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ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG www.cme-kurs.de © CME-Verlag 2017 ONLINE ERSCHIENEN AM 01.10.2017 Zusammenfassung Wissenschaftlich betrachtet sind Mi- gräne und Epilepsie chronische An- fallsleiden mit episodischen Manifes- tationen. Doch wo genau liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschie- de? Während sich die Inzidenzen beider Erkrankungen um den Faktor 20 un- terscheiden, ist ihre Komorbidität auffallend hoch. Migränepatienten haben ein erhöhtes Epilepsierisiko und umgekehrt. Die komplexe Interaktion zwischen beiden Entitäten zeichnet sich durch unterschiedliches zeitliches Auftreten, Lateralisation und verschiedenartige genetische Hintergründe aus. Auch die physiologischen Vorgänge, die zur Krankheitsentstehung führen, unter- scheiden sich. Gemeinsames therapeutisches Ziel ist jedoch die Anfalls- bzw. Schmerzfrei- heit durch geeignete Interventionen. Eine genaue Kenntnis über das ver- fügbare Behandlungsspektrum ver- größert den Handlungsspielraum des behandelnden Arztes und erlaubt eine patientenindividuelle Therapie. Am Ende dieser Fortbildung … kennen Sie die Inzidenz und Prä- valenz von Migräne und Epilepsie und deren Komorbidität, kennen Sie die genetischen und pathophysiologischen Hintergrün- de von Migräne und Epilepsie, kennen Sie die unterschiedlichen therapeutischen Konzepte bei Mig- räne und Epilepsie, haben Sie einen Überblick über neue Therapieverfahren zur Be- handlung der Migräne und Epilep- sie. Teilnahmemöglichkeiten Diese Fortbildung steht als animierter Videovortrag (Webcast) bzw. zum Down- load in Textform zur Verfügung. Die Teil- nahme ist kostenfrei. Die abschließende Lernerfolgskontrolle kann nur online erfolgen. Bitte registrieren Sie sich dazu kostenlos auf: www.cme- kurs.de Zertifizierung Diese Fortbildung wurde nach den Fort- bildungsrichtlinien der Landesärztekam- mer Rheinland-Pfalz von der Akademie für Ärztliche Fortbildung in RLP mit 2 CME- Punkten zertifiziert (Kategorie I). Sie gilt für das Fortbildungszertifikat der Ärzte- kammern. Redaktionelle Leitung/Realisation J.-H. Wiedemann CME-Verlag Siebengebirgsstr. 15 53572 Bruchhausen E-Mail: [email protected] Mit freundlicher Unterstützung von DESITIN ARZNEIMITTEL, Hamburg Epilepsie und Migräne Epidemiologie, Genetik, Pathophysiologie und Therapie Prof. Dr. med. Martin Holtkamp, Berlin

Epidemiologie, Genetik, Pathophysiologie und Therapie · Wissenschaftlich betrachtet sind Mi-gräne und Epilepsie chronische An-fallsleiden mit episodischen Manifes-tationen. Doch

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ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG www.cme-kurs.de

© CME-Verlag 2017

ONLINE ERSCHIENEN AM 01.10.2017

Zusammenfassung Wissenschaftlich betrachtet sind Mi-gräne und Epilepsie chronische An-fallsleiden mit episodischen Manifes-tationen. Doch wo genau liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschie-de?

Während sich die Inzidenzen beider Erkrankungen um den Faktor 20 un-terscheiden, ist ihre Komorbidität auffallend hoch. Migränepatienten haben ein erhöhtes Epilepsierisiko und umgekehrt.

Die komplexe Interaktion zwischen beiden Entitäten zeichnet sich durch unterschiedliches zeitliches Auftreten, Lateralisation und verschiedenartige genetische Hintergründe aus. Auch die physiologischen Vorgänge, die zur Krankheitsentstehung führen, unter-scheiden sich.

Gemeinsames therapeutisches Ziel ist jedoch die Anfalls- bzw. Schmerzfrei-

heit durch geeignete Interventionen. Eine genaue Kenntnis über das ver-fügbare Behandlungsspektrum ver-größert den Handlungsspielraum des behandelnden Arztes und erlaubt eine patientenindividuelle Therapie.

Am Ende dieser Fortbildung …

• kennen Sie die Inzidenz und Prä-valenz von Migräne und Epilepsie und deren Komorbidität,

• kennen Sie die genetischen und pathophysiologischen Hintergrün-de von Migräne und Epilepsie,

• kennen Sie die unterschiedlichen therapeutischen Konzepte bei Mig-räne und Epilepsie,

• haben Sie einen Überblick über neue Therapieverfahren zur Be-handlung der Migräne und Epilep-sie.

Teilnahmemöglichkeiten

Diese Fortbildung steht als animierter Videovortrag (Webcast) bzw. zum Down-load in Textform zur Verfügung. Die Teil-nahme ist kostenfrei. Die abschließende Lernerfolgskontrolle kann nur online erfolgen. Bitte registrieren Sie sich dazu kostenlos auf: www.cme-kurs.de

Zertifizierung

Diese Fortbildung wurde nach den Fort-bildungsrichtlinien der Landesärztekam-mer Rheinland-Pfalz von der Akademie für Ärztliche Fortbildung in RLP mit 2 CME-Punkten zertifiziert (Kategorie I). Sie gilt für das Fortbildungszertifikat der Ärzte-kammern.

Redaktionelle Leitung/Realisation

J.-H. Wiedemann CME-Verlag Siebengebirgsstr. 15 53572 Bruchhausen E-Mail: [email protected]

Mit freundlicher Unterstützung von DESITIN ARZNEIMITTEL, Hamburg

Epilepsie und Migräne Epidemiologie, Genetik, Pathophysiologie und Therapie Prof. Dr. med. Martin Holtkamp, Berlin

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EPILEPSIE UND MIGRÄNE

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Einleitung

Eine empfehlenswerte Einführung in das Thema Epilepsie und Migräne bietet die Übersichtsarbeit von Sheryl Haut und Kollegen aus dem Jahr 2006. Die Autoren beschreiben Epilepsie und Migräne konzeptuell als chronische Erkrankungen mit episodischer Manifestation. Die Inzi-denz dieser beiden neurologischen Erkrankungen ist vergleichsweise hoch, während andere Leiden, wie Clusterkopfschmerzen oder episodi-sche Ataxie, deutlich seltener vor-kommen. Die Forscher beleuchten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Epilepsie und Migräne, die bis heute weitestgehend Bestand haben. [1]

Im Folgenden werden die Themen Epidemiologie, Genetik und Patho-physiologie sowie therapeutische Konzepte bei Epilepsie und Migräne näher beleuchtet.

Epidemiologie

Die Prävalenz der Migräne beträgt etwa zwölf Prozent, während Epilep-sie nur bei etwa 0,7 Prozent der Pa-tienten vorkommt. Migräne ist dem-nach etwa 20-mal häufiger als Epi-lepsie. [1, 2]

Der Krankheitsbeginn, die Aktivi-tätsmuster der Erkrankung und die Geschlechterverteilung bei Migräne und Epilepsie unterscheiden sich deutlich. Abbildung 1 zeigt die Prä-

valenz der Migräne für Männer in Blau und die Prävalenz der Frauen in Rot. Bei der Migräne steigt die Punktprävalenz, also die Inzidenz von Kopfschmerzen innerhalb der letzten zwölf Monate, ab der Puber-tät an. Mit dem 60. Lebensjahr fällt die Punktprävalenz wieder ab. In den aktivsten Lebensabschnitten ist die Migräne am stärksten ausgeprägt, und es ereignen sich die meisten Attacken. Des Weiteren gibt es einen deutlichen Geschlechtsunterschied: Frauen sind etwa doppelt bis dreimal so häufig betroffen wie Männer.

In Abbildung 2 ist das Auftreten der Epilepsie nach dem Patientenalter dargestellt. Die Kurven sind deutlich komplexer als bei der Migräne und zeigen für die Inzidenz einen umge-kehrten Verlauf. Eine besonders hohe Inzidenz besteht in den ersten fünf bis zehn Lebensjahren (blaue Kurve). Danach treten bis zum 60. Lebensjahr relativ selten neue Epi-lepsien auf, danach steigt die Kurve wieder an. Die Prävalenz (rote Kur-ve) der Epilepsie lässt sich nicht mit der Punktprävalenz der Migräne vergleichen. Selbst bei anfallsfreien Patienten unter medikamentöser Therapie gilt die Epilepsie noch als aktiv. Im mittleren Lebensalter bleibt die Prävalenz relativ konstant, weil einige Patienten lange anfalls-

frei sind und keine Medikamente mehr einnehmen.

Die Geschlechtsverteilung der Epi-lepsie zeigt keinen Unterschied zwi-schen männlichen und weiblichen Patienten.

Welche Kosten verursachen unter-schiedliche Erkrankungen des zent-ralen Nervensystems und welche ökonomischen Auswirkungen haben insbesondere Epilepsie und Migrä-ne? In einer Metaanalyse haben Gus-tavsson und Kollegen Kostenschät-zungen des Jahres 2004 mit denen des Jahres 2010 für Europa vergli-chen. Betrachtet wurden nur die direkten Kosten, also die Kosten für Arzneimittel und die Kosten der Krankenhausaufenthalte. Nicht be-rücksichtigt wurden die Diagnose-kosten, Krankheitstage und Aus-fallskosten. Tabelle 1 zeigt die An-zahl der betroffenen Patienten in Millionen, die Kosten der Erkrankung je Einzelpatient und die Gesamtkos-ten. [3]

Die Untersuchung bestätigt die um den Faktor 20 unterschiedliche Prä-valenz: In Europa leiden schät-zungsweise 2,6 Millionen Patienten an Epilepsie und etwa 50 Millionen an Migräne. Hinsichtlich der Kosten zeigen sich jedoch erhebliche Unter-schiede zwischen den Erkrankungen: Epilepsie erzeugt etwa um den Fak-tor 13 höhere Medikamentenkosten. Auch kommt es unter Epilepsie häu-figer zu Krankenhausaufenthalten im Vergleich zu Migräne. Pro Patient fallen bei Epilepsie etwa 5.200 Euro an und nur etwa 370 Euro für Migrä-ne.

Die höchsten Kosten verursachen psychiatrische Erkrankungen, insbe-sondere affektive Störungen, gefolgt von Demenz, Abhängigkeitserkran-kungen und Angststörungen.

Abbildung 1: Prävalenz der Migräne nach Geschlecht (modifiziert nach Vetvik et al. 2017)

Abbildung 2: Inzidenz und Prävalenz der Epi-lepsie (modifiziert nach Haut et al 2006)

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EPILEPSIE UND MIGRÄNE

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Im Rahmen einer Studie wurden 201 Epilepsiepatienten untersucht, von denen jeder dritte über einen periik-

talen Kopfschmerz klagte. Unter dem Begriff periiktale Kopfschmer-zen werden präiktale und postiktale Kopfschmerzen zusammengefasst. Präiktale Kopfschmerzen beginnen innerhalb von 24 Stunden vor dem Anfall, postiktale innerhalb von 24 Stunden nach dem Anfall. In der Regel treten diese Schmerzen zeit-lich nahe dem epileptischen Anfall auf. [4]

Ein Fünftel der Patienten mit periik-talen Kopfschmerzen hatte einen präiktalen Kopfschmerz, vier Fünftel einen postiktalen. Sehr wenige Pati-enten hatten sowohl präiktale als auch postiktale Kopfschmerzen. Ein einzelner Patient hatte einen iktalen Kopfscherz.

Mehr als ein Viertel der periiktalen Kopfschmerzen waren migränösen Charakters, erfüllten also die Krite-rien einer Migräneattacke. 62 Pro-

zent waren spannungskopfschmerz-artig, die restlichen Kopfschmerz-formen waren nicht kategorisierbar.

Die Schmerzen waren stark ausge-prägt und erreichten auf der visuel-len Analogskala einen Wert von sechs, ±2 cm. Die meisten Patienten behandelten den Kopfschmerz ent-weder gar nicht oder mittels rezept-freier Analgetika, wie Aspirin oder Paracetamol. Vermutlich waren sie primär auf den Anfall fixiert.

Ein Risikofaktor für den periiktalen Kopfschmerz ist insbesondere ein jüngeres Alter bei Beginn der Epilep-sie. Patienten mit generalisierten, tonisch-klonischen Anfällen litten sehr häufig an periiktalen Kopf-schmerzen. Während Patienten mit Absencen oder einfachen fokalen Anfällen signifikant seltener über periiktale Kopfschmerzen klagten.

In einer Studie der Montréal-Gruppe zur Lateralisierung von Kopfschmer-zen wurden 100 Patienten mit foka-ler Epilepsie im prächirurgischen

Monitoring rekrutiert. Die Patienten wurden klassifiziert nach temporalen und extratemporalen Epilepsien. 50 Prozent der temporalen Patien-ten berichteten über periiktale Kopf-schmerzen, und bei 90 Prozent die-ser Patienten war die Seite des Kopf-schmerzes mit dem Anfallsfokus identisch.

Im Gegensatz dazu gab es bei den Patienten mit extratemporalen Epi-lepsien keinen Zusammenhang zwi-schen der Seite des Kopfschmerzes und dem Anfallsfokus. Die beiden Patientengruppen unterschieden sich diesbezüglich signifikant. Es kann daher sinnvoll sein, die Patien-ten explizit danach zu fragen, ob sie vor oder nach dem Anfall Kopf-schmerzen haben.

Der iktale Kopfschmerz ist eher eine Rarität: In einer Studie aus Seoul an 831 Patienten wurden mittels Video-EEG sechs Patienten (also 0,7 Pro-zent) identifiziert, bei denen der Kopfschmerz maßgeblich oder wahrscheinlich die epileptische Aura darstellte. [6]

Es gibt Epilepsiesyndrome, die mit Kopfschmerzen als iktales Phäno-men assoziiert sind. Diese kommen insbesondere im pädiatrischen Be-reich vor und werden als Panayioto-poulos-Syndrom oder benigne okzi-pitale Epilepsie vom Typ Lennox-Gastaut bezeichnet. Auch bei Fron-tallappenepilepsien können Kopf-schmerzen Teil der iktalen Sympto-matik sein.

In der Literatur wird die Entwicklung eines epileptischen Anfalls aus einer Migräneattacke heraus mitunter als „Migralepsie“ bezeichnet. Der Be-griff taucht immer wieder unter dem Stichwort „borderland of epilepsy“ auf. [8]

In der International Classification of Headache Disorders (ICHD) ist die

1Enthält nur Fälle aus dem Jahr 2010, 2 Gewichtetes Mittel aller Länder und Diagnosen, 3 Personen die keine Kosten verursachten eingeschlossen, 4 Indirekte Kosten ausgeschlossen, 5PTBS ausgeschlossen; KKP = Kauf-kraftparität

Tabelle 1: Kosten verschiedener ZNS-Erkrankungen (modifiziert nach Gustavsson et al. 2011)

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EPILEPSIE UND MIGRÄNE

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Migralepsie definiert, nicht aber in der Klassifikation der Internationalen Liga gegen Epilepsie. Die Diagnose ist erfüllt, wenn a) die Migräne die Kriterien einer Migräne mit Aura erfüllt und b) sich ein epileptischer Anfall, während oder innerhalb von einer Stunde nach einer Migräneaura ereignet. Dazu kommentiert die IHS: „Migräne und Epilepsie sind Proto-typen von paroxysmalen zerebralen Anfallsleiden. Während migräneähn-liche Kopfschmerzen in der Postik-talphase relativ häufig sind, können manchmal auch epileptische Anfälle während oder im Anschluss an eine Migräne auftreten. Dieses Phäno-men, als Migralepsie bezeichnet, wurde bei Patienten mit Migräne mit Aura beschrieben.“

Diese Definition wird kritisch disku-tiert, da es sich auch um einen Zu-fallsbefund handeln kann. Der be-treffende Patient kann zufällig häu-fig an Migräneattacken und an einer

hohen Frequenz epileptischer Anfäl-le leiden.

Die Arbeitsgruppe von Ley Sander aus London hat sich intensiv mit Komorbiditäten von Epilepsie be-schäftigt und die möglichen Zu-sammenhänge in dem folgenden Konzept dargestellt (Abbildung 3). [9]

Die Forscher haben insgesamt fünf Komorbiditätskategorien gebildet. Eine durchgezogene Linie zwischen den Kästchen weist auf einen kausa-len Zusammenhang hin, eine gestri-chelte Linie bedeutet, dass kein kau-saler Zusammenhang besteht.

Die erste Kategorie beschreibt die Konstellationen, in denen eine Epi-lepsie und eine andere Erkrankung,

ohne jeglichen Zusammenhang auf-treten.

Die zweite Kategorie beschreibt Komorbiditäten, die direkt oder indi-rekt zu einer Epilepsie führen kön-nen. Beispielsweise hat jemand, der

einen Schlaganfall erleidet, ein zehnprozentiges Risiko, in den nächsten Jahren an Epilepsie zu er-kranken. Beim indirekten Zusam-menhang liegt eine Verkettung von unterschiedlichen Erkrankungen vor.

Zum Beispiel kann schwerer Niko-tinabusus als psychiatrische Erkran-kung begriffen werden. Infolge des Rauchens kann es dann zu einem Schlaganfall kommen. Oder es mani-festiert sich ein Bronchialkarzinom mit Metastasen im Gehirn. In beiden Fällen steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Epilepsie.

Die zeitliche Abfolge kann auch um-gekehrt sein (Kategorie 3). Die Epi-lepsie kann dazu führen, dass andere Erkrankungen auftreten, oft anfalls-assoziiert. In der Praxis ereignen sich häufiger Frakturen bei Patienten mit Epilepsie als bei Menschen ohne Epilepsie, weil erstere häufiger stür-zen. Möglicherweise begünstigen sogar die eingenommenen An-tiepileptika die Sturzfolgen, da sie den Knochenstoffwechsel negativ beeinflussen.

Das geläufige Verständnis von Komorbidität ist, dass es gemeinsa-me Risikofaktoren gibt, die auf der einen Seite Epilepsie auslösen und auf der anderen Seite eine andere Erkrankung hervorrufen, wie bei-spielsweise Kopfschmerzen oder Migräne. Es besteht also ein Zu-sammenhang hinsichtlich des Risiko-faktors. Zwischen der Epilepsie und der Komorbidität gibt es hingegen keinen direkten Zusammenhang (Kategorie 4). Die Arbeitsgruppe beschreibt hierfür das folgende Bei-spiel: perinatale Hypoxie. Die Kinder entwickeln eine Epilepsie und haben eine spastische Parese. Aber die Epilepsie ist nicht Auslöser der spas-tischen Parese oder umgekehrt. Es handelt sich vielmehr um eine ge-

Abbildung 3: Zusammenhänge zwischen Epilepsie und Komorbidität (modifiziert nach Keezer et al. 2016)

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EPILEPSIE UND MIGRÄNE

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meinsame erworbene perinatale Schädigung, die zu beiden Erkran-kungen führt.

Schließlich gibt es noch den bidirek-tionalen Zusammenhang (Kategorie 5). Hierbei beeinflusst sowohl die Epilepsie die Komorbidität als um-gekehrt die Komorbidität die Epilep-sie.

Die gleiche Arbeitsgruppe hat eben-falls einen systematischen Review zum Thema Komorbidität zwischen Migräne und Epilepsie veröffentlicht. [10]

Die Metaanalyse geht der Frage nach, wie häufig Patienten mit einer Migräne an Epilepsie leiden und um-gekehrt. Im Rahmen der systemati-schen Recherche wurden mehrere Tausend Studien identifiziert. Letzt-endlich erfüllten nur neun verschie-dene Publikationen zu zehn Studien die prädefinierten Einschlusskrite-rien. Die Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass bei Patienten mit Epilepsie ein 1,52-faches Risiko besteht, eine Migräne zu entwickeln. Epilepsiepatienten haben daher eine um 50 Prozent höhere Wahrschein-lichkeit, auch an Migräne zu leiden, als Patienten ohne Epilepsie. Die umgekehrte Situation, also das Auf-treten von Epilepsie bei Migränepa-tienten, tritt mit einem Faktor von 1,79 häufiger auf als bei Patienten ohne Migräne, d. h. mit einer 80 Prozent höheren Wahrscheinlich-keit.

Die Vergesellschaftung von Migräne mit Epilepsie bzw. von Epilepsie mit Migräne ist also zwischen 1,5- und zweimal wahrscheinlicher als bei Patienten ohne jeweilige Grunder-krankung. Vermutlich beruhen so-wohl die Migräne als auch die Epilep-sie auf einem gemeinsamen geneti-schen Hintergrund.

Zusammenfassung Epidemiolo-gie

• Migräne ist 20-mal häufiger als Epilepsie.

• Migräne betrifft Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer.

• Jeder dritte Epilepsiepatient hat einen schweren periiktalen Kopf-schmerz, ein Viertel ist migräne-artig. Diese Unterschiede lassen sich als Lateralisierungszeichen bei Temporallappenepilepsien nutzen.

• Bei Epilepsie tritt Migräne um 50 Prozent häufiger auf als bei Patienten ohne Epilepsie.

• Bei Migräne tritt Epilepsie um 80 Prozent häufiger auf als bei Patienten ohne Migräne.

Genetik und Pathophysiologie

Eine niederländische Arbeitsgruppe hat mögliche Gen-Loci identifiziert, die an der Entstehung von Migräne beteiligt sein können. Dazu wurden Daten aus drei großen sogenannten Genome-Wide-Association-Studien und einer Metaanalyse ausgewertet. [10] Die Forscher konnten 13 Suszep-tibilitätsgenvarianten identifizieren, die in Clustern auf fünf verschiedene pathophysiologische Pathways hin-deuten. Auch für die Entwicklung der Epilepsie sind entsprechende Daten in der Literatur zu finden.

Insbesondere für die genetischen Hintergründe der epileptischen En-zephalopathien liegen belastbare Daten vor. 17 Prozent der epilepti-schen Enzephalopathien sind über die genetischen Faktoren erklärbar. Von den genetisch-generalisierten Epilepsien sind hingegen nur fünf Prozent eindeutig gesichert. Für 95 Prozent lassen sich bisher keine genetischen Zusammenhänge bil-

den. Noch weniger bekannt sind die genetischen Hintergründe von nicht läsionellen fokalen Epilepsien. Es gibt zwar seltene Fälle von autoso-mal-dominanter Frontallappen-epilepsie, insgesamt sind jedoch nur zwei Prozent genetisch erklärbar. [12]

Auf der anderen Seite gibt es immer wieder einzelne Familien, bei denen ein konkreter Gen-Locus identifiziert wurde, der für die Entstehung selte-ner, familiärer okzipitotemporaler Epilepsien und Migränen mit visuel-ler Aura verantwortlich ist. Das sind Patienten, bei denen plötzlich aus der Migräneaura ein epileptischer Anfall wird. Dieser Zusammenhang wurde eingangs bereits unter dem Stichwort „Migralepsie“ beschrie-ben. [13]

Pathophysiologisch unterliegen so-wohl Epilepsie als auch Migräne ei-ner neuronalen Hyperexzitabilität. In dieser Eigenschaft erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten zwischen den Erkrankungen jedoch bereits.

Die Migräneaura zeichnet sich durch die „Spreading Depolarisation“ aus. In Abbildung 4 ist diese Depolarisati-on dargestellt: Das blaue Areal be-zeichnet die Front der voranschrei-tenden Depolarisation, der rosa Be-reich stellt die Zone mit verminder-ter neuronaler Depolarisation dar. Dieser Prozess sowie das Auftreten

Abbildung 4: „Spreading Depolarisation“ (modifiziert nach Ferrari et al. 2015)

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Abbildung 5: Responderraten verschiedener Antiepileptika

der Aura dauern üblicherweise 15 bis 20 Minuten an. [11]

Normalerweise beginnt der Prozess der neuronalen Depolarisation okzi-pital und wandert mit einer Ge-schwindigkeit von drei Millimetern pro Minute nach vorn. Der Gyrus postcentralis wird nach etwa zehn bis 15 Minuten erreicht. Hinter dieser Front besteht eine Phase der verrin-gerten neuronalen Depolarisation mit einem gleichzeitig verringerten Blutfluss. Dagegen ist der Blutfluss im Bereich der Aurafront erhöht. Diese Veränderungen lassen sich sowohl im Tiermodell als auch am Menschen durch funktionelle Bild-gebung nachweisen. [11, 14]

Der Migränekopfschmerz an sich stellt ein anderes Phänomen dar. Er ist mit einer Aktivierung des trigemi-no-vaskulären Systems assoziiert. Wahrscheinlich werden die Nozizep-toren der betroffenen Gefäße durch einen akuten inflammatorischen Prozess gereizt. Dieser Prozess zieht sich in das trigemino-zervikale Kern-gebiet fort und steigt nach oben in den Thalamus. Im Locus coeruleus kann noch eine Modulation stattfin-den, bevor der Prozess den Kortex erreicht und dann den Migränekopf-schmerz hervorruft.

Ein wichtiger Transmitter in diesem Ablauf ist das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Dieser Neu-rotransmitter stellt ein neues thera-peutisches Target im Rahmen der Migränebehandlung dar.

Zusammenfassung Genetik und Pathophysiologie

• Sowohl Migräne als auch Epilep-sie basieren auf neuronaler Hype-rexzitabilität.

• Migräne-Attacken entstehen durch Aktivierung des trigemino-vaskulären Systems.

• Epileptische Anfälle entstehen aufgrund neuronaler Hypersyn-chronisation.

Therapeutische Konzepte

Ziel der Behandlung chronischer Erkrankungen mit episodischen Ma-nifestationen, wie Epilepsie oder Migräne, ist die Aufrechterhaltung eines möglichst normalen Lebens-stils für die Patienten. Dazu gehört eine bestmögliche Symptomkontrol-le. Im Idealfall hat der Patient unter der Therapie weder epileptische Anfälle noch Migräneattacken. Des Weiteren sollten unter einer Dauer-therapie keine, oder allenfalls mini-male, Nebenwirkungen auftreten.

Daher steht die Pharmakotherapie an erster Stelle. Bei pharmakoresis-tenten Patienten mit fokaler Epilep-sie sollte immer die Epilepsiechirur-gie in Erwägung gezogen werden. Als Verfahren der Epilepsiechirurgie stehen die offene Resektion und die Laserablation zur Verfügung.

Erst nachdem Patienten epilepsie-chirurgisch evaluiert worden sind, sollten andere therapeutische Kon-zepte erwogen werden. Dazu gehö-ren Neurostimulation, ketogene Diät und Biofeedback-Verfahren. Die beste Evidenz liegt diesbezüglich für die Neurostimulation vor.

In der Praxis kommt es immer wie-der vor, dass Patienten einen Vagus-nervstimulator erhalten, ohne vorher epilepsiechirurgisch evaluiert wor-den zu sein. In solchen Fällen ist es unter anderem nicht mehr möglich, ein 3-Tesla-MRT durchzuführen.

Bei der Behandlung der Migräne steht die Pharmakotherapie im Vor-dergrund. Inzwischen liegen auch

erste randomisierte, kontrollierte Studien zur Anwendung von Botuli-numtoxin vor.

Begleitend, nicht nachgeordnet, sollen Verhaltenstherapie und aero-ber Ausdauersport betrieben wer-den. Diese Maßnahmen helfen bei der Stabilisierung der Patienten im Rahmen ihrer chronischen Schmerz-erkrankung und werden daher von der DGN empfohlen.

Medikamentöse Therapie der Epilepsie

Zur Pharmakotherapie der Epilepsie sind in der Monotherapie zahlreiche Medikamente zugelassen. Tabelle 2 zeigt zusätzlich die zur Zusatzthera-pie zugelassenen Medikamente. Die in Orange hervorgehoben Substan-zen sind ausschließlich zur Zusatz-therapie zugelassen.

Abbildung 5 zeigt die Responderra-ten, die verschiedene Antiepileptika

Tabelle 2: Pharmakotherapie der fokalen Epilepsie

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im Rahmen der jeweiligen Zulas-sungsstudien demonstriert haben. Balken in Orange zeigen die Res-ponderrate der aktiven Substanz, in Blau die unter Placebo. Im Durch-schnitt zeigen die Substanzen eine Responderrate von 30 bis 35 Prozent bei schwer behandelbaren Epilepsie-patienten. Als Response wird gewer-tet, wenn mindestens 50 Prozent weniger Anfälle unter dem Medika-ment im Vergleich zur Ausgangssi-tuation beobachtet werden. Insge-samt hat also nur jeder dritte Patient unter Antiepileptika etwa 50 Prozent weniger Anfälle. [17–19]

Dieses ernüchternde Ergebnis ba-siert darauf, dass im Rahmen klini-scher Studien nur bestimmte Patien-tenpopulationen untersucht werden, die nicht unbedingt der großen Gruppe der Epilepsiepatienten im Alltag entsprechen.

Abbildung 6 zeigt die anfallsfreien Patienten in Abhängigkeit von der Anzahl vorausgegangener, erfolglo-ser Therapien. Je mehr Medikamen-te bereits erfolglos eingesetzt wor-den sind, desto unwahrscheinlicher ist eine Anfallsfreiheit unter einer Folgetherapie. Nach dem sechsten oder siebten Medikament sind nahe-

zu null Prozent der Patienten anfalls-frei.

Abbildung 7 zeigt die Responder-rate in Abhängigkeit von der Anzahl vorausgegangener, erfolgloser The-rapien. Nach dem sechsten bis sieb-ten Antiepileptikum ist eine Respon-derrate von 30 Prozent zu erwarten. [20]

Die meisten Patienten, die in An-tiepileptika-Zulassungsstudien auf-genommen werden, hatten zuvor circa fünf erfolglose Therapieregime und mehr. Die Patienten müssen schließlich damit einverstanden sein, für drei Monate möglicherweise le-diglich ein Placebo zu erhalten. Die Teilnahmebereitschaft setzt daher einen entsprechend hohen Leidens-druck voraus.

Diese Studien werden vornehmlich durchgeführt, um den Zulassungs-behörden die Wirksamkeit des Me-dikaments im Vergleich zu Placebo nachzuweisen. Würden die neuen Medikamente dagegen bereits nach zwei oder drei erfolglosen Therapien eingesetzt, wären durchaus höhere Responderraten zu erwarten.

Betrachtet man Abbildung 8 unter dem Aspekt des Placeboeffekts, so zeigen sich etwa 15 Prozent Respon-

der auch unter der Behandlung mit Placebo.

Der zusätzliche Gewinn durch das aktive Medikament im Vergleich zu Placebo beträgt daher nur etwa 20 Prozentpunkte. In dieser schwer behandelbaren Gruppe hat also nur jeder fünfte Patient einen Vorteil durch die Einnahme des Antiepilep-tikums. Dies entspricht einer „num-ber needed to treat“ von fünf Patien-ten.

Epilepsiechirurgie

Die „number needed to treat“ lässt sich auch für die Epilepsiechirurgie ermitteln. Samuel Wiebe und sein Team konnten zeigen, dass Patien-ten mit Temporallappenepilepsie ein Jahr nach Intervention zu 58 Prozent anfallsfrei sind. In der rein medika-mentös behandelten Gruppe errei-chen hingegen nur acht Prozent die-ses Ziel. Gegenüber der konservativ behandelten Gruppe zeigt sich dem-nach ein Behandlungsvorteil der Epilepsiechirurgie von etwa 50 Prozent. [21]

Im Gegensatz zur Responderrate unter Pharmakotherapie wird in der Epilepsiechirurgie die Anfallsfreiheit ermittelt. Die „number needed to treat“ bis zur Anfallsfreiheit war in der hier vorgestellten Studie zwei. Das bedeutet, von zwei operierten Patienten besteht bei einem ein Vollerfolg hinsichtlich einer Anfalls-freiheit.

Abbildung 6: Wahrscheinlichkeit der Anfallsfrei-heit in Abhängigkeit der Anzahl vorausgegangener antiepileptischer Therapien (modifiziert nach Schiller et al. 2008)

Abbildung 7: Responderrate in Abhängigkeit der Anzahl vorausgegangener antiepileptischer The-rapien (modifiziert nach Schiller et al. 2008)

Abbildung 8: Nutzen eines neuen Antiepilepti-kums gegenüber Placebo

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Eine Herausforderung im Rahmen der Epilepsiechirurgie ist die Akzep-tanz bei den Patienten: Etwa 20 Prozent der für Epilepsiechirurgie ideal geeigneten Kandidaten, zum Beispiel mit rechtsseitiger Hippo-campus-Sklerose, weigern sich, den Eingriff durchführen zu lassen. Die-ser Anteil unterscheidet sich interna-tional kaum. Die Ablehnung beruht auf der Angst vor der Entfernung von Gewebe aus dem Gehirn. [22]

Bei einer dokumentierten Pharma-koresistenz ist es daher wichtig, dem Patienten klarzumachen, dass seine Anfälle ohne chirurgischen Eingriff vermutlich ein Leben lang bestehen. Auch sollten Patienten, die die Epi-lepsiechirurgie ablehnen, über ein möglicherweise erhöhtes Sterberisi-ko aufgeklärt werden.

Michael Sperling und Kollegen ha-ben die Mortalität nach Epilepsiechi-rurgie mit der von ausschließlich pharmakologisch behandelten Pati-enten verglichen. Patienten hatten nach Resektion eine signifikant hö-here Überlebenswahrscheinlichkeit als konservativ behandelte, bei de-nen es vermehrt zu Grand mal-assoziierten SUDEP-Ereignissen kam. [23] Allerdings haben Patienten mit rein komplex-fokalen Anfällen wahrscheinlich kein erhöhtes Risiko, an SUDEP zu versterben.

Die Laserablation verfolgt konzep-

tuell den gleichen Ansatz wie die Epilepsiechirurgie. Allerdings wird die Region, in der die Anfälle begin-nen, nicht entfernt, sondern zerstört bzw. funktionsunfähig gemacht. Abbildung 9 zeigt die Prozedur am linken mesialen Temporallappen. Im MRT wird eine Laserelektrode an den Ort gelegt, der zerstört werden soll – hier im Hippocampus auf der linken Seite. Im MRT kann vorbe-rechnet werden, welche Läsion mit welcher Temperatur erreicht werden kann. Der Hippocampus hat eine längliche Struktur. Bei Bedarf kann die Elektrode nach hinten gezogen werden, um noch weitere Bereiche zu zerstören. Konzeptuell ist der Vorgang mit einer selektiven Amygdalo-Hippocampektomie ver-gleichbar, bei der nur ein kleiner Bereich zerstört wird.

Die Arbeitsgruppe von Michael Sper-ling hat erste Outcome-Daten zur neuen Interventionstechnik publi-ziert. In der offenen Studie wurden 20 laserabladierte Patienten 20 Mo-nate nachbeobachtet und eine 40-prozentige Anfallsfreiheit nachge-wiesen. Zur Erinnerung: In der oben beschriebenen Studie an Patienten mit Temporallappenepilepsie waren etwa 58 Prozent der Patienten nach dem Eingriff anfallsfrei. [24]

In den USA wird die Laserablation inzwischen selbst bei mesialer Tem-porallappenepilepsie bevorzugt an-

geboten, weil die-se deutlich weni-ger invasiv ist und der Patient bereits am nächsten Tag entlassen werden kann. Sollte die Laserablation nicht zum gewünschten Erfolg führen, kann anschließend im-mer noch eine

offene Resektion in Betracht gezo-gen werden. Die Patienten scheinen vor der Laserablation weniger Angst zu haben und stimmen dem Eingriff eher zu als der offenen Resektion.

Die Laserablation wird in Kürze auch in Europa zugelassen werden. Auch in Deutschland wird diese Methode vor allem Patienten mit Angst vor der offenen Resektion und bei schlecht erreichbarem Anfallsfokus angeboten. Dazu gehören beispiels-weise hypothalamische Hamartome und periventrikuläre Heterotopien. Diese lassen sich mit einer Elektrode gut erreichen.

Therapeutische Konzepte bei Migräne

Neue pharmakologische Therapie-konzepte haben das eingangs be-schriebene Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) im Fokus. Mittler-weile werden vier verschiedene An-tiköper gegen diesen Neurotrans-mitter im Rahmen von Phase-II-Studien untersucht. [25]

Diese Antikörper verfügen im Ver-gleich zu Placebo über eine signifi-kant bessere Wirksamkeit hinsicht-lich der Anzahl kopfschmerzfreier Tage. Bezogen auf den Patientenall-tag sind die Ergebnisse wiederum ernüchternd. Patienten, die zu Stu-dienbeginn unter 20 Migränetagen pro Monat litten, hatten unter der Antikörpertherapie etwa zwei Tage weniger Kopfschmerzen oder Migrä-ne pro Monat als unter Placebo.

Im Rahmen eines Reviews wurde die „number needed to treat“ für die Responderzahl unter der Antikör-pertherapie identifiziert. Responder waren Patienten, bei denen die An-zahl der Tage mit Kopfschmerzen im Vergleich zur Baseline mindestens halbiert wurde. Die „number needed to treat“ lag bei vier bis sechs Patien-

Abbildung 9: Laserablation unter MRT-Kontrolle (freundliche Überlassung durch Michael Sperling, Philadelphia, USA)

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ten. Es müssen demnach vier bis sechs Patienten behandelt werden, damit ein Patient nur noch halb so viele Kopfschmerztage hat wie vor-her. Eine vollständige Kopfschmerz-freiheit wurde nicht erreicht. [26]

Eine weitere Behandlungsalternative ist Botulinumtoxin. Die Substanz wurde bei Patienten mit chronischer Migräne, also mindestens 15 Migrä-netage pro Monat, in einer randomi-siert kontrollierten Studie unter-sucht.

Die Patienten hatten zu Studienbe-ginn 20 Migränetage. Auch unter Botulinumtoxin stellte sich ein Un-terschied von lediglich zwei Tagen zwischen Placebo und dem Verum ein. Im Vergleich zur Epilepsie kann bei Patienten mit Migräne ein sehr starker Placeboeffekt beobachtet werden.

Auch in dieser Untersuchung wurden die Responderraten ermittelt. In der Botulinumtoxin-Gruppe wurden 48 und im Placeboarm 36 Prozent do-kumentiert. Anhand der Responder-raten wurde die „number needed to treat“ ermittelt.

Zwischen den Gruppen bestand ein Unterschied von etwa 14 Prozent, die „number needed to treat“ betrug sieben. Demnach müssen sieben Patienten mit Botulinumtoxin be-handelt werden, damit ein Patient eine Response zeigt.

Der hypothetische Wirkmechanis-mus des Botulinumtoxins ist eine Interaktion mit dem Calcitonin Ge-ne-Related Proteine. Dadurch soll die Ausschüttung des Neurotrans-mitters gehemmt und die Entwick-lung von Kopfschmerzen verhindert werden.

Die Behandlung mit Botulinumtoxin hatte darüber hinaus keinen Einfluss auf die Menge der benötigten Akut-

medikamente im Vergleich zu Place-bo.

Zusammenfassung

• Sowohl bei Migräne als auch bei Epilepsie ist der erste Schritt die Pharmakotherapie.

• Bei Patienten mit schwer behan-delbarer Epilepsie müssen fünf behandelt werden, um bei einem Patienten eine Response zu errei-chen.

• Bei Patienten mit chronischer Migräne unter Botulinumtoxin müssen sogar sieben Patienten behandeln werden, um einen Responder zu erzielen.

• Bei Epilepsie sollten chirurgische Verfahren immer in Betracht ge-zogen werden, denn diese errei-chen häufig sogar eine Anfalls-freiheit. Die „number needed to treat“ bei herkömmlicher Resek-tion beträgt zwei, bei Laserabla-tion 2,5.

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Autor: Prof. Dr. med. Martin Holtkamp Medizinischer Direktor Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg am Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge Herzbergstraße 79 10365 Berlin

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Welche Aussage zur Prävalenz der Migräne und der Epilepsie ist richtig? � Migräne kommt etwa 20-mal häufiger vor als Epilepsie.

� Migräne kommt etwa zehnmal seltener vor als Epilepsie.

� Die Prävalenz der Migräne beträgt etwa 80 Prozent, während Epilepsie nur in etwa 0,7 Prozent der Fälle auftritt.

� Die Prävalenz der Migräne beträgt etwa zwölf Prozent, wäh-rend Epilepsie nur in etwa 0,001 Prozent der Fälle auftritt.

� Die Prävalenz der Migräne und der Epilepsie ist gleich hoch.

Welche Aussage zum Aktivitätsmuster der Migräne und Epilepsie ist FALSCH? � Die Häufigkeit von Migräneschmerzen steigt in der Pubertät

an und fällt ab dem 60. Lebensjahr wieder ab.

� Frauen sind etwa zwei- bis dreimal häufiger von Migräne be-troffen als Männer.

� Die Inzidenz der Epilepsie nach Patientenalter verläuft etwa reziprok zum Aktivitätsmuster der Migräne.

� Im mittleren Lebensalter bleibt die Prävalenz der Epilepsie etwa konstant.

� Frauen sind etwa zwei- bis dreimal häufiger von Epilepsie be-troffen als Männer.

Welche Aussage zum zeitlichen Auftreten von Kopfschmerzen bei Patienten mit Epilepsie ist richtig? � Präiktale und postiktale Kopfschmerzen treten mit einem

großen zeitlichen Abstand zum epileptischen Anfall auf.

� Die meisten Patienten mit periiktalen Kopfschmerzen haben präiktale Kopfschmerzen.

� Etwa jeder dritte Epilepsiepatient leidet an periiktalen Kopf-schmerzen.

� Die häufigste Form periiktaler Kopfschmerzen ist der iktale Kopfschmerz.

� Postiktale Kopfschmerzen kommen äußerst selten vor.

Welche Aussage zur Lateralisierung von Kopfschmerzen bei Epilepsie ist richtig? � Bei Patienten mit extratemporalen Epilepsien gibt es einen

signifikanten Zusammenhang zwischen der Seite des Kopf-schmerzes und dem Anfallsfokus.

� Bei nahezu allen Patienten mit temporaler Epilepsie unter-scheidet sich die Seite des Kopfschmerzes vom Anfallsfokus.

� Bei nahezu allen Patienten mit temporaler Epilepsie ist die Seite des Kopfschmerzes mit dem Anfallsfokus identisch.

� Es gibt weder bei temporaler noch bei extratemporaler Epi-lepsie irgendeinen Zusammenhang zwischen der Seite des Kopfschmerzes und dem Anfallsfokus.

� Bei temporaler Epilepsie tritt der Kopfschmerz immer auf der rechten Seite des Kopfes auf.

Was versteht man unter Migralepsie? � Auftreten eines epileptischen Anfalls innerhalb von einer

Stunde nach einer Migräne mit Aura

� Auftreten einer Migräne mit Aura innerhalb von einer Stunde nach einem epileptischen Anfall

� Auftreten einer Migräne auf derselben Seite wie der Anfalls-fokus bei Epilepsie

� Auftreten einer Migräne auf der gegenüberliegenden Seite des Anfallsfokus bei Epilepsie

� Benigne okzipitale Epilepsie vom Typ Lennox-Gastaut

Welche Aussage zur Komorbidität von Migräne und Epilepsie ist richtig? 1. Bei Patienten mit Epilepsie besteht ein deutlich geringeres Risi-

ko, eine Migräne zu entwickeln, als bei Patienten ohne Epilep-sie.

2. Bei Patienten mit Epilepsie besteht ein deutlich höheres Risiko, eine Migräne zu entwickeln, als bei Patienten ohne Epilepsie.

3. Bei Patienten mit Migräne besteht ein deutlich höheres Risiko, eine Epilepsie zu entwickeln, als bei Patienten ohne Migräne.

4. Bei Patienten mit Migräne besteht ein deutlich geringeres Risi-ko, eine Epilepsie zu entwickeln, als bei Patienten ohne Migrä-ne.

5. Migräne und Epilepsie treten unabhängig voneinander auf, oh-ne ein erhöhtes Risiko einer Vergesellschaftung.

� Keine der Aussagen ist richtig.

� Nur Aussagen 1 und 4 sind richtig.

� Nur Aussagen 2 und 3 sind richtig.

� Nur Aussage 5 ist richtig.

� Alle Aussagen sind richtig.

Welche Aussage zur Pathophysiologie von Migräne und Epilepsie ist richtig? � Pathophysiologisch gibt es zwischen Epilepsie und Migräne

keinerlei Gemeinsamkeit.

� Die Migräneaura zeichnet sich durch die „Spreading Depolari-sation“ aus, während der Migränekopfschmerz mit einer Ak-tivierung des trigemino-vaskulären Systems assoziiert ist.

� Die Migräneaura ist mit einer Aktivierung des trigemino-vaskulären Systems assoziiert, während sich der Migräne-kopfschmerz durch die „Spreading Depolarisation" auszeich-net.

� Der Prozess der „Spreading Depolarisation“ beginnt okzipital und erreicht den Gyrus postcentralis nach etwa zehn bis 15 Millisekunden.

� Der Blutfluss ist im Bereich der Aurafront verringert und in der Phase der verringerten neuronalen Depolarisation erhöht.

Fragebogen Bitte beachten Sie: • Die Teilnahme am nachfolgenden CME-Test ist nur online möglich unter: www.cme-kurs.de • Diese Fortbildung ist mit 2 CME-Punkten zertifiziert. • Es ist immer nur eine Antwortmöglichkeit richtig (keine Mehrfachnennungen).

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EPILEPSIE UND MIGRÄNE

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Welche Aussage zu den Therapiekonzepten bei Epilepsie ist richtig? 1. An erster Stelle der Therapie steht die Epilepsiechirurgie. 2. Bevor eine Epilepsiechirurgie erwogen wird, sollten mindes-

tens zwei Antiepileptika in ausreichend hoher Dosis gegeben worden sein.

3. Vor der Erwägung einer pharmakologischen Therapie sollten andere therapeutische Konzepte, wie Neurostimulation, ke-togene Diät und Bio-Feedback-Verfahren in Erwägung gezo-gen werden.

4. Die Laserablation ist ein schonenderes epilepsiechirurgisches Verfahren als die offene Resektion, sie wird zukünftig an Be-deutung gewinnen.

5. Der Einsatz eines Vagusnervstimulator führt zu einer günsti-gen Prognose und vereinfacht die Durchführung eines 3-Tesla-MRT.

� Keine der Aussagen ist richtig.

� Nur Aussagen 2 und 4 sind richtig.

� Nur Aussagen 1 und 3 sind richtig.

� Nur Aussagen 1 und 5 sind richtig.

� Nur Aussagen 3 und 5 sind richtig.

Welche Aussage zur pharmakologischen Therapie der Epilepsie ist FALSCH? � Carbamazepin und Valproat sind sowohl zur Mono- als auch

zur Zusatztherapie bei Epilepsie zugelassen.

� Brivaracetam, Perampanel und Pregabalin sind ausschließlich zur Zusatztherapie bei fokaler Epilepsie zugelassen.

� Die „number needed to treat” für Antiepileptika liegt bei Pa-tienten mit schwer behandelbarer fokaler Epilepsie etwa bei 5 Patienten.

� Grundsätzlich eignen sich alle Antiepileptika sowohl zur Mo-no- als auch zur Zusatztherapie.

� Responderraten gängiger Antiepileptika liegen bei Patienten mit pharmakoresistenter Epilepsie im Durchschnitt bei 30 bis 35 Prozent.

Welche Aussage zu den genetischen Hintergründen von Epilepsien ist richtig? 1. 17 Prozent der epileptischen Enzephalopathien sind über ge-

netische Faktoren erklärbar. 2. Fünf Prozent der genetisch-generalisierten Epilepsien sind

eindeutig gesichert. 3. Die genetischen Hintergründe von nicht läsionellen fokalen

Epilepsien sind weitgehend unbekannt. 4. 32 Prozent aller genetisch-generalisierten Epilepsien sind

eindeutig gesichert. 5. 59 Prozent der epileptischen Enzephalopathien sind über ge-

netische Faktoren erklärbar.

� Keine der Aussagen ist richtig.

� Nur Aussagen 1, 2 und 3 sind richtig.

� Nur Aussagen 2 und 5 sind richtig.

� Nur Aussage 4 ist richtig.

� Nur Aussagen 4 und 5 sind richtig.