rodrik haben jedoch eine gute

Nachricht. Beide sind der Ansicht, dass es mit guter Wirt-

schaftspolitik prinzipiell für jedes Land möglich ist, auf

den weltwirtschaftlichen Wachstumszug aufzuspringen.

Verharren Länder in wirtschaftlicher Stagnation, so liegt

dies häufig an Mängeln auf der institutionellen Ebene:

Mangelnde Rechtssicherheit, grassierende Korruption

und fehlende staatliche Strukturen sind hier als Gründe

zu nennen.

Wie Martin Wolf bemerkt, hat jedoch das Wirtschafts-

wachstum selbst in vielen Ländern zu einer Verbesse-

rung der politischen und administrativen Strukturen ge-

führt. Dies gibt Anlass zur Hoffnung: Gut möglich, dass

sich das Wolfsche Szenario der grossen Konvergenz im

21. Jahrhundert tatsächlich bewahrheitet. Vielleicht haben

wir mit der Finanzkrise gar eine historische Zäsur mit-

erlebt – haben doch die meisten Entwicklungs- und

Schwellenländer die Krise weit besser gemeistert als die

überschuldeten, mit Wachstumsproblemen und hoher Ar-

beitslosigkeit kämpfenden Industrieländer des Westens.

Für das iconomix-Team: Simon Schmid, 5. Januar 2011

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 21 | 25 www.iconomix.ch

Wachstum ohne Ende?

Dank Erfindungen wie der Dampfmaschine oder dem

Benzinmotor hat sich die Wirtschaftsleistung der indust-

rialisierten Welt in den letzten zwei Jahrhunderten konti-

nuierlich erhöht. Ein Zufall?

Bild: Wikipedia

Der Fluss von Erfindungen und Entwicklungen, der die

Zunahme des Wohlstands für breite Bevölkerungsschich-

ten möglich gemacht hat, ist jedoch kein Zufall. In den

Worten des amerikanischen Ökonomen William Baumol

hängt er zusammen mit der historischen Herausbildung

einer neuen Wirtschaftsform: der «marktwirtschaftlichen

Innovationsmaschine».

Im Herzen der marktwirtschaftlichen Innovationsma-

schine stehen gewinnorientierte Unternehmen, die zuei-

nander im Wettbewerb stehen. Wollen diese Unternehmen

im Geschäft bleiben, sind sie dazu gezwungen, mögliche

Produktivitätsverbesserungen beständig auszuschöpfen

und das Rad der technologischen Entwicklung fortlaufend

weiterzudrehen. Mit ihren Bemühungen um Effizienz und

Innovation sorgen die Unternehmen dafür, dass laufend

neue Produkte entwickelt und bekannte Produkte zu

günstigeren Preisen hergestellt, verkauft und konsumiert

werden können.

Die Wirtschaftsleistung der heutigen Industrieländer ist

im Durchschnitt über die vergangenen zwei Jahrhunderte

um rund zwei Prozent pro Jahr gewachsen. Doch auch

der Energiebedarf und der Ressourcenverbrauch der

Wirtschaft sind in diesem Zeitraum stetig angestiegen.

Diese Entwicklung, die lange Zeit als wünschenswert und

problemlos erschien, bereitet ökologisch denkenden Wis-

senschaftlern zunehmend Kopfzerbrechen: Angesichts

der Klimarisiken und Umweltbelastungen, die das Wirt-

schaftswachstum der letzten zwei Jahrhunderte mit sich

gebracht hat, erscheint es ihnen fraglich, wie lange dieses

Wachstum noch im selben Tempo vorangetrieben werden

kann und soll.

Berechnungen des britischen Umweltökonomen Tim

Jackson aus dem Jahr 2009 illustrieren diese Zweifel:

Jackson zufolge nähme eine Weltwirtschaft, in der Indust-

rieländer weiterhin beständig mit zwei Prozent pro Jahr

wachsen und Entwicklungsländer eine stete Annäherung

an westliche Lebensstandards erreichen, bald immense

Züge an. Gemessen am gesamten BIP aller Länder, wäre

sie bis zum Ende des 21. Jahrhunderts etwa 40-mal grös-

ser als heute.

Für optimistische Wissenschaftler ist dies kein unrealisti-

sches Bild: Sie gehen davon aus, dass sich das Wirt-

schaftswachstum künftig von seiner Beziehung zur Um-

welt «entkoppeln» wird und sich die Wirtschaftsleistung

ohne zusätzlichen Ressourcenverbrauch und Schadstoff-

ausstoss weiter steigern lässt. Möglich würde dies dank

dem Einsatz von effizienteren, umweltfreundlicheren

Technologien und einer generellen Verlagerung der Wert-

schöpfung – weg von ressourcenintensiven Landwirt-

schafts- und Industrietätigkeiten, hin zu wissensbasierten

Dienstleistungen.

Skeptische Wissenschaftler halten dies für unrealistisch

und verweisen auf den Rebound-Effekt. Dieser besagt,

dass Effizienzverbesserungen nicht zwingend zu einer

Abnahme der Umweltbelastung führen. Die Erklärung da-

für liegt in der wirtschaftlichen Grundlogik der Sache: Ef-

fizienzverbesserungen bei der Herstellung von Produkten

oder in deren Energieverbrauch führen zu einer Vergüns-

tigung und fördern dadurch den Mehrverbrauch. Bei-

spielsweise ermöglicht ein effizienteres Auto zwar das

Einsparen von Benzin; es verleitet jedoch gleichzeitig

dazu, mehr Kilometer zurückzulegen – wobei sich der

Benzinverbrauch im Endeffekt möglicherweise sogar er-

höht.

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

Version Oktober 2018 22 | 25 www.iconomix.ch

Rebound-Effekt hin oder her: Die zukünftigen Anforde-

rungen an die Innovationskraft der Wirtschaft werden

enorm. Laut Jackson fällt heute bei jedem US-Dollar an

globaler Wirtschaftsleistung ein CO2-Ausstoss von knapp

800 Gramm an. Geht man vom oben geschilderten

Wachstumsszenario aus, müsste sich dieser Wert bis

zum Jahr 2050 auf unter 10 Gramm CO2 pro US-Dollar

verringern, um die atmosphärische CO2-Konzentration

auf dem von der UNO angestrebten Wert zu halten. Dafür

müsste die CO2-Intensität der Weltwirtschaft jährlich um

rund 11 Prozent sinken.

Angesichts dieser Zahlen stellen sich einige grundsätzli-

che Fragen: Ist die marktwirtschaftliche Innovationsma-

schine leistungsfähig genug, Effizienzverbesserungen in

dieser Grössenordnung hervorzubringen? Und sind

unsere Gesellschaften auch bereit, die richtigen Einstel-

lungen – sprich: finanziellen Anreize und veränderten

Konsumgewohnheiten – an dieser Maschine vorzuneh-

men? Falls nicht, müssen wir wohl oder übel unsere

Wachstumsvorstellungen in Zukunft etwas herunter-

schrauben.

Für das iconomix-Team: Simon Schmid, 23. Januar 2012

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

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Wissen – ein teilweise öffentliches Gut

Pythagoras, der griechische Philosoph und Mathematiker,

gilt als Entdecker des Lehrsatzes der euklidischen Geo-

metrie über dem rechtwinkligen Dreieck – des Satzes des

Pythagoras.

Bild: Wikipedia

Selbstredend findet sich heute die Formel in jedem Lehr-

buch der Trigonometrie wieder. An Simplizität ist der

Satz des Pythagoras kaum zu überbieten: drei Buchsta-

ben, drei Quadrate, ein Additions- und ein Gleichheitszei-

chen. Wer die Zeichenfolge einmal verinnerlicht, wird ein

Leben lang freimütig auf sie zurückgreifen können.

Eine Formel wie der Satz des Pythagoras kann generali-

siert als «Wissen» bezeichnet werden, ebenso wie Ideen,

Rezepte oder Anleitungen. Wissen charakterisiert sich

durch keine Rivalität im Konsum und keine Ausschliess-

barkeit vom Konsum. Jeder kann den Satz des Pythago-

ras nutzen, ohne in Rivalität mit anderen zu stehen.

Ebenso kann niemand von der Nutzung ausgeschlossen

werden. Ich kann zeitgleich mit meinem Nachbarn die Hy-

potenuse eines rechtwinkligen Dreiecks berechnen, ohne

dass wir uns dabei gegenseitig behindern.

Das Gut Wissen fällt in der ökonomischen Gütereinteilung

in die Kategorie der öffentlichen Güter (siehe die Tabelle).

Die einzige Möglichkeit, die Nutzung der Formel einzu-

schränken, wäre, wenn der geistreiche Grieche seine Er-

kenntnis für sich behalten hätte. Nur so könnte beim Satz

des Pythagoras die Ausschliessbarkeit vom Konsum ge-

währleistet werden. Ist die Formel einmal öffentlich, ist

der Ausbreitungsprozess nicht mehr rückgängig zu ma-

chen.

Die Handhabung von öffentlichen Gütern ist bekanntlich

schwierig. Alle möchten das Gut konsumieren und keiner

will dafür bezahlen. Ist Wissen ein reines öffentliches Gut,

droht Unterversorgung – niemand ist bereit, aufgrund feh-

lender Finanzierungsanreize Wissen zu entwickeln. Fakt

ist: Pythagoras hat trotz fehlender Anreize ein öffentli-

ches Gut angeboten.

Teilweise öffentliches Gut

Erfolgsgaranten, um die Neuentwicklung von Wissen vo-

ranzutreiben, sind funktionierende politische Institutionen,

die Anreize setzen, damit Forscher und Denker (wie Py-

thagoras) bereit sind, in Forschung und Entwicklung zu

investieren – neues Wissen zu generieren. Dazu dienen:

Patente, Urheberrechte, Markenschutz und juristische In-

stitutionen zur Durchsetzung.

Durch die Institutionalisierung des Wissensschutzes wird

die Aussschliessbarkeit vom Konsum gewährleistet, das

geschützte Wissen wird temporär zu einem Klubgut

umfunktioniert (siehe Tabelle). Klubmitglieder sind der

Patentinhaber und Personen, die bereit sind, den Patentin-

haber für die Verwendung seines Wissens finanziell zu

entschädigen. Nach dem Verfall des Patents wandelt sich

das Wissen zurück in ein öffentliches Gut. Deshalb wird

Wissen auch als teilweise öffentliches Gut bezeichnet.

Wissen schafft Wissen

Die Schaffung von neuem Wissen und von damit verbun-

denem technologischem Wandel ist eine bedeutungsvolle

Variable zur Erklärung wirtschaftlichen Wachstums. Py-

thagoras schuf eine einzelne Stufe einer Treppe, die im-

mer höher wächst. Seine Erkenntnis beruhte auf schon

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

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zuvor gebauten Treppenstufen der Mathematik, und spä-

tere mathematische Erkenntnisse beruhen wiederum auf

Pythagoras usw. Mit anderen Worten: Wissen akkumuliert

sich. Diese Akkumulation von Wissen ist der zentrale

Treiber von wirtschaftlichem Wachstum, denn neues Wis-

sen löst altes ab oder ergänzt es und führt so mit dem

selben Input zu mehr Output.

Der amerikanische Ökonomieprofessor Paul M. Romer,

einer der Mitbegründer der sogenannten «Neuen Wachs-

tumstheorie», ist der Ansicht, dass Produktion nichts an-

deres ist als die Transformation von Rohmaterialien zu

wertvolleren Gütern – basierend auf einer Idee, einer

Formel oder einem Rezept. Wirtschaftswachstum basiert

nach Romer nicht primär auf quantitativer Akkumulation

von Kapital, sondern auf der Neuordnung vorhandener

Elemente und Güter – basierend auf Wissen.

Nach Romer zeichnet sich der Prozess der Wissensakku-

mulation durch zunehmende Grenzerträge aus. Durch den

Multiplikatoreffekt schafft Wissen mehr neues Wissen –

ein sich selbst verstärkender Prozess. In diesem Punkt

unterscheiden sich die Eigenschaften von Wissen und Ka-

pital. Kapital wird durch abnehmende Grenzerträge cha-

rakterisiert, verursacht durch allgegenwärtige Ressour-

cenknappheit: In einem geschlossenen physischen System

ist kein Rohmaterial unbeschränkt vorhanden. Gegensätz-

lich kennt Wissen keine Knappheit und der Entwicklungs-

prozess von Ideen kennt keine abnehmenden Grenzer-

träge.

Und was hatte Pythagoras davon? Mit seinem Satz stellte

er ein öffentliches Gut bereit, sei dies aus Zufall, Altruis-

mus oder dem Nichtvorhandensein schützender Institutio-

nen. Einerseits beruht seine Formel auf älteren zentralen

Erkenntnissen der Mathematik und anderseits basieren

weiterführende mathematische Erkenntnisse auf seiner.

Pythagoras schuf eine einzelne Stufe einer Treppe, die

immerzu schneller und weiter in die Höhe wächst. Ge-

lohnt hat sich die Entdeckung für ihn alleweil, kennt doch

2500 Jahre nach seinem Ableben jeder Schüler den grie-

chischen Philosophen und Mathematiker. Unsterblichkeit

– wahrlich ein starker Anreiz.

.

Für das iconomix-Team: Christoph Hirter, 1. Oktober 2012

Entwicklung, Wachstum, Umwelt: Dossier

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Glossar

Armutsfalle Arme sind in der Armutsfalle, wenn sie zu wenig Geld haben, das sie bräuchten,

um der Armut zu entkommen.

Braindrain Beschreibt die volkswirtschaftlichen Verluste durch die Auswanderung talentier-

ter Menschen.

Entwicklungsland Land, das bezüglich seiner wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung

einen relativ niedrigen Stand aufweist.

Humankapital Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen der Arbeitskräfte durch Aus- und Weiterbil-

dung.

Institutionen Ein System von Regeln, das Menschen Verhaltensanreize liefert. Zum Beispiel

das Rechtssystem.

Kapitaleinkommen Die Entschädigung für geliehenes Kapital. Zum Beispiel Zinsen und Dividenden.

Konvergenz Angleichung der Wirtschaftsleistung von verschiedenen Ländern.

Sozialkapital Ressourcen, die sich aus sozialen Beziehungen oder Netzwerken ergeben.