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Selbstgespräch eines Verwirrten Wir sind die einen, und die andern sind die andern. Nur damit das klar ist! Die andern sind immer schon da, und sie gehen uns immer auf die Nerven. Nie können sie einen in Ruhe lassen! Wenn sie nur anders wären, das ginge ja noch. Aber nein, sie bilden sich ein, sie wären etwas Besseres. Die anderen sind arrogant, wissen alles besser, können uns nicht ausstehen. Schwer zu sagen, was sie sich eigentlich denken. Manchmal haben wir den Eindruck, daß sie verrückt sind. Eines ist sicher: sie wollen was von uns, lassen uns nicht in Frieden. Provozierend, wie sie uns mustern, als wären wir aus einem Zoo entlaufen, oder als wären wir Aliens. Das wenigste, was man sagen kann: wir fühlen uns von ihnen bedroht. Wenn wir uns nicht wehren, werden sie uns alles wegnehmen, was wir haben. Am liebsten würden sie uns umbringen. Andererseits, eine Welt ohne die anderen können wir uns gar nicht mehr vorstellen. Manche behaupten sogar, daß wir sie brauchen. Unsere ganze Energie verwenden wir auf die andern, den ganzen Tag und sogar in der Nacht denken wir an sie. Obwohl wir sie nicht ausstehen können, hängen wir an ihnen. Natürlich wären wir froh, wenn sie weggingen, irgendwohin, wo wir sie nicht mehr sehen müßten. Aber was dann? Entweder hätten wir andere andere am Hals, und dann ginge das Ganze von vorne an, wir müßten die neuen andern studieren, uns gegen sie wehren, oder noch schlimmer: wir fingen an, uns untereinander zu streiten, und dann wären natürlich die einen von uns die anderen, und es wäre aus und vorbei mit unserem Wir. Manchmal frage ich mich, ob wir wirklich die einen sind. Denn natürlich sind wir gleichzeitig die anderen der anderen. Auch die brauchen ja jemanden, den sie nicht ausstehen können, und das sind sicherlich wir. Nicht nur wir hängen an ihnen, sie hängen genauso an uns, und zwar wären sie froh, wenn wir weggingen, irgendwohin, wo sie uns nicht mehr sehen müßten. Aber dann würden sie uns wahrscheinlich vermissen. Kaum hätten sie uns los, würden sie sich untereinander bis aufs Blut streiten, genau wie wir, wenn die anderen verschwänden.

Enzensberger-Selbstgespräch eines Verwirrten

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Page 1: Enzensberger-Selbstgespräch eines Verwirrten

Selbstgespräch eines Verwirrten

Wir sind die einen, und die andern sind die andern. Nur damit das klar ist! Die andern sind immer schon da, und sie gehen uns immer auf die Nerven. Nie können sie einen in Ruhe lassen! Wenn sie nur anders wären, das ginge ja noch. Aber nein, sie bilden sich ein, sie wären etwas Besseres. Die anderen sind arrogant, wissen alles besser, können uns nicht ausstehen. Schwer zu sagen, was sie sich eigentlich denken. Manchmal haben wir den Eindruck, daß sie verrückt sind. Eines ist sicher: sie wollen was von uns, lassen uns nicht in Frieden. Provozierend, wie sie uns mustern, als wären wir aus einem Zoo entlaufen, oder als wären wir Aliens. Das wenigste, was man sagen kann: wir fühlen uns von ihnen bedroht. Wenn wir uns nicht wehren, werden sie uns alles wegnehmen, was wir haben. Am liebsten würden sie uns umbringen.Andererseits, eine Welt ohne die anderen können wir uns gar nicht mehr vorstellen. Manche behaupten sogar, daß wir sie brauchen. Unsere ganze Energie verwenden wir auf die andern, den ganzen Tag und sogar in der Nacht denken wir an sie. Obwohl wir sie nicht ausstehen können, hängen wir an ihnen. Natürlich wären wir froh, wenn sie weggingen, irgendwohin, wo wir sie nicht mehr sehen müßten. Aber was dann? Entweder hätten wir andere andere am Hals, und dann ginge das Ganze von vorne an, wir müßten die neuen andern studieren, uns gegen sie wehren, odernoch schlimmer: wir fingen an, uns untereinander zu streiten, und dann wären natürlich die einen von uns die anderen, und es wäre aus und vorbei mit unserem Wir.Manchmal frage ich mich, ob wir wirklich die einen sind. Denn natürlich sind wir gleichzeitig die anderen der anderen. Auch die brauchen ja jemanden, den sie nicht ausstehen können, und das sind sicherlich wir. Nicht nur wir hängen an ihnen, sie hängen genauso an uns, und zwar wären sie froh, wenn wir weggingen, irgendwohin, wo sie uns nicht mehr sehen müßten. Aber dann würden sie uns wahrscheinlich vermissen. Kaum hätten sie uns los, würden sie sich untereinander bis aufs Blut streiten, genau wie wir, wenn die anderen verschwänden. Das darf ich natürlich bei uns nicht laut sagen, es ist nur so ein Hintergedanke von mir, den ich lieber für mich behalte. Denn sonst würden alle sagen: Jetzt wissen wir Bescheid, mein Lieber! Du bist im Grunde gar keiner von uns, nie gewesen, du hast uns getäuscht! Du bist einer von den andern! Und dann hätte ich nichts zu lachen. Sie würden mir den Hals umdrehen, das steht fest. Ich sollte nicht soviel darüber nachdenken, das ist nicht gesund. Vielleicht hätten die Meinigen sogar recht. Manchmal weiß ich selber nicht mehr, ob ich einer von den einen bin oder einer von den anderen. Das ist ja das Schlimme. Je länger ich darüber nachgrüble, desto schwerer fällt es mir, zwischen uns und den andern zu unterscheiden. Jeder von den einen sieht, wenn man genauer hinschaut, den anderen verdammt ähnlich, und umgekehrt. Manchmal weiß ich selber nicht mehr, ob ich einer von den einen bin oder ein anderer. Am liebsten wäre ich ich selber, aber das ist natürlich unmöglich.