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kann kunst Erkenntnisse ermöglichen? Was unterscheidet ästhetische Erkenntnis von wissenschaftlicher Erkenntnis? die Frage nach dem Erkenntnischarakter von kunst stellt nicht nur ein zentrales Thema des Ästhetik-diskurses dar, sondern sie spielt – weit darüber hinaus – in aktuellen gesellschafts- und bildungspolitischen diskussionen eine wichtige rolle. das Anliegen dieses Buches besteht zunächst darin, in den aktuellen stand der erkenntnistheoretischen und ästhetischen diskussion einzuführen. die darauf aufbauende Analyse konkreter Beispiele aus unterschiedlichen kunstsparten dient der Entwicklung einer theorie ästhetischer transformation. diese zeigt, wie unter Verwendung ästhetischer Medien Erkenntnisse geschaffen werden können. das Buch richtet sich an kunstschaffende, kunstvermittler und kunstrezipienten, die die spezifischen Möglichkeiten der kunst und damit ihre gesellschaftliche Position genauer ergründen und verstehen wollen.
I SBN 3- 412- 20983- X
ISBN 978-3-412-20983-4 | www.Boehlau-Verlag.com
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UrsUla Brandstätter
ErkEnntnis durch
kunstTheorie und P raxis der ästhetischen Transformation
ErkEnntnis durch kunstTheorie und Praxis
der ästhetischen Transformation
von Ursula Brandstätter
2013
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Anne Bertier: F – Feuille. Aus: Anne Bertier: Dessine-moi une lettre.
Editions MeMo. O. O. 2004.
© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln WeimarUrsulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.
Satz: Greiner & Reichel Fotosatz, KölnDruck und Bindung: General Druckerei GmbH, Szeged
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem PapierPrinted in Hungary
ISBN 978-3-412-20983-4
Gedruckt mit Unterstützung der
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I. DenkenundErkennen
1. DenkenohneSprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 UrsusWehrli:DeSaintPhallesVolleyballaufräumen . . . . . . . . . . . . 15 MedialitätdesWahrnehmensundDenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 LogikendesDenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 ZeigenundSagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 VisuelleLogik–musikalischeLogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2. DenkeninÄhnlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 NorahLange:Kindheitshefte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 MimetischerWeltzugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 IdentischesversusNicht-Identisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 MimetischesVerstehen–Zeigen–analogesDenken . . . . . . . . . . 38 MetaphorischeErkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3. DenkeninoffenenNetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 KlausHuber:TenebraefürgroßesOrchester,Form-undTempoplan . 44 Intermedialitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 FreiräumedesDenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
II. KunstundErkenntnis
1. KunstundErkenntnisinderGeschichtederÄsthetik . . . . . 53 Baumgartenunddie„sinnlicheErkenntnis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Kantunddie„ästhetischeUrteilskraft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Hegelunddas„sinnlicheScheinenderIdee“ . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Nietzscheunddie„WahrheitalsIllusion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Adornounddie„mimetischeRationalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
2. KunstundWissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 ZurGeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Positionsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
3. ErkenntnisvonKunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 VerstehenvonKunstalsmimetischerNachvollzug . . . . . . . . . . . . 66 DasNicht-VerstehenvonKunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4. ErkenntnisdurchKunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 „Symptome“derästhetischenErkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 KunstalsForschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Mimesis,AnalogieundMetapheralsZentrum
ästhetischerErkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 ÄsthetischeErkenntnisberuhtaufmimetischemVerstehen . . 77 ÄsthetischeErkenntnisberuhtaufdemZeigen
undistmetaphorisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 ÄsthetischeErkenntnisistselbstbezüglich–unddamit
sinnlichundreflexiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805. ÜbergängeundTransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
III. ÄsthetischeTransformation
1. ZumBegriffsfeld„ransformation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2. ZurVielfaltästhetischerTransformationen . . . . . . . . . . . . . . 89
3. BeispieleästhetischerTransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . 92 TransformationzwischenZeigenundSagen AnneBertier:Dessine-moiunelettre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 KontextealsTransformatoren OskarNerlinger:StadtbahnvonBerlin–
LászlóMoholy-Nagy:Z.VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 TransformationdurchÜbertragung–Annäherung
undAbgrenzung LudwigvanBeethoven:Bagatelleop. 119/Nr.3 . . . . . . . . . . . . . . . 103 TransformationalsIrritation SashaWaltz/WolfgangRihm:JagdenundFormen . . . . . . . . . . . . . . 110
TransformationzwischenWissenschaftundKunst HeimoZobernig:KünstlerischeGestaltungdesVerbindungsgangs
zwischenUnteremBelvedereundOrangerieinWien . . . . . . . . . . . . 115
4. TheoriederästhetischenTransformation . . . . . . . . . . . . . . . 120 ÄsthetischeTransformationberuhtaufmetaphorischer
Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 ÄsthetischeTransformationvollziehtsichimSpannungsfeld
vonSich-ähnlich-MachenundSich-verschieden-Machen . . . . . . . 121 ÄsthetischeTransformationbedeutetKontextverschiebung . . . . . 122 ÄsthetischeTransformationberuhtaufAbstraktion . . . . . . . . . . . 123 ÄsthetischeTransformationverändertdieWahrnehmung . . . . . . . 124 ÄsthetischeTransformationführtzuästhetischerErkenntnis . . . . 125 ÄsthetischeTransformationschafftRäumederNicht-Identität . . . 126
IV. ÄsthetischeTransformationalsdidaktischesundkünstlerischesGestaltungsprinzip
StillePost!11Disziplinen,22Wochen,33Transformationen . . . . . 129
1. ÄsthetischeTransformationinpädagogischenKontexten . 132
2. Didaktisch-methodischeOrientierungen . . . . . . . . . . . . . . . 136 DurchbrechenvonWahrnehmungs-und
Handlungsautomatismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 ArbeitenmitderProjektionvonmedialgeprägten
Wahrnehmungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 ArbeitenimSpannungsfeldzwischenKomplexitätundReduktion 140 ArbeitenimWechselspielverschiedenerReflexionsformen . . . . . . 141
3. DieQualitätvonTransformationsprozessen:ZielsetzungenundIntentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
ÄsthetischeTransformationenfordernundförderndieSelbstreflexionundMedienreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
ÄsthetischeTransformationenermöglichendieArbeitmitverschiedenenDenk-undErkenntnisformen . . . . . . . . . . . . . 143
ÄsthetischeTransformationeneröffnenRäumeeinesdynamischenDazwischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
V. „DrinnenvorOrt“–ErkenntnisdurchdieKünste
DrinnenvorOrt.VierLandschaften–vierJahreszeiten–vierWege. 147
1. DasBuchalsGesamtkunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
2. VisuelleBildervonLandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Landkarten–NotationenundBildervonLandschaft . . . . . . . . . . 152 Bilder-Fotografien–imaginativesSehencontra
identifizierendesSehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
3. MusikalischeBildervonLandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 PartiturenzwischenTextundBild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Wahrnehmungserkenntnissezwischen„Da“undHier“ CathyvanEck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 ÄsthetischesErkennenals„Rauschen“–ManosTsangaris . . . . . . . 164 Landschaft(s-Erkenntnis)mitundohneWörter–JürgFrey . . . . . 168
4. LiterarischeBildervonLandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 VernetzteErkenntnis
ElfriedeJelinek:Wildes,grandiosesWasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 ImaginativeErkenntnis
UrsRichle:DieGeschichtedesTunnelsvonRümlingen . . . . . . . . . . . 177 VermittelteunmittelbareErkenntnis
PeterWeber:Duschkopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
5. Musikerkennen–zwischenWissenschaftundKunst . . . . . 184 EinwissenschaftlicherEssay–UrsPeterSchneider:
MusikalischeKonzepteimKopfundinderLandschaft . . . . . . . . . . 184 Einkünstlerisch-wissenschaftlichesHybrid
ThomasMeyer:LexikonderKlangimagination . . . . . . . . . . . . . . . . 185
6. ErkenntnisdurchdieKünste? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Vorwort
DieThematik„KunstundErkenntnis“wirdaktuellinunterschiedlichenZu-sammenhängenintensivdiskutiert .NichtnurdiephilosophischeDisziplinderÄsthetikbeschäftigtsichmitderFrage,inwiefernKunstErkenntnisseer-möglichenkann–derErkenntnischaraktervonKunstistdarüberhinausauchThemaderWissenschaftstheorieundkulturwissenschaftlicherTheorienzurEntwicklungdesWissensinderGesellschaft .BesondereBeachtungerfährtzurZeitdieZusammenarbeitvonKünstlernundWissenschaftlern,dieneue,fürdieGesellschaftrelevanteFormendesWissensgenerierensoll .UnterdemSchlagwortvon„KunstundWissenschaft“werdenProjektegefördert,diediejeweiligenBesonderheitenderbeidenSystemewechselseitignutzen .Kunstbe-anspruchtdamitimRahmenderGesellschafteineneigenständigenErkennt-nisstatus .
BlicktmanaufdieGeschichtederabendländischenKünste,sowirddeut-lich,dassdieseThemen-undFragestellungkeineswegsneuist:DerErkennt-nischaraktervonKunstwirdseitderAntikeimmerwiederdiskutiert .Mög-licheAntwortenaufdieFragenachderepistemischenFunktionvonKunstbewegensichdabeiimSpannungsfeldzwischendenPoleneinerrigorosenAb-lehnungihresErkenntnisstatuseinerseitsundderAnalyseihrerspezifischenepistemischenMöglichkeitenandererseits .DasvorliegendeBuchbeschäftigtsichmitderThematiksowohlaussystematischerwieauchaushistorischerPerspektive .
DassdieFragenachdemErkenntnischaraktervonKunstbereitsübereinelangeGeschichteverfügtundinunterschiedlichewissenschaftlicheDiszipli-neneingebettetist,zeigtsichimVorhandenseineineräußerstumfangreichenundvielfältigenLiteratur .EinAnliegendesBuchesbestehtdarin,denaktuel-lenStandderDiskussion–sowohlauserkenntnistheoretischerwieauchausästhetischerPerspektive–wiederzugeben .DieLeserinnenundLesererhalteneinenEinblickindievorhandeneLiteraturunddamitindieweitverzweigtenArgumentationsstränge .DerGangderÜberlegungennimmtbeierkenntnis-theoretischenFragenseinenAusgangundführtübereinenBlickindieGe-schichtederÄsthetikzumKerndesBuches,dieIdeederästhetischenTrans-formation .
DamitisteinvielfältigerPhänomenbereichangesprochen,dervonderbe-wusstenÜbertragungästhetischerIdeen(etwavoneinerkünstlerischenDis-ziplinineineandere)übermultimedialeKunstformen(indeneneintrans-formierenderAustausch zwischendenMedien stattfindet)bis zu aktuellenAnsätzenreicht,zwischenKunstundWissenschaftzuvermitteln .AnhandvonBeispielenausunterschiedlichenBereichenderKunstwirdeineTheorieder
10 | Vorwort
ästhetischenTransformationentfaltet .Sie soll gewissermaßenexemplarischaufzeigen, inwiefern auch ohne Sprache – unter Verwendung ästhetischerMedienundihrerspezifischenMöglichkeiten–Erkenntnissegeschaffenwer-denkönnen .ÄsthetischeTransformationwirdalsoalsModellfallästhetischerErkenntnisdargestelltundanalysiert .
Dernunfolgende–anderStrukturderKapitelorientierte–ÜberblicksolldieLeserinnenundLeserindenschrittweisenGangderÜberlegungeneinführen .
ImerstenKapitelgehtesumKlärungdererkenntnistheoretischenGrund-lagen .WährendnormalerweiseDenkenundErkennenandieMöglichkeitenderVerbalspracheunddiemitihrverknüpfteklassischeLogikgebundener-scheinen, wird hier der Versuch unternommen, verschiedene Logiken desDenkensaufzuzeigen,diejeweilsdurchdiebesondereMedialitätderZeichengeprägtsind,indenensichdasDenkenundErkennenmanifestiert .SokannmanebennichtnurvoneinersprachlichenLogiksprechen,sondernebensovon einer visuellenLogikoder auch von einermusikalischenLogik .DemDenkeninkausalenundschlussfolgerndenZusammenhängenwirdeinver-gleichendesDenkengegenübergestellt,dasBeziehungenzwischenDingenundPhänomenenüberdasMerkmalderÄhnlichkeitherstellt .DasGenerierenvonÄhnlichkeitenberuhtaufeinemspezifischenZugangzurWelt,deralsmimetischercharakterisiertwerdenkann .DasmimetischeVerstehen,indemdemZeigenunddemanalogenDenkeneinezentraleRollezukommt,bildetdieBasisfüreinespezifischeFormderErkenntnis,fürdiemetaphorischeEr-kenntnis .
AuchwennsichinderTheorieverschiedenemedialgeprägteFormendesDenkens und Erkennens voneinander unterscheiden lassen, so muss mansichdiePraxisdesDenkensundErkennensalseine„vermischte“vorstellen .SowohlWissenschaftlerwieKünstlerbedienensichdervielfältigenMöglich-keitenverschiedenerErkenntnisformen .Erstdasintermediale,„vermischte“Denken inoffenenNetzeneröffnet jeneFreiräumedesDenkens,dasneueErkenntnisseermöglicht .DasersteKapitelschließtalsomiteinerRelativie-rungdersystematischenUnterscheidungverschiedenerDenkformen–dieseRelativierungistallerdingsnuraufderBasisderzuvorvorgenommenenUn-terscheidungenmöglich .
NachKlärungderallgemeinenerkenntnistheoretischenGrundlagenwid-metsichdaszweiteKapitelexplizitderThematik„KunstundErkenntnis“ .EinBlickaufdieinzwischenüberzweihundertfünfzigjährigeGeschichtederÄs-thetikzeigt,dasssichdieFragenachdenErkenntnismöglichkeitenvonKunstwieeinroterFadendurchdenästhetischenDiskurszieht .AlexanderGottliebBaumgartensIdeeder„sinnlichenErkenntnis“findetsichimDenkenvieler
Vorwort | 11
nachfolgendenPhilosophenundKunsttheoretikerwieder: inKantsTheorieder„ästhetischenUrteilskraft“ebensowieinHegels„sinnlichemScheinenderIdee“,inNietzschesenthüllendenÜberlegungenzumIllusionscharakterderWahrheitwieinAdornosVersuchen,dieandereRationalitätderKunstalsmi-metischezucharakterisieren .Washieraneinigenwenigen,ausgewähltenSta-tionendeshistorischenÄsthetik-Diskursesaufgezeigtwird,spiegeltsich–aufeineranderenEbene–ingesellschaftlichenPositionskämpfenzwischendenseitderNeuzeit sichzunehmendausdifferenzierendenSystemenderKunstundderWissenschaft .WieverhaltensichdieKünsteunddieWissenschaftenzueinander?WemgebührtineinerGesellschaftdererstePlatz?VerstehensiesichalsGegenweltenoderalseinanderergänzendeFormenderErkenntnisundGestaltungderWelt?ImZugederGeschichtewurdenimmerwiederan-dereAntwortenaufdiesegrundsätzlichenFragengefunden–inHinblickaufaktuellePositionsbestimmungenbildetdiePaletteanAntwortmöglichkeitengewissermaßendieHintergrundfolie .
WennvonKunstundErkenntnisdieRedeist,müssenimmerzweiFormenderErkenntnisvoneinanderunterschiedenwerden:dieErkenntnisvonKunstunddieErkenntnisdurchKunst .Während imerstenFall derGegenstandderErkenntnisdieKunstselbstistundalsspezifischerGegenstandnatürlichspezifischeFormenderErkenntnisnachsichzieht,gehenimzweitenFalldieMöglichkeitenderErkenntnisüberdenGegenstandKunsthinaus–KunstkannindiesemZusammenhangalsMittelderErkenntnisbeschriebenwer-den .InwiefernnununterscheidetsichdieästhetischeErkenntnisvonderwis-senschaftlichenErkenntnis?WorinliegenihreBesonderheiten,aberauchihreGrenzen?AndieserStelleerweisensichwiederumMimesisundMetapheralsSchlüsselbegriffezumVerständnisderSpezifikaästhetischenErkennens .DasGeheimnisderästhetischenErkenntnisliegtimPhänomenderÄhnlichkeitbegründet:EsbedingteinespezifischeFormderGenerierung,aberauchderdarstellendenVermittlungvonErkenntnissen .
DasdritteKapitelwidmetsichderAnalyseundTheorieästhetischerTrans-formationen .AngesichtsderVielfaltanBedeutungen,diedeminsovielenunterschiedlichen Bereichen verwendeten Begriff der Transformation zu-kommen,musseineBegriffsspezifikationvorgenommenwerden .ImZentrumdernachfolgendenanalytischenÜberlegungenstehenkünstlerischeTransfor-mationen,indenenKünstlerbewussteinenzunächst„fremden“Phänomen-bereichalsAusgangspunktfüreineÜbertragunginihreigeneskünstlerischesDenkenundGestaltennehmen .DieÜbertragungkann sowohl innerhalbeinesMediumsstattfinden(etwawennderfotografischeDarstellungsstil ineinenmalerischenübersetztwird) oder zwischendenMedien (wennbild-nerischeGestaltungsideeninMusikübertragenwerdenbzw .umgekehrt);sie
12 | Vorwort
kannbeimMaterialihrenAusgangnehmen(etwainderNachahmungvonObstdurchPorzellan)oder inStrukturideen; siekommt inkünstlerischenHybridformen (in Gesamtkunstwerken, Installationen und Performances)ebensozumTragenwieindenVersuchen,wissenschaftlicheErkenntnisseineinkünstlerischesMediumzuübertragen .AngesichtsderunüberschaubarenVielfaltanMöglichkeiten,verzichteichaufeineSystematikderästhetischenTransformationen . Stattdessen analysiere ich exemplarisch Beispiele – siesollen das Spektrum unterschiedlicher Intentionen von Transformationenöffnen .DaraufaufbauendentwickleicheineTheoriederästhetischenTrans-formation .InFormvonThesenbeschreibeichgrundlegendeMechanismenundWirkweisen,wobeiichaufdiezuvorentwickelteTheoriederästhetischenErkenntnis Bezug nehme . Ein zentrales Anliegen der Theorie ästhetischerTransformationbestehtdarin, ihr innovativesPotenzial freizulegen:Ästhe-tischeTransformationenberuhenaufmetaphorischerBezugnahme,siever-änderndieWahrnehmungundführenzuästhetischerErkenntnis .InmeinemtheoretischenAnsatz fungiertdieästhetischeTransformationalsModellfallästhetischerErkenntnis .ÄsthetischeTransformationenveranschaulichenaufexemplarischeWeisediespezifischen,sichinästhetischenMedienvollziehen-denMöglichkeitenvonErkenntnis .
DasvierteKapitelwidmetsichgrundsätzlichenpädagogischenFragestellun-gen .InwieferneignensichästhetischeTransformationeninbesondererWeisealsdidaktischeundkünstlerischeGestaltungsprinzipien?WiewirkensiesichaufdenkünstlerischenSchaffensprozessundaufdieRezeptionvonKunstaus?ÄsthetischeTransformationenkönnenindreifacherWeiseinpädagogischenKontexten,diedieVermittlungvonKunstebensowiedieLehrevonKunstumfassen,fruchtbargemachtwerden:inderKunstproduktion,inderKunst-rezeptionundalsThemavonUnterricht .
Wie sindVermittlungssituationen zugestalten,damitdie erkenntnisför-derndenKräfteästhetischerTransformationenoptimalgenutztwerdenkön-nen?UndwasmachtdiebesondereQualitätvonTransformationsprozessenaus? Dieses Kapitel schließt mit Thesen zu möglichen Zielsetzungen undIntentionenästhetischerTransformationen .Diedarinbehandeltenpädago-gischenFragestellungenkönnenineinemerweitertenSinnaufgrundsätzlicheFragenderProduktionundRezeptionvonKunstübertragenundbezogenwerden .DennwashierinBezugaufdieVermittlungvonKunstimKontextvonUnterrichtthematisiertwird,giltingewisserWeisefürjedeArtderRe-zeptionvonkünstlerischenPhänomenen,insofernjedeRezeption(undauchProduktion)aufVermittlung(imweitenSinndesWortes)beruht .
DasletzteKapitelschließlichistderexemplarischenVeranschaulichungdertheoretischenÜberlegungendesBuchesgewidmet:WelcheErkenntnissever-
Vorwort | 13
mittelnunsdieKünste?DasanlässlicheinesFestivalsfürzeitgenössischeex-perimentelleMusikherausgegebenemultimediale,kunstspartenübergreifendeBuch„DrinnenvorOrt .VierLandschaften–vierJahreszeiten–vierWege“dientalsAusgangspunkt,umdenvielfältigenErkenntnismöglichkeitennach-zuspüren,dieunsMusik,LiteraturundBilderanbieten .Gleichzeitig stelltdiesesFestival-Buch einengelungenenVersuchdar,wissenschaftlichesundkünstlerischesDenkenmiteinanderinDialogzubringen .
DashierDargelegtespanntalsoeinenweitenBogen:vonallgemeinenFra-genderErkenntnistheorie zuFragenderÄsthetik,vonderAnalysekünst-lerischer Transformationsphänomene zur Entwicklung einer Theorie derTransformation,vonFragenzurWirkungundRezeptionästhetischerTrans-formationenzupädagogischenFragestellungen .UmdietheoretischenÜber-legungenzuveranschaulichen(umalsodasSagendurchdasZeigenzuer-gänzen),sindeineFüllekonkreterBeispieleindenTextintegriert .Sieent-stammenunterschiedlichenkünstlerischenDisziplinen:derBildendenKunst,derLiteratur,derMusik,demkünstlerischgestaltetenBilderbuch,demTanz-theater .AufdieseWeiseeröffnensichfürdieLeserinnenundLeservielfältigeAnknüpfungsmöglichkeitenzwischendentheoretischenÜberlegungenunddeneigenenästhetischenErfahrungen .ÄsthetischeTheorieundästhetischePraxiswerdenineinVerhältnisdeswechselseitigenAustauschesgebracht .
ZieldiesesBuchesistesalso,diesystematischenundhistorischenDimensio-nenderThematik„KunstundErkenntnis“zuentfalten,dieaktuelleDiskus-sionineinigenentscheidendenEckpunktenwiederzugebenundPerspektivenaufzuzeigen,wieamBeispielästhetischerTransformationendieMöglichkeitendesErkennensvonKunstunddurchKunstweiterspezifiziertwerdenkönnen .
AmEndedesVorworteswillichdenDanknichtvergessen .ErrichtetsichvorallemanmeinenMannFriedrichC .Heller,dermichimmerwiederermu-tigt–trotzallerAnforderungendesUniversitätsalltags–meinetheoretischenInteressenkonsequentzuverfolgen .
Wien/Berlin,Februar2012 UrsulaBrandstätter
I. DenkenundErkennen
1. DenkenohneSprache
Ursus Wehrli: De Saint Phalles Volleyball aufräumen 1
Ausgangspunkt ist das Bild „Volleyball“ von Niki de Saint Phalle aus dem Jahr 1993: Ein roter Frauenkörper, bekleidet mit einem bunten Badeanzug, wirft einen Ball in die Höhe. Ursus Wehrlis Transformation des Bildes zerlegt es in seine Einzelteile und ordnet diese neu. Die roten Gliedmaßen werden aufeinander geschichtet, alle runden schwarz-weißen Teile übereinander gestapelt, die bunten Elemente des Badeanzugs werden nach Farben ge-ordnet in hohen Türmen präsentiert – der Ball erhält einen eigenen Platz in der Mitte des transformierten Bildes. Was passiert bei diesem Vorgang des „Aufräumens“?
Die Elemente des Bildes von Niki de Saint Phalle, die als „abbildende Zeichen“ auf den beim Ballspiel bewegten Frauenkörper verweisen, werden von ihrer bedeutungstragenden Funktion befreit und in einen neuen, formalen Sinnzusammenhang gebracht. Leitprinzip für die Neuordnung des Bildes sind die Farben der Bildelemente, ihre Größe und ihre Formen. Die formale Analyse des Bildes ermöglicht einen neuen Blick auf das Ausgangsbild. Nach einem ersten Aha-Erlebnis, in dem dem Betrachter die Transformationsidee klar wird, wandert der Blick zwischen den beiden Bildern hin und her. Was zunächst als rein formale Analyse erscheint, entpuppt sich bei mehrmaligem Hin- und Hersehen als Spiel mit verschiedenen Bedeutungsebenen des Bildes. Die bedeutungsverweisende Funktion der Bildelemente wird in der trans-formierten Fassung keineswegs völlig negiert. So bleibt etwa der massige Charakter des Frauenkörpers in den aufeinandergeschichteten Gliedmaßen durchaus erhalten; möglicherweise wird die körperliche Präsenz gerade durch die Gewichtung der unterschiedlichen Farb- und Formteile, die einen direkten Vergleich der „Massen“ erlaubt, noch weiter verstärkt. Die aufeinander ge-
1 Wehrli 2002 .Das–durchausmitWitz gestaltete–Buch „Kunst aufräumen“ enthälteineFülleunterschiedlicherBeispiele,indenenmöglichevisuelleOrdnungssystemevor-geführtwerden .Ausgangspunktistjeweilsein–zumeistbekanntes–BildausderKunst-geschichte,dasineinzelneElementezerlegtwird,umanschließendnachübergeordnetenGesichtspunktenwiederneuzusammengesetztzuwerden .
UrsUla Brandstätter
GrUndfraGen der ästhetikBild – MUsik – sprache – körper
(UTB für WissenschafT 3084 s)
2008. 200 s. Br.
isBn 978-3-8252-3084-5
Die Vielfalt der Erscheinungsformen von Kunst provoziert Fragen nach dem Wesen und den Besonderheiten der Künste: Was zeichnet Kunst gegenüber anderen Umgangsweisen mit der Welt und mit uns selbst aus? Was unterscheidet den künstlerischen Zugang zur Wirklichkeit vom wis-senschaftlichen? Aus welchen unterschiedlichen Perspektiven kann Kunst beschrieben und verstanden werden? Wie unterscheiden sich die verschie-denen Kunstformen voneinander? Welche Rolle spielen die Medien, die in künstlerischen Arbeiten zum Einsatz kommen? Wie beeinflussen die ver-schiedenen künstlerischen Ausdrucks- und Darstellungsmedien einander wechselseitig? Eine Einführung in diese Grundfragen der Ästhetik aus Perspektive der Kunstwissenschaften bietet dieses Studienbuch. Verständ-lich geschrieben, gibt es einen Überblick über Themen und Frage stellungen, mit denen sich die Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin befasst und führt in die aktuelle ästhetische Diskussion ein.
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien
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kann kunst Erkenntnisse ermöglichen? Was unterscheidet ästhetische Erkenntnis von wissenschaftlicher Erkenntnis? die Frage nach dem Erkenntnischarakter von kunst stellt nicht nur ein zentrales Thema des Ästhetik-diskurses dar, sondern sie spielt – weit darüber hinaus – in aktuellen gesellschafts- und bildungspolitischen diskussionen eine wichtige rolle. das Anliegen dieses Buches besteht zunächst darin, in den aktuellen stand der erkenntnistheoretischen und ästhetischen diskussion einzuführen. die darauf aufbauende Analyse konkreter Beispiele aus unterschiedlichen kunstsparten dient der Entwicklung einer theorie ästhetischer transformation. diese zeigt, wie unter Verwendung ästhetischer Medien Erkenntnisse geschaffen werden können. das Buch richtet sich an kunstschaffende, kunstvermittler und kunstrezipienten, die die spezifischen Möglichkeiten der kunst und damit ihre gesellschaftliche Position genauer ergründen und verstehen wollen.
I SBN 3- 412- 20983- X
ISBN 978-3-412-20983-4 | www.Boehlau-Verlag.com
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UrsUla Brandstätter
ErkEnntnis durch
kunstTheorie und P raxis der ästhetischen Transformation