Upload
others
View
0
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
EU und Israel
zwei aktuelle Herausforderungen im
internationalen Recht
3
Der Fall Gaumlfgen
Rechtsschutz und
Verfahrensgarantien im Rahmen
der EMRK
von Sarah Baukelmann
1 Von der Thora bis zur Knesset
Die Entwicklung des juumldischen
Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses und
dessen Einfluss auf das israelische
Recht
von Till Gawlyta
2 Conditional consent as a valid
legal ground for data
processing - a misbelief
von Sonja Buumlhler
Nr 012019
IMPRESSUM Herausgeber (Verantwortlich nach sect 5 TMG) Freilaw eV Chefredaktion Sarah Baukelmann und Joeumll Stumpp Kontakt Freilaw eV Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg Werthmannstr 4 Dekanat der Rechtswissenschaftlichen Fakultaumlt zHd Freilaw eV D ndash 79085 Freiburg E-Mail redaktionfreilawde Cover Sarah Baukelmann ISSN 1865-0015
Urheberrechtliche Hinweise Fuumlr den Inhalt der Artikel sind allein die Autoren verantwortlich Die Herausgeber uumlberpruumlfen die Texte koumlnnen allerdings keine Garantie dafuumlr uumlbernehmen dass durch die Artikel keinerlei Urheber- oder anderweitige Nutzungsrechte verletzt werden Sollte dies der Fall sein so ist dies nicht beabsichtigt Wir bitten Sie deshalb uns umgehend zu informieren Die Publikation der Artikel erfolgt exklusiv durch Freilaw Eine unberechtigte oumlffentliche Verwendung der Artikel ist nicht gestattet Auf Anfrage sind wir allerdings gerne bereit hiervon Ausnahmen zu machen
Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 III
Freilaw 12019
Thema EU und Israel ndash zwei aktuelle Herausforderungen im internationalen Recht
Till Gawlyta Von der Thora bis zur Knesset- Das Menschenwuumlrdeverstaumlndis Israels und dessen Einfluss auf das israelische Recht 1 Lucie Schultz Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verlegung der US- Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts 10
Soma Hegedős Die Problematik der europaumlischen Demokratie und die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGH 17
Datenschutzrecht
Sonja Buumlhler Conditional consent as a valid legal ground for data processing - a misbelief 25
Rechtsschutz im Rahmen der EMRK
Sarah Baukelmann
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo ndash Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK 32
Strafprozessrecht
Samuel Hahn
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen 40
Rezensionen
Tino Haupt Familienrecht 48 Stefan Schick Einfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauch 50
Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 IV
Vorwort der Chefredaktion
Liebe Leserinnen und Leser
Recht ist nie stetig sondern stets im Wandel Sichtbar wird dies immer wieder dann wenn
Gesetze oder rechtlich bedeutende Handlungen auf gesellschaftliche Kritik stoszligen und
Kontroversen ausloumlsen Eine solche Entwicklung lieszlig und laumlsst sich in der letzten Zeit etwa in
Israel und ganz besonders in der Europaumlischen Union feststellen
So moumlchten wir in dieser Ausgabe den ein oder anderen Aspekt juumlngerer Entwicklungen im
Recht oder in seiner Anwendung beleuchten
Zunaumlchst koumlnnen Sie dazu einen Artikel zum bdquoMenschenwuumlrdeverstaumlndnis Israels und dessen
Entwicklung auf das israelische Rechtldquo lesen Sodann wird der politisch brisante Aspekt der
bdquoAnerkennung Jerusalems und der Verlegung der US-Botschaft im Rahmen des Voumllkerrechtsldquo
vorgestellt
Dem schlieszligen sich zu europarechtlichen Fragestellungen ein Artikel zur bdquoProblematik der
europaumlischen Demokratie und der rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGHldquo sowie ein Artikel zu
bdquoConditional consent as a valid legal ground for data processingldquo innerhalb der DSGVO an
Ebenfalls an das Europarecht angelehnt erscheint die Fallbesprechung der Causa Magnus
Gaumlfgens die im Rahmen des Rechtsschutzes und der Verfahrensgarantien der EMRK
beleuchtet wird Zum anderen erhalten Sie durch die Abhandlung zum bdquoSchutz des Kernbereichs
der Persoumlnlichkeit im Rahmen strafprozessualer Ermittlungenldquo einen Einblick in bedeutende
Problemfelder des Strafprozessrechts
Abgerundet wird auch diese Ausgabe durch zwei Rezensionen zum einen uumlber das Lehrbuch
bdquoFamilienrechtldquo von Nina Dethloff und zum anderen uumlber die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren
Gebrauchldquo von Alexander Aichele Jakob Meier Joachim Renzikowski und Sebastian Simmert
Wir wuumlnschen Ihnen viel Spaszlig beim Lesen
Ihre Chefredaktion von Freilaw
(Sarah Baukelmann) (Joeumll Stumpp)
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
1
Von der Torah bis zur Knesset ndash Uumlber die Entwicklung des juumldischen
Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses und dessen Einfluss auf das
israelische Recht
-
Till Gawlyta
A Einleitung
Der Artikel beruht auf einer Seminararbeit mit dem Titel bdquoRechtsphilosophische Grundlagen der Menschenwuumlrde-diskussion - Die Menschenwuumlrde in Israel als Ausdruck europaumlischer Rechtsrezeption oder eigener religioumlser Tra-ditionldquo die im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher (Universitaumlt Freiburg) eingereicht wurde Be-handelt werden die Entwicklung der Menschenwuumlrdega-rantie in Israel und ihre Stellung innerhalb der israelischen Rechtsordnung Dazu erfolgt eine Darstellung der Genese des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses sowie wegweisender Urteile des obersten Gerichtshofs seit der Einfuumlhrung des Grundrechts auf Menschenwuumlrde im Jahr 1992 Der Arti-kel beleuchtet dabei einerseits die verbluumlffende Fort-schrittlichkeit des antiken juumldischen Menschenwuumlrdedis-kurses und andererseits das Ringen von religioumlsem und saumlkularem Wuumlrdeverstaumlndnis um die Vorherrschaft in der Gesetzgebung und Rechtsprechung Israels
B Die Entwicklung des juumldischen
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Der heutige Wortlaut fuumlr Menschenwuumlrde im Hebraumlischen
Kvod Harsquoadam ist erst seit der Verbreitung der Menschenwuumlrde
in europaumlischen Rechtsordnungen waumlhrend der zweiten Haumllfte
des 20 Jahrhunderts gelaumlufig den Ausgangspunkt fuumlr die Be-
zeichnung einer Wuumlrde des Menschen bildet im Judentum das
in der Bibel haumlufig vorkommende Wort Kavod das urspruumlnglich
mehrere Bedeutungen hatte zum einen bdquoWuumlrdeldquo und (soziale)
bdquoEhreldquo im Sinne eines gesellschaftlichen Status aumlhnlich der rouml-
mischen Dignitas zum anderen die Gegenwart Gottes1 Da jeder
Mensch nach dem in Genesis angelegten Verstaumlndnis ein Eben-
bild Gottes im Hebraumlischen Tzelem Elohim ist und durch jeden
Menschen Gott gegenwaumlrtig ist kommt auch jedem Menschen
Kavod zu2 Ein anderer vor allem in klassischen juumldischen
Rechtstexten gelaumlufiger Begriff fuumlr Wuumlrde ist Kvod Habriyot
der sich mit bdquoEhreWuumlrde der Menschenldquo uumlbersetzen laumlsst Die-
ser Begriff kann fuumlr einen dem Menschen innewohnenden Wert
1 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 2 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667f 3 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 4 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 669
stehen ist jedoch auch mit einer Wuumlrde im Sinne der Dignitas
konnotiert3 Der Begriff Kvod Habriyot ist im Plural formuliert
und beschreibt daher in weiten Teilen die Wuumlrde des Menschen
als integralen Teil eines Kollektivs4
I Das Wuumlrdeverstaumlndnis der Torah
Der erste und bedeutendste Teil der juumldischen Bibel ist die
Torah die aus den fuumlnf Buumlchern Mose besteht und dem Chris-
tentum als das Alte Testament bekannt ist Die Torah ist die aumll-
teste und bedeutendste schriftliche Quelle des Judentums und
stellt den Ausgangs- und Bezugspunkt saumlmtlicher folgender
Schriften des Judentums dar Die Torah enthaumllt Rechtstexte die
Halakhah die den aumlltesten Teil des kanonischen Rechts des Ju-
dentums bilden
1 Ebenbildlichkeit als Demokratisierung der Bindung
zu Gott
Vergleicht man das in Genesis angelegte Verstaumlndnis der Eben-
bildlichkeit Tzelem Elohim der Menschen mit Gott mit der zum
Zeitpunkt der Entstehung der fuumlnf Buumlcher Mose im Nahen Osten
vorherrschenden Vorstellung von der Bindung zwischen Gott-
heiten und Menschen erscheint das juumldische Verstaumlndnis als
sehr fortschrittlich In benachbarten Kulturen wie in Mesopota-
nien und Aumlgypten ging man davon aus dass lediglich der Herr-
scher sowie dessen Nachkommenschaft Ebenbilder und Kinder
des Goumlttlichen sein koumlnnen5 Das juumldische Verstaumlndnis das al-
len Menschen durch ihre Abstammung von Adam und Eva eine
Ebenbildlichkeit mit Gott zuspricht fuumlhrte somit zu einer De-
mokratisierung der Bindung zwischen dem Goumlttlichen und dem
Menschlichen6 Nicht nur die in benachbarten Kulturen den
Herrschern vorbehaltene Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
sondern auch der damit einhergehende Titel bdquoSohn Gottesldquo
wurde im Judentum der gesamten Bevoumllkerung uumlbertragen7
5 Y Lorberbaum Disempowered King ndash Monarchy in Classical Jewish Lit-
erature 2011 S 145f 6 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137 7 A Boumlckler Die Tora nach der Uumlbersetzung von Moses Mendelssohn 2014
Deuteronomium Kap 14 Vers 1
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 2
Auch wenn daraus noch kein normativer Anspruch folgte mar-
kiert der Gedanke des Tzelem Elohim die Geburt des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses im Judentum
Als Folge dieser Demokratisierung der Bindung zwischen
dem Menschen und dem Goumlttlichen konnten Herrschaftsanspruuml-
che in der juumldischen Gesellschaft nicht lediglich auf eine exklu-
sive Bindung der Herrschenden zu Gott gestuumltzt werden son-
dern es bedurfte weiterer Legitimation8 Der Anspruch dass ein
Herrscher daher auch ein gottgefaumllliges Handeln an den Tag le-
gen muss um sich seiner Stellung als wuumlrdig zu erweisen ist an
einem in der Torah formulierten Katalog von koumlniglichen bdquoHerr-
schafts- und Verhaltensregelnldquo9 abzulesen Aus diesen Vor-
schriften ergab sich fuumlr die Bevoumllkerung kein der modernen
Menschenwuumlrde entsprechender Anspruch auf Schutz vor staat-
licher Willkuumlr aber eine erste Beschraumlnkung koumlniglichen Han-
delns
2 Die Todesstrafe als Ausdruck eines extrinsischen
Werts des Menschen
Bevor sich der Talmud im Judentum durchsetzte und den Rege-
lungsgehalt der Torah ergaumlnzte war die Todesstrafe im alten Is-
rael wie auch in allen anderen Kulturen des Nahen Ostens eine
etablierte Praxis10 Als Grundlage des biblischen Strafrechts und
insbesondere der Todesstrafe im Judentum wird die Textstelle
angesehen in der es heiszligt bdquoWer Menschenblut vergieszligt dessen
Blut wird durch Menschen vergossen Denn Als Abbild Gottes
hat er den Menschen gemachtldquo11 Dies ist ein Ausdruck des fruuml-
hen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ndash der einem jeden Men-
schen innewohnenden Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
wurde ein universeller Wert beigemessen Es wurden keine Ab-
stufungen nach gesellschaftlichem Rang vorgenommen son-
dern jede Toumltungshandlung wurde grundsaumltzlich als gleich ver-
werflich angesehen auf die Person des Getoumlteten kam es zu-
naumlchst nicht an Gleichzeitig wurde der Grad der Verwerflich-
keit einer Toumltungshandlung houmlchstmoumlglich angesetzt da nur die
Anwendung der verwerflichen Handlung selbst auf den Taumlter als
adaumlquate Strafe angesehen wurde Die darin liegende Wertschaumlt-
zung der bdquoHeiligkeit des menschlichen Lebensldquo ist Ausdruck ei-
nes Wuumlrdeverstaumlndnisses das den Wert des Menschen durch
sein goumlttliches Element begruumlndet der Wert des Menschen ist
also nicht in- sondern extrinsisch12
3 Gebote und Verbote als Ausdruck des
8 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 9 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 17 Vers 16ff 10 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137f 11 A Boumlckler Die Tora 2014 Genesis Kap 9 Vers 6 12 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 673 13 A Boumlckler Die Tora Exodus Kap 20 Verse 2-17 Deuteronomium Kap
5 Verse 6-21 14 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext ndash Geschichten ndash Erscheinungs-
formen ndash Neuere Entwicklungen 2013 79 81
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Neben der in der Ebenbildlichkeit begruumlndeten Wuumlrde finden
sich in der Torah Gebote und Verbote die auf vergleichbare Art
Ausdruck des Wuumlrdeverstaumlndnisses des Tzelem Elohim wie
auch die modernen Menschenrechte Ausfluss des modernen
Wuumlrdeverstaumlndnisses sind Beispielsweise erfassen die Zehn
Gebote die Unverletzlichkeit von Leben Familie und Eigen-
tum13 Ansaumltze sozialer Rechte finden sich zum Beispiel in den
an benachbarten Kulturen gemessen fortschrittlichen Schutz-
rechten fuumlr Sklaven welche die Sabbatruhe die Freilassung
nach Ablauf von sieben Dienstjahren sowie Schutz vor Koumlrper-
verletzungen garantierten14 Auch die Ausweitung der Naumlchs-
tenliebe auf Fremde die sich aus den eigenen Erfahrungen der
Juden als Minderheit in Aumlgypten speiste wurde vorgeschrie-
ben15 und daraus ein Folterverbot hergeleitet16 Zudem ist ein
Asylrecht fuumlr zu Unrecht Verfolgte in der Torah angelegt17
Auch ein Andauern der Wuumlrde uumlber den Tod hinweg laumlsst sich
durch das eine Entwertung der Ebenbildlichkeit verhindernde
Verbot in Deuteronomium 2122 Gehaumlngte am jeweiligen
Baum zu belassen und nicht unverzuumlglich zu begraben herlei-
ten18
4 Universalitaumlt und Grenzen der Wuumlrde
Mitunter war der Kreis der durch die biblischen Vorschriften ge-
schuumltzten Personen jedoch auch beschraumlnkt Laut der Torah soll
beispielsweise alle sieben Jahre Schuldnern ein Schuldenerlass
gewaumlhrt werden19
und es soll davon abgesehen werden Zinsen
fuumlr verliehenes Geld zu erheben20
Die beiden letztgenannten
Regeln dienen der Verhinderung von extremer Armut und ent-
sprechen somit dem modernen Anspruch der Menschenwuumlrde
dass ein humanitaumlrer Mindeststandard zu wahren ist jedoch gel-
ten sie im Gegensatz zur heutigen Menschenwuumlrde begrenzt
naumlmlich nicht im Umgang mit Auslaumlndern21
Ebenso verhaumllt es
sich mit der Todesstrafe bei Toumltungsdelikten die nur Anwen-
dung finden sollte wenn ein Mitbuumlrger Opfer der Straftat
wurde22
An beiden Beispielen zeigt sich dass Teile des in der
Torah dargelegten Wuumlrdeverstaumlndnisses nur fuumlr Mitglieder der
eigenen Glaubensgemeinschaft gelten sollen
Somit ergeben sich die Fragen wie universell das Wuumlrdever-
staumlndnis der Torah ist und wie stark es mit der modernen Men-
schenwuumlrde vergleichbar ist Nach moderner Lesart sind insbe-
sondere vor dem Hintergrund verschiedener Schutzrechte fuumlr
Minderheiten und Verfolgte alle jene Gebote und Verbote die
niemanden explizit von ihrem Schutz ausschlieszligen universell
15 A Boumlckler Die Tora 2014 Leviticus Kap 19 Vers 33f 16 K Bland The Muslim World Journal 103 (2013) 199 201 17 A Boumlckler Die Tora 2014 Numeri Kap 35 Verse 22-25 18 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667 19 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 1f 20 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 23 Vers 20f 21 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 3 Kap 23 Vers
22 22 A Boumlckler Die Tora 2014 Exodus Kap 21 Vers 14
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 3
guumlltig und somit auch das durch sie transportierte Wuumlrdekon-
zept Fruumlhe juumldische Gelehrte haben diese Position jedoch groumlszlig-
tenteils nicht eingenommen23 Somit fehlt es dem biblischen
Wuumlrdekonzept im Vergleich mit dem modernen Wuumlrdebegriff
trotz des Grundgedankens der universellen Ebenbildlichkeit und
der auf dem Konzept der Naumlchstenliebe basierenden Rechte der
Minderheiten an einem stringenten klar formulierten Gleich-
heitsgedanken der einen normativen Anspruch auf grundsaumltzli-
che Gleichbehandlung begruumlndet Jedoch eroumlffnet die in den
meisten Faumlllen unklare Formulierung des Adressatenkreises der
biblischen Regeln die Moumlglichkeit das biblische Wuumlrdekonzept
nach modernen Standards auszulegen
II Entwicklung des Wuumlrdeverstaumlndnisses im Talmud
Neben der Torah wurde das Judentum umfangreich vom Tal-
mud einer Sammlung von Kommentierungen Analysen und
Dialogen fruumlher Rabbiner die die Themen der Torah behandeln
gepraumlgt bdquoDerldquo Talmud ist kein einheitliches Werk sondern es
bestehen zwei inhaltlich verschiedene Versionen der weitaus
bedeutendere und verbreitetere Babylonische Talmud und der
weniger strenge Jerusalemer bzw Palaumlstinische Talmud Beide
Werke entstanden in der Zeit nach der Zerstoumlrung Jerusalems
durch die Roumlmer ab ca 70 n Chr Wie auch die Torah enthaumllt
der Talmud Halakhah-Abschnitte die Teil des kanonischen
Rechts des Judentums sind Mit der Entwicklung des Talmud
kam es zu einer Losloumlsung vom reinen Wortlaut der Torah Dies
geschah im Zuge vielfaumlltiger Analysen Kommentierungen und
Auslegungen der Torah durch Rabbiner die mitunter auch
Rechtspraxen entwickelten die dem Wortlaut der Torah entge-
genstehen24
1 Priorisierung der Wuumlrde gegenuumlber biblischen
Vorschriften
In der Torah und im Babylonischen Talmud wurde die Befol-
gung biblischer Vorschriften noch konsequent uumlber die Wuumlrde
des Einzelnen gestellt Im Jerusalemer Talmud kam hingegen
erstmals ein anderer Ansatz zum Tragen
Beispielhaft ist die Frage ob das Umfeld einer sich in der
Oumlffentlichkeit befindlichen Person uumlber die sich herausstellt
dass sie ein Gewand das aus einem nach der biblischen Kleider-
ordnung verbotenen Stoff besteht traumlgt diese Person unverzuumlg-
lich zum Ablegen des Gewands bewegen muss Der neue Ansatz
einiger Stimmen des Jerusalemer Talmud bestand darin dass die
Befolgung der biblischen Gebote also das Ablegen des verbo-
tenen Gewandes herausgezoumlgert werden darf bis sich der Trauml-
ger nicht mehr in der Oumlffentlichkeit befindet damit eine oumlffent-
liche Erniedrigung des Traumlgers und somit eine Verletzung seiner
Wuumlrde (Kvod Habriot) und der Gesellschaft vermieden wird
Dieser Schutz der Wuumlrde entgegen den biblischen Vorschriften
23 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1104f 24 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1106f 25 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671f
sollte nicht nur die Vermeidung oumlffentlicher Erniedrigung um-
fassen sondern auch auf die Vermeidung geringerer Beschauml-
mung einer Person ausstrahlen25
Bezeichnend sind auch die in der Gemara dem zweiten Teil
des Talmud dargelegten Uumlberlegungen von Rabinern zur wuumlr-
devollen Vollstreckung der Todesstrafe bei Frauen Eine im ge-
samten Nahen Osten verbreitete Methode die Todesstrafe zu
vollstrecken war die Steinigung Maumlnner wurden grundsaumltzlich
nackt gesteinigt Diese Praxis wurde als wuumlrdevoll angesehen
da Bekleidung die Wurfgeschosse abfedern kann und somit den
mit koumlrperlichem Leiden erfuumlllten Zeitraum bis zum Eintreten
des Todes verlaumlngern kann In Bezug auf Frauen ergab sich den
Rabbinern das Problem dass sich nach ihrem Verstaumlndnis
Frauen im Gegensatz zu Maumlnnern bloszligstellt und erniedrigt fuumlh-
len wenn man sie verpflichtet sich in der Oumlffentlichkeit zu ent-
kleiden eine bekleidet gesteinigte Frau jedoch mehr Schmerzen
erleiden muumlsse Die Loumlsung sah daher vor Frauen in den Koumlrper
bedeckenden aber duumlnnen und daher moumlglichst gering abfe-
dernden Gewaumlndern zu steinigen26
In beiden Beispielen wurden im Zuge einer Abwaumlgung bibli-
sche Vorschriften zugunsten der Wuumlrde des Menschen be-
schraumlnkt im ersten Beispiel durch eine spaumltere Ausfuumlhrung im
zweiten Beispiel durch eine Aumlnderung der Art der Ausfuumlhrung
Somit wurde aumlhnlich dem modernen Menschenwuumlrdebegriff der
Wuumlrde ein normativer Vorrang vor bdquoregulaumlrenldquo Gesetzen einge-
raumlumt Nichtsdestotrotz ist abgrenzend zu bemerken dass der
Vorrang der Vermeidung von Wuumlrdeverletzungen mit dem
Schutz der geistigen Ebenbildlichkeit begruumlndet27 wird und da-
her nicht abgekoppelt vom religioumlsen Verstaumlndnis zu betrachten
ist
2 Schutz der Ebenbildlichkeit durch bdquomakelloseldquo
Todesstrafe
Im Talmud erfuhr die Todesstrafe eine erste Einschraumlnkung in-
dem man sich von Arten der Vollstreckung abwandte die eine
sichtbare Verletzung des Koumlrpers mit sich brachten Das zuvor
herrschende lediglich auf der Torah aufbauende Verstaumlndnis
hatte noch darauf abgezielt dass der Verurteilte nicht nur durch
seinen Tod geistig ausgeloumlscht werden sollte sondern dass
durch ein Zerschmettern des Koumlrpers auch dieser zerstoumlrt wer-
den sollte Mit dem Talmud setzte sich die Idee durch dass zu-
mindest der Koumlrper des zum Tode Verurteilten als physisches
Ebenbild Gottes keinen sichtbaren Schaden nehmen soll Man
nahm an dass Gott beim Toumlten von Suumlndern sein eigenes Eben-
bild nicht verunstalten wuumlrde und daher bdquomakelloseldquo Formen
der Toumltung grundsaumltzlich zu bevorzugen seien28
Die Tatsache dass besonders grausame Arten die Todesstrafe
zu vollstrecken dadurch weitestgehend ausgeschlossen wurden
26 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312f 27 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671 28 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 4
stellt grundsaumltzlich eine Annaumlherung an das moderne europaumli-
sche Menschenwuumlrdeverstaumlndnis dar die Begruumlndung dieses
Paradigmenwechsels bleibt jedoch im goumlttlich zentrierten Ver-
staumlndnis der Wuumlrde verhaftet
3 Abschaffung der Todesstrafe und des Lex talionis
als Ausdruck einer unverlierbaren Wuumlrde
Letztendlich kam es in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n
Chr zu einer praktischen Verdraumlngung der Todesstrafe da an
eine Verurteilung zum Tode eine Reihe von schwer erfuumlllbaren
Anforderungen geknuumlpft wurde29
So wurde zum Beispiel eine
verschaumlrfte Form des Vorsatzes gefordert die darin bestehen
sollte dass der Taumlter kurz vor der Tat noch einmal explizit ge-
warnt worden sein muss dass sein Vorhaben mit dem Tod be-
straft wird und er sein volles Bewusstsein dieser Tatsache be-
zuumlglich der bevorstehenden Toumltung ausdruumlckt und kurz darauf
die Tat begeht Des Weiteren bedurfte es zweier Augenzeugen
deren Aussagen nur verwertet werden sollten sofern sie sich in
keinem Detail widersprachen und eine Verurteilung durch das
zustaumlndige 23-koumlpfige Gericht sollte nur erfolgen koumlnnen wenn
mindestens ein Richter sich gegen einen Schuldspruch aus-
sprach bei Einstimmigkeit der Verurteilung soll diese automa-
tisch in einen Freispruch umgewandelt werden30
Grundlage fuumlr diese faktische Abschaffung der Todesstrafe
war neben dem Bemuumlhen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen
zu vermeiden eine weitere Auslegung des Wuumlrdebegriffs als zu-
vor So wurde die Wuumlrde nun als etwas verstanden das auch
durch das groumlszligte Verbrechen nicht verwirkt werden kann und
daher sollten auch die groumlszligten Suumlnder Ebenbilder Gottes blei-
ben31 Zudem wurde im Talmud angenommen dass bei einer
Beeintraumlchtigung der Ebenbildlichkeit Gottes durch Verletzung
oder Toumltung dieser aufgrund seiner menschlichen Immanenz
ebenso leidet Daher fand auch das Lex talionis eine Abloumlsung
und wurde durch Geldstrafen ersetzt32
Die Losloumlsung von Todesstrafe und Lex talionis in Verbin-
dung mit dem Gedanken dass die Wuumlrde unverlierbar ist fuumlhrt
zu einer groumlszligeren Deckungsgleichheit des juumldischen Wuumlrdever-
staumlndnisses mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken in der Rechtsanwendung Die Begruumlndung dieses
Schritts dass Verletzung und Toumltung von Menschen um das Lei-
den des Goumlttlichen und nicht des Menschen zu vermeiden sind
zeigt hingegen dass die Wuumlrde des Menschen weiterhin extrin-
sisch begruumlndet wurde und nicht der Mensch an sich sondern
Gott der Grund des auf dem Tzelem Elohim aufbauenden As-
pekts des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ist
4 Die Naumlchstenliebe des Talmud als Bestandteil des
29 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f 30 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 309ff 31 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 311f
Naturrechts
Das bereits in der Torah angelegte Konzept der Naumlchstenliebe
erfuhr im Talmud eine noch staumlrkere Ausformung die Rabbiner
Hillel als goldene Regel zusammenfasste ldquoWas Dir nicht lieb
ist tue auch deinem Naumlchsten nicht das ist die gesamte Geset-
zeslehre alles andere ist nur Erlaumluterung geh und lerneldquo Nach
dem Rabbiner Leo Baeck ergibt sich aus der Verbindung der in
Torah und Talmud angelegten Naumlchstenliebe Inklusion des
Fremden und Menschenrechte ein staatlicher Rechtsgedanke
der nur auf den Menschen abstellt und damit als ein Grundbe-
griff des Naturrechts gelten kann33 Torah und Talmud bieten
somit neben dem untrennbar mit Gott verknuumlpften Gedanken der
Ebenbildlichkeit Ansaumltze fuumlr ein Konzept der Menschenwuumlrde
das sich saumlkular auslegen laumlsst und daher eine grundsaumltzliche
Vereinbarkeit mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken aufweist
5 Zwischenfazit
Das in Torah und Talmud angelegte Wuumlrdeverstaumlndnis weist
verschiedene Ansaumltze des modernen europaumlischen Menschen-
wuumlrdegedankens auf Aus dem Konzept der Gottesebenbildlich-
keit entspringt der Gedanke einer unverlierbaren Gleichheit aller
Menschen aus der jedoch kein universeller normativer An-
spruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden kann Des Wei-
teren weisen Torah und Talmud Ansaumltze verschiedener Frei-
heits- und Sozialrechte auf die auch vom heutigen Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis umfasst werden und mit dem im Talmud ver-
staumlrkten Konzept der Naumlchstenliebe ist auch ein Bezugspunkt fuumlr
einen naturrechtlichen Menschenwuumlrdebegriff angelegt Diese
Ansaumltze reichen in Summe jedoch nicht aus um daraus das mo-
derne europaumlische Menschenwuumlrdeverstaumlndnis vollstaumlndig her-
zuleiten Insbesondere die Uumlberlegungen zum Menschen als ver-
nunftfaumlhigem Individuum die im Entwicklungsprozess des eu-
ropaumlischen Menschenwuumlrdegedankens zum Tragen gekommen
sind finden in Torah und Talmud keine klare Ausformung Der
Schutz der Wuumlrde des Menschen zielt im Judentum lediglich auf
den Schutz des goumlttlichen Anteils am Menschen ab Der Vorrang
der Wuumlrde vor den biblischen Gesetzen ist daher kein Vorrang
der Wuumlrde vor staatlichen oder religioumlsen Direktiven sondern
eine innerreligioumlse Priorisierung ebenjener Der Mensch wird im
kanonischen Recht des Judentums vor allem als Teil einer mit
dem Goumlttlichen verbundenen Gemeinschaft angesehen und das
Ausmaszlig des Schutzes seiner Wuumlrde wird mitunter an die Zuge-
houmlrigkeit zur Religion gekoppelt
III Einfluss der Diaspora auf das juumldische
Wuumlrdeverstaumlndnis
Neben religioumlsen und philosophischen Erwaumlgungen werden
ethische Konzepte wie das der Menschenwuumlrde auch immer
durch historische Gegebenheiten beeinflusst Ab der Zerstoumlrung
des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n Chr kam es zu einer
32 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312
33 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext 2013 79 81
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 5
knapp 2000 Jahre anhaltenden Vertreibung und Verfolgung von
Juden der Diaspora34 Im Folgenden werden die Auswirkungen
eines fehlenden juumldischen Staats und die Stellung der Juden als
diskriminierte Minderheit auf das juumldische Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde beleuchtet
1 Auswirkungen anhaltender Diskriminierung auf
das juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde
Die Diskriminierung der Juden nahm im Mittelalter mit dem
Einsetzen der Kreuzzuumlge ein noch staumlrkeres Ausmaszlig an als zu-
vor Dieser Hass der Mitgliedern der juumldischen Glaubensge-
meinschaft entgegengebracht wurde wirkte sich auch auf das
juumldische Recht aus So kam es im Shullan Arukh der bedeu-
tendsten Kodifikation juumldischen Rechts des spaumlten Mittelalters
zu einer Beschneidung der Menschenrechte von Nichtjuden
Exemplarisch sind insbesondere die Beschraumlnkungen die juumldi-
schen Frauen fuumlr die Hilfe bei der Niederkunft nichtjuumldischer
Frauen und juumldischen Aumlrzten bei der Behandlung nichtjuumldischer
Patienten auferlegt wurden Im Kern wurde ihnen das Entgegen-
bringen jeglicher Hilfe gegenuumlber Andersglaumlubigen untersagt
Einzig wenn sie dadurch die Feindseligkeit von Andersglaumlubi-
gen riskierten war es ihnen gestattet von dieser Regelung Ab-
stand zu nehmen35
Die Unterdruumlckung der Juden im Mittelalter fuumlhrte somit zu
einer Einschraumlnkung der Menschenrechte von Andersglaumlubigen
im juumldischen Recht Unter der Annahme dass Menschenrechte
Ausdruck des zugrundeliegenden Wuumlrdeverstaumlndnisses sind
kann daher vermutet werden dass der auf dem biblischen Kon-
zept der Naumlchstenliebe fuszligende Aspekt des juumldischen Wuumlrde-
verstaumlndnisses im Mittelalter eine Einengung auf Juden erfuhr
um der dauerhaften gegenwaumlrtigen Gefahr der die juumldischen
Gemeinden ausgesetzt waren Rechnung zu tragen Dem mit
dem modernen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis verknuumlpfbare natur-
rechtlichen Ansatz der aus der Naumlchstenliebe hergeleitet wer-
den kann wurde damit die Grundlage genommen
2 Ausbleiben einer saumlkularen Weiterentwicklung der
juumldischen Menschenwuumlrde
An dieser Stelle werden drei Vermutungen angestellt wie sich
das Fehlen eines juumldischen Staats im Zeitraum der Diaspora auf
das juumldische Konzept der Menschenwuumlrde ausgewirkt hat
Die erste Uumlberlegung besteht darin dass zur Durchsetzung
von menschenrechtlichen Garantien auf Draumlngen eines Teils der
Bevoumllkerung diese auch der zu veraumlndernden Rechtsordnung
praktisch unterworfen sein muss um sich an der betreffenden
Rechtsordnung stoumlren zu koumlnnen Da Juden in Europa eine un-
terdruumlckte Minderheit darstellten gab es zu keiner Zeit der
Diaspora einen Staat dessen Regierung durch das Judentum an-
stelle des Christentums legitimiert wurde Die juumldischen Gesetze
fanden durch das Fehlen eines juumldischen Staats keine Anwen-
34 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1110
dung durch irgendeinen Staat somit war auch die Erprobung ih-
rer Schwachstellen und Aktualitaumlt begrenzter als die von Rechts-
ordnungen mit tatsaumlchlicher Guumlltigkeit Das juumldische Recht
blieb daher das Beschaumlftigungsfeld der begrenzten Gruppe de-
rer die ohnehin fuumlr ihre Bewahrung und Entwicklung zustaumlndig
waren also die der Rechtsgelehrten Philosophen und Rabbiner
Eine Einforderung von Buumlrgerrechten als Annaumlherung an die
moderne Menschenwuumlrde wie sie sonst in Europa uumlber Jahrhun-
derte mehrfach stattgefunden hat konnte daher in Bezug auf das
juumldische Recht gar nicht geschehen Ein Beitrag zur Entwick-
lung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses durch eine
durch Aufstaumlnde und Revolutionen einem juumldischen Staat abge-
trotzte Reihe von Menschenrechten unterblieb daher infolge des
Fehlens eines juumldischen Staats
Als zweite These wird angenommen dass auch eine Weiter-
entwicklung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses
durch eine breite Beteiligung der Juden an den Bemuumlhungen fuumlr
die Gewaumlhrung von Menschenrechten in den europaumlischen Staa-
ten weitestgehend entfiel da sie flaumlchendeckend diskriminiert
wurden und als Buumlrger zweiter Klasse galten Bevor sie eine
sichtbare Rolle im Kampf der bdquoDurchschnittsbevoumllkerungldquo fuumlr
die Durchsetzung der Menschenwuumlrde spielen konnten mussten
sie erst den rechtlichen Status der christlichen Bevoumllkerung er-
langen Eine stetige Erweiterung des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs aufgrund einer Miturheberschaft an neu erlangten
Freiheits- und Schutzrechten innerhalb europaumlischer Rechtsord-
nungen entfaumlllt folglich ebenfalls
Der dritte Ansatz ist dass eine andere Moumlglichkeit der saumlku-
laren Weiterbildung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis-
ses die Reformierung der juumldischen Rechtsordnung bdquovon obenldquo
gewesen waumlre Dies waumlre durch das Einwirken von Juden die
als hochrangige Beamte in den europaumlischen Staaten Reformen
angestoszligen und begleitet haben denkbar gewesen Ihre Exper-
tise als Staatsmaumlnner koumlnnte dann als Legitimation fuumlr die Wei-
terentwicklung der juumldischen Rechtstheorie gehandelt worden
sein Die Diskriminierung der Juden in Europa machte jedoch
auch eine solche Entwicklung unmoumlglich
Diesen Uumlberlegungen folgend kann man annehmen dass es
im Gegensatz zu den christlich gepraumlgten europaumlischen Konzep-
ten der Menschenwuumlrde keine saumlkularen Ansaumltze Eingang in das
juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde finden konnten Ver-
schiedene Ausformungen des Wuumlrdeverstaumlndnisses die saumlku-
lare Elemente wie das Naturrecht und religioumlse Elemente unter-
schiedlich stark gewichten haben sich daher im Gegensatz zum
europaumlischen Wuumlrdebegriff in Verbindung mit dem juumldischen
Wuumlrdebegriff nicht entwickeln koumlnnen Es bleibt folglich bei ei-
ner rein religioumls begruumlndeten Wuumlrde die nie die Stellung als
oberster Wert einnehmen konnte da sie mit dem Goumlttlichen von
einer noch houmlheren Instanz begruumlndet wird
C Die Entwicklung der Menschenwuumlrde im positiven
35 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32 (2011) 1101 1110ff
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 6
Recht Israels
In diesem Abschnitt werden Rechtsschaffung und Rechtspre-
chung in Israel im Spannungsfeld zwischen dem bisher skizzier-
ten juumldischen und dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde eingeordnet Im Anschluss kommt es zu einer
Auseinandersetzung mit der Frage ob das heutige Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde in Israel im Feld der eigenen religioumlsen
Tradition verortet werden kann oder ob eine europaumlische
Rechtsrezeption vorliegt
I Das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis bis 1992
Der moderne Staat Israel wurde im Jahr 1948 durch die israeli-
sche Unabhaumlngigkeitserklaumlrung proklamiert die Israel als juumldi-
schen Staat definiert36 Der Begriff der Menschenwuumlrde ist in
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung nicht zu finden Bei Gruumlndung
des Staats Israel wurde die bestehende Gesetzeslage des Com-
mon Law aus der Zeit der britischen Mandatsherrschaft die Ele-
mente des osmanischen Rechts enthielt weitestgehend uumlber-
nommen37 Der Oberste Gerichtshof entwickelte daran durch
Auslegung eine Reihe von Menschenrechten die unter anderem
Demonstrationsfreiheit Freizuumlgigkeit Vereinigungsfreiheit
den freien Zugang zu den Gerichten und Meinungsfreiheit um-
fassten38 Eine erste Nennung im positiven Recht erfuhr der Be-
griff der Menschenwuumlrde erst in einer Entscheidung des Obers-
ten Gerichtshofs aus dem Jahr 1980 dem Fall Katalan v Prison
Services39 in dem der Oberste Gerichtshof das Auspumpen der
Maumlgen von Gefaumlngnisinsassen aufgrund des Verdachts auf Dro-
genschmuggel im Koumlrper verbot40
In dieser Anfangsphase des Staats Israel sind klare Ansaumltze
im Recht die die Freiheit und Autonomie des Individuums uumlber
dem Konzept der bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde des Kol-
lektivs und biblischen Vorschriften ansiedeln und dadurch eine
Naumlhe zum europaumlischen Menschenwuumlrdebegriff anzeigen nicht
ersichtlich Die bis ins Jahr 1980 lediglich indirekte und nach-
folgend noch immer geringe Ausformung der Menschenwuumlrde
im positiven Recht Israels scheint mit Blick auf die Definition
Israels als juumldischer Staat daher dem zuvor dargestellten juumldi-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu entsprechen
II Das israelische Grundrecht bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo
Israel verfuumlgt uumlber keine abschlieszligende Verfassung jedoch gibt
es eine Reihe einzelner Grundrechte Seit dem Jahr 1992 hat der
Begriff der Menschenwuumlrde mit dem Grundrecht bdquoMenschen-
wuumlrde und Freiheitldquo auch expliziten Eingang in die israelische
36 Israelische Unabhaumlngigkeitserklaumlrung Abs 12 37 A Weilert Grundlagen und Grenzen des Folterverbots in verschiedenen
Rechtskreisen 2009 240f 38 B Genut Fordham International Law Journal 19 (1996) 2120 2146f 39 HCJ 35579 40 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 41 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 42 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 43 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 44 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 2 3 4 7 45 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 6
Rechtsordnung gefunden Zuvor hatte die Menschenwuumlrde nur
in wenigen Urteilen des Obersten Gerichtshofs Israels Erwaumlh-
nung gefunden41 und Menschenrechte waren bis auf wenige
Ausnahmen als Teil des Common Law ebenfalls nur uumlber die
Rechtsprechung im positiven Recht Israels verankert42
1 Umfang des Grundrechts
Die Menschenwuumlrde ist durch das Grundrecht in Israel sowohl
ein Verfassungsprinzip43 als auch ein subjektives Recht Durch
das Grundrecht sind der Schutz von Leib Leben Wuumlrde Eigen-
tum und Privatsphaumlre garantiert44 Auch wird allen Menschen
freie Ausreise aus Israel und israelischen Staatsbuumlrgern daruumlber
hinaus freie Einreise nach Israel garantiert45 Uumlber weitere
Grundrechte sind die Freiheit der Berufswahl46 das Wahl-
recht47 das Recht fuumlr Aumlmter zu kandidieren48 sowie das Recht
auf Zugang zu den Gerichten49 garantiert
Bezuumlglich der Geltung weiterer auf der Menschenwuumlrde auf-
bauender Menschenrechte hat der Oberste Gerichtshof Israels
sowohl eine enge Auslegung des Rechts auf Menschenwuumlrde
als auch eine weite Auslegung des Grundrechts abgelehnt50
Eine enge Auslegung haumltte lediglich den Schutz vor physischer
und psychischer Verletzung Folter Demuumltigung und Erniedri-
gung umfasst eine weite Auslegung haumltte saumlmtliche in den mo-
dernen Rechtsordnungen vorhandenen Menschenrechte einge-
schlossen51 Stattdessen befand der Oberste Gerichtshof dass
das Recht auf Menschenwuumlrde das Verfassungsprinzip der Men-
schenwuumlrde umfassen soll52 Da im Verstaumlndnis des israelischen
Common Law die Menschenwuumlrde als Quelle aller Menschen-
rechte betrachtet wird fuumlhrt dies jedoch nicht zu einem Aus-
schluss der Rechte die durch die weite Auslegung des Rechts
auf Menschenwuumlrde garantiert worden waumlren53 Durch diese
Entscheidung wurde das Grundrecht auf Menschenwuumlrde zu ei-
nem zusammengesetzten Recht erklaumlrt das aus einem Buumlndel an
Tochterrechten besteht die verschiedene Aspekte des Mutter-
rechts abbilden und dadurch dessen multiple Wirkrichtungen si-
chern54
Folgende Tochterrechte wurden durch Entscheidungen des
Obersten Gerichts bisher anerkannt das Recht auf Gleichbe-
handlung Meinungsfreiheit Religionsfreiheit Freizuumlgigkeit
die Gruumlndung einer Familie freie Berufswahl Bildung ein or-
dentliches Gerichtsverfahren einen humanitaumlren Mindeststan-
dard Schutz vor Rufschaumldigung und ein Persoumlnlichkeitsrecht55
Zudem hat der Oberste Gerichtshof ein Hinausreichen der Men-
schenwuumlrde uumlber den Tod anerkannt56
46 Basic Law Freedom of Occupation 47 Basic Law The Knesset Abs 5 48 Basic Law The Knesset Abs 6 49 Basic Law The Judiciary Abs 3 50 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 47 49f 51 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 805 52 A Barak Human Dignity 2015 287 53 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 39 49f 54 A Barak Human Dignity 2015 287f 55 A Barak Human Dignity 2015 288ff 56 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 55
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 7
2 Geltung des Grundrechts und Stellung innerhalb
der Rechtsordnung
Das Grundrecht auf Menschenwuumlrde ist ein relatives Recht
Aufgrund einer im Grundrecht verankerten Bestimmung sind
Einschraumlnkungen der einzelnen durch das Grundrecht garantier-
ten Menschenrechte durch Notverordnungen moumlglich57 Zudem
unterliegt das Grundrecht nicht wie in Deutschland einer Ewig-
keitsklausel58 sondern kann durch das israelische Parlament die
Knesset veraumlndert werden59 Eine Abschaffung der Grundrechte
ist daher nicht explizit ausgeschlossen Jedoch kann der Oberste
Gerichtshof Aumlnderungen oder Abschaffungen von Grundgeset-
zen die seiner Ansicht nach der Demokratie oder den weiteren
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung innewohnenden Grundwerten
entgegenstehen fuumlr verfassungswidrig erklaumlren60 Somit ist die
Moumlglichkeit einer impliziten Sperre fuumlr die Abschaffung des
Grundrechts gegeben
Die Grundrechte wurden ebenso wie andere Gesetze Israels
von der Knesset mit einer einfachen Mehrheit beschlossen und
stehen daher formell nicht uumlber anderen Gesetzen61 Sie wurden
aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1995 zu
Gesetzen mit Verfassungscharakter erklaumlrt die einen den ande-
ren Gesetzen uumlbergeordneten Status genieszligen62 Sie haben nur
Vorrang vor Gesetzen die juumlnger sind aumlltere Normen werden
vom Grundrecht nicht verdraumlngt und verdraumlngen dieses eben-
falls nicht beide Normen gelten parallel Aumlnderungen und Er-
weiterungen von Gesetzen die bereits vor dem Grundrecht be-
standen genieszligen jedoch nicht diesen Schutz und werden durch
das Grundrecht verdraumlngt63
3 Zwischenfazit
Wie auch in europaumlischen Rechtsordnungen genieszligt die Men-
schenwuumlrde damit grundsaumltzlich Vorrang vor einfachen Geset-
zen Die Position der Menschenwuumlrde innerhalb des israelischen
Rechts ist gemessen an europaumlischen Rechtsordnungen zum
Beispiel der Griechenlands64 oder Deutschlands65 weniger pro-
minent und fest verankert Im israelischen Rechtssystem das
keine Ewigkeitsklauseln kennt und keine abgeschlossene Ver-
fassung hat kommt der Menschenwuumlrde dennoch eine heraus-
ragende Stellung als Gesetz mit Verfassungscharakter und
Quelle aller Menschenrechte zu die jedoch durch die Parallel-
wirkung zu aumllterem Recht und die grundsaumltzliche Einschraumlnk-
barkeit des Grundrechts aufgrund von Notverordnungen ge-
schmaumllert wird
57 Basic Law Human Dignity and Freedom Abs 12 58 Art 79 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 59 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 41 60 A Barak Human Dignity 2015 284f 61 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 796 A Bendor M Sachs
Israel Law Review 44 (2011) 25 41f 62 B Bracha University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 3
(2001) 581 583
III Die bdquokonstitutionelle Revolutionldquo
Mit der Verabschiedung des Grundrechts bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo erfolgte nicht nur eine Verankerung der Menschen-
wuumlrde im israelischen Recht sondern auch eine neue Ausrich-
tung des Menschenwuumlrdebegriffs in Israel Diese Veraumlnderung
der Gesetzeslage wird ruumlckblickend als bdquokonstitutionelle Revo-
lutionldquo bezeichnet66 Die Gesetzgebung der Knesset erfolgt in
der Regel unter Beteiligung eines breiten politischen Spektrums
da zur Bildung von Mehrheiten in Israel oft eine Einbeziehung
von mehr als zwei Parteien notwendig ist Parteien die dem ult-
raorthodoxen Umfeld zuzurechnen sind wirken ihrem An-
spruch entsprechend oft blockierend auf Gesetzesentwuumlrfe ein
die die Vorrangstellung der Religion im Staat eindaumlmmen koumlnn-
ten sie sind um die Beibehaltung des Status quo bemuumlht67 Un-
ter diesen Gesichtspunkten stellt das Grundrecht auf Menschen-
wuumlrde zum einen eine bedeutende Neuerung in der israelischen
Gesetzgebung dar zum anderen ist es Ausdruck eines Kompro-
misses
Das Gesetz definiert Israel woumlrtlich nicht mehr nur als juumldi-
schen sondern auch als demokratischen Staat68 Durch den Na-
men des Gesetzes bdquoHuman Dignity and Libertyldquo erfaumlhrt die
Wuumlrde eine Verknuumlpfung mit dem Autonomiegedanken Somit
wird die Wuumlrde sowohl mit religioumlsen als auch mit saumlkularen
Ansaumltzen des Menschenwuumlrdegedankens verknuumlpft Diese Ge-
wichtung fuumlhrt zu einer Ausbalancierung beider Ansaumltze die je-
doch auch das Potential einer bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des Gesetzes
birgt
IV Auswirkungen des Grundgesetzes auf die
Rechtsprechung
Im Folgenden werden Entscheidungen des Obersten Gerichts-
hofs Israels dargestellt die nach dem Erlass des Grundrechts auf
Menschenwuumlrde gefaumlllt wurden und deren Entscheidung von der
Einnahme der traditionellen juumldischen bzw der modernen euro-
paumlischen Perspektive auf die Menschenwuumlrde abhaumlngig war
1 Sheffer v State of Israel
Im Fall Sheffer v State of Israel69 der im Jahr 1993 entschieden
wurde standen sich das juumldische Konzept der bdquoHeiligkeit des
Lebensldquo das auf der Idee des Tzelem Elohim basiert und die
Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenuumlber Die Mutter ei-
nes zweijaumlhrigen Maumldchens das an einer unheilbaren Erkran-
kung litt und im Wachkoma lag klagte darauf die medizinische
Behandlung der Tochter bis auf die Gabe von Schmerzmitteln
einstellen zu duumlrfen und Wiederbelebungsmaszlignahmen an dem
Maumldchen zu unterlassen Das Gericht hatte somit uumlber das Recht
63 A Barak Human Dignity 2015 305ff 64 Art 2 I Verfassung Griechenlands 65 Art 1 I Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 66 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 799 67 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 41 68 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 69 Israeli Supreme Court CA 50688 Sheffer v State of Israel Israel Law Re-
ports 1992 1 ndash 144
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 8
von Patienten und Eltern minderjaumlhriger Patienten medizini-
sche Behandlungen zu verweigern zu entscheiden Der Oberste
Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Menachem Elon
wies die Klage unter Berufung auf die bdquoHeiligkeit des Lebensldquo
zuruumlck Diese Entscheidung ist daher dem traditionellen juumldi-
schen und nicht dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zuzuordnen jedoch wurde im Jahr 2005 das
Terminal Patient Law erlassen das praumlfinalen Patienten und de-
ren gesetzlichen Vormunden das Recht zugesteht weitere me-
dizinische Behandlung abzulehnen und somit klar dem europaumli-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zuzuordnen ist70
2 Hevra Kadisha v Lional Aria Kestenbaum
Der Streitpunkt des Falls Hevra Kadisha v Lional Aria Kesten-
baum71 aus dem Jahr 1992 war das Verstaumlndnis der postmortalen
Wuumlrde wobei das juumldische Konzept der Kvod Habriyot und das
europaumlische Verstaumlndnis der Wuumlrde des Einzelnen mit einander
kollidierten Die Kadisha-Organisation verwaltet Friedhoumlfe in
Israel wobei die Vorschrift dass Inschriften auf Grabsteinen
einheitlich auf hebraumlisch abgefasst sein muumlssen Teil der Ver-
traumlge der Organisation mit den dort Bestatteten ist Die Familie
des Verstorbenen hatte sich fuumlr eine nicht auf hebraumlisch abge-
fasste Inschrift entschieden wogegen die Organisation klagte
Richter Elon sprach sich im Sinne des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs dafuumlr aus dass die Wuumlrde der bereits auf dem betref-
fenden Friedhof Bestatteten im Sinne der Kvod Habriyot der
Wuumlrde des Einzelnen vorzuziehen sei Jedoch setzten sich die
Richter Meir Shamgar und Aharon Barak durch die zugunsten
eines saumlkular-liberalen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ent-
schieden dass der Wuumlrde des Einzelnen den Vorzug vor kol-
lektiven Werten gewaumlhrt72
3 Lior Horev et al v Minister of Transportation
Im Jahr 1996 musste der Oberste Gerichtshof eine weitere Ent-
scheidung im Spannungsfeld zwischen biblischen Vorschriften
und der Autonomie des Einzelnen faumlllen Im Fall Lior Horev et
al v Minister of Transportation73 wurde auf die Sperrung einer
Straszlige am Sabbath geklagt die durch ultrareligioumlse Bezirke Je-
rusalems fuumlhrt Der Oberste Gerichtshof entschied im Sinne des
europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses unter Herleitung
der Verkehrsfreiheit aus der Menschenwuumlrde gegen eine Sper-
rung der Straszlige Richter Tzvi Tal teilte die Ansicht der anderen
Richter jedoch nicht da er religioumlsen Traditionen und Werten
eine houmlhere Prioritaumlt als der Verkehrsfreiheit einraumlumte74
4 Zwischenfazit
In der Gesamtschau zeigen diese Beispiele dass sich der im
Grundrecht auf Menschenwuumlrde angelegte Dualismus von tra-
ditionellem juumldischem und modernem europaumlischem Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis in den Entscheidungen des Obersten Ge-
70 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 676f 71 Israeli Supreme Court CA 91294 72 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 677f 73 Israeli Supreme Court CA 965016
richtshofs wiederspiegelt was neben der Zweideutigkeit der ge-
setzlichen Grundlage auf die gezielt heterogene Besetzung des
Obersten Gerichtshofs mit religioumlsen und saumlkularen Richtern zu-
ruumlckzufuumlhren ist75
Auch wenn sich eine Verzerrung des Bildes durch die be-
grenzte Auswahl an Beispielen nicht ausschlieszligen laumlsst scheint
sich der moderne europaumlische Begriff der Menschenwuumlrde in
der israelischen Gesetzgebung und Rechtsprechung durchzuset-
zen Zur Annahme dieser These fuumlhrt zum einen der Charakter
des Common Law durch den sich die Rechtsprechung bei neuen
Entscheidungen stark an bereits ergangenen Urteilen orientiert
In den letzteren beiden Faumlllen wurde folglich mit Urteilen im
Sinne des europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses eine
Grundlage fuumlr weitere europaumlisch orientierte Entscheidungen in
Fragen des Verhaumlltnisses von der Wuumlrde des Kollektivs und bib-
lischer Vorschriften zur Autonomie des Individuums geschaf-
fen Ein Ruumlckgriff auf parallel wirkende Gesetze aus der Zeit
vor 1992 die im Einzelfall dem Grundrecht entgegenstehen
scheint aufgrund des Anspruchs der grundrechtskonformen
Auslegung aumllterer Gesetze76 und der Existenz eines neuen bdquoLei-
turteilsldquo unwahrscheinlich Zum anderen wird die Vermutung
durch die im ersten Beispiel erfolgte Staumlrkung des europaumlischen
Ansatzes der Wuumlrde durch den Gesetzgeber gestuumltzt Eine ge-
setzliche Kehrtwende ist aufgrund der bereits erlaumluterten Mehr-
heitsverhaumlltnisse der Knesset unwahrscheinlich
V Die Entstehung der israelischen Menschenwuumlrde
Die Menschenwuumlrde im israelischen Recht bewegt sich im
Spannungsfeld zwischen dem modernen europaumlischen und dem
traditionellen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis Eine klare Zuord-
nung zu einem der beiden Wuumlrdeverstaumlndnisse ist seit der bdquokon-
stitutionellen Revolutionldquo und der darauf aufbauenden Recht-
sprechung nicht mehr moumlglich Die bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des
Grundrechts auf Menschenwuumlrde fuumlhrt zu einem bestaumlndigen
Ringen beider Konzepte um Vorrang im positiven Recht Es
scheint jedoch dass der europaumlische Ansatz leicht die Oberhand
gewonnen hat Eine umfassende Saumlkularisierung des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses erscheint in Israel einem modernen Staat
dessen Existenz sich auf das Judentum stuumltzt hingegen unwahr-
scheinlich
Im Hinblick auf das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis im israeli-
schen Recht bietet es sich daher an nicht mehr von einem mo-
dernen europaumlischen oder einem traditionellen juumldischen son-
dern von einem israelischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu
sprechen Ebenso wie in Europa der moderne saumlkulare Wuumlrde-
begriff auf die Basis christlicher Uumlberzeugungen gestellt werden
kann ohne von diesen abhaumlngig gemacht zu werden ist dies
auch mit juumldischen Erklaumlrungsansaumltzen moumlglich Die Vorausset-
zung fuumlr einen solchen modernen Begriff der Menschenwuumlrde
ist in jedem Fall die Betrachtung der Religion als zusaumltzlichen
74 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 679 75 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 675 76 A Barak Human Dignity 2015 306f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 9
und nicht als einzigen Begruumlndungsansatz der Wuumlrde des Men-
schen
D Fazit
Wie sich gezeigt hat sind der Begriff und das Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zu unterscheiden waumlhrend die Gesetzeslage in
Europa und Israel auf einen vergleichbaren Mindestgehalt des
Begriffs Menschenwuumlrde schlieszligen laumlsst kann das Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde und der daraus folgende Umgang mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde in der Rechtsprechung variieren
Die Darstellung der Grundlagen und Genese des Begriffs im Ju-
dentum ergab dass sich aus der Auseinandersetzung mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde auf religioumlser philosophischer je-
doch nicht auf saumlkularer Ebene in der Tradition des Judentums
ein anderes Verstaumlndnis als in Europa entwickelt hat Das juumldi-
sche Wuumlrdeverstaumlndnis unterscheidet sich vom europaumlischen
Wuumlrdeverstaumlndnis maszliggeblich in der Priorisierung des Goumlttli-
chen die zu einem Vorrang der im Ebenbildlichkeitsgedanken
begruumlndeten bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde der Gemein-
schaft und der biblischen Regeln vor der Autonomie und der
Freiheit des Individuum fuumlhrt Im positiven Recht Israels sind
seit der bdquokonstitutionellen Revolutionldquo beide Verstaumlndnisse ver-
ankert und es zeichnet sich ein Erstarken des saumlkularen europauml-
ischen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ab In dieser Ent-
wicklung kann die Etablierung eines israelischen und nicht
mehr lediglich europaumlischen oder juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis-
ses gesehen werden das in seiner Schwerpunktsetzung saumlkular
ist jedoch religioumls begruumlndet werden kann
Vor diesem Hintergrund kann von einer einsetzenden euro-
paumlischen Rechtsrezeption der Menschenwuumlrde in Israel gespro-
chen werden In Anbetracht des vergleichsweise kurzen Beste-
hens des modernen Staats Israel laumlsst sich die gegenwaumlrtige Ent-
wicklung des Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses im israelischen
Recht jedoch auch als originaumlre Evolution des religioumlsen Wuumlr-
deverstaumlndnisses zu einem in modernen Demokratien praktikab-
len Wuumlrdeverstaumlndnis verstehen deren weiterer Verlauf nicht
auf die vollstaumlndige Angleichung an das europaumlische Modell der
Menschenwuumlrde begrenzt ist
Der Autor studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt und be-findet sich derzeit in der Examensvorbereitung Der Artikel ist Teil einer Seminararbeit die im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher entstanden ist
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
10
Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verle-
gung der US-Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts
-
von Lucie Schultz
A Abstract
Am 6122017 verkuumlndete US-Praumlsident Donald Trump
es sei an der Zeit Jerusalem offiziell als Hauptstadt Isra-
els anzuerkennen Mit der Planung zur Verlegung der US-
Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem solle umgehend
begonnen werden1 Damit stieszlig er international auf heftige
Reaktionen und vielfach auf Kritik Der folgende Beitrag
will untersuchen inwieweit diese begruumlndet sind und ob
Trump durch seine Ankuumlndigungen an die Grenzen des
Voumllkerrechts stoumlszligt oder sie uumlberschreitet
B Staatliche Souveraumlnitaumlt im Konflikt mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Voumllker
Der Zentrale Streitpunkt hierbei ist die Frage nach dem voumllker-
rechtlichen Status Jerusalems welcher wiederrum maszliggeblich
von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen in der Stadt abhaumlngig ist
Staatliche Souveraumlnitaumlt ist die notwendige Bedingung gar
Grundlage des Voumllkerrechts2 Gemeint ist die Faumlhigkeit einer ju-
ristischen oder natuumlrlichen Person zu ausschlieszliglicher rechtli-
cher Selbstbestimmung3 Dabei ist zu unterscheiden zwischen
rechtlicher und faktischer Souveraumlnitaumlt erstere meint den recht-
maumlszligigen Titel letztere tatsaumlchliche Kontrolle und Herrschaft4
Durch den rechtmaumlszligigen Titel wird faktische Kontrolle zur voll
ausgereiften Souveraumlnitaumlt Die faktische Herrschaft ist - insbe-
sondere bei militaumlrischen Konflikten - leichter festzustellen als
die Souveraumlnitaumlt uumlber das betreffende Gebiet5
Sowohl Israel als auch Palaumlstinenser sehen Jerusalem als ihre
jeweilige Hauptstadt Rechtsanspruumlche auf Territorium ergeben
sich zum groszligen Teil aus dem voumllkerrechtlichen Selbstbestim-
mungsrecht6 welches damit die staumlrkste Legitimationsquelle fuumlr
Souveraumlnitaumltsanspruumlche ist7 Gleichzeitig besteht aber auch ein
Spannungsverhaumlltnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht
1 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember 2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-
jerusalem (Stand 24022019) 2 Hillgruber in Der Staat Vol 53 Nr3 2014 475 476 3 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 173 4 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 111 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 321 5 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 181
der Voumllker in seiner offensiven Auspraumlgung (gerichtet auf eine
Aumlnderung des Territorialstatus8) und der Souveraumlnitaumlt der Staa-
ten Da das Selbstbestimmungsrecht im Einklang mit den Best-
immungen der UN-Charta gefoumlrdert werden soll wird es grund-
saumltzlich dem Souveraumlnitaumltsgrundsatz nachgeordnet9 Die UNO
bekraumlftigt gleichwohl das Recht der Palaumlstinenser auf Selbstbe-
stimmung als unabdingbar im Nahostkonflikt10
C Die Anerkennung im Voumllkerrecht
I Bedeutung Rechtsnatur und Arten
Die voumllkerrechtliche Anerkennung bezeichnet die einseitige Er-
klaumlrung eines Voumllkerrechtssubjekts eine bestimmte Sach- oder
Rechtslage fuumlr rechtmaumlszligig zu erachten11 Voraussetzung fuumlr die
Anerkennung eines Staates ist das Bestehen von Staatsgebiet -
volk und -gewalt im Sinne der Drei-Elemente-Lehre12 Fuumlr das
Staatsgebiet ist eine endguumlltige Festsetzung der Auszligengrenzen
nicht erforderlich es bedarf lediglich eines unbestrittenen Kern-
gebiets13 Wenngleich jeder Staat seine Hauptstadt frei waumlhlen
darf und hierfuumlr grundsaumltzlich keine Anerkennung benoumltigt geht
es bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gerade
auch um die territoriale Ausdehnung der effektiven Staatsgewalt
im nicht unbestrittenen Staatsgebiet denn die Anerkennung als
Hauptstadt impliziert die Anerkennung der Ausdehnung des
Staatsgebiets auf dem Territorium der Stadt Eine Anerkennung
betrifft das bilaterale Verhaumlltnis zwischen anerkanntem und an-
erkennendem Staat und ist daher sehr politisch gepraumlgt14 Im po-
litischen Sinne ist die Anerkennung konstitutiv im rechtlichen
Sinne dagegen hat sich die deklaratorische Theorie15 als vor-
zugswuumlrdig durchgesetzt16 Das bedeutet zunaumlchst eine be-
grenzte rechtliche Wirkung von Trumps Anerkennung Jerusa-
lems als Hauptstadt Israels Jerusalem wird nicht dadurch zur
Hauptstadt und zum Staatsgebiet Israels Es ist der Kontext des
6 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 239 7 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 240 8 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 41 9 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 10 ARES6719 11 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 160-1 12 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 13 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 391 14 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 379 394 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5
RN 173 15 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 174 16 Shaw International Law 2017 331
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
11
voumllkerrechtlichen und politischen Konflikts um den Status der
Stadt der der Anerkennung eine hohe Bedeutung verleiht
Es wird bei der Art der Anerkennung zwischen de facto und
de jure Anerkennung unterschieden Erstere beinhaltet keinen
diplomatischen Austausch hat einen politischen Charakter wird
als vorlaumlufig und weniger verbindlich bezeichnet und geht oft-
mals einer Anerkennung de jure voraus17 So erkannten die USA
den Staat Israel zunaumlchst nur de facto an nach vollzogenen
Wahlen auch de jure18
II Das Prinzip der Nichtanerkennung
Durch die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und
die damit verbundene Verlegung der US-Botschaft kann Trump
nur dann gegen Voumllkerrecht verstoszligen wenn eine Pflicht zur
Nichtanerkennung besteht Neben einer politisch motivierten
Nichtanerkennung (etwa die Nichtanerkennung Israels durch die
Arabische Liga) kann die Nichtanerkennung auf der voumllkerge-
wohnheitsrechtlich anerkannten Rechtspflicht zur Nicht-Aner-
kennung von Herrschaftsverbaumlnden die unter Verstoszlig gegen das
Gewaltverbot oder das Selbstbestimmungsrecht der Voumllker ent-
standen sind beruhen19 Das Prinzip dieser Rechtspflicht beruht
auf dem Grundgedanken dass es sich kein Rechtssystem erlau-
ben kann Verstoumlszlige gegen seine eigene Ordnung zu tolerieren20
Ein Wandel von dem fruumlher geltenden Effektivitaumltsgrundsatz ex
factis jus oritur nach dem das Recht seine Guumlltigkeit verliert
wenn kontinuierliche Rechtsbruumlche durch ihre Tolerierung er-
folgreich bleiben21 zeigte sich erstmals in der Stimson-Doktrin
einer US-amerikanischen politischen Absichtserklaumlrung von
1932 Unter Verstoszlig gegen den Kellogg-Pakt zur Aumlchtung des
Krieges oder die Voumllkerbundsatzung zustande gekommenen Zu-
staumlnden wurde hiernach die Anerkennung verweigert22 Seither
fand nach dem baldigen Konsens hinsichtlich des Gewaltverbots
eine Festigung des Legalitaumltsgrundsatzes ex injuria jus non ori-
tur statt Aus diesem Grundsatz ergibt sich dass die Anerken-
nung einer verbotenen Handlung ebenso widerrechtlich ist wie
die verbotene Handlung selbst23
Insbesondere durch die Friendly-Relations-Deklaration von
1970 hat sich der Grundsatz zur Pflicht erhaumlrtet 1986 hat der
IGH die vormals nicht rechtsverbindliche Friendly-Relations-
Deklaration als Voumllkergewohnheitsrecht anerkannt bezog sich
jedoch auf die gesamte Resolution nicht auf einzelne Vorschrif-
17 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 166 Brownlie 91 f Shaw International
Law 2017 341 18 Loudwin Die konkludente Anerkennung im Voumllkerrecht S 33 19 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 20 Patel Recognition in the Law of Nations S 111 21 H Lauterpacht Recognition in International Law S 427 22 Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 434 23 Vgl Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 440 IGH Wall in the Occupied
Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 24 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 12 bezugnehmend auf IGH Military and Paramilitary Ac-
tivities in and against Nicaragua Merits Judgement ICJ Reports 1986 14 25 Talmon in TomuschatThouvenin The Fundamental Rules of the International
Legal Order Jus Cogens and Obligations Erga Omnes 2006 99 102 IGH Wall
in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 26 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 4
ten24 2004 nahm der IGH explizit auf die Pflicht zur Nicht-An-
erkennung Bezug er sieht sie als gewohnheitsrechtlich begruumln-
det an25
3 Die Entwicklung der Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
uumlber Jerusalem und der voumllkerrechtliche Status der
Stadt
Der voumllkerrechtliche Status Jerusalems und damit die Frage ob
eine Anerkennung rechtmaumlszligiger Weise erfolgen kann oder ob e
contrario die Pflicht zur Nicht-Anerkennung besteht haumlngt
maszliggeblich von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen ab Hierzu bie-
tet sich ein Abriss der historischen Entwicklung der Souveraumlni-
taumlt auf dem Territorium Jerusalems an
II Vom Britischen Mandat zum Teilungsplan
Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des
Ersten Weltkriegs erhielt Groszligbritannien ein Mandat des Voumll-
kerbundes zur Administration des Mandatsgebiets Palaumlstina Je-
rusalem war waumlhrend dieser Zeit die Hauptstadt des Mandatsge-
biets26 Das Volk im Mandatsgebiet wurde nicht seiner Souve-
raumlnitaumlt beraubt sondern an seiner Ausuumlbung voruumlbergehend ge-
hindert27 Daher wird die genaue Souveraumlnitaumltslage seit diesem
Zeitpunkt treffend als bdquoVakuumldquo bezeichnet28 Insbesondere
war Palaumlstina inklusive Jerusalem zu diesem Zeitpunkt keine
terra nullius auf dem ein originaumlrer Gebietserwerb durch Ok-
kupation29 moumlglich gewesen waumlre
Nach der Aufloumlsung des Voumllkerbundes uumlbertrug Groszligbritan-
nien die Entscheidungsmacht zur Zukunft Palaumlstinas ndash nicht aber
die Souveraumlnitaumlt ndash an die UNO Der UN-Teilungsplan fuumlr Palaumls-
tina 1947 sah eine Beendigung des britischen Mandats und eine
Aufteilung in arabische und juumldische Gebiete vor ndash Jerusalem
sollte als corpus seperatum unter internationale Kontrolle ge-
stellt werden30 Der Teilungsplan verhinderte die Aufgabe der
Souveraumlnitaumlt im Sinne einer Dereliktion welche Palaumlstina zur
terra nullius gemacht haumltte31 Der Treuhandrat der UNO wurde
mit der Administration Jerusalems betraut Auch diese Admi-
nistration bedeutete lediglich die bdquobesitzendeldquo Gebietshoheit
keine rechtliche Souveraumlnitaumlt32 Dem Teilungsplan kam keine
Legislativwirkung zu33
27 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 6 28 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 13 Draper in Koumlchler The
Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 Hirsch in Israel Law Review Volume 38 Issue 1-2 2005
298 300 29 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 36 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumll-
kerrecht S 331 30 UN ARES181 (II) 31 Draper in Koumlchler The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 32 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 8 33 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 274 Fn 8 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy
Places S 16
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
12
Die Jewish Agency eine Art Vorlaumluferregierung Israels war
mit dem Teilungsplan einverstanden die arabische Seite auf-
grund der Unproportionalitaumlt gemessen an der Bevoumllkerungs-
zahl dagegen nicht34
II Erster Arabisch-Israelischer Krieg
In der Folge des nach der Proklamation des Staates Israels am
14051948 (dem Tag des Mandatsendes) ausbrechenden Kriegs
zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde das haupt-
saumlchlich juumldisch bevoumllkerte West-Jerusalem von Israel und Ost-
Jerusalem wo uumlberwiegend Araber lebten von Jordanien mili-
taumlrisch besetzt35 Die Besetzungen werden teils schon als fakti-
sche Annexionen beider Seiten36 und als stillschweigend von der
UNO akzeptiert angesehen37 Als Annexion wird der einseitige
Akt eines Staates bezeichnet durch den dieser gegen den Willen
eines fremden Staates dessen Staatsgebiet zu seinem eigenen
macht38 Selbst wenn das Schweigen der UNO als Duldung in-
terpretiert wird kann sich diese nur auf das Vorliegen der de
facto Autoritaumlt beziehen und nicht die Anerkennung voll ausge-
reifter Souveraumlnitaumlt begruumlnden39 Die Aufteilung in West- und
Ostjerusalem wurde Teil des Waffenstillstandsabkommens vom
441949 zwischen Israel und Jordanien und als sog bdquogruumlne Li-
nieldquo bekannt40 Sie ist die Grundlage anerkannter politischer
faktischer Souveraumlnitaumlt41 Am 23011950 erklaumlrte Israel Jerusa-
lem zu seiner Hauptstadt und siedelte seine Regierung in West-
jerusalem an42 Damit schafft Israel vollendete Tatsachen mit
der Absicht der Dauerhaftigkeit (fait accompli) was einer de-
facto Annexion gleichkommt43
III Sechstagekrieg
Bei diesem Status der Teilung zwischen Ost- und Westjerusalem
blieb es bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 bei dem Israel
nach einem Uumlberraschungsschlag Ostjerusalem eroberte in
seine Verwaltung eingliederte44 Ob Israel oder seine Gegner
letztlich Aggressor des Sechstagekriegs waren ist bis heute um-
stritten45 Jedoch betont der Sicherheitsrat die Unzulaumlssigkeit
des Gebietserwerbs durch Krieg ohne bei der Formulierung auf
Aggression abzustellen46 Somit spielt es keine Rolle wer letzt-
lich Aggressor war denn klar ist dass die Besetzung Ostjerusa-
lems durch Waffengewalt erreicht wurde47
34 Saperia in Journal of East Asia and International Law Vol 3 Nr 1 2010
175 177 35 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 279 Cattan Palestine and International Law The Le-
gal Aspects of the Arab-Israeli Conflict S 23 f Korman The Right to Con-
quest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 36 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 25 37 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 23 38 HailbronnerKau in Vitzthum Voumllkerrecht 2010 RN 137 39 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 281 40 42 UNTS 303 No 656 41 Korman The Right to Conquest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 42 UN DPI2276 Chapter 12 S 4 43 vgl IGH Wall in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 121 44 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 Cassese The Human Dimension of International Law Sel-ected Papers of Antonio Cassese 2008 272 284
Der UN Sicherheitsrat forderte zur sofortigen Beendigung
aller kriegerischen Aktivitaumlten und zum Ruumlckzug der israeli-
schen Streitkraumlfte aus (den) im juumlngsten Konflikt eroberten Ge-
bieten48 auf Dass auf zuvor besetzte Gebiete kein Bezug ge-
nommen wird wird als de facto Anerkennung der Souveraumlnitaumlt
innerhalb der vor dem Sechstagekrieg bestehenden faktischen
Grenzen gewertet49
IV Die Annexion Ostjerusalems durch Israel
Die de-jure Annexion folgt mit dem sog Jerusalemgesetz50
1980 welches rechtliche Anspruumlche auf die ganze Stadt als
ewige und unteilbare Hauptstadt Israels erhob51 Israel verstoumlszligt
damit gegen das in Art 2 (4) der UN-Charta festgelegte Gewalt-
verbot und gegen die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung52
Der Sicherheitsrat forderte Israel auf vom Festhalten an einer
Politik und an Maszlignahmen abzusehen die sich auf den Status
Jerusalems auswirken53 Als Israel dem nicht Folge leistete er-
klaumlrte der Sicherheitsrat das Jerusalemgesetz fuumlr null und nichtig
und forderte alle Mitgliedstaaten auf bestehende diplomatische
Vertretungen aus der heiligen Stadt abzuziehen54 Die rechtlich
bindende Resolution des Sicherheitsrates verurteilt eindeutig
das Vorgehen Israels als voumllkerrechtswidrig Es bestehen keine
Souveraumlnitaumltsrechte Israels auf Ostjerusalem
V Souveraumlnitaumltsanspruumlche der Palaumlstinenser
Auf der anderen Seite begruumlndeten die Palaumlstinenser ihren An-
spruch auf Jerusalem als Hauptstadt eines zukuumlnftigen unabhaumln-
gigen Staates vor allem damit dass vor der massenhaften Aus-
wanderung vieler Juden aus allen Laumlndern Europas waumlhrend des
Holocaust nach Israel Muslime die groumlszligte Bevoumllkerungsgruppe
im Gebiet des historischen Palaumlstina waren Koumlnig Hussein von
Jordanien erklaumlrte im Juli 1998 den Verzicht Jordaniens auf
Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Jerusalem und das Westjordanland
zugunsten der 1964 gegruumlndeten Palaumlstinensischen Befreiungs-
organisation PLO55 Diese wird seit 1974 von der Generalver-
sammlung als legitime Repraumlsentation des Volkes anerkannt56
45 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 46 SRES233 47 Wright in The Americal Journal of Internatinal Law Vol 64 Nr 2 1970
270 270 48 SRES242 engl from territories frnz des territoires 49 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 252 50 Basic Law Jerusalem Capital of Israel Sefer Ha-Chukkim No 980 of the
23th Av 5740 (5 August 1980) S 186 Englische Fassung unter httpswwwknessetgovillawsspecialengbasic10_enghtm (Stand
24022019) 51 Dawidowitz in Crawford ua The Law of International Responsibility Ox-ford Commentaries on International Law 2010 677 681 52 Randelzhofer in Simma The Charter of the United Nations A Commentary
Art 2 S 74 RN 14 53 SRES476 54 SRES478 55 Paech in Das Argument 321 59 Jahrgang Heft 12017 91 100 56 Shaw International Law 2017 196 ARES3236 (XXIX) APV2282
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
13
Am 15111988 rief die PLO in Algier den Staat Palaumlstina aus57
Die Staatsqualitaumlt Palaumlstinas ist jedoch umstritten Zum einen ist
trotz des jordanischen Verzichts die genaue Territorialhoheit zu
unbestimmt zum anderen ist das Ausuumlben einer effektiven
Staatsgewalt zweifelhaft58 Seit Ende 2012 erkennt die UNO Ge-
neralversammlung Palaumlstina als non-member observer state an
was als Vorstufe zur Vollmitgliedschaft gilt59 In der entspre-
chenden Resolution wird Jerusalem als Hauptstadt zweier Staa-
ten bezeichnet Die Weltgemeinschaft haumllt also am Streben nach
einer Zwei-Staaten-Loumlsung fest Eine Vollmitgliedschaft in der
UNO scheiterte bisher trotz der begruumlszligenden Haltung der Gene-
ralversammlung60 am Veto der USA im Sicherheitsrat61
VI Zwischenfazit
Die Darstellung zeigt dass der Status der Stadt nicht nur um-
stritten sondern noch ungeklaumlrt ist Eine verbindliche einver-
nehmliche Regelung gab es nicht Die exakten Souveraumlnitaumltsver-
haumlltnisse in Jerusalem befinden sich nach wie vor im Schwebe-
zustand Trotzdem ist Jerusalem die de facto Hauptstadt Israels
Israels Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Westjerusalem sind weniger
umstritten als diejenigen auf Ostjerusalem Durch die rechtliche
Anerkennung der Veraumlnderung des Status Ostjerusalems durch
die uumlberwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft oder durch
Organe der UN mit entsprechen Kompetenzen koumlnnte die zu-
naumlchst illegitime Autoritaumlt Souveraumln werden62 Dies meint nicht
die Genese von Staatlichkeit im Sinne der konstitutiven Theorie
sondern die Entstehung von Voumllkergewohnheitsrecht
E Trumps Politik und ihre voumllkerrechtlichen Grenzen
I Hintergruumlnde das Verhaumlltnis der USA und Israel
Die Ambiguitaumlt zwischen dem bisherigen Abstimmverhalten der
USA in der UNO und dem ploumltzlichen Umschwenken durch
Trump hat ihren Ursprung in der Gewaltenteilung63 Waumlhrend
die Exekutive oftmals im Einklang mit Haltung der Staatenge-
meinschaft handelte unternahm die nationale Legislative Ver-
suche sie hieran zu hindern64 Die Anerkennung der Rechtmauml-
szligigkeit des Status quo ist in der US-Politik kein Novum inner-
halb der Exekutive und auf auszligenpolitischer Ebene dagegen ist
Trumps sympathisierende Haltung eine Kehrtwende
Die US-amerikanische auszligenpolitische Haltung laumlsst sich
dahingehend zusammenfassen dass keine entschiedene Position
57 Unabhaumlngigkeitserklaumlrung des Staates Palaumlstina in Algier 15111988 Deut-
sche Fassung abrufbar unter der Webpraumlsenz der diplomatischen Mission Palaumls-
tinas in Deutschland httppalaestinaorguploadsmediaunabhaengigkeitser-klaerungpdf (Stand24022019) 58 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 138 59 ARES6719 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und
Voumllkerrecht Band 30 2016 173 190 60 ARES6719 61 A66371 S2011592 23 62 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 286 63 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 64 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 65 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 2 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
bezuumlglich des Status Jerusalems bezogen wurde denn dieser
solle in kuumlnftigen Verhandlungen der beteiligten Parteien fest-
gelegt werden Die Anerkennung Israels durch US-Praumlsident
Truman begruumlnde keine Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt
uumlber Jerusalem65 Eine Anerkennung Israelischer Souveraumlnitaumlt
unterblieb sogar bezuumlglich West-Jerusalems aufgrund von
Zweifeln an der Faumlhigkeit zur tatsaumlchlichen Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung66 wenngleich die USA Jerusalem als de facto Hauptstadt
Israels anerkannten67
Eine klarere Position vertrat der legislative Zweig Im Kon-
gress herrschte die Auffassung Jerusalem sei die rechtmaumlszligige
Hauptstadt Israels68 was zudem der uumlberwiegenden Auffassung
der US-amerikanischen Bevoumllkerung entspricht69 Diese Sicht-
weise versuchte der Kongress der Exekutive durch eine Reihe
von Gesetzesinitiativen aufzudraumlngen70 Der Jerusalem Em-
bassy Act of 1995 sieht die Verlegung der US-Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem vor71 Jedoch liegt die verfassungsmaumlszligige
Entscheidungshoheit uumlber die Anerkennung beim Praumlsidenten
da nur die Exekutive Zugriff auf alle entscheidungsrelevanten
Informationen hat72 Daher musste der Act mit einer Klausel er-
lassen werden welche die Moumlglichkeit eines Aufschubs durch
den Praumlsidenten zur Wahrung der nationalen Sicherheit um je-
weils sechs Monate vorsieht73 Von diesem Vollstreckungshin-
dernis machten die US-Praumlsidenten seit 1995 Gebrauch Die
Botschaftsverlegung und Anerkennung der Hauptstadt ist eine
politische Entscheidung keine diplomatische Trump beugt sich
dem Druck der Legislative und erfuumlllt ein Wahlkampfverspre-
chen
II Die Vereinbarkeit von Trumps Vorgehen mit dem voumllkerrechtlichen Status Jerusalems
Die Frage nach der voumllkerrechtlichen Vereinbarkeit muss be-
zuumlglich der Anerkennung als Hauptstadt und der Verlegung der
Botschaft getrennt beantwortet werden
1 Die Anerkennung als Hauptstadt
a) Gesamtjerusalem als Gegenstand der Anerkennung
66 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 340 67 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 838 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 68 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839-40 69 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 70 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 71 Jerusalem Embassy Act of 1995 Sec 3a (3) 3b httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 72 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 10 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 73 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 6 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
14
Die Anerkennung von Israels Wahl seiner Hauptstadt ist nicht
gaumlnzlich neu Bereits am 6042017 erklaumlrte Russland Westje-
rusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen Gleichzeitig
wurde das Bestreben bekraumlftig Ostjerusalem solle die Haupt-
stadt eines kuumlnftigen Palaumlstinensischen Staates werden74 Trump
signalisierte ebenfalls seine weiterhin bestehende Unterstuumltzung
der Zwei-Staaten-Loumlsung und betonte keine Position zum fina-
len Status zu beziehen insbesondere nicht bezuumlglich der spezi-
fischen Grenzen israelischer Souveraumlnitaumlt75 Das erscheint je-
doch widerspruumlchlich da er gleichzeitig nicht zwischen Ost-
und Westjerusalem unterscheidet Wenngleich er sich nicht di-
rekt auf das Jerusalem in der israelischen Sichtweise bezieht
handelt er in Ausfuumlhrung des Jerusalem Embassy Act welcher
Jerusalem als bdquowiedervereintldquo durch die Folgen des Sechstage-
krieges bezeichnet76 Ferner bezieht er sich auf die tatsaumlchlich
bestehende Herrschaft Israels welche sich ebenfalls auf die ge-
samte Stadt erstreckt Im Wortlaut seiner Erklaumlrung vom
6122017 findet sich keine Unterscheidung zwischen Ost und
West und schon im Wahlkampf hatte er eine Anerkennung der
ungeteilten Stadt angekuumlndigt77
b) Anerkennung faktischer Souveraumlnitaumlt
Trump betont ndash ebenso wie die Botschafterin der USA bei der
UNO Nikki Haley ndash uumlber den finalen Status der Stadt also auch
uumlber die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse kein Urteil faumlllen zu wol-
len78 Es stellt sich folglich die Frage ob die Anerkennung oder
Akzeptanz der faktischen Situation von der Anerkennung recht-
licher Souveraumlnitaumlt zu unterscheiden ist Jedoch ist die Wahl der
Hauptstadt Ausdruck des inneren Souveraumlnitaumltsrechts Waumlhrend
de facto Herrschaft ohne rechtliche Souveraumlnitaumlt bestehen kann
ist die Wahl der Hauptstadt Ausdruck von Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung braucht daher einen Rechtsgrund Somit kommt eine An-
erkennung faktischer Souveraumlnitaumlt nicht in Betracht ohne zu-
gleich eine anerkennende Haltung bezuumlglich voll ausgereifter
Souveraumlnitaumltsrechte zu treffen
c) Anerkennung rechtlicher Souveraumlnitaumlt
Anknuumlpfend an das Abstellen auf tatsaumlchlich bestehende Herr-
schaftsverhaumlltnisse koumlnnte die Argumentation zur Rechtmaumlszligig-
keit der Anerkennung mit dem aus dem roumlmischen Recht stam-
menden Grundsatz uti possidetis ita possidetis (wie ihr besitzt
so sollt ihr besitzen)79 begruumlndet werden Das Prinzip baut auf
das Vorliegen rechtlicher Eingestaumlndnisse des vormaligen Sou-
74 Foreign Ministry statement regarding Palestinian-Israeli settlement
6 April 2017 httpwwwmidruenforeign_policynews-asset_pub-lishercKNonkJE02Bwcontentid2717182p_p_id=101_INSTANCE_cKNon-
kJE02Bwamp_101_INSTANCE_cKNonkJE02Bw_languageId=en_GB (Stand
24022019) 75 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember
2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-jerusalem (Stand 24022019) 76 Jerusalem Embassy Act Sec 2 (6) httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 77 Dpa Trump wuumlrde ganz Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen Suumld-
deutsche Zeitung Meldung vom 25 September 2016 2207
httpwwwsueddeutschedenewspolitikwahlen-trump-wuerde-ganz-jerusa-lem-als-hauptstadt-israels-anerkennen-dpaurn-newsml-dpa-com-20090101-
160925-99-587350 (Stand 24022019) 78 SC13125 79 Torres Bernaacuterdez FS-Zemanek 1994 417 421
veraumlns zu einem bestimmten entscheidungserheblichen Zeit-
punkt auf80 Im Fall israelischer Gebietsanspruumlche uumlber Ostjeru-
salem fehlt es an diesen beiden Faktoren Bezuumlglich auf Westje-
rusalem begrenzte Souveraumlnitaumltsanspruumlche koumlnnte das Waffen-
stillstandsabkommen von 1949 herangezogen werden81 Die
bdquogruumlne Linieldquo koumlnnte dabei das territoriale Eingestaumlndnis sein
Jedoch wird der uti possidetis Grundsatz von konkreten voumllker-
rechtlichen Vereinbarungen verdraumlngt82 Eine solche besteht fuumlr
Jerusalem durch das Waffenstillstandsabkommen von 194983
Somit schlaumlgt auch die Anwendung des uti possidetis Prinzips
unter Hinzuziehung des Effektivitaumltsgrundsatzes fehl
Waumlhrend Mitte des 20 Jahrhunderts der gewohnheitsrecht-
liche Standard anerkannt war gewaltsame Gebietsaumlnderungen
fuumlr rechtmaumlszligig anzuerkennen laumlsst sich dies heute nicht mit der
Pflicht zur Nichtanerkennung unrechtmaumlszligiger Situationen ver-
einbaren84 Insbesondere bei der Bildung von Voumllkergewohn-
heitsrecht hat das Faktische eine normative Kraft es schafft je-
doch kein Recht85 Dies wird von Trump grundlegend verkannt
Auf die Abkehr von dem Prinzip ex factis ius oritur wurde be-
reits eingegangen86 Rechtliche Wirkung entfalten allein voumllker-
rechtliche Normen Die vorangegangenen Ausfuumlhrungen und
die Untersuchung des voumllkerrechtlichen Status Jerusalems zei-
gen dass es keine entsprechende voumllkerrechtliche Fundierung
fuumlr die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gibt das
Voumllkerrecht dem sogar klar entgegensteht
Es wird diskutiert ob die Pflicht zur Nicht-Anerkennung un-
mittelbar anwendbar ist sobald die ausloumlsenden Tatbestandsvo-
raussetzungen vorliegen oder ob es eines entsprechenden Hin-
weises einer unparteiischen Autoritaumlt bedarf um zu verhindern
dass sich einzelne Staaten als Schiedsrichter aufspielen87 Die
Frage eruumlbrigt sich da entsprechende Resolutionen der UNO
vorliegen Es spielt keine Rolle dass die unrechtmaumlszligige Anne-
xion bereits fast 40 Jahre zuruumlck liegt denn die Pflicht zur
Nichtanerkennung ist in ihrer Dauer unbegrenzt88
Somit konnte zeigt sich im Ergebnis die Unvereinbarkeit ei-
ner Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt uumlber Gesamtjerusa-
lem mit dem Voumllkerrecht
2 Die Verlegung der Botschaft
Davon getrennt ist abschlieszligend noch die Frage zu klaumlren ob
auch die Botschaftsverlegung gegen das Voumllkerrecht verstoumlszligt
Die Nichtigkeitserklaumlrung des Jerusalemgesetzes beinhaltete
80 Nesi in Max Planck Encyclopedia of International Public Law 2011 Uti Pos-
sidetis Doctrine RN 10 81 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumll-
kerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht
Band 30 2016 173 181 82 Blumenwitz FS Wuumlrzburg 2002 377 381 83 42 UNTS 303 No 656 84 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues and uncertainties S 7 85 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumllkerrecht S 69 bezugnehmend auf
Jellineks allgemeine Staatslehre 86 Vgl oben (Fn22) H Lauterpacht Recognition in International Law S 426 87 Vgl Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger
Gebietsaumlnderungen S 146 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contempo-rary international law issues and uncertainties S 12 f 88 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 18
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
15
auch die Aufforderung des Sicherheitsrates an alle Nationen die
diplomatische Missionen in Jerusalem aufgebaut hatten diese
aus der heiligen Stadt abzuziehen89 Daraufhin verlegten alle 13
in Jerusalem diplomatisch vertretenen Nationen ihre Botschaf-
ten nach Tel Aviv90 Jedoch trifft die entsprechende Resolution
keine Aussage uumlber die Dauerhaftigkeit des Ruumlckzugs Somit ist
zu fragen ob es daher grundsaumltzlich ausgeschlossen ist wieder
Botschaften nach Jerusalem zu verlegen Die Pflicht zur Nicht-
Anerkennung umfasst auch die Pflicht Handlungen zu unterlas-
sen die eine Anerkennung implizieren koumlnnten91 In Jerusalem
befinden sich unter anderem Generalkonsulate von Italien Grie-
chenland Groszligbritannien Frankreich und den USA92 Jedoch
geht im Gegensatz zu einer konsularischen Mission von einer
Botschaft eine hohe symbolische Wirkung aus93 Dem konklu-
denten Inhalt dieser Symbolkraft muumlsste explizit widersprochen
werden anderenfalls muumlsste die Verlegung der Botschaft als
konkludente Anerkennungserklaumlrung von Israelischer Souverauml-
nitaumlt uumlber das Gebiet des Botschaftsstandorts verstanden wer-
den94 Wenngleich die meisten diplomatischen Missionen in den
Hauptstaumldten aufgebaut werden enthaumllt die Wahl des Bot-
schaftsstandorts fuumlr sich genommen auch keine Aussage uumlber
den Status einer Stadt als Hauptstadt auch die USA unterhalten
in einigen Laumlndern Botschaften auszligerhalb der anerkannten
Hauptstadt95 Es bestuumlnde die Moumlglichkeit die Botschaft nach
Westjerusalem zu verlegen wo die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
weniger umstritten sind96 Angekuumlndigt ist der Umzug in das be-
reits bestehende Konsulat in Arnona97 Das Viertel wird von der
Grenze zwischen Ost und Westjerusalem durchzogen Das US-
Konsulat befindet sich auf der Waffenstillstandslinie von 1949
Somit wuumlrde nicht inhaumlrent eine Anerkennung uumlber Souveraumlni-
taumltsverhaumlltnisse erfolgen
Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Verlegung der
Botschaft vor allem deshalb so hohe Bedeutung beigemessen
wird weil sie im selben Atemzug angekuumlndigt wird wie die An-
erkennung Gesamtjerusalems als Hauptstadt Israels und diese
somit symbolisch bekraumlftigt Fuumlr sich betrachtet waumlre ein Um-
zug moumlglich ohne die Grenzen des Voumllkerrechts zu uumlberschrei-
ten Dann muumlsste zugleich bekraumlftigt werden dass eine Aner-
kennung der Annexion von 1980 unterbleibt Der von Trump
gewaumlhlte Rahmen der Anordnung der Botschaftsverlegung ent-
haumllt jedoch eine konkludente Anerkennung Israelischer Souve-
raumlnitaumlt und verstoumlszligt damit gegen das Voumllkerrecht
III Internationale Bewertungen und Reaktionen
Als Reaktion auf Trumps Entscheidung sah ein von Aumlgypten
eingebrachter Resolutionsentwurf des Sicherheitsrates vor alle
89 SRES 478 90 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 53 91 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 15 92 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-saumlnderungen S 53 93 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 31 94 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 165 95 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839 Fn 11 96 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The Future of Jerusalem A Symposium 837 839 840
Nationen aufzufordern keine diplomatischen Missionen in Je-
rusalem aufzubauen die Abhaumlngigkeit des finalen Status Jeru-
salems von zukuumlnftigen Verhandlungen zwischen Israelis und
Palaumlstinensern zu betonen und juumlngste Entscheidungen die dem
entgegenstuumlnden zu verurteilen Auszligerdem sollten Trends die
die Zwei-Staaten-Loumlsung gefaumlhrden reversiert werden98 Der
Entwurf scheiterte am 18122017 durch das Veto der USA mit
einer 14-1 Abstimmung
Einen Tag spaumlter verabschiedete die Generalversammlung
mit 128 Ja-Stimmen 9 Nein-Stimmen und 35 Enthaltungen eine
Resolution mit aumlhnlichem Tenor Unter anderem rief sie alle
Mitgliedstaaten dazu auf den Aufbau diplomatischer Missionen
in Jerusalem zu unterlassen99 Eine direkte Erwaumlhnung und Ver-
urteilung der von Trump eingeleiteten Schritte erfolgte gleich-
wohl nicht Die Resolution ist rechtlich nicht bindend hat aber
Symbolcharakter Die Haltung der Staatengemeinschaft laumlsst
sich als Verurteilung des Nichtnachkommens der voumllkerrechtli-
chen Pflicht die Annexion Ostjerusalems von 1980 nicht anzu-
erkennen qualifizieren
Die Reaktionen zeigen zudem dass die internationale Staa-
tengemeinschaft Trumps Entscheidungen fuumlr die weitere Ent-
wicklung des Nahostkonflikts fuumlr nicht friedensfoumlrderlich haumllt
was zumindest zunaumlchst durch die weitere Entwicklung bestaumltigt
wurde In den Tagen nach Trumps Verkuumlndung kam es in Jeru-
salem vermehrt zu Gewalt Palaumlstinensische Extremisten kuumln-
digten bdquoTage des Zornsldquo an100 Am Tag der Botschaftsverlegung
am 15052018 kam es zu Ausschreitungen mit Duzenden Toten
F Fazit
Jerusalems Sonderrolle als heilige Stadt dreier Weltreligionen
bringt eine emotionale Aufladung des Konflikts mit sich und er-
schwert den Friedensprozess da scheinbar wichtigere Werte das
Ziel in den Schatten stellen101 Fuumlr eine Internationalisierung
konnten sich beide Seiten nicht begeistern102 Ein beidseitiger
Verzicht auf Jerusalem als politische Hauptstadt koumlnnte der Son-
derrolle der Stadt als religioumlse Staumltte am besten gerecht werden
den Konflikt durch Vermeidung von Provokationen emotional
entladen und so den Friedensprozess foumlrdern
Die Autorin studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaf-ten an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg mit dem Schwerpunkt bdquoDeutsches Europaumlisches und Internationales Oumlffentliches Rechtldquo Der Beitrag beruht auf einer Studienarbeit im Rahmen des Seminars bdquoGrundlagen und Grenzen staatlicher Souveraumlnitaumlt ndash aktuelle Prob-leme und voumllkerrechtliche Loumlsungenldquo bei Frau Prof Dr Voumlneky im Sommersemester 2018
97 Nauert Heather Press Statement Opening of US Embassy in Jerusalem
23 Februar 2018 httpswwwstategovrpaprsps201802278825htm
(Stand 24022019) 98 S20171060 99 AES-10L22 100 Reuters Israeli minister sees Trump sbquohintlsquo at Jerusalem Partition with Pales-tinians 8 Dezember 2017 httpswwwreuterscomarticleus-usa-trump-is-
rael-partitionisraeli-minister-sees-trump-hint-at-jerusalem-partition-with-pa-
lestinians-idUSKBN1E21OL (Stand 24022019) 101 Wilson in Middle East Journal Vol 23 No 1 1969 1 1 StoverMankaryous
in International Journal on World Peace Vol 25 Nr 4 Dezember 2008 115
129 102 Ben-DrorZiedler in Diplomacy amp Statecraft Volume 26 2015 636 639
Praktikanten Referendare Wissenschaftliche Mitarbeiter (mw)
Eins drauflegenWas gute Juristen noch besser macht
Besondere Talente verdienen besondere Foumlrderung Fuumlr diesen Anspruch steht unsere ReferendarAcademy Als eine der weltweit fuumlhrenden Anwaltssozietaumlten sind wir immer auf der Suche nach hochqualifizierten Nachwuchskraumlften (mw) fuumlr unsere Buumlros in Duumlsseldorf Frankfurt am Main und Muumlnchen Ausgezeichnete Examina und exzellentes Englisch setzen wir dabei voraus Im Rahmen unserer ReferendarAcademy bieten wir Ihnen als Referendar u a in Zusammenarbeit mit dem Repetitorium KAISERSEMINARE Intensivkurse zur Vorbereitung auf das Assessorexamen einen Uumlber blick uumlber unsere Rechts be reiche und eine Einfuumlh rung in relevante Business Skills Fuumlr die stetige Weiter bildung un-serer Anwaumllte sorgt die Clifford Chance Academy
Erfahrene externe und interne Referenten informieren uumlber aktuelle juristische Entwick lungen und ver mitteln Faumlhigkeiten und Kenntnisse die fuumlr eine Berater per-soumln lichkeit entscheidend sind Haben wir Ihr Inter esse ge weckt Wir freuen uns uumlber Ihre Bewerbung per E-Mail an karrierecliffordchancecom Ihre Ansprech partnerin Nicola von Tschirnhaus 069 7199-4477
Career starts with CInformationen zu uns und der ReferendarAcademy wwwclif fordchancecomkarriere
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 17
Die Problematik der europaumlischen Demokratie und
die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGHs
-
von Soma Hegedős
Abstract
Eine Kardinalskritik in Bezug auf die Funktionsweise der
EU ist dass die EU eine bdquoantidemokratischerdquo Institution sei
sowie dass die Buumlrgerschaft der Mitgliedsstaaten ihre
Entscheidungen kaum beeinflussen kann Von diesem kri-
tischen Aspekt ausgehend wird die Beziehung zwischen
Demokratie und der EU unten ndash umfassend - untersucht
Ein zentraler Aspekt dieser Untersuchung ist die genaue
Betrachtung des Status und der Kompetenzen des EuGH
und zwar vor allem aus zweierlei Gruumlnden Zum einen ist
ein entscheidender Punkt der Kritiken die rechtsschoumlp-
fende Taumltigkeit des EuGH seit den Sechzigern bis heute
ohne ausreichende (demokratische) Legitimation Zum
anderen kann man mit der Pruumlfung seiner rechtsfortbilden-
den Taumltigkeit und seinen zur Rechtsschoumlpfung fuumlhrenden
Urteilsfeststellungen auch die Problematik der Demokratie
und der EU im Zeitalter der Globalisierung besser begrei-
fen
A Einleitung
Zahlreiche moderne Theoretiker - beispielsweise der ungarische
Gyula Mooacuter1 - sehen die Demokratie nicht nur als einen bloszligen
politikwissenschaftlichen Begriff oder eine Organisationsme-
thode von Gewalt an sondern als einen komplexeren Ausdruck
der auch die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen erklaumlren
kann Die Theorien die sich auf den pluralistischen Charakter
der Gesellschaften und des politischen Spektrums bzw auf die
Elitebildung fokussieren haben auf viele kritische Punkte hin-
gewiesen und in vielen Faumlllen die Durchfuumlhrbarkeit der Demo-
kratie infrage gestellt Nach ihren Thesen werden gewisse enge
Elitegruppierungen ndash fruumlher oder spaumlter ndash unmittelbaren Ein-
fluss auf die politischen Entscheidungen haben Hier ist die De-
mokratie-Vorstellung von Joseph Schumpeter zu erwaumlhnen in
deren Mittelpunkt der Konkurrenzkampf und der marktwirt-
schaftliche Wettbewerb stehen Schumpeter sieht das von den
Elitetheorien beleuchtete Problem darin so aufgeloumlst dass die
um die politische Macht kaumlmpfenden Eliten auch fuumlr die Voten
der Einzelnen kaumlmpfen muumlssen Und die Individuen koumlnnen
1 Vgl Gyula Mooacuter A demokraacutecia oumlrveacutenyei In Erdei-Fischer-Horvaacuteth
A demokraacutecia Egyetemi Nyomda Budapest 1945 s 96 ff 2 Vgl Schumpeter Joseph A Kapitalismus Sozialismus und Demokra-
tie A Francke Verlag Tuumlbingen 2018 S 365 ff 3 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie In Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 S 237
eben durch diesen um ihre Voten durchgefuumlhrten Wettbewerb
(bdquoKonkurrenzkampfldquo) Einfluss auf das oumlffentlichen Leben er-
werben2 Hans Kelsen hat es so gehalten dass diese Konfronta-
tion der Gerichte sowohl gegenuumlber der Gesetzgebung als auch
gegenuumlber der Regierung nicht stichhaltig sei Die strenge Tren-
nung der Gewalten schraumlnkt eben die Erfuumlllbarkeit des Volks-
willens ein3 Laut Giovanni Sartori sollte die Volksherrschaft
nach wie vor im Fokus einer demokratischen Staatsorganisation
stehen D h man muss auf solche Fragen eine sinnvolle Ant-
wort geben wie Was ist ein Volk uumlberhaupt und wie kann das
Volk den entscheidenden Einfluss auf die Herrschaft behalten4
In der Auffassung von Juumlrgen Habermas kann die Loumlsung dieser
Probleme durch die Institution eines Parlaments verwirklicht
werden5 In der Demokratie-Interpretation von Habermas ist we-
sentlich dass die zivile Gesellschaft eine tatsaumlchliche Kontrolle
uumlber die politische Sphaumlre und Verwaltung ausuumlbt und das Par-
lament ndash als Teil der Zivilgesellschaft - eine zentrale Rolle in
diesem Kontrollmechanismus spielt
Diese oben genannten Beispiele zeigen dass ein lebhafter
Diskurs uumlber die Interpretationsmoumlglichkeit und die Durchfuumlhr-
barkeit von Demokratie stattgefunden hat Das bdquoSortimentrdquo der
Vorstellungen uumlber die institutionelle Realisation der Demokra-
tie bdquoreicht von rousseauistischen uumlber elitenbezogene und plura-
listische sowie partizipationsorientierte Demokratiemodelle bis
hin zu den Spielarten marxistischer Staatstheorierdquo allerdings
darf das Erfordernis der Demokratie nicht ins bdquostaatstheoreti-
sche Ungewisse fuumlhrenrdquo ndash stellt Winfried Veil fest6 Daraus folgt
die Frage was jene festen Gedankengrundlagen sind aus denen
ein demokratisches Institutionsgefuumlge auch auf der europaumli-
schen ndash bzw transnationalen - Ebene konfiguriert werden kann
das zugleich auch uumlber rechtliche Bindekraft verfuumlgt
4 Vgl Sartori Giovanni DemokratietheorieWissenschaftliche Buchg
Darmstadt 1992 16 ff 5 Vgl Juumlrgen Habermas Faktizitaumlt und Geltung Frankfurt am Main
Suhrkamp 1992 S 430 ff 6 Veil Winfried Volkssouveraumlnitaumlt und Voumllkersouveraumlnitaumlt in der EU
Nomos Baden-Baden 2007 43
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 18
B Demokratiedilemma auf der Ebene der EU
I Das Europaumlische Parlament und die europaumlischen
Voumllker
Veil ndash die Situation vor dem in Kraft treten der Lissabon-Ver-
traumlge pruumlfend ndash sieht das so dass die Realisierung der Demokra-
tie auf EU-Ebene unter den heutigen gesellschaftlichen und po-
litischen Umstaumlnden keineswegs moumlglich sei Genauer gesagt
zweifelt er daran ob uumlberhaupt die Moumlglichkeit eines richtigen
europaumlischen repraumlsentativen Systems vorliegen koumlnne bdquo(hellip)
findet demokratische Repraumlsentation durch das Europaumlische
Parlament nicht statt Repraumlsentation erfordert naumlmlich mehr als
die bloszlige Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregelnrdquo7
Das Problem besteht einerseits im Mangel an einem europaumli-
schen bdquoDemosrdquo anderseits ist auch das Europaumlische Parlament
nicht dazu geeignet das Demos zu repraumlsentieren Die europaumli-
schen Voumllker sind nicht einheitlich weder kulturell noch
sprachlich noch politisch so kann der Diskurs der zum Funkti-
onieren der Demokratie unabdingbar notwendig ist nicht statt-
finden Es fehlt im Wesentlichen an der zur demokratischen
Meinungsbildung wichtigen bdquoBuumlhnerdquo zur Diskussion der Ange-
legenheiten auf Unionsebene Die Spannung zwischen dem Eu-
ropaumlischen Parlament und der Demokratie entsteht dadurch
dass die Kompetenzen des Europaumlischen Parlaments sehr be-
grenzt innerhalb der EU sind Aus diesem Grund kann das EP
den vom Demos durch die Wahlen ausgedruumlckten Volkswillen
nur eingeschraumlnkt zur Geltung bringen
Das andere grundlegende Problem ist der Verlauf der Euro-
pawahlen Das Ergebnis der Stimmabgabe spiegelt mehr die in-
neren Beziehungen der einzelnen Staaten den Zustand bdquoRegie-
rung-Oppositionrdquo ndash wieder als das Ergebnis jener gesellschaft-
lichen-politischen Dispute die uumlber die gemeinsamen bdquoeuropaumli-
schenrdquo Themen stattgefunden haumltten ndash eroumlrtert Veil8 Ein wei-
teres Dilemma ist die demokratische Legitimation der Instituti-
onen und Handlungen der EU genauer gesagt deren Mangels an
Legitimation Da die Subjekte des Voumllkerrechtes in erster Linie
die Staaten sind und die demokratische Legitimation von den
von Voumllkern begruumlndeten Staaten abgeleitet werden kann soll
die EU als spezieller sui generis Staatenverbund eine Parallelitaumlt
zwischen ihren Handlungen und dem Volkswillen aufweisen
Allerdings kann diese Parallelitaumlt in Bezug auf alle Hauptorgane
der EU nur schwach oder gar nicht nachgewiesen werden meint
Veil Zwar stellt dieser fest dass die demokratische Legitima-
tion nicht eine bdquoAlles oder Nichtsrdquo Frage sei vielmehr eine
bdquomehr oder wenigerrdquo Relation trotzdem bestreitet er ob uumlber-
haupt der akzeptable Mindestgrad der Legitimation jeglicher
EU-Organe noch vorhanden sei9 Umsonst kann man die insti-
tutionellen Grundlagen der EU mit voumllkerrechtlichen Vertraumlgen
sowie Volksabstimmungen legitimieren wenn die vertraglichen
Fundamente nicht mehr mit dem tatsaumlchlichen politischen Be-
trieb der EU vereinbart werden koumlnnen bdquoDas von den Gemein-
7 Veil aao S 157 8 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 9 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 10 Veil aaO S 273
schaftsvertraumlgen errichtete politische System deckt aber die lau-
fende Willensbildung der Gemeinschaftsorgane in legitimatori-
scher Hinsicht nicht mehr abrdquo ndash schreibt Veil10
II Demokratieverflechtung
Das sogenannte Lissabon-Urteil des deutschen BVerfG hat ver-
sucht auf diese Frage eine Antwort zu geben Ein Bundestagab-
geordneter hat 2008 eine Verfassungsbeschwerde gegen den
von Deutschland ratifizierten Vertrag von Lissabon bzw das
Bundesgesetz zum Vertrag von Lissabon eingereicht Nach der
Verfassungsbeschwerde wird der staatliche Charakter Deutsch-
lands mit dem Vertrag von Lissabon gefaumlhrdet zudem wurde
die Verletzung des Demokratiegebotes und das eigentliche Feh-
len der demokratischen Legitimation der EU moniert Das
BVerfG hat in seiner besonders detaillierten Begruumlndung darge-
legt dass auch der Vertrag von Lissabon das Problem des De-
mokratiedefizites nicht loumlsen koumlnne Paradoxerweise wurde zu-
gleich gesagt dass die EU keine bdquoDemokratiefaumlhigkeitrdquo besitze
und daruumlber hinaus darf sie keinen houmlheren Grad der Demokra-
tie disponieren als ihre Mitgliedstaaten Nach Marcus Houmlreth
wird als eine Folgerung des Urteiles die Problematik der sog
Demokratieverflechtung genannt Er begruumlndet dass die Sub-
jekte der demokratischen Legitimation weiterhin die Voumllker der
Mitgliedstaaten bleiben Die EU kann von der Legitimation
durch die mitgliedstaatlichen parlamentarischen Demokratien
nicht abruumlcken Aus diesem Grund ndash und aus der Gebundenheit
an das deutsche Verfassungsrecht ndash folgt dass der Wirkungs-
kreis der mitgliedstaatlichen Parlamente auf keinen Fall voll-
staumlndig ausgehoumlhlt werden darf Nach der Auffassung des deut-
schen BVerfG ist Demokratie ein Staatssystem in dem der
Mehrheitswille von den Parlamenten die durch die auf den glei-
chen Stimmrechten beruhenden Wahlen gewaumlhlt werden in
Form der Gesetzgebung und der Regierungsbildung kontinuier-
lich zur Geltung kommt Der Rahmen dieses Gefuumlges wird
dadurch gegeben dass es vor allem ein bdquoVolkrdquo gibt sowie eine
oumlffentliche Publizitaumlt die fuumlr das Volk die Diskussionen und den
Wettbewerb zwischen der Regierung und der Opposition trans-
parent abbilden kann Das Parlament kommt durch die mehr-
heitliche Entscheidung waumlhrend der Wahlen zustande was vor
allem den Wahlwillen der Bevoumllkerung abbildet und die Kapa-
zitaumlt hat den Volkswillen zu offenbaren Das deutsche BVerfG
hat sich in seiner Demokratieauffassung auf die parlamentari-
sche Souveraumlnitaumlt fokussiert und ausgesagt dass das Instituti-
onssystem der EU diesen Anforderungen nicht entspreche weil
die bdquoauszligerrechtlichen Voraussetzungenrdquo allzu unterentwickelt
sind Aus diesem Grund kann man die Demokratie auf EU-
Ebene nicht mit der nationalstaatlichen Stufe gleichsetzen ndash
fuumlhrt Houmlreth aus11
11 Marcus Houmlreth Die Demokratieverflechtungsfalle ndash Warum die EU
nach dem Lissabon-Urteil demokratisch defizitaumlr bleiben muss In
Lhotta ndash Ketelhut ndash Schoumlne Das Lissabon-Urteil Springer Fach-medien Wiesbaden 2013 S 48 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 19
III Wirtschaftliche Globalisierung und Demokratie
Auch die Machtstrukturen veraumlndern sich mit der Europaumlisie-
rung der Wirtschaft und der Gesellschaften wo Machtausuumlbung
zum bdquoRegierenrdquo wird das Regieren entterritorialisiert wird so
Richard Muumlnch Die Durchfuumlhrbarkeit der Demokratie er-
schwert sich mit der Relativierung der Machtausuumlbung uumlber
konkretes Gebiet und konkretes Volk Es gibt im Zentrum der
Politik nicht mehr den demokratischen Willen der sich durch
die politischen Dispute ausformt sondern die Entscheidungen
werden vom Wettbewerb determiniert Dementsprechend ndash
nach Muumlnch ndash vollzieht der EuGH das Programm der europaumli-
schen Liberalisierung und Individualisierung d h der Integra-
tion deren zentraler Handlungsbeauftragter er ist12 bdquoDie Insti-
tutionalisierung des transnationalen europaumlischen Rechtsraumes
ist in erheblichem Umfang das Werk des Europaumlischen Ge-
richtshofesldquo ndash meint Muumlnch13
Wegen der steigenden Bedeutung von der EU aumlhnlichen in-
ternationalen wirtschaftlichen Kooperationen beschaumlftigen sich
Wissenschaftler immer mehr mit Moumlglichkeiten der Durchsetz-
barkeit der Demokratie auf internationaler Ebene bdquojenseits des
Staatesldquo Drei wichtige Aspekte sind hier von groszliger Bedeu-
tung Der Mangel einer zentralen Macht (Regierung) und des
Parlamentes und die transnationale Transformation des oumlffentli-
chen Diskurses Diese drei Eckpunkte scheinen auch in Bezug
auf die demokratische Qualitaumlt der EU entscheidend zu sein die
unter den wichtigsten internationalen Zusammenschluumlssen ndash
wegen ihrer breiten Aufgabenbereiche und politischen Einfluumlsse
ndash den groumlszligten Demokratiebedarf hat14
C Richterrecht Juristokratie
Weltkonstitutionalisierung
I Richterrecht der politische Aktivismus des
Richters
Die Problematik des Richterrechts ist eine Achillesferse fuumlr die
demokratische Handlungsweise der unterschiedlichen richterli-
chen Foren (siehe z B bei Dworkin) Die Taumltigkeit der Verfas-
sungsgerichte sowie der internationalen Gerichtshoumlfe wurde
durch die richterliche bdquoRechtsschoumlpfungrdquo nunmehr so wesent-
lich dass man uumlber ein spezielles Phaumlnomen der sog bdquojuristo-
kratischenrdquo Tendenzen sprechen kann
Das Richterrecht ist ein altes Problem fuumlr die Rechts - und
Staatstheorie Fuumlr Friedrich Carl von Savigny der eine wichtige
Rolle in der Deutung des Richterrechtes gespielt hatte wurzelt
das Recht im bdquoVolksgeistrdquo als das Ergebnis einer geschichtli-
chen Entwicklung Der politische Aktivismus richtet sich nach
12 Vgl Muumlnch Richard Die Konstruktion der europaumlischen Gesellschaft
Zur Dialekt von transnationaler Integration und nationaler Desintegra-tion Campus Verlag FrankfurtNew York 2008 S 372 ff
13 Vgl Muumlnch aaO S 108 14 Vgl Dingwerth Klaus - Blauberger Michael - Schneider Christian
Postnationale Demokratie VS Verlag fuumlr Sozialwissenschaften Sprin-
ger Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden 2011 S 23 ff und
204 ff 15 Vgl Ruumlthers Bernd Die unbegrenzte Auslegung Mohr Siebeck
Auffassung von Philipp Heck letztendlich auf die Beeinflussung
der Gesetzgebung Wenn die Rechtsbildung durch die richterli-
che Rechtsprechung geschieht wird dem Richter also quasi eine
bdquopolitische Funktionrdquo verliehen Dies kann fuumlr die modernen
Demokratien wichtige Grundprinzipien verletzen das sind die
Konzeptionen uumlber die RechtssicherheitRechtstaatlichkeit und
das mit der Rechtsstaatsidee verbundene bdquogeschriebene Rechtrdquo
bzw bdquokodifizierte Rechtrdquo und die Idee der Gewaltenteilung Ob-
wohl die Ursachen der Abweichungen grundsaumltzlich historisch
sind kann der wesentliche bdquounuumlberwindbareldquo Unterschied zwi-
schen den Rechtskreisen common lawldquo und bdquocivil lawldquo immer
Sache von theoretischen Disputen sein15 bdquo(hellip) evolution of both
a codified and a judge made system of law is characterized by a
constant interplay between legislative and judicial actionrdquo ndash
schreibt Sauveplanne16 der meint ldquoa system of law must be cre-
ated and developed by the interaction between legislature and
judiciaryrdquo17
Es gibt unterschiedliche Ansichten die Substanz des Richter-
rechtes zu bestimmen Der Richter interpretiert das Recht nach
eigenen Anschauungen oder um es mit den Worten Bernd
Ruumlthers zu sagen bdquoder Richter stellt sich in einen Gegensatz zu
gesetzlichen Wertungenrdquo Die verbreitete Ansicht allerdings ist
dass das Richterrecht nichts anderes ist als Rechtsfortbildung in
einer bdquorechtsleerenrdquo Domaumlne sozusagen bdquounentdeckte Raumlumerdquo
die vom Gesetz noch nicht geregelt wurden Eine dritte bdquoweiter-
entwickelterdquo Auffassung uumlber das Richterrecht ist dass der
Richter die Luumlcken mit Wertungen ausfuumlllen soll wie zB im
Fall von Generalklauseln Mit dieser Ansicht verwandt ist der
vierte Typ ein Begriff der unterschiedliche Bedeutungen (In-
halt) haben koumlnnte und daher vom Richter konkretisiert wird18
II Richterrechttypologie und Luumlckenproblematik
Das Richterrecht bildet sich in allen Rechtsordnungen anders
heraus und ist von anderer Bedeutung In den zwei fuumlr die EU
so wichtigen Rechtsordnungen in der franzoumlsischen und deut-
schen gibt es Diskrepanzen im Vergleich in Bezug auf das
Richterrecht Man kann begrifflich das bdquoInterpretierenrdquo von der
bdquoRechtsfortbildungrdquo (Rechtsschoumlpfung) in der deutschen
Rechtstheorie abtrennen Der grundsaumltzliche Unterschied ist der
bdquoSchoumlpfercharakterrdquo der Rechtsfortbildung D h der Richter
uumlbertritt mit der Rechtsfortbildung die Textrahmen der Rechts-
norm waumlhrend er im Fall des Interpretierens nur den Textinhalt
erkennt Die Problematik der Rechtsluumlcke (siehe dazu mehr un-
ter II A) steht im Zentrum der Rechtsfortbildung d h eine Luuml-
cke die nicht vom Text des geschriebenen Rechts gedeckt ist
Diese Luumlcken koumlnnen verschiedenen Typs sein Einige Luumlcken
sind die Ergebnisse einer bewussten Entscheidung des Gesetz-
gebers der das Ausfuumlllen der Rechtsluumlcken der richterlichen
Rechtsprechung der Judikative uumlberlaumlsst In anderen Faumlllen ist
Tuumlbingen 2017 S 1 ff und 457 ff und JG Sauveplanne Codified
and judge made law The Role of Courts and Legislators in Civil and Common Law Systems North-Holland Publishing Company Amster-
dam Oxford New York 1982 16 Sauveplanne aaO S 25 17 Sauveplanne aaO S 28 18 Vgl Ruumlthers dazu aaO S 458 f und vgl Walter Kondrad Rechts-
fortbildung durch den EuGH Duncker amp Humblot Berlin 2009 S
41 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 20
die Luumlckenhaftigkeit der Regelung uumlberhaupt nicht absichtlich
Der Richter kann die Luumlcken mit seinen Beschluumlssen sozusagen
praeter legem (oder pactum) ausfuumlllen in diesem Fall wird die
Regelung im Endeffekt vom Richter ergaumlnzt Die Entscheidung
des Richters steht nicht gegen den moumlglichen Inhalt des Textes
obwohl sie nicht darauf basiert Der Beschluss geht im Fall der
bdquocontra legem (pactum)rdquo Rechtsfortbildung uumlber den Wortlaut
des Gesetzes (oder des Vertrages) hinaus oder steht im konkre-
ten Fall dem Gesetz diametral gegenuumlber Sowohl die Rechts-
fortbildung als auch die bdquoInterpretationrdquo kann in der franzoumlsi-
schen Rechtsordnung im Rahmen der sog bdquoInterpreacutetationrdquo statt-
finden Zudem ist das ein wesentlicher Unterschied im Ver-
gleich zum deutschen System dass also auch die Interpretation
zur Rechtsschoumlpfung fuumlhren kann Die Praxis des EuGHs fokus-
siert sich auf die bdquoInterpreacutetationldquo-Auffassung er macht also kei-
nen terminologischen Unterschied zum franzoumlsischen Recht
Allerdings ist eine inhaltliche Distinktion moumlglich Die Trennli-
nie befindet sich zwischen der Auslegung und Rechtsfortbil-
dung sodass die Auslegung innerhalb des Rahmens eines moumlg-
lichen Wortsinnes noch zumindest mit einer Sprachfassung bdquoab-
gedecktldquo werden kann Dagegen entspricht die Rechtsfortbil-
dung semantisch nicht mehr dem Wortsinn entweder ergaumlnzt sie
die vertraglichen Vorschriften oder die richterliche rechts-
schoumlpfende Taumltigkeit kann nicht mehr mit dem Vertragszweck
parallelisiert werden Ernsthafte Kritiken richten sich konkreter
auch gegen die richterliche Rechtsetzung des EuGHs teilweise
auch von diesem Gesichtspunkt Nach einigen Stellungnahmen
sollten die Grenzen seiner rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit bzw
seiner speziellen Befugnisse ausdruumlcklich in den Vertraumlgen be-
stimmt werden Man darf daher das bdquoVertragswerkldquo des Unions-
rechtes nur als unvollstaumlndig betrachten und die Rolle des
EuGHs als bdquoLegislativorganldquo nur beschraumlnkt akzeptieren19
III Vom Richterrecht zur Juristokratie
Das Problem ist dass die Rechtsauslegungsbefugnisse der Ver-
fassungsgerichte und der internationalen Gerichte immer staumlrker
mit Skepsis betrachtet werden Das Richterrecht das als Ergeb-
nis der richterlichen Rechtsauslegung entsteht erlangt nach ei-
nigen kritischen Betrachtungen nahezu so groszlige Bedeutung
dass man schon uumlber systemumfassende Veraumlnderungen dh
uumlber den Uumlbergang von Demokratie zur Juristokratie von der
Rechtsstaatlichkeit zur sog juristokratischen Regierungsform
sprechen kann Beacutela Pokol ungarischer Verfassungsrichter hat
diese Tendenz vor allem auf der Ebene der Taumltigkeit des Verfas-
sungsgerichtes nachgewiesen Diese Tendenz hat nach Pokol
politische und rechtstheoretische Gruumlnde Rechtstheoretischer
Grund sei zum Beispiel die Ruumlckkehr des weltlichen Natur-
rechts sowie die Staumlrkung der Auffassung uumlber die auf moral-
philosopischer Argumentation basierenden Menschenrechte ndash
19 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff (45-111) und Mittmann Patrick Die
Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europaumlischen Gemein-
schaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europaumlischen Union Peter Lang GmbH Frankfurt am Main 2000 S 235-244 und
S 269 20 Vgl Beacutela Pokol Der juristokratische Staat die Zerlegung seiner As-
pekte Nemzeti Koumlzszolgaacutelati Egyetem Working papers on state Gov-
ernance and Administration 201611 httparchivuni-nkehuup-
loadsmedia_itemsbela-pokol-der-juristokratische-staat-die-zerlegung-
schreibt Pokol20 Man kann unter anderem auch die Ausbreitung
der Rechtsauslegungsmoumlglichkeiten von den Gerichten her klas-
sifizieren die die starke Bindung der Rechtsprechung an den
Gesetzestext gelockert haben Die Grundlage dieser Wandlung
ist dass die Richter im Laufe der Interpretation nicht mehr das
gesucht haben was die subjektive Absicht der Gesetzgebung ge-
wesen ist sondern das was aufgrund der bdquoobjektiven Rationali-
taumltrdquo Ziel gewesen sein koumlnnte Eine dritte Seite dieser Veraumlnde-
rung ist die strukturelle Staumlrkung der Verfassungsgerichte ge-
genuumlber den Parlamenten Die Verfassungsgerichte konnten mit
actio popularis d h mit den gegen die Parlamente anwendbaren
einem dem Vetorecht aumlhnlichen Mittel Entscheidungen der Par-
lamente revidieren
bdquoAuf diese Weise verwandelt sich die Triple-Struktur der Poli-
tikStaatsverwaltungJustiz in die doppelte Struktur der durchpolitisier-
ten Justiz (mit dem Verfassungsgericht an der Spitze) und der unterwor-
fenen oumlffentlichen Verwaltung Die demokratischen Wahlen und die
durch sie entstehende legislative Mehrheit funktionieren nur als legiti-
mierender Schleier uumlber die tatsaumlchliche Machtausuumlbungrdquo
ndashPokol21
IV Juristokratische Tendenzen auf der
internationalen Buumlhne
Man kann die besondere Bedeutung und die immer staumlrker wer-
dende Tendenz der richterlichen Rechtsschoumlpfung auch auf in-
ternationaler Ebene wahrnehmen Von Bogdandy und Venzke
vertreten den Standpunkt dass die Arbeit der internationalen
Gerichte von bdquointernationaler Gerichtsbarkeitrdquo in einfache
Streitbeilegungsverfahren umbenannt werden sollte22 Der
Grund dafuumlr ist dass diese internationalen richterlichen Foren
wirklich mehr Funktionen erfuumlllen als nur das Schlichten diver-
ser Streitigkeiten zwischen Staaten Diese Funktion besteht zum
einen darin dass das Rechtsgefuumlhl d h die normative Kalkula-
tion und das Rechtsbewusstsein der Staaten und der internatio-
nalen Organisationen staumlrker wird Zu diesem Thema gehoumlrt
gleichermaszligen dass die staatlichen Akte aufgrund der Recht-
sprechung der internationalen Gerichte nach einem voumllkerrecht-
lichen Maszligstab uumlberpruumlft werden und wenn sie dieser Uumlberpruuml-
fung standhalten zugleich legitimiert werden koumlnnen beispiels-
weise dadurch dass sie den internationalen Standards entspre-
chen Dies entspricht der bdquoKontroll und Legitimationrdquo-Funktion
von Von Bogdandy Die wichtigste Rolle der internationalen
Gerichtshoumlfe ist die Rechtsschoumlpfung die mit den zwei anderen
oben genannten Funktionen in einem engen Zusammenhang
steht Zwei Typen der Rechtsschoumlpfung werden von von
Bogdandy unterschieden Der erste Typ ist die richterliche
Rechtsschoumlpfung in konkreten Streitfaumlllen Eine solche ist zum
seiner-aspekte-von-bela-pokoloriginalpdf S 18 Ff (2018 oktoacuteber
12) 21 Pokol aaO S 3 22 Von Bogdandy Armin ndash Venzke Ingo bdquoInternationale Streitbeteili-
gungldquo oder bdquointernationale Gerichtsbarkeitldquo In Arbeitspapiere Goe-
the Universitaumlt Frankfurt am Main 20164 httppublikatio-nenubuni-frankfurtdefrontdoorindexindexdocId39019 (2018 ok-
toacuteber 15)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 21
Beispiel die breitere Interpretation des Verbotes der Gewaltan-
wendung nach Artikel 2 der UNO-Charta im sog Nicaragua-
Urteil des Internationalen Gerichtshofs Der andere Typ der
Rechtsschoumlpfung ist die systemweite und bewusste Taumltigkeit
solcher internationalen meistens bdquoregional taumltigenrdquo sowie spe-
zialisierten Gerichte die das Rechtssystem in der mit Ihnen ver-
bundenen Sphaumlre mit Prospektivitaumlt bestimmen wollen Bei-
spiele dafuumlr sind gewisse Verfahrensregelungen seitens des Eu-
ropaumlischen Gerichtshofes fuumlr Menschenrechte ndash schreibt Von
Bogdandy
Tamara Ehs meint dass diese auf supranationalischer Ebene
erscheinenden juristokratischen Tendenzen auch mit der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH verbunden sind Nach Ehs hat
zwar der EuGH gegen die Politik das Recht bdquodes letzten Wor-
tesldquo aber dem EuGH fehlt das demokratische Moment23 Ehs
stellt fest dass der EuGH zum einen ndash innerhalb der EU ndash ein
europaumlisches Verfassungsrecht schaffen will zum anderen auch
politischen Aktivismus aufzeigt Die wichtigen Mittel dieses po-
litischen Aktivismus sind die Resolutionen in Vorabentschei-
dungsverfahren mit denen der EuGH tief hinter die mitglied-
staatlichen Grenzen reichen kann Allerdings sollte die Rolle des
EuGH auch in den weiteren internationalen Relationen gepruumlft
werden da das nach Ehs kein alleiniger Darsteller einer welt-
weiten Verfassungsordnung ist Solche weiteren bdquoElementeldquo
sind beispielsweise noch das WTO und IMF Im Zentrum dieser
Weltkonstitutionalisierung steht die Errichtung eines Systems
das auf den modernen neoliberalen Grundlagen der Weltwirt-
schaft beruht und das gegen die Ordnung der volksstaatlichen
Nationalwirtschaften gerichtet ist Daruumlber hinaus entspricht es
nicht den Prinzipien der demokratischen Repraumlsentation
D Die Rechtfertigungsversuche der
rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH
I Das Kompetenzdilemma des EuGH bdquoeffet utileldquo
und die Ultra-vires-Handeln
Eines der groumlszligten Dilemmas in Bezug auf den Kompetenzkreis
des EuGH sowie das von ihm geschaffene Richterrecht ist die
Dualitaumlt der Grenzen und des Zwanges der auf Rechtsschoumlp-
fung gerichteten Taumltigkeit des EuGH bdquoDer EuGH balanciert
stets bei seiner Rechtsprechung zwischen Kompetenzgrenze
und Kompetenzpflicht (hellip) Einerseits darf er kompetenzrecht-
lich nur gewisses Richterrecht schaffen anderseits ist er aber
genau berufen das Notwendige und Moumlgliche zu entwickelnrdquo
ndash schreibt Michel daruumlber24 Diese Spannung haumlngt eng mit der
Luumlckenproblematik des Gemeinschaftsrechts zusammen In ers-
ter Linie stellte sich die Frage der Kompetenzen der souveraumlnen
Mitgliedstaaten ob die Luumlckenhaftigkeit der neuen europaumli-
schen Rechtsordnung nicht absichtlich ist Die Antwort des
EuGH auf diese Frage war ua im seinen CostaENEL- und van
23 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 233-247 httpswwwmomentum-quarterlyorgojs2in-
dexphpmomentumarticleview16691333 234 (2018 oktoacuteber 15) 24 Michel Morten Alexander Die Kompetenzentwicklung des Europaumli-
schen Gerichtshofes in seiner juumlngeren Rechtsprechung und ihre Integ-
rationseffekte in den Mitgliedstaaten Shaker Verlag Aachen 2002
159
Gend amp Loos ndash Rechtsspruumlchen angelegt Sein bdquoneinldquo bedeutete
dass das Unionsrecht ein neues komplettes Rechtssystem sogar
bdquoeine neue Voumllkerrechtsordnungldquo ausmachen solle Zwar ist die
Rolle des Integrationsgebotes und seine Auslegunsmittel die
sog bdquoeffet utileldquo-Formel in der Arbeit des EuGH ziemlich um-
stritten sie kann aber ihre Grundkonzeption der Rechtferti-
gungslogik der richterlichen Rechtsschoumlpfung gut darstellen
Mit der Anwendung ndash unter anderem ndash des effet utile-Grund-
satzes hat der EuGH nach dem Muster des franzoumlsischen
Conseil dlsquoEtat versucht die maximal bdquonuumltzliche Wirkungldquo zu
erreichen um diese selbstaumlndige Rechtsordnung ausgestalten zu
koumlnnen bdquoMoreover the fact that within the bdquoschematic effet
utilerdquo orientation of the ECJ the national law surroundings of
EC law are not considered may ultimately lead to the paradoxi-
cal result that the combined application of EC and national law
in a given specific case does not promote the effet utile of the
applicable European legislationrdquo ndash schreibt Schmid uumlber die an-
dere Seite dieser Problematik25 Der Zwang zur Rechtsentwick-
lung des EuGH folgt vor allem aus der Aufgabe der Rechtsaus-
legung und Rechtsanwendung die ihm von den Gruumlndungsver-
traumlgen als Verpflichtungen vorgeschrieben sind D h die
Schaffung des Richterrechtes ist in gewissen Faumlllen ausdruumlck-
lich notwendig Allerdings sollte es wichtige Grenzen geben die
die Grenzen der Verbands- bzw Organkompetenz des EuGH
markieren Ihre Uumlberschreitung bedeutet einen sog Ultra-Vires-
Akt Die richterliche Rechtsfortbildung darf keine sog bdquoKom-
petenz-Kompetenzrdquo-Befugnis bedeuten da die begrenzte Ein-
zelermaumlchtigung sich als ndash wiewohl nicht allgemeine aber ndash
wichtige Gebundenheit meldet D h der EuGH darf solche
Kompetenzen die in den Vertraumlgen nicht festgelegt sind weder
vorschreiben noch entziehen und muss die sog bdquoVerfassungsi-
dentitaumltldquo der Mitgliedstaaten respektieren26 Trotzdem wurden
zahlreiche solche richterlichen Entscheidungen seit den 1960zi-
gern getroffen bei denen die richtige Wahrung dieser Schranken
streitig geworden ist Die Entscheidungen (Franchovich- Bras-
serie du pecheur-Urteile)27 uumlber die Errichtung der sog europauml-
ischen Staatshaftung dienen als gute Beispiele Die Essenz die-
ser EU-Beschluumlsse besteht darin dass die einzelnen Mitglied-
staaten gegenuumlber ihren Staatsbuumlrgern mit der Ermoumlglichung
des Anspruchs auf Schadenersatz bezuumlglich der angemessenen
Uumlbernahme und Anwendung des Unionsrechtes verantwortlich
gemacht wurden Die Errichtung der Institution der Staatshaf-
tung ist wieder ein ernsthafter Schritt in die Richtung der In-
tegration gewesen und die zugleich auch Streit hervorgerufen
hat ob der EuGH uumlberhaupt uumlber angemessene Kompetenzen zu
einem solchen Schritt verfuumlgt Zu einer vollstaumlndigen Pruumlfung
der Kompetenzen des EuGH gehoumlrt die Aufdeckung zahlreicher
weiterer Teilbereiche (Subsidiaritaumlt effet utile usw) jedoch
muumlssen wir uns auf die folgenden Bemerkungen einschraumlnken
Die Schaffung eines solchen Richterrechtes das die der Staats-
haftung aumlhnlichen Rechtsfortbildung folgt kann nach Michel
25 Christoph U Schmid The ECJ as a Constitutional and a Private Law Court Bremen ZERP an der Univ Bremen Bremen 2006 S 24
26 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff und 320 ff und Streinz
EUVAEUV 3 Aufl CHBeck Muumlnchen 2018 S 210 Rn 14-16 und dazu auch Schmid aaO S 22-28
27 (Rechtssachen C-690 und C-990 1991 sowie C-4693 und C-4893
1996)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 22
nur in jenen Faumlllen akzeptiert werden wo sie solchen Zielen
dient die nicht im Gegensatz zu den in den Gruumlndungsvertraumlgen
offenbarten Willen der Mitgliedstaaten stehen Auszligerdem brin-
gen sie die Rechtsstaatlichkeit und die Wirksamkeit des Euro-
parechtes voran Michel sieht das Problem darin dass solche Ur-
teile nur ausnahmsweise vorkommen sollten dagegen ist der
EuGH einerseits ndash mit den Worten von Michel ndash der bdquoWegbre-
cher der Integrationrdquo andererseits bdquoder Notgesetzgeberrdquo der EU
Der EuGH hat nunmehr ein gewisse bdquoquasi Kompetenzldquo die
dadurch legitimiert wird dass die Mitgliedstaaten solche Ent-
scheidungen des EuGH einfach stillschweigend akzeptieren28
bdquoDennoch muss man aus rechtstaatlicher Sicht wie aus Rechts-
sicherheitsgruumlnden die Akzeptanzkompetenz als echte Organ-
kompetenz des EuGH ablehnenrdquo ndash schreibt Michel29
II Die rechtliche Grundlage die bdquoWahrung des
Rechts zu sichernldquo
Die Grundlage des Richterrechtes das im Rahmen der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH geschaffen wird wird von ei-
ner permissiven Interpretation der Wendung bdquosichert die Wah-
rung des Rechtsrdquo in der Fachliteratur gegeben30 und sie umfaumlngt
nach dieser Interpretation auch die richterliche Rechtsfortbil-
dung des Unionsrechtes Diese breite Interpretation wird damit
begruumlndet dass der Richter nicht nur im sog bdquocommon lawldquo
Rechtskreis sondern auch in der europaumlischen Rechtstradition
mehr als bloszlig bdquoder Mund des Gesetzesldquo war Auch das BVerfG
hat sich mit dieser Frage in seinem UStRiL-Urteil beschaumlftigt
und sich auf die Uumlberlieferungen des Gemeinen Rechts des Rouml-
mischen Rechts bzw des englischen common law berufen Es
hat das festgestellt dass die Gruumlndungsvertraumlge auch aus der
Perspektive der europaumlischen rechtsgeschichtlichen Traditionen
interpretiert werden sollen Ein weiteres Auslegungsargument
ist dass die EU vor allem eine bdquoRechtsgemeinschaftldquo ist und
als solche braucht es die aktive integrierende Taumltigkeit des
EuGH damit das die Harmonie des Gemeinschaftsrecht verbuumlr-
gen kann bdquo(hellip) Der EuGH (muss) in gewissen Grenzen zur Ver-
wirklichung des Rechts Normen schaffen duumlrfen um das Recht
zu sichern wenn diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht
zu erreichen ist ndash schreibt Walter31
E Der Versuch der demokratischen Legitimierung
der Taumltigkeit von EuGH
I Die Unabhaumlngigkeit und die juumlngsten Urteile des
EuGH
Die herausragende Bedeutung des EuGH innerhalb der EU
kommt aus seinem umfangreichen Wirkungsbereich sowie aus
sonstigen organisatorischen Umstaumlnden Solch ein bdquoorganisato-
rischer Umstandrdquo ist dass mehrere Mitglieder des Organismus
EU einander in den unterschiedlichen Verfahren ergaumlnzen und
28 Vgl dazu Michel aaO S 157 ff und 162 ff 29 Michel aaO S 170 30 Vgl dazu Michel aa O S 24 ff und Calliess-Ruffert-Blanke EUV-
AEUV das Verfassungsrecht der Europaumlischen Union mit Europaumli-
scher Grundrechtecharta Kommentar 5 Aufl CH Beck Muumlnchen
2016 S 311 ff Rn 12-18 und dazu auch Streinz aaO S 209 f
RN 12-16
kontrollieren ihre Arbeit sich in einer speziellen Wechselwir-
kung verwirklicht Daraus folgt dass die klassische These der
Gewaltenteilung sich in diesem Bezug nicht durchsetzt Der
EuGH verfuumlgt uumlber eine ziemlich groszlige Unabhaumlngigkeit Dazu
wesentliches Kompetenzpotenzial konzentriert sich in seiner
Hand Aus Hinsicht der Mitgliedstaaten ist die Position des
EuGH noch staumlrker Die Judikatur des EuGH schraumlnkt sowohl
die nationalen Parlamente sowie die Verfassungsgerichte als
auch die nationalen Gerichte stark ein Die nationalen (Verfas-
sungs-) Gerichte muumlssen auf das Unionsrecht sowie auf die Ur-
teile des EuGH Ruumlcksicht nehmen und daruumlber hinaus sogar an-
wenden wenn die gerichtliche Rechtsauslegung dem Unions-
recht entsprechen soll Aus diesem Grund verlagert sich das
Machtpotenzial von den Mitgliedstaaten hin zum EuGH Die de-
mokratische Legitimation dieses Machtpotentials wird sowohl
in der organisatorischen Struktur der EU als auch aus Richtung
der Mitgliedstaaten beansprucht
bdquoInsbesondere im Hinblick auf die enorme Bedeutung und Autoritaumlt
des EuGH und EuG im institutionellen Gefuumlge der EU scheint die Frage
nach deren demokratischer Legitimation unausweichlich und von
grundsaumltzlicher Bedeutung zu sein (hellip) Diese beiden Fundamentalprin-
zipien beeinflussen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander
verbunden und bauen ein Spannungsverhaumlltnis zueinander aufrdquo
ndash Kathrin F Baltes32
Die Kritiker des EuGH lassen nach Baltes ein sehr wichtiges
Postulat auszliger Acht die richterliche Unabhaumlngigkeit Die An-
forderung der Unabhaumlngigkeit zieht eine Grenzlinie fuumlr die Er-
weiterung der demokratischen Legitimation des EuGH Das Er-
fordernis der Unabhaumlngigkeit wurde auch in den juumlngsten Urtei-
len33 des EuGH bekraumlftigt Nach der Rechtsprechung des EuGH
ist die richterliche Unabhaumlngigkeit bdquovon grundlegender Bedeu-
tungldquo und ein wichtiger Eckpfeiler der modernen rechtsstaatli-
chen Demokratie und im Vergleich zu den zwei anderen Staats-
gewalten schreibt sie der Judikative spezielle Anforderungen
vor Der Richter der im gegebenen Fall Entscheidungen treffen
soll sollte vollstaumlndig unabhaumlngig von anderen Organisationen
und politischen und sonstigen Einfluumlssen sein Der Richter soll
auf die Gesetze Ruumlcksicht nehmen und darf bei der Ausuumlbung
seines Amtes von niemandem angewiesen werden und seine
Entscheidungen duumlrfen nicht von anderen (nicht gerichtlichen)
Organen uumlberpruumlft werden Der EuGH hat vor kurzem in seinem
Urteil ausgesprochen dass die unabhaumlngige Einrichtung des Ge-
richtes sowohl auf der Ebene der Union als auch auf der mit-
gliedstaatlichen Ebene unerlaumlsslich ist Sehr wichtig ist dass der
EuGH auch den ndash auf der Charta basierenden ndash Grundrecht-
schutz fest mit der richterlichen Unabhaumlngigkeit zusammenge-
bunden hat und zugleich als Bedingung einer bdquoreibungslosenldquo
justiziellen Kooperation bestimmt hat Zu der richterlichen Un-
abhaumlngigkeit gehoumlrt die bdquovoumlllige Autonomieldquo ndash hat der EuGH
31 Walter aaO S 145 32 Baltes Kathrin F Die demokratische Legitimation und die Unabhaumln-
gigkeit des EuGH und des EuG Peter Lang Frankfurt am Main 2011 S 3
33 (Rechtssachen C-6416 EUC2018117 und C-21618 PPU
EUC2018586)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 23
betont Ein entscheidendes Moment ist also die Unabhaumlngigkeit
gegenuumlber nationalstaatlichen Einfluumlssen
II bdquoZeitgemaumlszligeldquo Legitimationsmodelle
Man muss zur umsichtigen Festsetzung der Position des EuGH
die Legitimationsart der EU untersuchen Die Errichtung der mit
den Nationalstaaten analog einhergehenden demokratischen Le-
gitimation ist ndash ohne Zweifel ndash problematisch in Bezug auf die
EU Allerdings betont Baltes gebe es zwar kein einheitliches
bdquoeuropaumlisches Demosrdquo aber das bdquoVolkrdquo ndash im Einklang mit den
europaumlischen gesellschaftlichen Tendenzen - ist nicht monis-
tisch kollektiv sondern soll pluralistisch individuell interpre-
tiert werden34 Dies ist ein entscheidender Punkt weil die EU
auf einer sog dualistischen Legitimationsbasis beruht Der si-
multane Status der mitgliedstaatlichen und europaumlischen Staats-
buumlrgerschaft ermoumlglicht die demokratische Legitimation sowohl
auf EU-Ebene die von der Institution des Europaumlischen Parla-
ments praumlsentiert wird als auch auf der Ebene der Mitgliedstaa-
ten die ndash auszligerhalb des EP ndash vom Ministerrat und dem Europauml-
ischem Rat realisiert wird Waumlhrend nach einigen die mitglied-
staatliche Legitimationsbasis Vorrang hat hat nach anderen die
bdquoeuropaumlischerdquo Legitimationsbasis Der EuGH hat sich schon in
seinen fruumlheren Urteilen (zB 13879 Roquette Freacuteres vs Rat)
eher fuumlr die letztere Variante ausgesprochen mit der Begruumln-
dung dass das EP bdquo(altough limited) it reflects at Community
level the fundamental democratic principle that the people
should take part in the exercise of power through the intermedi-
ary of a representative assemblyldquo Baltes unterstreicht ihre
Gleichwertigkeit als die Entwicklung der EU von Baltes als ein
solcher bdquodynamischer Prozessrdquo bezeichnet wird bdquoder nicht auf
ein konkretes starres und ausnahmsloses Prinzip beschraumlnkt
werden kannrdquo35
Laut der Klassifikation von Baltes kann die demokratische
Relation zwischen der EU und den Staatsbuumlrgern grundsaumltzlich
durch zwei unterschiedlich logische Mechanismen ferner durch
die Kombination derselben geschaffen werden Der erste Me-
chanismus ist die sog bdquoLegitimationsruumlckkopplungrdquo die darauf
fokussiert ob die Machtausuumlbung auf den buumlrgerlichen Willen
bzw auf dessen Initiative zuruumlckgefuumlhrt werden kann Unter-
schiedliche Schemata wurden als Methoden der Ruumlckkopplung
bearbeitet zB die Schemata der bdquoLegitimationskettenrdquo oder
des bdquoKontrollmodellsrdquo Im Fokus der Legitimationsketten steht
das Volk als die staumlndige und kontinuierliche Quelle der Staats-
gewalt Zwar gibt es Abweichungen zwischen den einzelnen un-
terschiedlichen praktischen Formen (institutionelle formelle
persoumlnliche inhaltliche Legitimation usw) aber ndash nach der all-
gemeinen Form des Schemas ndash das Volk soll das Parlament
waumlhlen und dem im Wesentlichen alle anderen oumlffentlich-recht-
lichen Anstalten unterordnen Die Regierungsmacht ist durch
ihre parlamentarische Verantwortlichkeit und auch durch kon-
kretes Weisungsrecht sowie durch Rechtsvorschriften die vom
34 Baltes aaO S 65 35 AaO S 83
Parlament als Legislative konstituiert werden begrenzt Die Le-
gitimationskette beruht auf dieser Dependenz Es ist sichtbar
dass die Jurisdiktion schwerer in die Legitimationskette einge-
fuumlgt werden kann und sie ist daher auch schwerer auf den Volks-
willen zuruumlckzufuumlhren Die Spannung kann schlieszliglich nur in
der Ausgestaltung der strengen Gesetzesbindung von richterli-
chen Amtsbefugnissen in diesem Legitimationsverstaumlndnis auf-
geloumlst werden Diese Verkettung ist deshalb leicht angreifbar
und daruumlber hinaus entsteht ein weiteres Problem die Legitima-
tionskette auf der Ebene der EU kann ungeachtet der Dualitaumlt
der nationalen sowie Unionsstaatsbuumlrgerschaft nur bdquoschwer-
lichrdquo aufgezogen werden Aus dem Loumlsungsversuch dieses Di-
lemmas sind die weiteren Modelle die mehr oder weniger als
Ergaumlnzungen des Schemas der Legitimationskette dienen ent-
standen Die sog personale Legitimation ist daher wichtig in
diesem Themenbereich weil ihre Vertreter meinen dass die Le-
gitimationskette allein eben darum nicht maszliggeblich ist weil
der Bewegungsraum der Richter nie vollstaumlndig eingeschraumlnkt
werden darf zum Beispiel wegen der Notwendigkeit der Ent-
wicklung bzw Interpretation des Unionsrechts Daraus folgt die
Forderung dass die Auswahl der Richter bdquodemokratischrdquo so
zum Beispiel durch Parlamentsausschuumlsse stattfinden sollte
Man muss ndash nach einer anderen bdquoLegitimationsergaumlnzungrdquo ndash
mit fachlichen Vorschriften bzw Standards die Legitimations-
kette verstaumlrken (zB Amtshaftung die Publizitaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens bzw der gerichtlichen Beschluumlsse) Das Kon-
trollmodell basiert ebenfalls auf der derivativen Partizipation
sowie auf der Ruumlckkopplung des Volkswillens aber weicht in-
haltlich von der Auffassung des Legitimationsmodelles ab Der
Entwickler dieses Modelles Axel Tschentscher betont die fach-
lichen und auch persoumlnlichen Faktoren Der entscheidende
Punkt in diesem Modell ist die unabhaumlngige Position des Rich-
ters von anderen Institutionen abzusichern In Tschentschers
Auffassung ist die richterliche Rechtsschoumlpfung bzw die An-
wendung des Richterrechts in einer demokratischen Ordnung
daher nicht problematisch weil die Legislative ein bdquopraktischesrdquo
Revisionsrecht hat Falls das Parlament anders beschlieszligt kann
es eine von der richterlichen Entscheidung abweichende Rechts-
norm schaffen ndash legt Baltes das theoretische System von Tsch-
entscher dar36
F Fazit
Wie man das auch basierend auf dem oben dargestellten
wahrnehmen kann koumlnnenmuumlssen wir den Demokratieldquoindexldquo
der europaumlischen Organisationsstruktur nunmehr auf mehreren
Ebenen analysieren und ndash zu einem authentischen angemesse-
nen Ergebnis ndash die Problematik der WTO-Struktur und der sog
bdquoJuristokratieldquo bzw bdquoWeltkonstitutionalisierungldquo (siehe oben
bei Ehs) das Dilemma des Parlamentarismus (siehe oben bei
Veil) und auch der Mitgliedstaaten (siehe oben z B bei den
Ultra-Vires Handlungen) etc zusammen betrachten und pruumlfen
Es bedarf daher noch weiterer Pruumlfungsschritte Daraus ergibt
sich dass wir uns auf die folgenden Feststellungen beschraumlnken
muumlssen
36 AaO S 86 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 24
Ein wichtiger Punkt ist dass bedeutende Theoretiker das un-
verzichtbare Element der Demokratie im Parlamentarismus
wahrnehmen Das Fehlen eines tatsaumlchlich funktionierenden
Parlamentes kann auf der Ebene der EU festgestellt werden weil
wichtige gesellschaftliche und politische Bedingungen dazu
nicht oder nur mangelhaft vorhanden sind Es ist zu betonen
dass der Mangel an Parlamentarismus daher problematisch ist
weil die europapolitischen richtunggebenden Entscheidungen
nicht vom Volk bzw nicht von den europaumlischen Buumlrgern be-
stimmt werden koumlnnen Wie im zweiten Teil dargestellt wurde
hat der EuGH ndash nach zB Michel - seit den Sechzigern diese
quasi (bdquoersatz- oder not-bdquo) gesetz- und richtunggebende Rolle
des Parlamentes teilweise uumlbergenommen Baltes weist ndash siehe
den dritten Teil der Untersuchung ndash auf die besondere Bedeu-
tung der institutionellen Unabhaumlngigkeit des EuGHs hin aller-
dings unterscheiden sich seine Legitimationskonzepte grund-
saumltzlich von den bdquotraditionellenldquo nationalstaatlichen Demokra-
tievorstellungen d h von der auf der Volkssouveraumlnitaumlt basie-
renden parlamentarischen Demokratie Falls die Befugnisse des
EuGH weiterhin so weitreichend bleiben kann man schwierig
das institutionelle Gefuumlge der EU nicht als juristokratische
Machtstruktur definieren In diesem Bezug scheint Hans Kel-
senrsquos Stellungnahme uumlber die Notwendigkeit der Einheit der
staatlichen Gewalten aus der Hinsicht der Demokratie voraus-
schauend und bemerkenswert zu sein Das Erfordernis der rich-
terlichen Unabhaumlngigkeit und das sehr groszlige Kompetenzpoten-
zial ohne wirklich funktionierende parlamentarische Gegenkon-
trolle bedeuten zusammen auf der Ebene eines sich noch immer
entwickelnden Staatenverbundes eine bedeutsame Machtkon-
zentration in der Hand des EuGH Also was unsere Grundfrage
angeht d h ob die europaumlischen Buumlrger wirklich einen demo-
kratischen effektiven Einfluss auf die Entscheidungen der EU
ausuumlben koumlnnen kann man nicht eindeutig mit bdquojaldquo oder bdquonein
beantwortet werden Muumlnch und auch Baltes schreiben uumlber eine
bdquozeitgemaumlszligeldquo Demokratievorstellung die die Gesellschaft plu-
ralistisch und individualistisch betrachtet Die sog bdquoOutputldquo-
oder Ergebnislegitimationsmodelle koumlnnen sich zwar als sehr
wichtige Bestandteile eines demokratischen Gefuumlges des EuGH
bzw der EU erweisen allerdings ersetzen sie nicht die demo-
kratische Funktion des zur Zivilgesellschaft gehoumlrenden (siehe
oben bei Habermas) Parlamentes Daruumlber hinaus liegt auch ein
weiteres Problem mit der Ergebnislegitimation vor Wie schon
im ersten Kapitel dargestellt wurde bedeutet die sog Elitebil-
dung immer eine ernsthafte Gefahr fuumlr die Demokratie Sofern
die Einzelnen als bdquoVolkldquo ihren Willen durch das Parlament nicht
zu validieren vermoumlgen und so auch Schumpeterrsquos Wettbe-
werbsmodell uumlber die bdquoHerrschaft der Politikerldquo marginalisiert
wird wird das Risiko der Herausbildung von Elitegruppierun-
gen noch beachtlicher Eine Demokratie muss den Rahmen des
politischen Kampfes (bdquoWettbewerbesldquo) der Mehrheits- und
Minderheitsansichten immer gewaumlhrleisten ferner das eine
Minderheitsmeinung zu einer Mehrheitsmeinung werden kann
Daraus folgt dass man unbedingt pruumlfen muss wie die Effizienz
des Parlamentarismus auch auf der Ebene der EU aussieht wie
die europapolitischen Auseinandersetzungen fuumlr die mitglied-
staatlichen Buumlrger wirksamer verdeutlicht werden koumlnnen und ndash
vor allem ndash wie die Kompetenzverteilung zwischen dem EP und
dem EuGH noch effektiver zugunsten der Prinzipien des Parla-
mentarismus ausgestaltet werden kann
Die Autorin hat bereits das erste juristische Staatsexa-men abgelegt und befindet sich derzeit im Masterstu-dium an der Universitaumlt zu Koumlln (Staatsrecht mit Bezuuml-gen zum Europa- und Voumllkerrecht)
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 25
Conditional consent as a valid legal ground for data processing
- a misbelief
-
Sonja Buumlhler
A Introduction
An inflationary use of personal data due to internet-con-
nected devices such as smart-TVs smartwatches fitbits
or smartphones and online services such as Spotify or
Netflix is taking place forming a valuable economic asset1
To counter this development there is a need to effectively
protect personal data of users Consumers often find
themselves in situations where they have no choice but to
agree to the processing of personal data if they want to
use a certain device or service
This article examines whether a term of use clause mak-
ing use of a device or service conditional on consenting to
data collection through the device is compatible with Arti-
cle 7(4) GDPR (II)2 Therefore it recalls the principle of
consent as a legal ground for processing (II1) and con-
siders under which conditions conditional consent is
freely given (II2) Thereby the article takes into account
the question whether a real choice of the user is denied
due to an imbalance of power I will argue that the imbal-
ance of power arises due to the form of the contract which
gives no opportunity for renegotiation (II21) I argue that
positive incentives to give consent cannot be considered
inadmissible force (II22) whereas factual dependency
and a lack of alternatives prevent free consent (II23)
Further I argue that withdrawing consent will most likely
lead to detriment and thus consent is invalid (II24) This
article will also show that data processing often is not nec-
essary for the contract and thus consent is very likely to
be invalid (II25) I will conclude that in many situations
conditional consent is not freely given under Art 7(4)
(II3)
In a second step I will discuss other safeguards of the
GDPR applying in this scenario (III) Those are especially
the principles of data processing namely the principle of
1 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regulation
(GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 2 All articles cited in the following are articles of the GDPR if not indicated
otherwise 3 Art 6(1) GDPR 4 Art 6(1)(a) GDPR For general information about consent as a justifica-
tion see D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford and Portland Oregon (2007) p 61 ff
purpose limitation (III1) data minimisation (III2) and ac-
countability (III3) I will conclude that consumers are not
always sufficiently protected by those safeguards from a
situation where they might be ldquoselling their soul for Netflixrdquo
(III4)
Hence the article considers other regulatory constraints
such as strengthening the rights of the user through con-
sumer protection law that are necessary in order to protect
users (IV)
After all I will find most of the conditional consents are
probably invalid and thus do not constitute a legal ground
for processing Currently the situation of the data subjects
in practice is not enhanced by the invalidity but the legal
situation has to be improved (V)
B Consent - when can conditional consent be
considered freely given
I Principle of consent as a legal ground for
processing data
Following the rule and exception doctrine of the GDPR pro-
cessing data is always considered unlawful except if one of the
legal grounds of Art 6 applies3 The legal ground considered in
this article is consent Data processing is lawful when the data
subject gave consent to it4 Very often consent will be given by
accepting privacy policies5 It is questionable if and under
which circumstances processing of personal data can be based
on consent in the special situation when consent is a condition
for using a device or service such as smart TVs Fitbits or Net-
flix
To illustrate the findings of this article I will use the online
service Netflix as an example Nevertheless the general find-
ings made in this article can be applied to any other kind of in-
ternet-connected device or online service if its use is conditional
on giving consent6
5 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 They state
The controller can achieve this either by way of contractual means (by
stating in the contract that it will only be performed if consent for certain processing is provided) or through technical means (eg through an app
which does not install or function if consent is not provided) 6 The problem of conditional consent arises also in context with tracking
walls when consent has to be given in order to be able to get access to a
website See therefore F J Zuiderveen Borgesius S Kruikemeier S C
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 26
II Freely given conditional consent - nearly
impossible due to imbalance of power
Consent is any freely given specific informed and unambigu-
ous indication of the data subjectrsquos wishes by which he or she
by a statement or by a clear affirmative action signifies agree-
ment to the processing of personal data relating to him or her7
This definition confirms that giving consent is an expression of
self-determination8 Out of those requirements for valid consent
the words freely given are of special interest in cases where
consent is conditional for the performance of a contract or for
providing a service
In those constellations the user is in an especially vulnerable
position and extremely likely to give consent to the use of per-
sonal data Whether consent that is conditional for the perfor-
mance of a contract or providing the service is really given
freely has to be considered carefully with special relevance9
As Recital 43 lines out consent should not provide a valid legal
ground for the processing of personal data in a specific case
where there is a clear imbalance between the data subject and
the controller10 The purpose of Art 7(4) is to ensure that con-
sent to the processing of personal data which is necessary for
conducting the contract or service is not bundled with consent
to data processing which is not necessary for the contract11
Nevertheless it does not contain an absolute ban that condi-
tional consent can be given freely but it has to be considered
with the utmost scrutiny for each case depending on the con-
text and circumstances
So to come back to our case the question arises whether
there is an imbalance of power between the user and the control-
ler (eg Netflix) that could preclude free consent A clear imbal-
ance is assumed in relation with public authorities and employ-
ers12 In this case the imbalance of power due to subordination
is apparent The question is whether the same degree of imbal-
ance can be established between the producers of smart devices
or providers of online services and their users
1 Imbalance expressed by form contract
First of all it has to be considered that the terms of contract usu-
ally cannot be renegotiated as they are part of a form contract
The two contracting parties are not at eye level but the user is
Boerman N Helberger Tracking Walls Take-It- Or-Leave-It Choices the GDPR and the ePrivacy Regulation (2017) European Data Protec-
tion Law Review pp 353-368 7 GDPR Art 4(11) Relevant Recitals of the GDPR are Recital 32 and 33 8 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 169 9 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 218 10 Recital 43 GDPR 11 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 B Kostić E Vargas Penagos The freely given
consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computer-
recht p 218 12 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 7 Recital 43 S 1 GDPR 13 See for this opinion also M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data
Protection through Consumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Re-
view Vol 5 Issue 1
in a weaker bargaining position and does in fact not have the
possibility to introduce his own interests into the contract The
user only has the possibility to accept the terms or not to con-
clude the contract13 This so called structural power of the con-
troller limits the private autonomy of the user14 Thus it appears
that the form of the contract and the way by with the contract is
concluded (namely without any possibility to negotiate or adjust
it) already implies an imbalance of power15
2 Imbalance due to lack of real choice - Impact of
negative and positive forces
Secondly an imbalance exists when the user has no real choice
whether or not to give consent Only if such a real choice exists
the consent is valid
For having a genuine and free choice consent has to be given
without external force Force can be negative in the form of
threat making a consent invalid but there is also positive force
which is an act of force that intends to influence the individual
in a positive way such as an inducement16 Positive force does
not itself make consent invalid and can be considered a weaker
kind of force Those influences can eg be of financial emo-
tional or practical nature17 Consent is still freely given even
when a small degree of positive pressure is exercised on the in-
dividual18 This is rather a resistible offer than an actual
threat19 An example is a shopping discount in return to using a
bonus card collecting user information It can be hard to draw a
line between a simple incentive and a real influence on the free-
dom of choice of the data subject20
But in the case of smart devices or online services the pres-
sure exerted on users to consent is not negative force but rather
positive force as the consent establishes the possibility to gain
access to a service or use a special device It expands the free-
dom of action of each user by giving the opportunity to use the
device or service There is an incentive to give consent in order
to use the device which is making life easier but that could also
be resisted This positive force as such does in my opinion not
amount to a limitation of the freedom of will and does not estab-
lish an imbalance of power
3 Imbalance due to lack of choice - Impact of factual
14 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
3 15 The article comes back to this issue and gives an answer how this prob-
lem could be tackled through consumer law See below at V 16 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 172 On unforced choice see also D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford
and Portland Oregon (2007) pp 131 f 17 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14 18 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 173 19 R R Faden T L A Beauchamp A History and Theory of Informed Con-
sent (1986) p 340 20 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 27
dependency and lack of alternatives
But even without negative force consent can still be unfree if
there is a factual dependency on the device or service and a lack
of alternatives If the service or device it is indispensable it is
likely that there is a relationship of dependency between the
controller and the data subject and thus there is no balance of
power21 This is even more likely if a controller does have a
monopoly22
Users clearly always have the choice not to use the device or
service at all Many modern electronic devices such as smart
watches Fitbits or smart TVs can (still) be replaced by devices
not connected to the internet and thus not requiring personal data
(like traditional watches TVs DVDs) In the current status of
the society people are not completely relying on internet-con-
nected devices So if there is an alternative on the market that
does not require personal data a free choice might be given23
Maybe this changes within the next centuries but right now
there is no dependency on smart devices or online services com-
parable to the dependency to your employee or public authori-
ties So from this point of view the data subject has a free
choice whether or not to give consent
But the question is how realistic it is that this choice can be
made against the use of smart devices or services It has to be
seen that in our modern society users are largely depending on
the use of electronic devices and services (such as laptops
smartphones or tablets) for example for school university and
work but also for their social and private life Choosing not to
use certain devices or services means excluding oneself from
many advantages benefits and possibilities The everyday use
of data processing devices will even increase in the future24
However the Article 29 Working Party in contrast takes a
different starting point It asks for a data-processing-free
choice within one controller and not a choice between different
market players25 The performance or conduct of a contract must
not depend on consent to data processing even if the user could
have access to an equivalent and reasonable service somewhere
else at the market where the user does not need to give consent
to data processing26 This seems convincing as otherwise the
freedom of choice would depend on the existence of equivalent
services or devices by other market players which is outside the
area of influence of the controller27 The choice is not between
21 A Golland Das Kopplungsverbot in der Datenschutz-Grundverordnung
Anwendungsbereich oumlkonomische Auswirkungen auf Web 20-Dienste
und Loumlsungsvorschlag (2018) Multimedia und Recht p 132 22 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 43 23 See for this view the example 31 on External choice in B Kostić E
Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision
under the GDPR (2017) Computerrecht p 222 24 See for more information and examples C Storr P Storr New Technol-
ogy Big Data and the Law The internet of things Right to Data from a
European Perspective (2017) pp 65 - 96 25 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9 f 26 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 45 27 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9
use or not use the device or service but between use one and
the same device or service with or without data processing28
This more user-friendly approach would require each control-
ler to offer an alternative to the conditional use of data So if
two versions of a product or service are offered eg a more ex-
pensive version where you do not have to give consent to data
processing the data subject has a real choice whether he or she
wants to pay with their data or not29
This approach can be criticized as consent in those cases
would technically speaking not be conditional anymore as the
service or device can also be used without the consent30 Offer-
ing two options would make conditional consent obsolete But
in my opinion this criticism mistakes that each of the two pos-
sible choices (pay more without data processing or pay less with
data processing) has to be considered separately When the user
decides not to pay money for the use of a service but to give
consent to the use of its data the consent in this particular situ-
ation is conditional But the user has a free and genuine choice
to get the same service without giving consent to data pro-
cessing
I conclude that in many cases a real choice has to be doubted
There might in some cases be a factual dependency on the de-
vice or service But even if there is no factual dependency there
is often a lack of real choice if the controller does not an offer
data-processing-free alternative
4 No free will due to detriment when withdrawing the
consent
Furthermore consent is only valid if it can be refused or with-
drawn without detriment31 Vice versa it is unfree if the user is
penalised or suffers detriment when withdrawing consent Pos-
sible detriment can be deception intimidation coercion or sig-
nificant negative consequences32
For better clarity Art 29 Working Party gives an example
constituting detriment33 In this example a lifestyle phone app
wants to get information about the movements of its users using
the accelerometer of the phone This data is not necessary for
the app to work Once the consent to use the accelerometer is
withdrawn the app only works to a limited extend This amounts
to detriment under Recital 42 GDPR and thus consent was not
valid
28 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 with further references 29 This opinion is also shared by L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU Gen-
eral Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 30 See for this criticims L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General Data
Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 31 Recital 42 last sentence 32 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 10 already Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition of Consent p 12 regarding consent
under Art 2 h DPD Art 2 lit h DPD stated Consent can only be valid if
the data subject is able to exercise a real choice and there is no risk of de-ception intimidation coercion or significant negative consequences if
heshe does not consent 33 See Example 8 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p 11
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 28
So in the case of smart devices and services their restriction
in use after withdrawing consent amounts to detriment If a user
does not give consent to data processing by his or her internet-
connected TV the TV cannot be used in the first place This
means the owner cannot use his or her property thoroughly And
if the consent is withdrawn later the TV can most probably not
be used anymore It is thus very likely that in most cases of con-
ditional consent detriment (eg regarding the usage of their
property) will happen meaning that the consent is not freely
given
5 Is consent not freely given when data processing
(or consent) is not necessary for performing the
contract
Art 7(4) states that for considering whether consent has been
given freely ldquoutmost account shall be taken of whether (hellip) the
performance of a contract (hellip) is conditional on consent to the
processing of personal data that is not necessary for the perfor-
mance of the contract Additionally Recital 43 S 2 GDPR pre-
sumes that consent is not given freely when consent is not nec-
essary for the performance34 The burden of proof to disprove
this assumption lies with the controller35
Considering the wording of Art 7(4) it is somewhat unclear
whether the words ldquothat is not necessaryrdquo relate to ldquoconsentrdquo or
to ldquothe processing of personal datardquo Comparing the English and
the German versions of the GDPR it catches the readerrsquos eye
that the German version quite explicitly relates the necessity-
requirement to the processing of personal data that is not nec-
essary for the performance of the contract (the translation would
literally be whether ldquoit is conditional on consent to the pro-
cessing of various36 personal data that are not necessary for the
performance of the contractrdquo)37 This difference in the German
version is regarded as being a translation error by some authors
claiming that the validity of consent should be considered de-
pending on whether consent is necessary for the performance of
the contract38 This finding also seems to be supported by Re-
cital 43 S 2 Recital 43 S 2 assumes that consent is not freely
34 Recital 43 sentence 2 GDPR Consent is presumed not to be freely given
() if the performance of a contract including the provision of a service
is dependent on the consent despite such consent not being necessary for
such performance 35 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 219 f 36 various was added by the author to clarify that personal data is in the
form of plural in the German text 37 Art 7(4) DSGVO bdquoBei der Beurteilung ob die Einwilligung freiwillig
erteilt wurde muss dem Umstand in groumlszligtmoumlglichem Umfang Rechnung getragen werden ob unter anderem die Erfuumlllung eines Vertrags ein-
schlieszliglich der Erbringung einer Dienstleistung von der Einwilligung zu
einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhaumlngig ist die fuumlr die Erfuumlllung des Vertrags nicht erforderlich sindldquo
38 This opinion is taken in L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General
Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 39 This is also the leading opinion in literature see eg P Voigt A von dem
Bussche The EU General Data Protection Regulation (GDPR) A Practi-
cal Guide (2017) p 96 40 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 41 This conclusion is also in line with the interpretation of Art 29 Data Pro-
tection Working Party Guidelines on Consent under Regulation 2016679
p 9
given if the performance of a contract including the provision
of a service is dependent on the consent despite such consent
not being necessary for such performance
However to base an interpretation on an alleged translation
error is not convincing Following a teleological approach in-
stead it is more likely that it plays a role whether data pro-
cessing is necessary and not whether consent is necessary39 The
purpose of Art 7(4) is to ensure that personal data processing is
not disguised nor bundled with the provision of a contract of a
service for which these personal data are not necessary40 Vice
versa if data processing is indeed necessary to perform the con-
tract or service Art 6(1)(b) will already be a legal ground for
processing So Art 7(4) in fact only applies to data processing
that is not necessary for the contract or service41
It is thus decisive whether the data processing is necessary
for the performance of the contract42
The meaning of necessary in Art 7(4) could be the same as
in Art 6(1)(b)43 Thereby a strict interpretation should be ap-
plied excluding everything that is ldquonot genuinely necessary for
the performance of a contract but rather unilaterally imposed on
the data subject by the controllerrdquo44 There needs to be a direct
and objective link between the processing itself and the purposes
of the contractual performance expected from the data45 So in
order to assess what is necessary the scope of the substance
and fundamental objective of the contract has to be consid-
ered46 This does not mean that processing is necessary for the
contract just because it is mentioned in the contract47 But pro-
cessing is necessary if it is a targeted and proportionate way of
achieving the purpose of the contract and it is not necessary if
the controller can reasonably achieve the purpose by some
other less intrusive means48 An example for necessary data
processing eg is the processing of credit card details in order to
conduct payments49
But let us take a closer look to the example of Netflix50 Net-
flix uses a lot of information such as demographics location
42 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7 subparagraph 41
43 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 44 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 45 Art 29 Data Protection Working Party Opinion on recent developments
on the Internet of Things p 15 46 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 47 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 48 ICO Guide to the General Data Protection Regulation (GDPR) Lawful
basis for processing August 2018 p 5 49 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 50 The information used here is taken from Netflix Privacy Policy available
at httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policy last access on
141218
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 29
language movie queues made by users ratings but also inter-
actions of the users such as scrolls mouse-overs clicks or the
time spent on a given page51 All this data is used to optimize
the user experience and give custom-fit recommendations in or-
der to make the user spend more time on Netflix The recom-
mendation system Netflix has is one of its main business driv-
ers52 But data is also shared with processing partners for adver-
tisement purposes53 It can be argued that the recommendation
of movies is also part of the contract between the user and Net-
flix This would be the case if the user and Netflix agree that
the recommendation is part of the service offered by Netflix In-
deed many users might appreciate the recommendations If this
is the case then the right legal ground for data processing would
not be consent but contract54
Following Art 29 Working Party building a profile of the
users tastes (hellip) based on his clickstream on a website is not
covered by the contract on delivering a certain good or service55
The purpose of the service (Netflix) is to offer access to movies
and series in return for a monthly payment Netflix can also offer
videos without knowing the personal preferences viewing hab-
its or location of the user All additional data that is eg used for
advertisement purposes is not needed for the contractual obli-
gations Thus a lot of data that Netflix processes is not neces-
sary and thus consent is presumed to be not freely given and thus
invalid56
III Conclusion
It has been shown that conditional consent has to overcome
many obstacles in order to be valid It is very likely that condi-
tional consent under Art 7(4) is not valid due to an imbalance
of power due to the form of the contract and the lack of a real
choice This is not only the case when a user depends on the
devices or services A lack of choice also exists if within one
market player there is no data-processing-free option Addi-
tionally when the withdrawal of consent for data processing that
is not necessary for the contract leads to a restriction of the use
of the device or the service consent is not freely given
In the end there is the presumption that conditional consent
to processing that is not necessary for the contract is unfree The
processing consented to is most of the time not necessary for the
contract Then consent is invalid meaning the processing bears
a legal ground and thus is illegal
51 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p4 52 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p2 53 see Netflix Privacy Policies available at httpswwwwhats-on-net-
flixcomprivacy-policygdpr-information last access on 141218 54 Art 6(1)(b) GDPR 55 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 56 Recital 43 S2 GDPR 57 Art 5 GDPR 58 Art 5(1)(b) GDPR
C Other safeguards of the GDPR
Nevertheless if data is processed by the controller there are still
other safeguards protecting personal data namely the principles
for data processing57 Those are the principles of lawfulness
fairness and transparency purpose limitation data minimisa-
tion accuracy storage limitation integrity and confidentiality
and accountability Of special interest regarding conditional
consent are the principles of purpose limitation data minimisa-
tion and accountability
I The principle of purpose limitation
The principle of purpose limitation stipulates that data can only
be collected for specified explicit and legitimate purposes and
shall not be further processed in a manner that is incompatible
with those purposes58 The aim of this principle is that the us-
ers know what the data is used for Only than they can make an
informed decision whether to give consent to data processing59
There is a close connection to the necessity requirement of Art
7(4) because there the purpose of the contract has to be consid-
ered as well60
The purpose of data processing has to be specified whereby
the level of detail should be considered on a case-to-case basis
in order to tell the user why the data is processed and what is
intended to be done with it61
As a result of the purpose limitation principle many services
have published their purposes in their privacy policies It has to
be examined critically whether the outlines purposes are de-
tailed enough Controllers will tend do give as little detail as
possible Eg in the case of Netflix you will find some cryptic
purposes like to enhance costumer experience and to fulfil an
obligation under law or contract62 So in theory purpose limita-
tion seems to be a good safeguard which in practice might easily
fail
Further purpose limitation might not be enough of protec-
tion as it is limited itself If data shall be reused then the con-
troller shall take into account various factors eg the terms of
contract (Art 6(4)(b)) But shall is not giving the same level
of protection as if the controller must take those into ac-
count63
II The principle of Data minimisation and right to be
forgotten
The principle of data minimisation64 means that the amount of
collected personal data must be adequate relevant and limited
59 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 032013 on purpose limi-
tation p 46 at the end 60 Art 29 Working Party 2014 Opinion 062014 on the notion of legitimate
interests of the data controller under Art 7 of Directive 9546EC p 17 61 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 89 62 Netflix Privacy Policy How we use your personal data availabe at
httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policygdpr-processing last accessed 141218
63 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review p 5 64 Art 5(1)(c) GDPR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 30
to what is necessary in relation to the purpose for which they are
processed65 Personal data should be processed only if the pur-
pose of the processing could not reasonably be fulfilled by other
means66 What is adequate and relevant depends on the specific
purpose for processing so this principle is linked to the principle
of purpose limitation
Consent for processing that is not necessary for the perfor-
mance of the contract has to be scrutinized67 Whether pro-
cessing is necessary depends on whether it is adequate relevant
and limited to what is needed to achieve the determined purpose
Art 7(4) thus enforces the principle of data minimisation by its
necessity-requirement
Additionally data processing that cannot be consented to due
to Art 7(4) and thus has no legal ground The data subject
whose data have been processed without a valid legal ground as
a consequence of has the right to be forgotten68 which means
that the data has to be deleted
The principle of data minimisation thus is already inherent in
Art 7(4) As an infringement of this principle in context with
Art 7(4) will probably make the legal ground of consent invalid
controllers are well advised to be in compliance with this prin-
ciple
III Principle of accountability
The principle of accountability means that the controller is
responsible for compliance with data processing under the
GDPR69 It also includes a material obligation to demonstrate
compliance70 One expression of this obligation is that the bur-
den of proof whether free consent has been given lies with the
controller71
In the case of conditional consent consent is presumed not to
be freely given if it is not necessary for the performance of the
contract72 This means that the burden of proof in cases of con-
ditional consent is on the controller It has to proof that consent
was freely given and is thus valid The controller will only be
able to proof this that consent is valid if the consent is neces-
sary for the contract
IV Conclusion - are consumers sufficiently
protected from a situation where they might be
ldquoselling their soul for Netflixrdquo
This article has discussed the different scenarios in which con-
ditional consent is not valid due to Art 7(4) The data processing
65 Art 5 (1)(c) GDPR and also Recital 39 GDPR ICO Guide to the General
Data Protection Regulation (GDPR) Principle Data minimisation availa-ble at httpsicoorgukfor-organisationsguide-to-the-general-data-protec-
tion-regulation-gdprprinciplesdata-minimisation last access on
141218 66 Recital 39 GDPR 67 Art7(4) GDPR 68 Developed by ECJ ruling of 13 May 2014 Google Spain C-13112 Now
also in Art 17 Sec 1 lit a-f GDPR 69 Art 5(2) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010
on the principle of accountability p4 70 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010 on the principle of
accountability at Nr 41
principles shall give additional protection As Art 7(4) already
includes a lot of those principles indirectly I conclude that they
hardly add a higher level of protection
Even though the consent is invalid in many cases of condi-
tional consent and controllers thus have no legal ground for pro-
cessing this does not stop controllers from using consent as a
legal basis for a lot of data processing Due to the overwhelming
power of large companies acting as controllers users do not
have a choice and often feel like they have to give their consent
even though the consent is invalid Eg it has been shown that
from the perspective of the majority of people in Europe there
is no alternative than to provide personal information if you
want to obtain products or services73 Users will probably not
even be aware that their consent is invalid The asymmetry in
power of the user and the controllers hinders an uproar of the
users against this practice Also it is in the interest of the users
to have access to the service or use the device It does not serve
their interests that the law just declares the consent invalid with-
out any further actions following
D Lack of consumer protection - what other
regulatory safeguards should be considered
But how could this lack of consumer protection be tackled One
could argue that market forces themselves will develop a higher
level of protection of personal data meaning that users would
prefer services that use less data But this is a very unlikely sce-
nario as many different factors come into play when a user
chooses a certain device (such as prize availability personal
preferences)74 Also reality has shown that the market fails to
protect privacy So there is an urgent need for the legislator to
increase consumer protection
A possible regulatory constraint could be that controllers are
obliged to offer two versions of a service or device of which
one does not process unnecessary data but charging a fee75 But
a legal obligation to offer two versions would be an interfer-
ence with the principle of party autonomy and freedom of con-
tract of the controller and thus would has to be justified76
A different legal constraint could be to combine EU con-
sumer protection and data protection law forming a data con-
71 Art 7(4) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p9 72 Recital 43 GDPR 73 Special Eurobarometer 431 Data Protection June 2015 p 30 available
at eceuropaeucommfrontofficepublicopinionar-chivesebsebs_431_enpdf last access 141218
74 J Rauhofer Judith ldquoOne Step Forward Two Steps Back Critical observa-
tions on the proposed reform of the EU data protection frameworkldquo Jour-nal of Law and Economic Regulation (2013) Vol 6 No 1 2013 p 69
75 W Kerber Digital markets data and privacy competition law consumer
law and data protection (2016) Journal of Intellectual Property Law amp Practice p 862
76 Art 8 ECHR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 31
sumer law which could be beneficial especially as the con-
sumer market is more and more data driven77 Data protection
law deals with fair processing and protection of fundamental
rights and consumer protection law shall empower consumers
in situations where they have low bargaining power78 The lack
of power is the reasons why the users rights are not sufficient
to protect their privacy in practice A stronger interplay of data
protection and consumer law could strengthen the autonomy of
the users
As noted above it is not very helpful for the user if the data
processing is unlawful but no consequences follow This would
be different if the unlawfulness would result in concrete rights
for the user If a Smart-TV unlawfully processes data (eg be-
cause the consent is invalid) or cannot be used because the user
refuses to give consent an effective solution for the user would
be to have the right to return the TV79 Consumer law could in-
crease the options of users by offering remedies and strengthen
their market power80
Consumer law could further be used to assess the fairness of
terms and conditions on personal data and limit the possibility
of the controller to impose terms on the users81 This would be
possible as processing data is not considered the main subject
matter of the contract82 The conditions of the contract could be
assessed and conditional consent is probably likely to lead to
an unfair situation as the lack of real choice would be against
good faith83 As a consequence controllers cannot impose un-
fair terms on their users
E Conclusion and Prospect
I conclude that in the case of smart devices or online services
where consent is conditional to use them the consent is likely to
be invalid for various reasons It has been shown that the user
has no real choice due to an imbalance of power between him or
her and the controller This imbalance arises from the lack of the
possibility to renegotiate terms and conditions and from the lack
of data-processing-free alternatives Further consent is not free
as withdrawing will lead to detriment And consent is presumed
not to be valid in the many cases where data processing is not
necessary for the contract Other safeguards namely the data
processing principles of purpose limitation data minimisation
and accountability fail to add any additional protection as they
are already included in Art7(4) I also conclude that the effect
of invalidating the consent is of very little help for the data sub-
ject
77 This is eg suggested by N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1428 78 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-
tion law (2017) Common Market Law Review p 1436 79 See for this example N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-
sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1440 80 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
It is therefore essential having in mind the importance of data
protection as a fundamental right84 and the exploding amount of
data processed to consider other legal constraints for the future
The weak point of data protection and the GDPR in my view is
the lack of remedies that are really useful for the data subject
A combination with consumer law could help to protect the data
subjects rights more efficiently The article has exemplified two
points Consumer law could be used to apply its fairness test to
the contract involving data processing between the data subject
and the controller limiting the possibilities of the controller and
thus balancing the difference in power And it could be used to
create remedies such as a right to return a device that cannot be
used without illegal data processing
Overall Art 7(4) has the best intentions to protect data sub-
jects but further steps need to be taken to transfer those good
intentions into the reality of data subjects
Die Autorin hat im Fruumlhjahr 2018 die erste juristische Staatspruumlfung an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau abgelegt Derzeit absolviert sie ein LLM-Studium in Intellectual Property Law an der University of Edinburgh Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Seminares Data Protection and Information Privacy auf Grundlage einer dort gestellten Essay-Frage entstanden
7 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1449
81 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1451 Monopolkom-
mission Competition Policy The challenge of digital markets Special Re-
port No 56 at para 341 82 This is at least the case in the Digital Content Directive 83 Art 3(1) of the Unfair Contract Terms Directive 84 Art 7 Charter of Fundamental Rights
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 32
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo
-Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK-
-
Sarah Baukelmann
Abstract
Der Fall Gaumlfgen hat die deutsche sowie die europaumlische
Rechtsprechung vor eine Herausforderung gestellt Die
abweichenden Meinungen der einzelnen RichterInnen1 in
den zwei ergangenen Urteilen zeigt das Dilemma mit dem
sich die fuumlnfte Kammer und die Groszlige Kammer des
EGMR konfrontiert sahen In diesem Fall wurde der Taumlter
zum Opfer der polizeilichen Vernehmungsmethode Frag-
lich ist unter welchen Voraussetzungen ein Straftaumlter sich
selbst als Opfer der Justiz bezichtigen kann Und wie geht
der Gerichtshof mit diesem Fall um der methodologisch
normativ und moralisch an die Grenzen des Rechts und
der bisherigen Rechtsprechung stoumlszligt Vorweg sei gesagt
nicht einheitlich
Diese Arbeit hat zum Ziel den Umgang die Methodik und
das Ergebnis zu beleuchten
A Einleitung I Fakten
Gefasst wurde der 27-jaumlhrige Student der Rechtswissenschaften
Magnus Gaumlfgen am Nachmittag des 30 Septembers als er ei-
nen mit Loumlsegeld bezahlten gemieteten Mercedes abholen
wollte2 Die Polizeibeamten die unter der irrtuumlmlichen An-
nahme standen dass das Entfuumlhrungsopfer Jakob noch am Le-
ben sei befragten den mutmaszliglichen Taumlter bis 1Uhr nachts
Am Morgen des 01Oktobers 2002 bevor der leitendende
Hauptkommissar seinen Dienst antrat fuumlhrte der Kriminal-
hauptkommissar Ennigkeit das Verhoumlr Zu diesem Zeitpunkt
wurde der Elfjaumlhrige schon seit vier Tagen vermisst Er drohte
Gaumlfgen auf Anordnung des Vizepraumlsidenten der Frankfurter Po-
lizei Daschner mit der Zufuumlgung von massiven Schmerzen von
1 In dieser Arbeit wird wenn es sich um Maumlnner und Frauen handelt die ver-
kuumlrzte Form der Beidnennung verwendet um geschlechtersensibler und in-klusiver Sprache gerecht zu werden
2 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 82 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 3 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 96 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018)
einer speziell fuumlr diese Zwecke ausgebildeten Person wenn er
den Aufenthaltsort des Kindes nicht preisgebe3 Von Angst mo-
tiviert nannte der Beschuldigte nach etwa zehn Minuten die
Fundstelle der Leiche
Magnus Gaumlfgen wurde am 28072003 wegen Mordes in Tat-
einheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und
wegen falscher Verdaumlchtigung in Tateinheit mit Freiheitsberau-
bung in zwei Faumlllen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamt-
strafe verurteilt Zudem wurde die besondere Schwere der
Schuld festgestellt4
Die Polizeibeamten wurden wegen Noumltigung im Amt und
wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Noumltigung im
Amt fuumlr schuldig befunden und gegen beide Angeklagte eine
Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen Geldstrafen von
60 bzw 90 Tagessaumltzen zu je 60 Euro fuumlr Ennigkeit und 120
Euro fuumlr Daschner wurden hinsichtlich der Verurteilung ver-
haumlngt5
II Was und Warum
Die folgenden gerichtlichen Verfahren stellen in nur mehr als
einer Hinsicht bdquoGrenzfaumllleldquo sowohl fuumlr die deutsche als auch
die europaumlische Justiz dar die Exekutive uumlberschreitet ihre
rechtlichen Grenzen die Strafprozesspflege stoumlszligt an die Gren-
zen des Beweisverwertungsverbots und dessen Fernwirkung
der europaumlische Gerichtshof fuumlr Menschenrechte sieht sich mit
der Grenze des Grundrechtsschutzes insbesondere dem Verbot
der Folter und der Verfahrensgarantie des fairen Verfahrens
konfrontiert Kontrovers wird die Causa Gaumlfgen nicht nur in den
allgemeinen Medien diskutiert sondern ebenso im rechtswis-
senschaftlichen Diskurs6 Besonders deutlich wird dies anhand
der abweichenden Meinungen in den Urteilen des EGMR
III Wie
Die Disparitaumlt der Urteile sowie die -herrschenden und abwei-
chenden- Meinungen bezuumlglich der Rechtsfrage um den Entfall
4 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Tenor abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 5 LG FrankfurtM Urt v 20122004 ndash 527 KLs 7570 Js 20381403 (404) in
NJW 2005 S 692 (693) 6 Vgl aus dem umfangr Schrifttum zit nach Heinrich Goumltz Das Urteil gegen
Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes in NJW 2005
S 953 (953)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 33
der Opfereigenschaft und der Fairness des Verfahrens gilt es in
der Ausarbeitung dazustellen Zur Erreichung dessen ist es not-
wendig die Hintergruumlnde zu beleuchten und den Ablauf der
Verfahren auf deutscher Seite wiederzugeben
Daruumlber hinaus ist im anschlieszligenden Vergleich unter Her-
anziehung vergangener Rechtsprechung des EGMR der Ver-
fahrensgang nach Straszligburg zu beleuchten und zu erlaumlutern
Durch eine tripartitaumlre Darstellung (bisherige Rspr-EGMR I-
EGMR II) laumlsst sich das Urteil der Groszligen Kammer besser ta-
xieren und ein Gesamtergebnis zusammenfassen
B Hauptteil
I Deutscher Verfahrensgang 1 Urteil des LG Frankfurt
Anfaumlnglich erklaumlrte Gaumlfgen den Tod Jakobs nicht geplant zu
haben Nach eingehender Belehrung uumlber die Konsequenzen ei-
ner Aussage hat Gaumlfgen sich in der Hauptverhandlung aus freien
Stuumlcken erneut umfaumlnglich eingelassen und raumlumte letztlich je-
doch ein dass er bereits von Anfang an geplant hatte das Kind
zu toumlten und in dieser Absicht gehandelt habe Er umschrieb
sein Gestaumlndnis dann als den einzigen Weg seine schwere
Schuld zu akzeptieren und als die groumlszligtmoumlgliche Entschuldi-
gung fuumlr den Mord an dem Kind
Das Gericht stellte fest dass sich Gaumlfgen des Mordes schul-
dig gemacht hat und dabei mit direktem Vorsatz gehandelt hat
Ferner folgte die Feststellung von drei Mordmerkmalen Heim-
tuumlcke Habgier und Verdeckungsabsicht Der Taumlter wollte sich
die Maske seines luxurioumlsen Lebens aufrechterhalten Seine Op-
ferauswahl basierte auf der Vermoumlgenslage der Eltern sodass
eine hohe Loumlsegeldforderung realistisch blieb Hauptmotiv war
damit ein Gewinnstreben mit dem der Angeklagte ruumlcksichtslos
die Existenz eines Menschen opferte welches nur als abstoszligend
gewertet werden kann Auch ging es Gaumlfgen darum zu verde-
cken dass er sich des erpresserischen Menschenraubs strafbar
gemacht hat Daher toumltete er den einzigen Zeugen und Opfer die-
ser Straftat Das Fehlverhalten der Exekutive also der Polizei-
beamten koumlnne die rechtsprechende Gewalt nicht daran hin-
dern die Tatsachenfeststellungen nach Recht und Gesetz zu be-
werten und zu beurteilen
Die Kammer hat die Schwere der Schuld aufgrund einer zu-
sammenfassenden Wuumlrdigung von Tat und Taumlterpersoumlnlichkeit
unter Abwaumlgung der fuumlr und gegen den Angeklagten sprechen-
den Gesichtspunkte bejaht Als Gesamtstrafe ist eine lebens-
lange Freiheitsstrafe anzuerkennen
7 BGH Urt v 21052004 ndash 2 StR 3504 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrr2042-35-04php (Abrufdatum 09082018) 8 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (656) 9 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 10 Vgl BVerfG Beschl v 2742000 ndash 2 BvR 7594 in NJW 2000 S 3557
2 Verfahren Bundesgerichtshof
Gaumlfgen legte daraufhin Revision beim BGH in Karlsruhe ein
der diese jedoch mit der Begruumlndung dass die Nachpruumlfung kei-
nen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe7
als unbegruumlndet ablehnte
3 Verfahren Bundesverfassungsgericht
Es folgte eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen die Ent-
scheidungen des LG und des BGH wandte in der Gaumlfgen die
Verletzung von Art 1 I GG sowie Art 104 I 2 GG ruumlgte da die
Behandlung der Polizei in Anbetracht seiner damaligen psychi-
schen und physischen Verfassung sowie des planmaumlszligigen
durch die Polizeihierarchie abgesicherten und von dem ernsthaf-
ten Willen zur (spurenlosen) Umsetzung getragenen Vorgehens
Folter iS des Art 3 EMRK gewesen sei8
Das BVerfG entschied dass die Begruumlndung nicht den An-
forderungen des Vorbringens gem sectsect 23I 2 92 BVerfGG ent-
spreche da es zum einen an der Darlegung der Grundrechtsver-
letzung durch die angegriffenen Maszlignahmen mangele und dass
die geltend gemachten Folge verfassungsrechtlich zwingend
sei9 Inwiefern die Ablehnung eines Verfahrenshindernisses die
verfassungsrechtlich verbuumlrgten Rechte des Beschwerdefuumlhrers
verletze10 hielt das BVerfG nicht fuumlr ausreichend dargestellt da
sich der Beschwerdefuumlhrer ausschlieszliglich gegen seine Verurtei-
lung durch das LG und auf die Verwerfung seiner Revision
durch den BGH11 beschraumlnke Die Verwertbarkeit der Beweis-
mittel betreffend wurde von beiden Gerichten das Beweisver-
wertungsverbot hinsichtlich der Aussagen gem sect 136a StPO an-
erkannt bzw die Fernwirkung desselbigen bzgl der Beweismit-
tel abgelehnt Die Verfassungsbeschwerde wurde mangels Zu-
laumlssigkeit abgelehnt
4 Amtshaftungsklage
Mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg lehnte das LG
Frankfurt den Anspruch auf Schadensersatz gegen das Land
Hessen ab Das OLG Frankfurt hat mit einem Beschluss v
2822007 die Ablehnung der Prozesskostenhilfe bestaumltigt12
II Europaumlische Rechtsprechung
Gaumlfgen als Beschwerdefuumlhrer hat sich an den EGMR gem Art
34 S 1 EMRK13 gewandt und behauptet dass er bei seiner poli-
zeilichen Vernehmung unter Verstoszlig gegen Art 3 gefoltert wor-
den sei Auszligerdem sei er in seinem durch Art 6 I garantierten
Recht auf ein faires Verfahren das ein Recht sich nicht selbst
zu bezichtigen einschlieszlige verletzt worden14 Sein Recht auf
Verteidigung sei ihm durch die Verwertung der Beweismittel
und des Gestaumlndnisses entzogen worden
11 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 12 OLG FrankfurtM Beschl v 2822007 ndash 1 W 4706 in NJW 2007 S 2494 13 Folgende Artikel ohne Kennzeichnung sind solche der EMRK 14 EGMR (V Sektion) Entschv 10042007 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland)
in NJW 2007 S 2461 (2462)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 34
1 Zulaumlssigkeit
Die Beschwerde ergibt fuumlr den Gerichtshof mit Hinblick auf
seine bisher erarbeiteten Rechtsprechungskriterien dass diese
Ruumlge nicht offensichtlich unbegruumlndet iS von Art 35 III ist
2 Verletzung von Art 3
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Schutz von Art 3 ist einer der wichtigsten und grundle-
gendsten Werte unserer demokratischen Gesellschaft15 Art 3
ist nicht einschraumlnkbar und gehoumlrt zu den Bestimmungen von
denen auch im Notstandsfall nicht abgewichen werden darf16
Auch wenn immer mal wieder die Frage der Abwaumlgung zwi-
schen den Risiken fuumlr die betroffene Person und der nationalen
Sicherheit auftauchte lehnte der Gerichtshof eine implizite Be-
grenzung strikt ab17 Selbst in den schwierigsten Umstaumlnden
wie im Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen
verbietet die Konvention Folter und unmenschliche oder ernied-
rigende Behandlung oder Bestrafung absolut ohne jede Aus-
nahme18 Daher hat es fuumlr Art 3 keine Bedeutung welche Straf-
tat dem Betroffenen vorgeworfen wird19
Um von Art 3 erfasst zu werden muss eine Misshandlung ein
Mindestmaszlig an Schwere erreichen Die Beurteilung dieses Min-
destmaszliges ist der Natur der Dinge nach relativ es ist abhaumlngig
von saumlmtlichen Umstaumlnden des Einzelfalls20 Der Zweck sowie
die Absicht und die Beweggruumlnde bilden Faktoren fuumlr die Ein-
ordnung der Behandlung21 So zum Beispiel die Erlangung eines
Gestaumlndnisses22 und der Kontext der fraglichen Behandlung23
Der Gerichtshof hat eine Behandlung als erniedrigend erach-
tet wenn sie dazu angetan ist bei den Opfern Gefuumlhle der Angst
Beklemmung und Unterlegenheit hervorzurufen die geeignet
sind sie zu demuumltigen zu entwuumlrdigen und moumlglicherweise ih-
ren koumlrperlichen oder geistigen Widerstand zu brechen24 Bei
der Beurteilung ob eine Bestrafung oder eine Behandlung er-
niedrigend iS des Art 3 ist wird das Gericht auch pruumlfen ob es
dem Zweck dient die betreffende Person zu erniedrigen und zu
benachteiligen und ob sie in Bezug auf die Folgen ihre Persoumln-
lichkeit in einer Weise beeintraumlchtigt die mit Art 3 unvereinbar
ist mit einer Behandlung die Gefuumlhle von Angst Angst und
Minderwertigkeit hervorruft die geeignet sind das Opfer zu er-
niedrigen oder zu entwerten und moumlglicherweise seinen physi-
schen oder moralischen Widerstand zu brechen oder das Opfer
15 EGMR Urtv 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 119 abrufbar unter
httphudocechrcoeintengi=001-58559 (Abrufdatum 2882018) 16 EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ 1997 S
1078 17 Vgl EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ
1997 S 1078 18 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 wwwhu-
docechrcoeintengitemid[001-58559] (Abrufdatum 15082018) 19 EGMR Urtv 2822008 - 3720106 (SaadiItalien) Rn 139-140 in NVwZ
2008 S 1330 20 EGMR Urt v 1811978 Rn 162 in EuGRZ 1979 Seite 149 21 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 88 (Abrufdatum 21082018)
22 EGMR Urtv 8121996 - 2198793(AksoyTuumlrkei) Rd 64 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-58003 (Abrufdatum 28082018) 23 EGMR Urtv 20122000 - 3087396 (EgmezZypern) Rd 78 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59100 (Abrufdatum 28082018)
zu veranlassen gegen seinen Willen oder Gewissen zu han-
deln25 Art 1 UN-Antifolterkonvention postuliert dass bdquowenn
eine Behandlung erfolgt um () ein Gestaumlndnis zu erlangen oder
um zu bestrafen einzuschuumlchtern oder zu noumltigenldquo es sich um
Folter handelt Die bloszlige Bedrohung mit einem durch Art 3 ver-
botenen Verhalten kann mit dieser Bestimmung in Konflikt ge-
raten Die Bedrohung eines Menschen mit Folter koumlnnte demge-
maumlszlig unter bestimmten Umstaumlnden zumindest eine bdquounmensch-
liche Behandlungldquo darstellen26 Hat jedoch ein innerstaatliches
Verfahren stattgefunden so ist es nicht Aufgabe des Gerichts-
hofs anstelle der innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt zu
wuumlrdigen und es obliegt in der Regel diesen Gerichten die
ihnen vorliegenden Beweise zu wuumlrdigen27
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die angedrohte Bedrohung
wenn sie erfolgt waumlre als Folter anzusehen waumlre und ist vor die-
sem Hintergrund der Auffassung dass der Bf waumlhrend der Be-
fragung am 1102002 einer nach der Konvention verbotenen
unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war28
c) EGMR II
Unter Beruumlcksichtigung der fuumlr die Beurteilung wesentlichen
Gesichtspunkte haben die gegen den Bf ausgesprochenen realen
und direkten Drohungen das Mindestmaszlig an Schwere erreicht
um das umstrittene Verhalten der Polizeibeamten in den Anwen-
dungsbereich von Art 3 zu bringen Das durch die Androhung
ausgeloumlste psychische Leiden dem der Bf ausgesetzt war ist
schwerwiegend genug um als eine nach Art 3 verbotene und
unmenschliche Behandlung gewertet zu werden aber nicht das
Niveau der Grausamkeit erreicht um sie als Folter zu bezeich-
nen29
d) Fazit
Die Verletzung von Art 3 wurde bereits von den innerstaatli-
chen Gerichten und der Kammer anerkannt Die Anwendbarkeit
von Art 3 insgesamt mithin das Vorliegen einer Behandlung
die dessen Tatbestand erfuumlllt begruumlndet die Groszlige Kammer aus-
fuumlhrlich und eng an den Kriterien der bisherigen Rspr ange-
lehnt30 Die Groszlige Kammer weicht mit dieser Einschaumltzung
nicht von ihrem vorherigen Rechtskurs ab31
24 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 abrufbar unter wwwhudocechrcoeintengitemid[001-58559 (Abrufdatum
15082018) 25 EGMR 342001 - 2722995 (KeenanUK) Rd 110 abrufbar unter wwwhu-
docechrcoeintengi=001-59365 (Abrufdatum 28082018) 26 EGMR Urtv 2521982 - 751176 (Campbell CosansUK) Rd 23 abrufbar
unter httphudocechrcoeintengi=001-57455 (Abrufdatum 28082018)
27 EGMR Urtv 2291993 - 1547389 (KlaasDeutschland) Rd 29 Serie A Bd
269 28 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 69 ff 29 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3146) 30 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 31 Fuumlr Beispiele als Einordnung von Folter siehe Christoph Grabenwarter Ka-
tharina Pabel Europaumlische Menschenrechtskonvention ein Studienbuch
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 35
3 Opfereigenschaft
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Gerichtshof verlangt fuumlr den Fortfall der Opfereigenschaft
1 dass der beklagte Staat den Eingriff aufhebt und anerkennt
dass eine Konventionsverletzung vorgelegen hat und 2 dass er
die Konventionsverletzung angemessen wiedergutmacht32 Eine
angemessene Wiedergutmachung der Konventionsverletzung
kann durch unterschiedliche Rechtsbehelfe bewirkt werden33
Im Zuge dessen hat der Gerichtshof festgestellt dass es nicht um
die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten
sondern um die voumllkerrechtliche Verantwortung des Staates
ginge34 Die Zustaumlndigkeit des Gerichtshofs beschraumlnkt sich auf
Letztere In sbquovergleichbarenlsquo Faumlllen wurde beanstandet dass
keinerlei disziplinarischen Maszlignahmen gegen die Staatsbe-
dienstete eingeleitet wurden35 sowie das Unterlassen einer Sus-
pendierung oder die Entlassung bei Verurteilung36
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die deutschen Gerichte die Kon-
ventionsverletzung ausdruumlcklich und der Sache nach anerkannt
haben37Zur Wiedergutmachung ist der Schuldspruch vom
20122004 gegen die Polizeibeamten zu nennen Unter Beruumlck-
sichtigung aller Umstaumlnde stellte der Gerichtshof fest dass der
Verstoszlig gegen Art 3 in der Androhung einer Misshandlung be-
steht (im Unterschied zu einer tatsaumlchlichen koumlrperlichen Miss-
handlung die die Schwelle fuumlr die Anwendbarkeit von Art 3
erreicht) Eine Wiedergutmachung fuumlr die Verletzung wurde
durch die wirksame Strafverfolgung und Verurteilung der ver-
antwortlichen Polizeibeamten mit der unzweifelhaft der Un-
rechtsgehalt der Misshandlung festgestellt wurde38 anerkannt
Diese Uumlberlegungen fuumlhren dazu dass der Bf nicht mehr be-
haupten kann Opfer einer Verletzung von Art 3 zu sein da die
innerstaatlichen Gerichte hinreichend Wiedergutmachung fuumlr
die gegen Art 3 verstoszligene Behandlung geleistet haben
c) EGMR II
Die Verletzung von Art 3 wurde durch die innerstaatlichen Ge-
richte ausdruumlcklich anerkannt Jedoch sei die Verurteilung zu
Geldstrafen iHv 60 bzw 120 Euro zu je 60 bzw 90 Tagessaumlt-
zen die auch noch zur Bewaumlhrung auszusetzen sind keine an-
gemessene Reaktion auf einen Verstoszlig gegen Art 3 Eine solche
bdquooffensichtlich unverhaumlltnismaumlszligigeldquo Strafe fuumlr die Verletzung
eines der wesentlichen Grundrechte der Konvention hat nicht
die abschreckende Wirkung die notwendig ist um neuen Ver-
stoumlszligen gegen das Verbot von Misshandlungen in kuumlnftig moumlgli-
6Aufl 2016 sect20 Rn 42 Maureen Spencer und John Spencer Human
Rights in a Nutshell 3 Aufl S89 32 Meyer-LadewigKulick Europaumlische Menschenrechtskonvention Handkom-
mentar 4 Auflage Art 34 Rd 31 33 EGMR Urt v 2932006 ndash 3681397 (ScordinoItalien) Rd 186 in NJW
2007 S1259 34 EGMR Urt v 1042001 - 2612995 (TanliTuumlrkei) Rd 111 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59372 (Abrufdatum 2882018) 35 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 63 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 36 EGMR Urtv 2112004 - 3244696 (AbduumllsametTuumlrkei) Rd 55 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-67228 (Abrufdatum 2882018)
chen schwierigen Situationen vorzubeugen39 Die von den deut-
schen Gerichten ergriffenen Maszlignahmen entsprechen keiner
Widergutmachung die jemand bekommen sollte wenn Art 3
verletzt worden ist Mangels ausreichender Wiedergutmachung
ist der Bf nach wie vor Opfer der Verletzung von Art 3
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die bulgarische Richterin Kalaydjieva konnte sich den Ausfuumlh-
rungen der Mehrheit (mit sechs zu einer Stimme) des Entschlus-
ses der Kammer nicht anschlieszligen Sie begruumlndet ihre Auffas-
sung damit dass die Verletzung von Art 3 bereits festgestellt
worden ist und dass die Opfereigenschaft nicht durch Entschauml-
digung wegfalle Vielmehr wuumlrde dies den Weg ebnen fuumlr die
Legitimierung von Zwang als Methode zur Beschaffung von Be-
weismitteln in Strafverfahren in denen bei wichtigen Faumlllen
die Devise Zahlen und Foltern gelte Danach koumlnnten Ver-
stoumlszlige gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung im Namen der Gerechtigkeit begruumln-
det und beguumlnstigt werden40
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen stimmen mit der Mehrheit der GK uumlberein
weichen jedoch bei der Begruumlndung der Opfereigenschaft ab
Die innerstaatlichen Behoumlrden die uumlber die Erschoumlpfung aller
innerstaatlichen Rechtsbehelfe entscheiden haben die Verlet-
zung von Art 3 anerkannt Die GK hat bereits festgestellt dass
eine Widergutmachung nicht stattgefunden hat da die Wirkung
der Strafen keine ausreichende abschreckende Wirkung hatte
Fraglich ist allerdings ob die Waffe der Bestrafung als Abschre-
ckungswirkung der einzige Weg der Wiedergutmachung gewe-
sen waumlre Nach Auffassungen der drei RichterInnen unter Be-
ruumlcksichtigung der Gesamtumstaumlnde des Falls waumlre fuumlr die
festgestellte und anerkannte Verletzung von Art 3 ein Verwer-
tungsverbot fuumlr die konventionswidrig erlangten Beweise eine
angemessene und hinreichende Widergutmachung gewesen41
cc) Richter Casadevall ua
Die abweichende Meinung von Richter Casadevall der sich die
Richter Kovler Mijović Jaeger Jočiene und Loacutepez Guerra an-
geschlossen haben negiert die Opfereigenschaft des Bf sowie
die Feststellung der Verletzung von Art 3 Der andorranische
Richter schlieszligt sich der Rspr der Kammer an dass die Andro-
hung von Gewalt eine unmenschliche Behandlung darstellt
Dies wurde jedoch bereits von den deutschen Gerichten foumlrm-
lich anerkannt Die Begruumlndung des Gerichtshofs die Opferei-
Vgl Conclusions and Recommendations of the United Nations Committee
against Torture Turkey 27 May 2003 CATCCR305 37 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 77 38 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 80 39 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3147) 40 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 118-119 (Abrufdatum
16082018) 41 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 7 der abw Meinung (Ab-
rufdatum 17082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 36
genschaft nicht abzuerkennen war die milde Bestrafung der Po-
lizeibeamten obwohl es nicht seine Aufgabe ist uumlber die
Schwere der Schuld des Einzelnen zu entscheiden denn es han-
delt sich hierbei um Angelegenheiten die in die ausschlieszligliche
Zustaumlndigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte fallen42 Die
Opfereigenschaft des Bf ist nicht abhaumlngig von der Houmlhe der ge-
gen die Polizeibeamten verhaumlngten Strafen Ebenso ist die Frage
der Houmlhe der Strafen willkuumlrlich denn wird die Houmlhe der Strafe
zum Maszligstab gemacht so kann man sich fragen welches Straf-
maszlig fuumlr die Mehrheit wohl genuumlgt haumltte um die Feststellung
treffen zu koumlnnen dass die Opfereigenschaft des Bf entfalle Der
Richter erhebt Zweifel an dem Erfordernis einer Entschaumldigung
und an der Amtshaftungsklage die nicht einmal eine Entschaumldi-
gung zum Ziel hat sondern ein neues Verfahren und die erst drei
Jahre nach Eintritt des Schadens versucht wurde geltend zu ma-
chen Zweifelhaft ist auch der Tenor des Urteils denn letztlich
bestaumltigt der Gerichtshof das was die innerstaatlichen Behoumlrden
bereits anerkannt haben die Verletzung von Art 3
e) Fazit
Die GK verweist auf die Verfolgung der fuumlr die unmenschliche
Behandlung Verantwortlichen Beamten Die in der Rechtspre-
chung -uumlberwiegend in Urteilen uumlber Beschwerden gegen die
Tuumlrkei und Russland-43 verfestigten Kriterien fuumlr eine gruumlndli-
che und effektive Untersuchung bringt der EGMR auch hier zur
Anwendung Raschheit Verfahrensdauer Ergebnisse der Un-
tersuchung und anschlieszligender Strafverfahren einschlieszliglich
disziplinaumlrer Maszlignahmen44 Dies erscheint auf dem ersten Blick
auch angemessen da mit der Verletzung von Art 3 eine Verlet-
zung des garantierten Rechtsschutzes vorliegt Jedoch weisen
die Urteile vorheriger Faumllle Unterschiede in der Schwere der
Misshandlung auf die bis hin zu Folter und zu einer Verletzung
von Art 2 durch Staatsbedienstete gehen Im vorliegenden Gaumlf-
gen Fall handelt es sich um eine 10-minuumltige unmenschliche Be-
handlung Die Faumllle NiklovaBulgarien TanliTuumlrkei und Ab-
duumllsametTuumlrkei bei denen die Opfer in Polizeigewahrsam auf-
grund von Folter gestorben sind gleichzusetzen mit der Andro-
hung von Gewalt uumlberzeugt nicht Die Grundsaumltze sind in der
bisherigen Rspr entwickelt worden in Faumlllen in denen gegen
die verantwortlichen Polizeibeamten keinerlei disziplinarische
Sanktionen eingeleitet worden sind Die vermeintliche Kritik
dass Daschner und Ennigkeit nicht suspendiert wurden schlaumlgt
ebenfalls fehl da beide bereits waumlhrend der Untersuchungen
und des Strafverfahrens von Positionen entfernt wurden in de-
nen sie in direkter Verbindung mit der Untersuchung von Straf-
taten standen45 Wenn die Beurteilung des Mindestmaszliges fuumlr die
42 Vgl EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 123 (Abrufdatum 17082018)
43 Vgl EGMR Urtv 3092004 ndash 5022299 (Krastanov) Rd 48 EGMR
Urtv1772008 ndash 284330202 (Camdereli) Rd 28 44Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 45 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 46 EGMR Urt v 1811978 - 531071 (IrlandUK) Rn 162 in EuGRZ 1979
S149 47 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129)
Schwere einer Behandlung also relativ ist abhaumlngig von saumlmtli-
chen Umstaumlnden des Einzelfalls wie die Dauer der Behandlung
ihre physischen und psychischen Folgen46so scheint die Frage
die Richter Casadevall aufgeworfen hat wann die Schwere der
Bestrafung ausreichend gewesen waumlre fuumlr einen Entfall der Op-
fereigenschaft unbeantwortet zu bleiben Trotz Erfuumlllung aller
formalistischen Voraussetzungen entscheidet die GK uumlber die
general-praumlventive Eignung der Strafe einen Anspruch des Fol-
teropfers auf eine bestimmte Mindestbestrafung die die Verlet-
zung beseitigt47Dem Gerichtshof obliegt es nicht uumlber inner-
staatliches Recht zu fuumlr die verurteilten Polizeibeamten zu urtei-
len Die Schutzrichtung des Art 3 zielt nach erfolgtem Fehlver-
halten darauf ab das Entstehen einer Gleichguumlltigkeit zu verhin-
dern nicht aber auch entscheiden48 so seine eigene Rspr im Jahr
2007
4 Verletzung Art 6
a) Bisherige Rechtsprechung
Das Recht zu Schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen ist
nicht ausdruumlcklich in Art 6 erwaumlhnt ergibt sich aber aus dem
Grundsatz eines fairen Verfahrens und entspricht allgemein an-
erkannten internationalen Standards49 Wird eine strafrechtliche
Verurteilung ausschlieszliglich auf ein durch Verletzung von Art 3
gewonnenes Beweismittel gestuumltzt kann darin eine Verletzung
von Art 6 liegen50 Wenn es sich um Beweise handelt die nur
indirekt durch den Art3 verletzende Methoden erlangt wurden
ist es in der Regel zwar erforderlich dass diese Beweise in ei-
nem Strafverfahren nicht verwendet werden51 Eine Frage nach
Art6 I kann aufgeworfen werden wenn es sich um Beweise
handelt die unter Verletzung von Art3 erlangt worden sind
selbst wenn die Zulaumlssigkeit solcher Beweise bei der Verurtei-
lung des Beschuldigten nicht ausschlaggebend gewesen ist52
Wird das Recht zu schweigen durch eine Maszlignahme verletzt
die gegen Art3 verstoumlszligt so sind in der Folge dann wenn ein
Fall der Folter vorliegt auch koumlrperliche Beweismittel die auf-
grund der Folterung erlangt werden koumlnnen unverwertbar ohne
dass es auf eine Abwaumlgung ankaumlme53 Die Verwertung rechts-
widrig erlangter Beweise kann zu einer Verletzung des Art 6 I
1 fuumlhren eine solche wird aber selbst bei Verletzung anderer
Konventionsrechte nur nach Umstaumlnden des Falles nicht aber
per seacute anerkannt soweit die Beweise unter Beachtung der Natur
der Verletzung in der adversatorischen Hauptverhandlung unbe-
hindert angefochten werden koumlnnen54
48 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 163 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 49 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 129 50 EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006 S
3117 (3123) 51 Grabenwarter und Pabel Fn 80 sect24 Rn 71 52 EGMR Entschv912003 - 5491900 (Iccediloumlk Tuumlrkei) Rd 3 abrufbar unter
www httphudocechrcoeintengi=001-22982 (Abrufdatum 28082018)
53 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 133 54 Karsten Gaede Fairness als Teilhabe ndash Das Recht auf konkrete und wirksame
Teilhabe durch Verteidigung gemaumlszlig Art 6 EMRK S322
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 37
b) EGMR I
Die wesentliche Grundlage fuumlr das Urteil des LG ist allein das
neue und umfassende Gestaumlndnis das er nach qualifizierter Be-
lehrung in der Hauptverhandlung als erwiesen ansah waumlhrend
alle anderen Beweismittel einschlieszliglich der beanstandeten
sachlichen Beweismittel eine Nebenrolle spielten und nur ver-
wertet wurden um den Wahrheitsgehalt dieses Gestaumlndnisses zu
uumlberpruumlfen55
Folglich kommt das Gericht zu dem Ergebnis dass keine der
beanstandeten Beweismittel bei der Uumlberpruumlfung der Schuld
eine Rolle spielten und dass die Verteidigungsrechte des Bf in-
folge ihrer Zulassung nicht beeintraumlchtigt wurden Im Ergebnis
liegt durch die Verwertung kein Verstoszlig gegen das Gebot des
fairen Verfahrens gem Art 6 I und III vor
c) EGMR II
Der Bf behauptet dass die Verwertung der Beweismittel in dem
gegen ihn gefuumlhrten Strafverfahren eine erhebliche Rolle bei sei-
ner Verurteilung gespielt haumltte
Problematisch ist der Anwendungsbereich der Ausschlussre-
gel von Beweismitteln die durch eine Verletzung von Art 3 ge-
wonnen wurden Bisher besteht keine gaumlngige Rspr weder bei
den Konventionsstaaten noch den Gerichten anderer Staaten o-
der Institutionen die uumlber die Wahrung von Menschenrechten
zu wachen haben
Ein Ausschluss so erlangter Beweismittel wuumlrde die Strafver-
folgung erheblich in ihrer Wirksamkeit beeintraumlchtigen Auf der
anderen Seite stehen die Opfer oder Familienangehoumlrigen der
Opfer die Interesse an der Aufklaumlrung der Straftat haben wie es
im vorliegenden Fall auch der Fall ist Ein von Wesentlichkeit
gepraumlgtes oumlffentliches Interesse an der Integritaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens das die Werte unserer zivilisierten Gesell-
schaft schuumltzt ist vorhanden damit die erarbeiteten Grundsaumltze
nicht an Bodenhaftung verlieren Eine Zulassung der illegal er-
worbenen Beweismittel koumlnnten eine Veranlassung sein das ab-
solute Verbot des Art 3 zu umgehen oder bei wirksamem
Schutz des Einzelnen gegen solche Methoden ein Verbot der
Zulassung
Im vorliegenden Fall ist zu beachten dass die rechtswidrige
Vernehmungsmethode angewandt wurde um das in Art 2 ma-
nifestierte Grundrecht des Kindes auf Leben zu retten Die Kon-
vention verpflichtet die Vertragsstaaten auch das Recht auf Le-
ben zu schuumltzen56 Jedoch kann weder der Schutz menschlichen
Lebens noch eine strafrechtliche Gefaumlhrdung um den Preis einer
Gefaumlhrdung der Garantie des absoluten Rechts von Art 3 aus-
gesetzt werden ohne die Werte zu opfern und die Justiz in Verruf
zu bringen Die Fairness des Verfahrens ist hingegen nur betrof-
fen wenn feststeht dass sich der Verstoszlig gegen Art 3 auf den
Ausgang des Verfahrens gegen den Angeklagten ausgewirkt hat
anders gesagt wenn er die Entscheidung uumlber seine Schuld und
die Strafe beeinflusst hat57
55 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (701) Rd 106 56 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) EGMR Urt v 28101998 - 2345294 (OsmanUK) in Slg
1998-III S3159-3160 Nr 115-116 57 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Fuumlr das LG Frankfurt waren nicht die Beweismittel ein-
schlieszliglich der beanstandeten koumlrperlichen Beweismittel we-
sentliche Grundlage fuumlr das Urteil sondern allein das neue und
umfassende Gestaumlndnis das nach qualifizierter Belehrung in der
Hauptverhandlung abgelegt wurde Die umstrittenen bdquoeinge-
faumlrbtenldquo Beweismittel waren nicht notwendig und haben nicht
dazu gedient die Schuld des Bf zu beweisen oder die Strafe fest-
zustellen
Dass der Bf in der Hauptverhandlung keine andere Wahl ge-
habt haben soll ist der erneuten qualifizierten Belehrung und
dem Hinweis des Gerichts dass seine bisher getaumltigten Gestaumlnd-
nisse nicht gegen ihn verwertet werden koumlnnen entgegenzustel-
len Zumal er zugegeben hat sein Gestaumlndnis aus Reue abzuge-
ben
Die GK ist nicht der Meinung dass die Verletzung von Art
3 im Ermittlungsverfahren Einfluss auf das in der Hauptver-
handlung abgelegte Gestaumlndnis hatte Die Rechte der Verteidi-
gung und das Recht sich selbst zu bezichtigen wurden ebenfalls
beachtet Folglich ist Art 6 I iVm III nicht verletzt
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die Absolutheit von Art 3 ziehe eine Verletzung der Selbstbe-
lastungsfreiheit nach sich und somit einen Verstoszlig gegen Art 6
Der Gerichtshof unterscheide nicht zwischen durch Zwang er-
worbene Aussagen und durch von Zwang erworbene Beweis-
mittel Die Verwertung der Beweismittel im vorliegenden Fall
und der angebliche Verlust der Opfereigenschaft stellt einen ge-
faumlhrlichen Ansatz dar der zu einer illegalen Beschaffung von
Beweismitteln solange das Verhaumlltnis zwischen Nutzen und
Schaden vertretbar ist verleite
Ob die Beweismittel ggf zu einem spaumlteren Zeitpunkt aufge-
funden worden waumlren ist nicht ob dem Gericht daruumlber zu spe-
kulieren Die Frage ist ob das Recht auf die Selbstbelastungs-
freiheit wirksam ausgeuumlbt wurde ohne sich dabei auf illegal er-
langte Beweismittelverwertung zu stuumltzen Angeblich so das in-
nerstaatliche Gericht sei der Umfang der Beweisverwertung nur
auf die Uumlberpruumlfung des Gestaumlndnisses beschraumlnkt Tatsche je-
doch ist dass ohne die Beweismittelverwertung die nach inner-
staatlichem Recht das Gestaumlndnis nicht haumltten uumlberpruumlfen koumln-
nen die Qualifizierung von erpresserischen Menschenraub zu
Mord nicht haumltte stattfinden koumlnnen58
Die Frage der Verfahrenseinstellung ist keine Abwaumlgung
zwischen der Gefahr oder Schwere einer Misshandlung gegen
die Gefaumlhrlichkeit fuumlr die Gemeinschaft denn dies kommt
der Feststellung gleich dass der Schutz der nationalen Sicher-
heit es rechtfertigt die Gefahr einer Misshandlung des Betroffe-
nen eher in Kauf zu nehmen59 Festzustellen ist ob zur Schuld-
feststellung ein Zugriff auf die durch Androhung von Zwang er-
langten Beweismittel hinzugezogen wurden selbst wenn es nur
zur Uumlberpruumlfung eines Gestaumlndnisses galt Durch den Ruumlckgriff
58 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 124 (Abrufdatum 16082018)
59 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 117 (Abrufdatum 16082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 38
auf die illegal erlangten Beweismittel ist die Unschuldsvermu-
tung und damit die Fairness des Verfahrens eingeschraumlnkt
Die einzige Heilung fuumlr den Verstoszlig gegen Art 6 und die Ab-
sprache der Opfereigenschaft sei ein neues Verfahren
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen weichen von der mehrheitlichen Meinung ab
dass keine Verletzung von Art 6 Abs I und III stattgefunden
hat Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ergebe
sich aus der Zulassung der Beweismittel die unmittelbar aus
Art 3 sichergestellt worden sind und unter selbstbelastenden
Umstaumlnden erlangt worden sind Deren Zulassung ist eine fun-
damentale und auszligerordentlich wichtige Grundsatzfrage die die
Fairness iSv Art 6 betrifft Die bisherige Rspr habe Gestaumlnd-
nisse die unter einer Verletzung von Art 3 gewonnen wurden
als immer unzulaumlssig betrachtet Uneindeutig war bisher der
Umfang des Verwertungsverbots fuumlr sachliche Beweismittel
Nach Auffassung der RichterInnen kann ein Strafverfahren in
dem Beweismittel die infolge eines Verstoszliges gegen eine derart
absolute Konventionsvorschrift erlangt wurden zugelassen und
bdquoin welchem Umfang auch immerldquo zur Entscheidung herange-
zogen werden nicht fair sein60 Unfair sei selbst wenn unter an-
gemessenen Verfahrensgarantien erlangt Beweismittel verwer-
tet werden denen auch nur der Makel von Druck oder Zwang
anhaftet Die Diskrepanz zwischen der Zulaumlssigkeit der Aussa-
gen und der Zulaumlssigkeit der Beweismittel gefaumlhrde durch deren
Begruumlndung das absolute Rechte Der angeblichen Unterbre-
chung der Kausalkette koumlnnen sich die RichterInnen nicht an-
schlieszligen Die Trennung die der Gerichtshof vornimmt zwi-
schen der Verurteilung wegen Mordes und dem bdquoeingeschlage-
nen Wegldquo im Rahmen der Beweisverwertung sei unrealistisch
und formalistisch Die in der Ermittlungsphase geschehene Ver-
letzung ziehe seine nachteiligen Folgen in dem sich ergebenden
Verfahren da die Bedeutung der Ermittlungsphase einen Rah-
men bestimmen kann fuumlr den Ansatz eines Gerichts Die nach-
teiligen Folgen haumltten fuumlr eine Wiedergutmachung komplett be-
seitigt werden koumlnnen durch ein Beweisverwertungsverbot und
einer bdquosauberen Durchfuumlhrungldquo des Verfahrens Die StA haumltte
den Bf wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge
anklagen und damit den wirksamen Schutz aufrechterhalten
koumlnnen Fraglich erscheint jedoch die Unterscheidung zwischen
Beweismitteln Zumal sich die Frage stellt warum wenn die
bdquounsauberen Beweismittelldquo nicht zur Verurteilung dienten sie
uumlberhaupt zugelassen werden mussten Nach Einschaumltzung der
teilweise abweichenden Meinung hatten die Beweismittel Ein-
fluss auf den Ausgang des Verfahrens und eine Heilung durch
die Unverwertbarkeit der Gestaumlndnisse des Bf nuumltzte ihm wenn
uumlberhaupt nur wenig Im Gegenteil da die Zulaumlssigkeit derer
60 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 2 der abw Meinung (Ab-rufdatum 17082018)
61 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) 62Vgl EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006
S 3117 (3123) 63 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131)
die Freiheit sich zu verteidigen erheblich oder gar voumlllig ein-
schraumlnkt ist eine Verurteilung nahezu unausweichlich Die
Amtstraumlger handelten zwar in einer schwierigen und sehr ange-
spannten Situation doch gerade in kritischen Zeiten duumlrfen ab-
solute Werte nicht aufs Spiel gesetzt werden Die Umstaumlnde aumln-
dern nichts an der Tatsache dass sie durch einen Verstoszlig gegen
Art 3 sachliche Beweismittel erlangten die spaumlter in dem Straf-
verfahren gegen den Beschwerdefuumlhrer verwertet und zur Be-
gruumlndung herangezogen wurden Da es sich um ein absolutes
Recht handelt sind alle Verstoumlszlige dagegen schwerwiegend und
die wirksamste Moumlglichkeit dieses absolute Verbot durchzuset-
zen ist eine strenge Anwendung des Verwertungsverbots im
Hinblick auf Art 6
e) Fazit
Die GK schlieszligt sich in ihrem Urteil im Wesentlichen dem an
was die Kammer in ihrem Entschluss bewertete Der Bf hatte
die Moumlglichkeit der Bekaumlmpfung der bdquovergiftetenldquo Beweise vor
dem LG deren Ausschluss er auch in seinem Antrag vor der
Hauptverhandlung beantragte Durch die qualifizierte Beleh-
rung uumlber das Schweigerecht und den Umstand dass keine sei-
ner fruumlheren Aussagen als Beweis gegen ihn verwendet werden
duumlrfe wurde der Bf in den Status quo ante versetzt61 Jedoch
stimmt das Argument der bulgarischen Richterin Kalaydjieva
nachdenklich In seiner vorherigen Rspr hat der EGMR keine
Unterscheidung zwischen Aussagen und koumlrperlichen Beweisen
gemacht Im Gegenteil in Urteilen wie Jalloh als einem Dro-
gendealer seine Beute durch die Zufuumlhrung von Brechmitteln
entwendet wurde wurde die Zulassung der illegal erworbenen
Beweismittel als moumlgliche Verletzung von Art 6 I gewertet62
Dem koumlnnte das oumlffentliche Interesse der Verurteilung von Gaumlf-
gen entgegenstehen die es im oben genannten Beispiel nicht
gab63 Man gewinnt den Eindruck dass der EGMR etwas hin-
und hergerissen ist zwischen der Absolutheit des Art3 und dem
bdquoweicherenldquo Fairnessgebot bis er sich zur Abwaumlgung iRv Art6
durchringt64
Einen Ausweg scheint der EGMR in der Schuldbegruumlndung
zu finden Dies erscheint jedenfalls schon beinahe konstruiert
und uumlberzeugt wenig da auf der einen Seite die koumlrperlichen
Beweise keine Rolle spielen und auf der anderen Seite genau
dieselben den Wahrheitsgehalt des Gestaumlndnisses uumlberpruumlfen
sollen Die in Jalloh offen gelassene Frage der indirekten Ver-
wertbarkeit ist nun beantwortet und laumlsst insofern eine bdquoHinter-
tuumlrldquo offen65 indem ein Ausschluss von Beweisen erforderlich
sein koumlnnte aber nur fuumlr den Fall des Einflusses auf das Ge-
staumlndnis oder die Strafe66
65 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 66 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 39
5 Ergebnis
Das endguumlltige Urteil aus Straszligburg uumlberrascht Der Gerichtshof
bleibt sich den Grundsaumltzen des Art 3 treu Umso mehr uumlber-
rascht die Bewertung der innerdeutschen Strafprozesspflege und
die Verhaumlngung der Strafen Um die Absolutheit von Art 3 zu
schuumltzen bestimmt sich der Gerichtshof selbst als Kontrol-
linstanz fuumlr die Schwere von Strafen Aus Angst Art 3 wuumlrde
unterwandert beschlieszligt die GK dass sich Gaumlfgen weiter als
bdquoOpferldquo der Justiz iSv Art 34 I bezeichnen darf Es finden sich
in dem endguumlltigen Urteil Abweichungen der bisherigen Rspr
die sich weniger rechtlich als moralisch erklaumlren lassen Eine
Abwaumlgung fuumlr eine Beweisverwertung ist kritisch zu betrach-
ten67 Die abweichenden Meinungen streuen begruumlndete Zweifel
in die zugebenermaszligen neue Leitlinie des EGMR
III Gesamtfazit
Die moralische und rechtliche Problematik wird deutlich an der
scharfen Meinungsspaltung der Jurisprudenz Die Mehrheit der
5 Kammer und die Minderheit der GK sowie die innerdeut-
schen Gerichte stimmen uumlberein dass die milde Strafe der Poli-
zisten die Verletzung von Art3 kompensiere Vorherzusehen
war es nicht dass der EGMR der Rspr der deutschen Gerichte
zustimmt und Einigkeit herrscht Der absolute Schutz von Art3
bleibt bewahrt und der Umfang des Beweisverbots ist nach wie
vor -wenn auch etwas weniger- ungeklaumlrt
C Ausleitungsteil
Anknuumlpfend an die anfangs aufgestellten Herausforderungen
und die Ausgangsproblematik dieser Arbeit laumlsst sich folgendes
sagen der EGMR hat neues Terrain betreten
Methodologisch bestand die Grenzerfahrung in der Erhaltung
des Rechtsschutzes fuumlr Gaumlfgen als Rechtssubjekt und Grund-
rechtstraumlger Die objektive Bewertung stellt sich bereits als her-
ausfordernd dar
Normativ war zu entscheiden ob die Androhung von Gewalt
unter Folter fiel und ob die Androhung vergleichbar mit brutalen
und gewaltsamen Vernehmungsmethoden war Die Herausfor-
derung bestand darin zu entscheiden ob dies nicht das ganze
Strafverfahren Gaumlfgens gefaumlhrdete und seine Verurteilung
Moralisch ist zu unterscheiden zwischen dem Unrechtsgehalt
der Tat und dem Unrechtsgehalt der Behandlung Strafe sollte
nicht dem Zweck der Vergeltung dienen Fuumlr die begangene Tat
wurde Gaumlfgen zu lebenslanger Haft verurteilt Seine Rechte als
Grundrechtstraumlger stehen ihm ebenso zu wie die Anspruumlche Ver-
letzungen geltend zu machen Die Grundsaumltze unseres Rechts-
staates wurden uumlber Jahrhunderte lang erarbeitet und erkaumlmpft
und sind gerade in Anbetracht unserer Historie unumstoumlszliglich
Der zu behandelnde Fall ist nicht nur von juristischer Schwie-
rig- und Spitzfindigkeit sondern auch von moralischer Unwei-
gerlich stellen wir die Uumlbereinstimmung unseres Rechts und un-
seres Rechtsempfindens in Frage Damit scheinen wir jedoch
nicht alleine zu sein denn auch die RichterInnen in Straszligburg
stehen vor dem Menschenwuumlrdedilemma zwischen Opfer und
67 Naumlher dazu Karsten Gaede Fairness als Teilhabe 2007 S810 ff
Taumlter Die Schwierigkeit in diesem besonderen Fall war es den
Taumlter einer Straftat als Opfer der Polizei und des Rechtsstaates
zu betrachten was auf den ersten Blick schon fast antagonistisch
wirkt Der schuldig gesprochene Gaumlfgen hat alle Rechtsmittel
auf deutscher und europaumlischer Ebene ergriffen Es faumlllt schwer
zuzugeben seine Penetranz und sein Kampf um das Recht auch
als bdquorechtensldquo zu bewerten In Rechtsfragen die der EGMR zum
ersten Mal anders interpretiert hat fragt man sich in diesem Zu-
sammenhang was uumlberhaupt Recht-sprechen bedeutet Somit er-
reicht der Fall nicht nur die Grenze des Strafrechts und des Oumlf-
fentlichen Rechts sondern auch der Rechtsphilosophie in der
die Trennung von Recht und Moral ein zentrales Thema dar-
stellt Es reicht hin bis zu der Frage ob es unrichtiges Recht
gesetzliches Unrecht gebe und was das bdquoRechtldquo uumlberhaupt sei68
bdquoWas rechtens sei (quid sit iuris) das ist was die Gesetze an einem
gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben kann
der Rechtsgelehrte noch wohl angeben aber ob das was sie wollten
auch recht sei und das allgemeine Kriterium woran man uumlberhaupt
Recht sowohl als Unrecht (istum et iniustum) erkennen koumlnne bleibt
(ihm) wohl verborgenhellipldquo
ndash Immanuel Kant
Der Fall Magnus Gaumlfgen bleibt in vielerlei Hinsicht
-juristisch sowie moralisch- grenzwertig
Die Autorin studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau im achten Semester Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus der Seminararbeit die im WS 201819 im Rahmen des trinationalen Eucor-Seminars ge-schrieben und verteidigt wurde Das Seminar wurde angebo-ten von Prof Dr Jestaedt (Freiburg) unter dem Namen bdquoRechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der Eu-ropaumlischen Grundrechtecharta und der Menschenrechtskon-ventionldquo Die Autorin ist seit 2014 Mitglied der Freilaw-Re-daktion und leitet seit 2017 die Chefredaktion Sie befindet sich derzeit in der Examensvorbereitung
68 Christian Fahl Angewandte Rechtsphilosophie ndash bdquoDarf der Staat folternldquo in
JR 2004 S 182 (185)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
40 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Der Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen
-
Samuel Hahn
A Einleitung
Es ist eine dem liberalen Gedankengut des 19 Jahrhun-
derts entstammende Idee dass der Mensch nicht nur Buumlr-
ger ist sondern der Staatsverband lediglich einen Teil der
Persoumlnlichkeit absorbiert Neben der oumlffentlichen Rolle als
Staatsbuumlrger existiert noch eine private Rolle in der sich
der Mensch ganz individuell ausleben kann Diese Privat-
heit sichert ein ungestoumlrtes Zu-sich-selbst-Verhalten der
Person ohne das ein Herausbilden einer authentischen
Identitaumlt unmoumlglich ist1 Nun hat jedoch der Staat haumlufig
ein Interesse daran in den privaten Bereich der Buumlrger
vorzudringen Gerade im Rahmen strafprozessualer Er-
mittlungen ist dies der Fall da Straftaumlter ihre Verfehlungen
selten publik machen sondern diese so weit wie moumlglich
vor der Oumlffentlichkeit verbergen Dem Staat bleibt bei der
Strafverfolgung also nichts anderes uumlbrig als die private
Sphaumlre seiner Buumlrger auszuforschen Waumlhrend dies fruuml-
her mehr oder minder offen in Form von Haus- und Perso-
nendurchsuchungen geschah ermoumlglicht die heutige
Technik heimliche Uumlberwachungsmaszlignahmen die es
dem Buumlrger unmoumlglich machen seine innersten Vorgaumlnge
in einer fuumlr ihn kontrollierbaren Sphaumlre zu bewahren Da
diese innersten Vorgaumlnge fuumlr eine autonome Charakter-
entwicklung unentbehrlich sind gebietet es die Men-
schenwuumlrde dass der Staat dem Buumlrger ein Herzstuumlck der
Privatheit einen Kernbereich der privaten Lebensgestal-
tung ganz selbst uumlberlaumlsst und ihn nicht staatlichen Inte-
ressen unterordnet Die vorliegende Arbeit widmet sich
der Entstehung dieser Rechtsfigur und dem Schutz der
sich aus ihr ergibt
I Terminologie
Das BVerfG an dessen Rechtsprechung sich diese Arbeit orien-
tiert hat hinsichtlich der Benennung des absolut geschuumltzten
Bereichs keine klare Nomenklatur entwickelt Es bezeichnet ihn
uneinheitlich als bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo2 bdquoIntim-
sphaumlreldquo3 bdquounantastbaren Bereich privater Lebensgestaltungldquo
4
bdquoabsolut geschuumltzten Kernbereich privater Lebensgestaltungldquo5
1 Roumlssler Der Wert des Privaten S 275 2 BVerfGE 6 S 55 (81) 3 BVerfGE 32 S 373 (379) 4 BVerfGE 27 S 1 (6) 5 BVerfGE 80 S 137 (153)
und bdquoKernbereich der Persoumlnlichkeitldquo6 Die Terminologie in
dieser Arbeit wird daher ebenso variieren Einzig auf die Ver-
wendung des Terminus der Intimsphaumlre wird verzichtet da es
unklar ist ob das BVerfG diese begriffliche Identitaumlt konsequent
aufrechterhaumllt7
II Untersuchungsgegenstand
Gegenstand dieser Arbeit ist anhand der Rechtsprechung des
BVerfG den Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
strafprozessualen Ermittlungsverfahren zu untersuchen Dabei
wird im Besonderen auf Widerspruumlche in den Entscheidungen
des Gerichts eingegangen und gepruumlft was diese fuumlr den Kern-
bereichsschutz bedeuten Die Untersuchung beschraumlnkt sich da-
bei auf den fuumlr die Strafverfolgung besonders bedeutungsvollen
Schutz vor Informationserhebung aus dem Kernbereich privater
Lebensgestaltung Aufgrund seiner engen Verbindung zur Men-
schenwuumlrdegarantie hat jeder Schutz vor staatlichen Maszlignah-
men eine gewisse Kernbereichsrelevanz Zum Zwecke einer
Analyse des reinen von anderen Grundrechten losgeloumlsten
Kernbereichsschutzes sollen in dieser Arbeit andere Konstella-
tionen mit Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung
wie der Schutz der Kommunikation mit zeugnisverweigerungs-
berechtigten Personen auszligen vor bleiben
III Gang der Untersuchung
Im Folgenden wird zuerst die Entwicklung der Kernbereichs-
rechtsprechung durch das BVerfG dargestellt und analysiert
Anhand der auftretenden Diskrepanzen wird anschlieszligend eine
moumlgliche Relativierung des Kernbereichsschutzes gepruumlft und
schlieszliglich wird die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
anhand seines juumlngsten Urteils neu interpretiert
B Entwicklung des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung durch das BVerfG
Der Gedanke eines Kernbereichs der Persoumlnlichkeit auf den der
Staat nicht zugreifen kann hat in der Rechtsprechung der deut-
schen Verfassungsgerichtsbarkeit lange Tradition8
6 BVerfGE 34 S 238 (245) 7 Dies bejahend Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
S 14 kritisch Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 256 8 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (161) Dammann Der Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung S 23
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 41
Bereits 1957 sprach das BVerfG in der sog Elfes-Entscheidung
erstmals von einer bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo die dem
einzelnen Buumlrger verfassungskraumlftig vorbehalten sei9 Es leitet
dies aus der Menschenwuumlrde ab Der Gesetzgeber darf die buumlr-
gerlichen Freiheitsrechte bei entsprechenden entgegenstehen-
den Interessen zwar einschraumlnken die Menschenwuumlrde aller-
dings ist unantastbar woraus folgt dass bdquoein letzter unantastba-
rer Bereich menschlicher Freiheit besteht der der Einwirkung
der gesamten oumlffentlichen Gewalt entzogen istldquo10
Diesen absolut geschuumltzten Bereich sah das BVerfG lange al-
lein in der nichtkommunikativen Sphaumlre11
Er war gekennzeich-
net durch Gedanken die der Buumlrger allein sich selbst anver-
trauen wollte ein forum internum in dem er bdquosich selbst besitztldquo
und zu dem bdquodie Umwelt keinen Zutritt hatldquo12
Ein Raum in
welchem die innere Daseinsbewaumlltigung die Auseinanderset-
zung mit sich selbst und die Rechenschaftsablegung gegenuumlber
sich selbst stattfinden13
Nach der damaligen Rechtsprechung
war der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung grundsaumltz-
lich nicht beruumlhrt sobald die Handlung einen Sozialbezug auf-
wies also die Persoumlnlichkeitssphaumlre eines anderen Menschen
beruumlhrte14
Damit waren auch intime zwischenmenschliche Be-
ziehungen vom absoluten Schutz der Persoumlnlichkeit ausge-
schlossen15
In seinem Tagebuchurteil16
relativierte das BVerfG dieses
harte Exklusionskriterium dahingehend dass nicht entscheidend
sei ob uumlberhaupt ein Sozialbezug bestehe sondern vielmehr
dessen bdquohoumlchstpersoumlnlicher Charakterldquo und bdquoin welcher Art und
Intensitaumlt aus sich heraus die Sphaumlre anderer und die Belange
der Gemeinschaft beruumlhrtldquo werden bdquoDer Mensch als Person
auch im Kernbereich seiner Persoumlnlichkeit verwirklicht sich
notwendig in sozialen Bezuumlgenldquo17
Zugleich schraumlnkt das Ge-
richt den Umfang des Schutzes dahingehend ein dass bdquoGesprauml-
che die Angaben uumlber begangene Straftaten enthalten [hellip] dem
Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Le-
bensgestaltungldquo zuzuordnen und deshalb auch nicht von dessen
absolutem Schutz erfasst sind18
C Urteil groszliger Lauschangriff
Zwar hatte das BVerfG in den vorangegangenen Entscheidun-
gen seine Rechtsprechung zu einem absolut geschuumltzten Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit stetig fortgefuumlhrt einen staatlichen
Eingriff in denselben jedoch nie bejaht Die Entscheidung fiel
stets auszligerhalb des Kernbereichs naumlmlich im Bereich der Ab-
waumlgung zwischen Individualschutz und Gemeinwohlinteresse
nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes19
Dies aumln-
derte sich im Urteil zum groszligen Lauschangriff20
dem in der
9 BVerfGE 6 S 32 (41) 10 BVerfGE 6 S 32 (41) 11 BVerfGE 27 S 1 (6) BVerfGE 33 S 367 (377) 12 BVerfGE 27 S 1 (6) 13 Warntjen Heimliche Zwangsmaszlignahmen und der Kernbereich S 54 14 BverfGE 6 S 389 (433) 15 Benda Gefaumlhrdungen der Menschenwuumlrde S35 16 BVerfGE 80 S 367 17 BVerfGE 80 S 367 (374) 18 BVerfGE 80 S 367 (374) 19 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (14) Hervorhebung
hier
Entwicklung der Kernbereichsrechtsprechung besondere Be-
deutung zukommt21
Erstmals stellte das Gericht eine Verlet-
zung des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit fest22
Es skizziert
sorgfaumlltig und wesentlich detaillierter als in fruumlheren Entschei-
dungen sein Kernbereichskonzept entwickelt Schutzvorkehrun-
gen und zeigt Konsequenzen eines Eingriffs auf
I Bestimmung des Kernbereichs
Entscheidend fuumlr eine Einbeziehung des Sachverhalts in den
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist das Kriterium der
Houmlchstpersoumlnlichkeit23
Gespraumlche und Aumluszligerungen sind dann
vom Kernbereich erfasst wenn es um bdquoausschlieszliglich innere
Eindruumlcke und Gefuumlhleldquo geht der bdquoBereich des Houmlchstpersoumlnli-
chenldquo betroffen ist und ein bdquoBezug des konkreten Gespraumlchs
zum Persoumlnlichkeitskernldquo nicht fehlt24
Konsequent nimmt das
Gericht eine Kernbereichsverletzung auch bei umfassenden
Uumlberwachungen an deren Ergebnisse bdquozur Grundlage eines Per-
soumlnlichkeitsprofils werden koumlnnenldquo25
Auch hinsichtlich des
Straftatenbezugs lockerte das Gericht seine Exklusionskriterien
Waumlhrend das entscheidungstragende Votum im Tagebuchbe-
schluss bereits einen mittelbaren Straftatenbezug genuumlgen lieszlig
um eine Kernbereichsrelevanz zu verneinen26
scheint sich der
Senat im Urteil zum groszligen Lauschangriff dem abweichenden
Votum des Tagebuchbeschlusses27
anzuschlieszligen28
bdquoAuf-
zeichnungen oder Aumluszligerungen im Zwiegespraumlch die zum Bei-
spiel ausschlieszliglich innere Eindruumlcke und Gefuumlhle wiedergeben
und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten gewinnen
nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug dass sie Ursa-
chen oder Beweggruumlnde eines strafbaren Verhaltens freizulegen
vermoumlgenldquo29
Das heiszligt lediglich Aumluszligerungen mit unmittelbarem Bezug zu
einer geplanten oder begangenen Tat sind nicht vom Kernbe-
reich erfasst30
Nicht beruumlhrt sei der Kernbereich allerdings
wenn der Betroffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssach-
verhalts selbst keinen Wert lege wobei nicht jede Kundgabe an
einen anderen Menschen auf das Fehlen eines Geheimhaltungs-
willen schlieszligen lasse es kaumlme vielmehr auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation an31
II Schutz des Kernbereichs
Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist unantastbar
und jeglichem staatlichen Zugriff entzogen Die inhaltsbezo-
gene Kernbereichsdefinition des BVerfG schafft das Dilemma
dass Strafverfolgungsbehoumlrden vor der Uumlberwachung gar nicht
wissen koumlnnen ob der Kernbereich des Uumlberwachten betroffen
ist Erst durch die Spaumlhmaszlignahme selbst laumlsst sich anhand des
20 BVerfGE 109 S 279 21 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (13) bdquogroszliges Urteilldquo 22 BVerfGE 109 S 279 (311) 23 BVerfGE 109 S 279 (313 320) 24 BVerfGE 109 S 279 (319 320) 25 BVerfGE 109 S 279 (323) 26 BVerfGE 80 S 367 (377) 27 BVerfGE 80 S 367 (381) 28 So auch SK-StPOWolter sect 100c Rn 60 29 BVerfGE 109 S 279 (319) 30 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 43 31 BVerfGE 109 S 279 (319)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
42 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Inhalts der Aumluszligerung oder Aufzeichnung das Vorliegen einer
Kernbereichsrelevanz feststellen Dann aber wurden die houmlchst-
persoumlnlichen Informationen bereits von den Behoumlrden wahrge-
nommen Das BVerfG stellt deswegen folgendes fest bdquoDie
Uumlberwachung muss in Situationen von vornherein unterbleiben
in denen Anhaltspunkte bestehen dass die Menschenwuumlrde
durch die Maszlignahme verletzt wirdldquo32
Damit loumlst das BVerfG das Dilemma dahingehend auf dass
die allein uumlber die Betroffenheit des Kernbereichs Gewissheit
verschaffende dabei aber zugleich denselben potentiell verlet-
zende Maszlignahme bereits dann unterbleiben muss wenn sie
wahrscheinlich den Kernbereich verletzen wuumlrde Zu vermuten
sei dies beispielsweise beim groszligen Lauschangriff auf Privat-
wohnungen oder wenn der Uumlberwachte mit Personen des
houmlchstpersoumlnlichen Vertrauens kommuniziere33
Diese Vermu-
tungswirkung kann jedoch widerlegt werden wenn Indikatoren
dafuumlr vorliegen dass der Kernbereich nicht betroffen ist34
Auch
dann darf lediglich bdquoeine fuumlr die Bewertung des Gespraumlchsin-
halts unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschen-
wuumlrde erforderliche erste Sichtungldquo durchgefuumlhrt werden bei
der groumlszligtmoumlgliche Zuruumlckhaltung geboten ist35
Diese Vorkehrungen koumlnnen letztendlich aber eine Erhebung
kernbereichsrelevanter Daten nicht ausschlieszligen sondern nur
das Risiko minimieren36
Deswegen fuumlhrt das BVerfG weiter
aus bdquoFuumlhrt die akustische Wohnraumuumlberwachung im Uumlbrigen
unerwartet zur Erhebung von absolut geschuumltzten Informatio-
nen muss sie abgebrochen werden und die Aufzeichnungen
muumlssen geloumlscht werden jede Verwendung solcher im Rahmen
der Strafverfolgung erhobener absolut geschuumltzter Daten ist aus-
geschlossenldquo37
Das Verwertungsverbot kernbereichsrelevanter
Daten erstreckt sich damit nicht nur auf die Verwendung als Be-
weismittel im Hauptverfahren sondern auch auf die Verwen-
dung als Spurenansatz fuumlr weitere Ermittlungen38
Dieses zweistufige Schutzkonzept der Vermeidung der Erhe-
bung kernbereichsrelevanter Daten auf der ersten Ebene zusam-
men mit der Loumlschpflicht und des umfassenden Verwertungs-
verbots auf der zweiten Ebene wird vom BVerfG seither in staumln-
diger Rechtsprechung als notwendige Voraussetzung fuumlr den
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aufrecht erhalten39
D Widerspruumlche in der Kernbereichsrechtsprechung
des BVerfG
Umso mehr uumlberrascht es dass das BVerfG seither in mehreren
Urteilen Eingriffe in den Kernbereich faktisch gebilligt hat So
hat es beispielsweise die Telekommunikationsuumlberwachung
32 BVerfGE 109 S 279 (318) 33 BVerfGE 109 S 279 (321) 34 BVerfGE 109 S 279 (332) 35 BVerfGE 109 S 279 (332) 36 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (168) 37 BVerfGE 109 S 279 (318) 38 Ausdruumlcklich BVerfGE 109 S 279 (318) 39 BVerfGE 113 S 348 (391f) BVerfGE 120 S 247 (388f) BVerfGE 129
S 208 (245f) 40 So auch Reiszlig StV 2008 S 539 (542) 41 BVerfG NJW 2012 S 833 (837) 42 BVerfG NJW 2012 S 833 (837)
gem sect 104a StPO fuumlr verfassungsmaumlszligig erklaumlrt obwohl dort
keinerlei Prognose notwendig ist ob in der abzuhoumlrenden Kon-
versation kernbereichsrelevante Aumluszligerungen zu erwarten sind
Dies steht in direktem Widerspruch zum zweistufigen Schutz-
modell des BVerfG das Uumlberwachungsmaszlignahmen nur dann
zulaumlsst wenn eine Kernbereichsverletzung zumindest unwahr-
scheinlich ist40
In Faumlllen in denen es bdquopraktisch unvermeidbarldquo
ist dass Ermittlungsbehoumlrden kernbereichsrelevante Informati-
onen zur Kenntnis nehmen sei es bdquoverfassungsrechtlich nicht
gefordert den Zugriff wegen des Risikos einer Kernbereichs-
verletzung auf der Erhebungsebene von vornherein zu unterlas-
senldquo41
Selbst bei konkreten Anhaltspunkten dass der Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung von einer Maszlignahme beruumlhrt
werden wird hat diese nur bdquogrundsaumltzlichldquo zu unterbleiben42
Mit dieser Rechtsprechung schlieszligt das BVerfG an sein 2008
ergangenes Urteil zur Online-Durchsuchung43
an Feststellend
dass die Datenerhebung bei der Online-Durchsuchung aus tech-
nischen Gruumlnden automatisiert erfolgt und damit eine vorherige
Unterscheidung zwischen Daten mit und ohne Bezug zum Kern-
bereich quasi unmoumlglich ist forderte es bereits dort von den ent-
sprechenden gesetzlichen Ermaumlchtigungen lediglich bdquodarauf
hinzuwirken dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten
soweit wie informationstechnisch und ermittlungstechnisch
moumlglich unterbleibtldquo44
Es genuumlge dann bdquofuumlr hinreichenden Schutz in der Auswer-
tungsphase zu sorgenldquo und bdquodurch geeignete Verfahrensvor-
schriften sicherzustellen dass dann wenn Daten mit Bezug zum
Kernbereich privater Lebensgestaltung erhoben worden sind
die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung und ihre Auswirkun-
gen fuumlr die Persoumlnlichkeit und Entfaltung des Betroffenen so ge-
ring wie moumlglich bleibenldquo45
Damit wandeln sich so die zu-
naumlchst als Ergaumlnzung konzipierten Verfahrensvorschriften der
zweiten Stufe zum einzigen Stuumltzpfeiler des Kernbereichsschut-
zes46
Besonders irritiert dass das BVerfG sich sowohl im Urteil
zur Online-Durchsuchung47
als auch bei der Billigung des sect
100a Abs 448
auf seine Kernbereichsrechtsprechung im Abhoumlr-
Urteil bezieht Waumlhrend es damals aber noch Maszlignahmen fuumlr
unzulaumlssig erklaumlrte die wahrscheinlich in den Kernbereich ein-
dringen49
laumlsst es nun Uumlberwachungen zu obwohl eine Erfas-
sung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unvermeidbar
ist50
Diese Urteile stehen in einem starken Widerspruch sogar
gegenteilig zur fruumlheren Rechtsprechung sodass die Frage be-
rechtigt ist ob das BVerfG nicht laumlngst von dem Konzept eines
absolut geschuumltzten Kernbereichs der Persoumlnlichkeit abgewi-
chen ist
43 BVerfGE 120 S 274 44 BVerfGE 120 S 274 (338) 45 BVerfGE 120 S 274 (338) 46 Schwabenbauer Heimliche Eingriffsmaszlignahmen S 283 mit Verweis auf
BVerfG 113 S 348 (392) bdquoHinzu muumlssen Vorkehrungen kommen die si-
chern dass Kommunikationsinhalte des houmlchstpersoumlnlichen Bereichs nicht
gespeichert und verwertet werden duumlrfenldquo 47 BVerfGE 120 S 274 (338) 48 BVerfGE NJW 2012 S 833 (837) 49 BVerfGE 109 S 279 (318) 50 BVerfGE 120 S 274 (338)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 43
E Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Diesen Schluss ziehen viele Stimmen in der Literatur51
Teil-
weise wird vermutet dass dies eine Reaktion auf den nach der
Entscheidung zum groszligen Lauschangriff erhobenen Vorwurf
der Praxisuntauglichkeit darstellt52
Vor diesem Hintergrund
gibt es auch Unterstuumltzer fuumlr die vermeintliche Entscheidung des
BVerfG den Kernbereich nun doch der Abwaumlgung mit oumlffentli-
chen Interessen zugaumlnglich zu machen53
Im Folgenden soll nun gepruumlft werden ob das BVerfG seinen
vormals absoluten Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
tatsaumlchlich aufgegeben und zugunsten staatlicher Strafverfol-
gungsinteressen relativiert hat
I Prozessuale Relativierung infolge der Disponibilitaumlt
des Verwertungsverbots
Hauck54
meint eine Relativierung des Kernbereichsschutzes
darin zu erkennen dass der BGH es Beschuldigten eroumlffnet auf
das Verwertungsverbot von Beweismitteln mit Kernbereichsre-
levanz zu verzichten und ihnen so zur Zulaumlssigkeit zur verhel-
fen55
Er vertritt dies mit der Begruumlndung dass wenn sich der
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aus der Menschen-
wuumlrde herleite welche unstreitig indisponibel sei somit auch
der Kernbereichsschutz selbst indisponibel sein muumlsse56
Unab-
haumlngig davon ob die Menschenwuumlrde tatsaumlchlich indisponibel
ist57
schuumltzt der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
aber nicht unmittelbar die Menschenwuumlrde selbst sondern eine
sich aus der Menschenwuumlrde ergebende Sphaumlre der Privatheit
die dem Buumlrger auch bei uumlberragenden entgegenstehenden staat-
lichen Interessen zugestanden werden muss Was von diesem
Kern der Privatheit umfasst ist bestimmt sich anhand von zwei
Faktoren der Houmlchstpersoumlnlichkeit und dem Sozialbezug
Wenn mangels Sozialbezug bdquoallein [hellip][die] eigene Sphaumlre tan-
giert istldquo58
kann der Buumlrger Elemente seiner houmlchstpersoumlnli-
chen Sphaumlre beliebig aus dem geschuumltzten Kernbereich der Pri-
vatheit entlassen indem er sie freiwillig der Oumlffentlichkeit zu-
gaumlnglich macht Dieser Ansicht ist auch das BVerfG wenn es
ausfuumlhrt der Kernbereich sei nicht betroffen wenn der Be-
troffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssachverhalts selbst
keinen Wert lege59
Dieses Ergebnis ist auch dahingehend sinn-
voll dass Beweisverwertungsverbote regelmaumlszligig Schutzinteres-
sen des Beschuldigten dienen60
Es waumlre deshalb widerspruumlch-
lich dem Beschuldigten die Einbringung von entlastenden Be-
weisen mit dem Argument zu verwehren sie unterfielen seinem
Kernbereich privater Lebensgestaltung obwohl offensichtlich
kein Geheimhaltungswille besteht Insofern unterscheidet sich
51 Hoffmann-Riem JZ 2008 S 1009 (1021) Dammann Der Kernbereich der
privaten Lebensgestaltung S 51 Schwabenbauer Heimliche Zwangsmaszlig-
nahmen S 283 Sachs JuS 2012 S 374 (375) Baldus JZ 2008 S 218
(224) 52 Volkmann AnwBl 2009 S 118 (123) 53 So bspw Boumlckenfoumlrde JZ 2008 S 925 (932) 54 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 55 BGHSt 51 S 1 (4) bdquoAuch uumlber ein derartiges Verwertungsverbot kann der
Angeklagte disponieren soweit allein seine eigene Sphaumlre tangiert istldquo 56 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 57 So naumlmlich MKS-GGStarck Art 1 Rn 114 58 BGHSt 51 S 1 (4)
das disponible absolute Verwertungsverbot des Kernbereichs-
schutzes von dem indisponiblen absoluten Verwertungsverbot
des sect 163a Abs 3 S 2 welches seinen Grund darin hat dass
Aussagen die unter den dort genannten Umstaumlnden hervorge-
bracht worden sind auch in ihrem Beweiswert zweifelhaft er-
scheinen61
Eine Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung daran festzumachen
dass der BGH das absolute Beweisverwertungsverbot des Kern-
bereichsschutzes zur Disposition gestellt hat ist somit nicht ge-
rechtfertigt
II Materielle Relativierung durch funktionale
Auslegung des Kernbereichsbegriffs
Ein haumlufiger Vorwurf ist auch das BVerfG relativiere den abso-
luten Schutz des Kernbereichs indem es Aumluszligerungen die einen
unmittelbaren Bezug zu konkreten Straftaten haben vom
Schutzbereich ausschlieszligt62
Viele meinen darin zu erkennen
dass das Gericht beim Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlich-
keit entgegen seiner Proklamation63
doch auf Abwaumlgungsuumlber-
legungen zuruumlckgreift ndash nur eben nicht erst bei der tatsaumlchlichen
Anwendung des Kernbereichsschutzes sondern bereits bei der
Bestimmung der Reichweite desselben64
Absolut geschuumltzt
waumlre demnach nur was diesen Abwaumlgungsvorgang mit staatli-
chen Interessen erfolgreich durchlaufen hat65
Dieser Vorwurf
wird damit begruumlndet dass es anders nicht erklaumlrbar sei Aumluszlige-
rungen mit Straftatenbezug vom Schutzbereich auszunehmen
Fraglich ist ob dies zutrifft Das Kriterium das das BVerfG zur
Bestimmung des absolut geschuumltzten Kernbereichs des Privaten
heranzieht ist die Houmlchstpersoumlnlichkeit des Inhalts und in wel-
cher Art und Intensitaumlt er aus sich heraus die Belange der Ge-
meinschaft beruumlhrt66
Dabei ist klar dass bloszlige Erzaumlhlungen o-
der Prahlereien uumlber die Begehung von Straftaten sowie deren
Planung schon mangels Houmlchstpersoumlnlichkeit nicht in den
Schutzbereich fallen Relevant wird das Ausschlusskriterium
des Straftatenbezugs erst bei Aumluszligerungen houmlchstpersoumlnlicher
Art beispielsweise dem vielzitierten Mordgestaumlndnis unter Ehe-
leuten67
Eine Straftat selbst kann weil sie gegen Regeln ver-
stoumlszligt die fuumlr ein gemeinsames Zusammenleben in einer Gesell-
schaft unerlaumlsslich sind niemals ein privater Akt sein68
Da je-
der Buumlrger der Gesellschaft die Einhaltung dieser Normen
schuldet beruumlhren Aussagen bezuumlglich der Nichteinhaltung der
strafrechtlichen Verbote stets die Belange der Gemeinschaft
Somit haben Aussagen mit Straftatenbezug auch immer einen
Sozialbezug und sind damit nie nur houmlchstpersoumlnlich Das
BVerfG schlieszligt jedoch nicht (mehr) alle Aumluszligerung mit sozial-
bezogenem Inhalt kategorisch vom Schutz des Kernbereichs
59 BVerfG 109 S 279 (318) 60 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 492 61 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 491 62 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 51 63 BVerfG 109 S 279 (314) 64 Baldus JZ 2008 S 218 (224) Lindemann JR 2006 S 191 (198) LR-
StPOHauck sect 100a Rn 138 65 Baldus JZ 2008 S 218 (224) 66 BVerfGE 109 S 279 (314) 67 Meyer-GroszlignerSchmidt sect 100c Rn 16 68 Vgl LR-StPOHauck sect 100a Rn 151 auch Rogall FS-Fezer S 61 (67)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
44 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
aus er differenziert nach Art und Intensitaumlt Ebendieser Diffe-
renzierung ist es geschuldet wenn es feststellt dass Aumluszligerun-
gen die bdquoUrsachen und Beweggruumlnde eines strafbaren Verhal-
tens freizulegen vermoumlgenldquo69
trotz Straftatenbezugs vom Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit erfasst sind
Insofern findet tatsaumlchlich eine Abwaumlgung statt jedoch nicht
in der Art dass aufgrund des Strafverfolgungsinteresses Aumluszlige-
rungen die zur Aufklaumlrung von Straftaten fuumlhren koumlnnen vom
absoluten Kernbereich ausgeschlossen sind sondern schlicht
ob eine Aumluszligerung der houmlchstpersoumlnlichen Privatsphaumlre zuzu-
rechnen ist oder nicht Dies bemisst sich auf der einen Seite am
selbstreflektierenden Charakter der Aumluszligerung also in welchem
Maszlig sie bdquosich als individuelle Entfaltung im Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung darstelltldquo70
und auf der anderen Seite bdquoin
welcher Art und Intensitaumlt sie aus sich heraus die Belange der
Gemeinschaft beruumlhrtldquo71
also wie unmittelbar und konkret sie
Bezug auf den oumlffentlichen Akt der Straftatbegehung nimmt
Dass das BVerfG eine Abwaumlgung mit dem Strafverfolgungsin-
teresse nicht vornimmt zeigt sich auch daran dass die Schwere
der konkreten Straftat auf die sich die Aumluszligerung bezieht fuumlr den
Straftatenbezug keine Rolle spielt72
Es liegt in der Natur einer inhaltsbezogenen Kernbereichsde-
finition nicht operationalisierbar zu sein maszliggebend sind im-
mer die Besonderheiten des jeweiligen Falles73
Uumlber den Straf-
tatenbezug gibt das BVerfG den Entscheidungstraumlgern ein star-
kes Indiz fuumlr einen Sozialbezug an die Hand so wie das Selbst-
gespraumlch ein starkes Indiz fuumlr die Houmlchstpersoumlnlichkeit der Aumlu-
szligerungen ist Ob eine Aumluszligerung in den Kernbereich der Persoumln-
lichkeit faumlllt wird sich immer anhand des Zusammenspiels die-
ser beiden Faktoren bestimmen So koumlnnen selbst Aumluszligerungen
die sich unzweifelhaft unmittelbar auf eine Straftat beziehen und
damit Belange der Gemeinschaft betreffen aber in einem
Selbstgespraumlch getaumltigt wurden aufgrund des uumlberragend
houmlchstpersoumlnlichen Charakters des Selbstgespraumlchs unter den
absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
fallen74
In der Regel75
werden solche Aumluszligerungen aber die Be-
lange der Gemeinschaft in einer Art und Intensitaumlt beruumlhren
dass sie nicht dem Kernbereich zugerechnet werden koumlnnen
Hinter dieser Wertung steckt aber keine heimliche Abwaumlgung
mit Strafverfolgungsinteressen sondern lediglich eine konse-
quente Anwendung der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchst-
persoumlnlichkeit von Aumluszligerungen
III Widerspruumlchlichkeit des Gestattens von Eingriffen
in den absolut geschuumltzten Bereich
Es stellt sich also die Frage wie es mit dem absoluten Schutz
des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit zusammenpasst dass das
BVerfG in seinen juumlngeren Entscheidungen Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen auch dann zulieszlig wenn Eingriffe in den Kernbereich
69 BVerfGE 109 S 279 (319) 70 BVerfGE 109 S 279 (314) 71 BVerfGE 109 S 279 (314) 72 Vgl BVerfGE 109 S 279 (319 343) das die Schwere der Tat als nur fuumlr
die Verhaumlltnismaumlszligigkeit relevant betrachtet siehe auch Schwabenbauer
Heimliche Grundrechtseingriffe Fn 470 73 BVerfGE 109 S 279 (314) 74 Vgl BGHSt 50 S 206 (213)
praktisch unvermeidbar waren Zwar werden die Konsequenzen
dieser Eingriffe die kernbereichsrelevanten Daten geloumlscht und
nicht weiter verwertet dies aumlndert jedoch nichts daran bdquodass
stets ein Eingriff in diesen Kernbereich zunaumlchst hingenommen
wirdldquo wie sich bereits in der noch sehr kernbereichsschutz-
freundlichen Entscheidung zum groszligen Lauschangriff die Rich-
terinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt in einer abweichen-
den Meinung aumluszligerten76
Wie kann es also sein dass das
BVerfG in einem Satz den absolut geschuumltzten Kernbereich pri-
vater Lebensgestaltung proklamiert der jedem staatlichen Ein-
griff entzogen ist und im naumlchsten Satz Eingriffe in diesen
Kernbereich ausdruumlcklich zulaumlsst wenn sie nicht vermeidbar
sind
1 Exkurs Demontierung der Unantastbarkeit der
Menschenwuumlrde
Dieser augenscheinliche Widerspruch in der Rechtsprechung
des BVerfG hat mehr Sprengkraft als es auf den ersten Blick
scheint Manche folgern aus den Diskrepanzen dass das
BVerfG offensichtlich nicht willens sei den Kernbereich der
Persoumlnlichkeit tatsaumlchlich absolut zu schuumltzen77
Andere jedoch
gehen noch weiter und argumentieren dass wenn sich der aus
der Menschenwuumlrde herleitende Kernbereich privater Lebens-
gestaltung als abwaumlgungs- und relativierungsoffen erweise
auch der Absolutheitsanspruch der Menschenwuumlrdegarantie aus
Art 1 Abs 1 GG selbst in Zweifel zu ziehen sei78
Das BVerfG
sei bei dem Versuch die Wuumlrdegarantie in konkreten grund-
rechtlichen Problemlagen nutzbar zu machen gescheitert79
Die
Folge daraus sei dass es keine absolut geschuumltzten Rechtsguumlter
geben koumlnne nicht einmal im Bereich der Menschenwuumlrde80
Anhand der Rechtsprechung zum Kernbereichsschutz soll die
Menschenwuumlrdegarantie insgesamt gegenuumlber Abwaumlgungen mit
staatlichen Sicherheits- bzw Strafverfolgungsinteressen geoumlff-
net werden Wenn dies aber zutrifft was bedeutet dies fuumlr die
verbotenen Vernehmungsmethoden aus sect 136a StPO Fuumlr das
Folterverbot Hat das BVerfG tatsaumlchlich klammheimlich diese
Buumlchse der Pandora geoumlffnet
a) Menschenwuumlrde als Achtungsgebot
Den obigen Uumlberlegungen liegt die Vorstellung zugrunde dass
jede staatliche Wahrnehmung von Informationen die dem Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit zuzurechnen sind eine Menschen-
wuumlrdeverletzung darstellt Poscher bietet eine andere Interpre-
tation der Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung Fuumlr ihn wurzeln die oben gezeigten teil-
weise dramatischen Konsequenzen die ein Teil der Literatur aus
der Kernbereichsrechtsprechung zieht in einem tiefer liegenden
Missverstaumlndnis des Menschenwuumlrdeschutzes dass sich auch in
der Verraumlumlichung des Kernbereichsschutzes zeige81
Die
75 BT-Drucksache 154533 S 14 76 BVerfG 109 S 279 (383) 77 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 265 78 So Baldus JZ 2008 S 218 (224) 79 Baldus JZ 2008 S 218 (225) 80 MaunzDuumlrig-GGHerdegen Art 1 Rn 50 Rogall FS-Fezer S 61 (86) 81 Poscher JZ 2009 S 269 (274)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 45
Menschenwuumlrde sei aber kein ideeller Raum der durch einen
Eingriff in den Kernbereich privater Lebensfuumlhrung verletzt
werden koumlnne so wie ein Eindringen in die Wohnung das Recht
aus Art 13 Abs 1 GG verletze Vielmehr sei der Satz aus Art 1
Abs 1 GG woumlrtlich gemeint bdquoDie Wuumlrde des Menschen ist un-
antastbarldquo ist demnach keine Forderung sondern eine Feststel-
lung Der Staat koumlnne die Wuumlrde des Menschen nie verletzen
verletzbar sei lediglich der Achtungsanspruch der sich aus ihr
ergibt82
Dieser Achtungsanspruch wuumlrde aber nicht bereits
dadurch verletzt dass der Staat in bestimmte Freiheitsraumlume
eindringe im Extremfall koumlnne der Staat einen Angreifer sogar
toumlten ohne seine Wuumlrde zu verletzen indem er ihn zumindest
als einen Feind achte83
Der aus der Menschenwuumlrde flieszligende
Achtungsanspruch sei erst dann verletzt wenn in der Rechtsver-
letzung gerade eine Missachtung der Wuumlrde zum Ausdruck
komme so beispielsweise bei der Folter wo die Verletzung der
koumlrperlichen Unversehrtheit gerade darauf gerichtet ist die ver-
nuumlnftige Willensbildung und damit das zu negieren was den
Menschen als Gattung auszeichnet Poscher macht damit die In-
tention des Staates zum wesentlichen Kriterium der Verletzung
der Wuumlrdegarantie aus Art 1 Abs 1 GG Wenn ein Polizist auf
Streife zufaumlllig aufgrund eines geoumlffneten Fensters intime De-
tails wahrnehme liege darin keine Menschenwuumlrdeverletzung
und auch nicht wenn Beamten bei der Durchsuchung der Woh-
nung eines Drogenhaumlndlers in einer Schublade auf intime Pho-
tographien desselben stoszligen84
Eine Verletzung des Achtungs-
anspruchs bestehe erst dann wenn der Staat (gezielt) auf den
Kernbereich zugreift um Daten aus dem Kernbereich fuumlr seine
Zwecke zu nutzen denn damit zeige er dass er alle Bereiche der
Persoumlnlichkeit instrumentalisiert und seinen Zwecken unterord-
net85
Die Achtung der Menschenwuumlrde verlange demnach dass
die nicht-intendierte Erfassung von kernbereichsrelevanten Da-
ten so weit als moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen
erfolgende nicht-intendierte Kenntnisnahmen umgehend unter-
brochen werden anfallende Kernbereichsdaten sofort vernichtet
und besonders in keiner Weise verwendet werden
b) Zwischenergebnis
Mit der Ruumlckbesinnung auf die Menschenwuumlrdegarantie als
Achtungsanspruch laumlsst sich der Widerspruch in der Kernbe-
reichsrechtsprechung des BVerfG zumindest insoweit erklaumlren
als dass er nicht mehr als Beweis fuumlr die offizielle Aufgabe des
Absolutheitsanspruches der Menschenwuumlrdegarantie angefuumlhrt
werden kann Das Konzept des Gerichts beruhe demnach nicht
auf einer relativierenden Abwaumlgung der Menschenwuumlrde gegen
staatliche Sicherheitsinteressen sondern auf einem Urteil uumlber
das was der aus der Menschenwuumlrde folgende Achtungsan-
spruch gegenuumlber nicht-intendierten Folgen staatlichen Han-
delns gebietet86
2 Kernbereich der Persoumlnlichkeit als
82 Poscher JZ 2009 S 269 (274) auch BVerfGE 96 S 375 (399) 83 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 84 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 85 Poscher JZ 2009 S 269 (275)
Achtungsgebot
Den moderateren Vorwuumlrfen das BVerfG halte unabhaumlngig da-
von ob darin eine Relativierung des Absolutheitsanspruches der
Menschenwuumlrdegarantie zu sehen ist oder nicht zumindest sei-
nen absoluten Schutz des Kernbereichs nicht konsequent durch
schafft diese Interpretation jedoch noch keine Abhilfe Poscher
geht indessen noch einen Schritt weiter indem er das Achtungs-
gebot der Menschenwuumlrde auf den Kernbereich der Persoumlnlich-
keit uumlbertraumlgt
bdquoDer aus der Menschenwuumlrdegarantie abgeleitete Kernbe-
reichsschutz gilt nicht der Abdichtung eines physischen oder
ideellen Raums sondern der Achtung vor bestimmten Lebens-
aumluszligerungen von hoher Relevanz fuumlr die psychologische und so-
ziale Integritaumlt eines Grundrechtstraumlgers in welchen Raumlumen
auch immer sie sich ereignenldquo87
Diese Theorie die in der Literatur als Konstruktion kritisiert
wurde88
im Hinterkopf behaltend soll im Folgenden ein Blick
in die aktuellste Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung geworfen werden
F Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016
Am 20 April 2016 entschied das BVerfG89
anlaumlsslich einer
Verfassungsbeschwerde dass die Ermaumlchtigung des Bundeskri-
minalamts zum Einsatz von heimlichen Uumlberwachungsmaszlignah-
men zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus
zwar im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar ist die der-
zeitige Ausgestaltung von Befugnissen aber in verschiedener
Hinsicht dem Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatz nicht genuumlgt Teil
des Urteils waren dabei die Ausfuumlhrungen zu den verfassungs-
rechtlich vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen fuumlr den Kern-
bereich privater Lebensgestaltung Diese Ausfuumlhrungen sollen
nun daraufhin analysiert werden ob sie neue Erkenntnisse zu
den augenscheinlichen Diskrepanzen in der Kernbereichsrecht-
sprechung des BVerfG bieten koumlnnen
I Untermauerung der Uumlberlegungen zur Exklusion
des Straftatenbezugs
In den obigen Uumlberlegungen zur Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung wurde
der Versuch unternommen zu erlaumlutern warum dieses Krite-
rium kein Beweis fuumlr die Relativierung des absoluten Schutz des
Kernbereichs ist sondern lediglich die konsequente Anwendung
der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchstpersoumlnlichkeit von Aumlu-
szligerungen Demnach koumlnnen auch Aumluszligerungen mit konkretem
Straftatenbezug in den Kernbereich der Persoumlnlichkeit fallen
wenn die Elemente der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Gewissen und der Selbstreflexion die fuumlr eine individuelle Ent-
faltung unerlaumlsslich sind den Gesamtinhalt der Aumluszligerung stark
genug praumlgen Nach dem BGH der ein Selbstgespraumlch trotz
konkretem Straftatenbezug zum Kernbereich der Persoumlnlichkeit
86 Poscher JZ 2009 S 269 (276) 87 Poscher JZ 2009 S 269 (276) Hervorhebung hier 88 So Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270 89 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 -
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
46 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
zaumlhlte bestaumltigt nun auch das BVerfG in seiner juumlngsten Ent-
scheidung diese Interpretation indem es in aller Deutlichkeit
ausfuumlhrt
bdquoAuch koumlnnen trotz Straftatenbezugs Situationen in denen
Einzelnen gerade ermoumlglicht werden soll ein Fehlverhalten ein-
zugestehen oder sich auf dessen Folgen einzurichten wie
Beichtgespraumlche oder vertrauliche Gespraumlche mit einem Psy-
chotherapeuten oder einem Strafverteidiger der houmlchstpersoumlnli-
chen Privatsphaumlre unterfallen die dem Staat absolut entzogen
istldquo90
Damit laumlsst das BVerfG nun auch Aumluszligerungen mit unmittel-
baren Bezug zu konkreten Straftaten in den Kernbereich privater
Lebensgestaltung fallen Bei der in fruumlheren Entscheidungen91
noch so kategorisch anmutenden Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung han-
delt es sich somit um eine Vermutung die ihre Ausnahme in
Aumluszligerungen findet die in besonders hohem Maszlige der individu-
ellen Reflektion und Selbstentfaltung dienen und damit den So-
zialbezug des straftatbezogenen Inhalts uumlberwiegen
II Bestaumltigung des Achtungsgebots der
Menschenwuumlrde
Seit das BVerfG Uumlberwachungsmaszlignahmen zulieszlig obwohl
eine Erfassung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unver-
meidbar war musste es viel Kritik einstecken Der schaumlrfste
Vorwurf war mit der Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs auch die Menschenwuumlrde selbst Abwaumlgungsuumlber-
legungen zugaumlnglich zu machen Vermutlich um diesen Ten-
denzen ein Ende zu setzen stellte das Gericht in seinem neuen
Urteil klar
bdquoDer Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist
strikt und darf nicht durch Abwaumlgung mit den Sicherheitsinte-
ressen nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes re-
lativiert werden [hellip] Dies bedeutet jedoch nicht dass jede tat-
saumlchliche Erfassung von houmlchstpersoumlnlichen Informationen stets
einen Verfassungsverstoszlig oder eine Menschenwuumlrdeverletzung
begruumlndetldquo92
Damit scheint das Gericht Poschers Interpretation der Men-
schenwuumlrdegarantie als Achtungsanspruch zu bestaumltigen Indem
es feststellt dass zum Schutz des Kernbereichs Vorkehrungen
zu treffen sind bdquodie eine unbeabsichtigte Miterfassung von
Kernbereichsinformationen nach Moumlglichkeit ausschlieszligenldquo93
orientiert es sich nicht nur stark an der Formulierung Po-
schers94
sondern erwaumlhnt uumlberhaupt erstmals das Kriterium der
90 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
122 91 BVerfGE 80 S 367 (374) BVerfGE 109 S 279 (319) 92 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 93 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
126 Hervorhebung hier 94 Poscher JZ 2009 S 269 (275) bdquo[hellip] dass das nicht-intendierte Eindringen
[in den Kernbereich] soweit als moumlglich vermieden wirdldquo 95 Kant Die Metaphysik der Sitten Teil 2 sect 38 96 BVerfGE 109 S 279 (313)
staatlichen Intention im Zusammenhang mit der Kernbereichs-
rechtsprechung und laumlsst damit den Schluss auf eine sich auf das
Kantlsquosche Instrumentalisierungsverbot95
beziehende Interpreta-
tion der Menschenwuumlrde zu Dies ist insoweit wenig uumlberra-
schend da das BVerfG bereits im Abhoumlrurteil von einem abso-
lut geschuumltzten Achtungsanspruch der Menschenwuumlrde
sprach96
Ausdruumlcklich bdquoDie akustische Wohnraumuumlberwa-
chung zu Strafverfolgungszwecken verstoumlszligt dann gegen die
Menschenwuumlrde wenn der Kernbereich privater Lebensgestal-
tung nicht respektiert wirdldquo97
III Bestaumltigung des Achtungsgebots des
Kernbereichs
Erstaunlich am juumlngsten Urteil des BVerfG zum Kernbereichs-
schutz ist dass es diesen Achtungsanspruch auf den Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung uumlbertraumlgt Absolut geschuumltzt ist
demnach nicht der Kernbereich selbst sondern das Achtungsge-
bot des Kernbereichs Wie bei der Menschenwuumlrde liegt dem-
nach nur dann eine Verletzung des Kernbereichs bzw des Ach-
tungsgebots desselben vor wenn der Kernbereich missachtet
wird also der Staat bewusst auf den Kernbereich zugreift um
die houmlchstpersoumlnlichen Inhalte fuumlr Strafverfolgungszwecke zu
instrumentalisieren So schreibt das BVerfG
bdquoDer Kernbereich privater Lebensgestaltung beansprucht ge-
genuumlber allen Uumlberwachungsmaszlignahmen Beachtungldquo98
und kurz darauf noch deutlicher
bdquoDie Verfassung verlangt [hellip] fuumlr die Ausgestaltung der
Uumlberwachungsbefugnisse die Achtung des Kernbereichs als eine
strikte nicht frei durch Einzelfallerwaumlgungen uumlberwindbare
Grenzeldquo99
Ausdruumlcklich wird hier als Eingriffsgrenze staatlicher Uumlber-
wachungsmaszlignahmen nicht der Kernbereich privater Lebensge-
staltung selbst sondern die Achtung vor demselben angefuumlhrt
Uumlberraschend distanziert sich das BVerfG damit von einem
raumlumlich-gedachten Kernbereich der bei einem Eingriff verletzt
ist obwohl Formulierungen in fruumlheren Urteilen noch auf ein
solches Verstaumlndnis hindeuten100
Bei genauerer Betrachtung
jedoch taucht die Rhetorik von der Achtung des Kernbereichs
bereits in der Entscheidung zur akustischen Wohnraumuumlberwa-
chung auf Dort ist die Rede von einem bdquoverfassungsrechtlichen
Gebot unbedingter Achtung einer Sphaumlre des Buumlrgers fuumlr eine
ausschlieszliglich private ndash eine houmlchstpersoumlnliche ndash Entfal-
tungldquo101
Auch im Urteil zur Online-Durchsuchung spricht das
Gericht von einer bdquoverfassungsrechtlich gebotenen Achtung des
Kernbereichs privater Lebensgestaltungldquo102
97 BVerfGE 109 S 279 (314) 98 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
123 99 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 100 Bspw BVerfGE 120 S274 (338) bdquoDer Gesetzgeber hat [hellip] sicherzustel-
len dass [hellip] die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung [hellip] so gering wie
moumlglich [bleibt]ldquo ndash scheinbar Verletzung des Kernbereichs durch Eingriffe 101 BVerfGE 109 S 279 (313) 102 BVerfGE 120 S 274 (339)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 47
Es scheint als haumltte Poscher mit seiner Interpretation der
Menschenwuumlrde und der vorsichtigen Uumlbertragung dieses Kon-
zepts auf den Kernbereichsschutz ins Schwarze getroffen Legt
man dieses Verstaumlndnis uumlber die Urteile zum Kernbereichs-
schutz die bei einer Interpretation des Kernbereichs als absolut
geschuumltzten Raum so widerspruumlchlich erscheinen loumlsen sich die
Diskrepanzen in der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
in Luft auf Eine versehentliche Wahrnehmung kernbereichsre-
levanter Informationen stellt demnach noch keine Kernbereichs-
verletzung dar sondern erst wenn der Staat damit seine Miss-
achtung zum Ausdruck bringt Letztendlich ist diese Interpreta-
tion recht naheliegend denn wenn sich der Kernbereich der Per-
soumlnlichkeit aus der Menschenwuumlrde ergibt dann ist es logisch
dass der Staat zum Kernbereich das gleiche Verhaumlltnis hat wie
zur Menschenwuumlrde naumlmlich dass er sie zu achten hat
IV Konsequenz eines Achtungsgebots des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Die Frage die sich nun stellt ist Was verlangt das Achtungsge-
bot des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Genau dies ist
es was das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Kernbe-
reichsschutz herausgearbeitet hat und im oberen Teil der Arbeit
dargestellt wurde Die Schutzvorkehrungen sind damit keine
Kriterien die einen absoluten Schutz garantieren sollen sondern
das was das BVerfG fuumlr notwendig haumllt um die staatliche Ach-
tung vor dem Kernbereich der Persoumlnlichkeit auszudruumlcken
Dass er Eingriffe zulaumlsst obwohl die Erfassung kernbereichsre-
levanter Daten praktisch unvermeidbar ist basiert auf der Wer-
tung dass der Achtung des Kernbereichs genuumlge getan ist wenn
das nicht-intendierte (denn gezielt kernbereichsausforschende
Maszlignahmen waumlren zweifellos eine Missachtung) Eindringen
soweit wie moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen er-
folgende unbeabsichtigte Kenntnisnahmen umgehend zu unter-
brechen anfallende Kernbereichsdaten sofort zu vernichten und
in keiner Weise zu verwenden
Nun koumlnnte man diese Wertung mit dem Standpunkt anzwei-
feln dass die einzige Form mit der die Achtung des Kernbe-
reichs ausgedruumlckt werden kann darin besteht die Eingriffe die
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu unbeabsichtigten
Wahrnehmungen kernbereichsrelevanter Daten fuumlhren grund-
saumltzlich zu unterlassen103
Wenn der Staat Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen durchfuumlhrt obwohl eine Erfassung kernbereichsrele-
vanter Daten praktisch unvermeidbar ist ist dies nicht anders
als wenn gezielt auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung
zugegriffen wird schlieszliglich sind zwangslaumlufige Folgen einer
Handlung von der Handlungsintention stets miterfasst104
Letz-
teres Argument laumlsst sich zumindest dogmatisch dadurch ent-
kraumlften dass Uumlberwachungsbeamte regelmaumlszligig darauf hoffen
werden gerade keine kernbereichsrelevanten Daten zu erheben
um die Ergebnisse ihrer Uumlberwachung uumlberhaupt verwerten zu
koumlnnen Den Ansatz die Achtung vor dem Kernbereich gebiete
es Maszlignahmen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der
Kernbereichsberuumlhrung kategorisch zu unterlassen strikt durch-
103 So bspw SachsKrings JuS 2008 S 481 (485f) 104 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270
zusetzen wuumlrde bedeuten dass etliche Strafverfolgungsmaszlig-
nahmen wie beispielsweise die klassische Wohnungsdurchsu-
chung in Privatwohnungen ebenfalls unzulaumlssig waumlren Letzt-
endlich genuumlgt es jedoch nicht dem BVerfG vorzuwerfen seine
Kriterien wuumlrden dem Achtungsgebot des Kernbereichs der Per-
soumlnlichkeit nicht gerecht Es muumlsste vielmehr gezeigt werden
inwiefern ein Staat der alles praktisch und technisch Moumlgliche
unternimmt um den Kernbereich der Persoumlnlichkeit seiner Buumlr-
ger vor Wahrnehmungen zu schuumltzen der sich jede Verwertung
versagt und zudem eine unabhaumlngige Uumlberwachung einrichtet
trotz dieser Anstrengungen seine Missachtung zum Ausdruck
bringt105
G Fazit
Anhand der Interpretation des absolut geschuumltzten Kernbereichs
als Achtungsgebot ist es moumlglich die Kernbereichsrechtspre-
chung des BVerfG mit sich selbst in Einklang zu bringen Die
Aufloumlsung der oben diskutierten augenscheinlichen Widerspruuml-
che duumlrfte das Verstaumlndnis fuumlr die bundesverfassungsgerichtli-
che Judikatur foumlrdern und die zukuumlnftige Diskussion um den
Schutz des Kernbereichs erleichtern Ob der faktische Kernbe-
reichsschutz davon ebenso profitiert ist fraglich Die Verlage-
rung der Debatte auf die Wertung was die Achtung vor dem
Kernbereich gebiete laumlsst dem BVerfG bei seiner Rechtspre-
chung wesentlich mehr Wuumlrdigungsspielraum und gibt Kriti-
kern weniger handfeste Argumente an die Hand als eine raumlum-
lich-gedachte absolute Grenze Die Kernbereichsklausel des sect
100a Abs 4 StPO bleibt jedoch auch bei dieser Interpretation
mangelhaft denn wenn den Behoumlrden erlaubt wird auch bei An-
haltspunkten auf eine Beruumlhrung des Kernbereichs abzuhoumlren
kann von einer Achtung desselben keine Rede sein Unzweifel-
haft hat die Rechtsfigur des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
Vergleich zum Abhoumlrurteil an Wert verloren sie aumlhnelt nun eher
einer Konkretisierung der Menschenwuumlrdegarantie bei informa-
tionserhebenden Maszlignahmen Zwar ist die Nutzbarmachung der
Menschenwuumlrde in dieser Form eine begruumlszligenswerte Entwick-
lung die Idee eines tatsaumlchlich absolut geschuumltzten Bereichs
menschlicher Freiheit in den der Staat um keinen Preis eindrin-
gen kann war jedoch ein erfrischender Gegentrend zu der Ten-
denz Individualinteressen prinzipiell dem kollektiven Nutzen
unterzuordnen Die Scheu vor dieser Entwicklung wird es auch
sein was das BVerfG bis heute dazu bewegt in jedem Urteil
wieder die Unantastbarkeit des Kernbereichs zu proklamieren
und diese dem liberalen Verfassungsstaat entstammende Idee
des jedem staatlichen Zugriff entzogenen Freiheitsraumes am
Leben zu erhalten
Der Autor hat sein erstes juristisches Staatsexamen an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg 2018 abgelegt Des Weiteren war er seit 2015 am Max-Planck-Institut ebenfalls in Freiburg taumltig und war wissenschaftlicher Mitarbeit beim Lehrstuhl Prof Dr Perron (Frei-burg) bis er im April 2019 sein Referendariat am LG Freiburg begon-nen hat Die Arbeit entstand im Rahmen eines interdisziplinaumlren Se-minars zum Thema Cybercrime digitale Ermittlungen und Daten-schutz im WS 20162017
105 Poscher JZ 2008 S 269 (275)
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
48 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Buchrezension bdquoFamilienrechtldquo
-
Prof Dr Nina Dethloff
Tino Haupt
Das Familienrecht hat insbesondere in den letzten Jahren
stark im oumlffentlichen Interesse gestanden Beispielhaft ge-
nannt sei hier die sogenannte bdquoEhe fuumlr alleldquo Nach mona-
telangen emotional in der Oumlffentlichkeit gefuumlhrten Debat-
ten hat der Bundestag sich am 30 Juni 2017 mit einer
deutlichen Mehrheit fuumlr den Bundesratsentwurf und somit
die Eheoumlffnung entschlossen
Hervorzuheben sind auszligerdem die in letzter Zeit erfolgten
Aumlnderungen zur Bekaumlmpfung von Kinderehen und stetige
Entwicklungen im Abstammungsrecht
Gut geeignet fuumlr das Erlernen all dieser Gebiete ist das
Werk von Nina Dethloff zum Familienrecht
I Allgemeines zur Autorin und zum Lehrbuch
Nina Dethloff ist Professorin an der Universitaumlt Bonn und dort
Inhaberin des Lehrstuhls fuumlr Buumlrgerliches Recht Internationales
Privatrecht Rechtsvergleichung und Europaumlisches Privatrecht
Zuletzt war sie unter anderem Vorsitzende der Abteilung fuumlr
Familienrecht bei dem 72 Deutschen Juristentag in Leipzig
(Thema Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach
Trennung und Scheidung ndash Reformbedarf im Sorge- Umgangs-
und Unterhaltsrecht)
Das hier behandelte Lehrbuch zum Familienrecht wurde von
Guumlnther Beitzke begruumlndet und in der 26 und 27 Auflage von
Alexander Luumlderitz bearbeitet Mit der 28 Auflage wurde die
Bearbeitung von Nina Dethloff uumlbernommen Im Jahr 2018 ist
das Werk in der 32 Auflage im Verlag CH Beck erschienen
und ist fuumlr einen Preis von 3290 euro im Buchhandel erhaumlltlich
II Zum Inhalt
Die Autorin gliedert 548 Seiten Lehrbuchtext in eine Einleitung
sowie drei Kapitel und diese in insgesamt 17 Paragraphen Die
drei Kapitel des Werkes tragen die Titel bdquoEhe und Partner-
schaftldquo bdquoFamilieldquo und bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo
Vor dem Einstieg in die eigentliche Materie erlaumlutert die
Autorin in einer Einleitung von 25 Seiten die Hintergruumlnde des
Rechtsgebietes bdquoFamilienrechtldquo Deutlich wird hierbei die hohe
praktische Relevanz des Familienrechts aufgrund der enormen
Anzahl an familienrechtlichen Streitigkeiten Dargestellt wird
auszligerdem der Zusammenhang des Familienrechts mit dem
Verfassungsrecht sowie dem internationalen Recht Auch eine
Erlaumluterung der wichtigsten Reformgesetze und der elementaren
Begriffe erfolgt
Mit diesem Grundwissen ausgeruumlstet stellt die Autorin im 1
Kapitel (bdquoEhe und Partnerschaftldquo) den Gang der Ehe dar der mit
dem Verloumlbnis beginnt und haumlufig mit der Ehescheidung endet
Dargestellt wird auszligerdem die eingetragene Lebenspartner-
schaft (wobei diese mit der erfolgten Oumlffnung der Ehe erheblich
an Relevanz verloren hat) und die praktisch auszligerordentlich
relevante faktische Lebensgemeinschaft das heiszligt Lebensge-
meinschaften die ohne Eheschlieszligung oder Begruumlndung einer
Lebenspartnerschaft erfolgen Etwas zu kurz geraten hier die
Ausfuumlhrungen zu den vermoumlgensrechtlichen Anspruumlchen bei
Beendigung der Gemeinschaft Um der Bedeutung insbesondere
in Klausuren gerecht zu werden koumlnnte vor allem die
Darstellung des Bereicherungsrechts in diesem Zusammenhang
ausfuumlhrlicher erfolgen
Neben dem Eherecht ist das Verwandtschaftsrecht das zweite
groszlige Gebiet welches im familienrechtlichen Teil des BGB ge-
regelt ist Die Autorin behandelt diese Aspekte im 2 Kapitel
welches den Titel bdquoFamilieldquo traumlgt Uumlberzeugend ist hier das auch
immer wieder klausurrelevante Abstammungsrecht Neben der
Darstellung der Abstammung von der Mutter und dem Vater
werden auch kontrovers diskutierte Themen wie Leihmutter-
schaft und Babyklappen anschaulich und zum weiteren
Nachdenken anregend behandelt Die weiteren Ausfuumlhrungen
betreffen unter anderem den Unterhalt und die elterliche Sorge
aber auch die Thematik der Pflegefamilie und der Adoption
Abschlieszligend behandelt die Autorin in einem 3 Kapitel wel-
ches den Titel bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo traumlgt Fragestellungen die
im Zusammenhang mit Vormundschaft Rechtlicher Betreuung
und Pflegschaft entstehen
Im Anhang findet sich auszligerdem die Duumlsseldorfer Tabelle
mit Stand zum 112018 welche eine Richtlinie fuumlr den durch
den Barunterhaltspflichtigen an das Kind zu zahlenden Unter-
halt gibt
Hinsichtlich des inhaltlichen Aufbaus laumlsst sich feststellen dass
die einzelnen Paragraphen mit teils kurzen manchmal auch laumln-
geren Faumlllen eingelaumlutet werden die dann im Laufe der jeweili-
gen Darstellung geloumlst werden Das Buch erfuumlllt somit auch teil-
weise die Funktion von Fallbuumlchern und kann diese deshalb
ersetzen Hinzu kommen am Ende eines jeden Paragraphen
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen welche das gerade
Erlernte noch einmal abfragen und somit vertiefen Die
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 49
Loumlsungen zu diesen Fragen finden sich erst gesammelt am Ende
des Buches sodass die Motivation groumlszliger ist zunaumlchst einmal
selbst uumlber die Loumlsung nachzudenken anstatt sofort die Muster-
loumlsung nachzulesen Zudem finden sich immer wieder Angaben
zum relevanten Schrifttum
III Stellungnahme
Die Neubearbeitung des Lehrbuchs zum Familienrecht ist auch
in der 32 Auflage erfolgreich verlaufen
Alle relevanten Gesetzesaumlnderungen und die Entwicklungen
in der Rechtsprechung und der Literatur sind angemessen verar-
beitet Fuumlr eine schnelle Wiederholung des Familienrechts kurz
vor der Klausur eignet sich das Werk aufgrund des nicht gerade
geringen Umfangs nicht unbedingt Hier bieten sich kompaktere
Darstellungen zum Familienrecht an Gerade bei der Erstellung
von Haus- und Seminararbeiten sowie der tiefergehenden Vor-
bereitung auf die Klausur im Familienrecht etwa fuumlr das Erste
Juristische Staatsexamen oder den Schwerpunktbereich kommt
einem die ausfuumlhrliche Darstellung jedoch zugute Auszligerdem
kann durch die uumlbersichtliche Aufteilung in Kapitel und Para-
graphen schnell das Gesuchte gefunden werden Gerade fuumlr die
familienrechtlichen Klausuren im Studium kann somit eher als
bdquoSpezialwissenldquo Anzusehendes wie zB die Ausfuumlhrungen zur
Duumlsseldorfer Tabelle auch weggelassen werden
Erfreulich waumlre die Aufnahme eines Paragraphenverzeich-
nisses ndash dieses sucht man vergeblich Insbesondere bei Unklar-
heiten oder sonstigem Lesebedarf zu einer bestimmten Norm
erweist sich dieses als besonders hilfreich Unterstuumltzend bei der
Suche nach bestimmten Begriffen im Buch und deshalb auch
uumlberzeugend ist hingegen das umfangreiche und dennoch
anschaulich gestaltete Sachverzeichnis
Der Autor ist Wiss Mitarbeiter am Lehrstuhl fuumlr Deutsche und Europaumlische Rechtsgeschichte Kirchenrecht und Buumlrgerliches Recht (Prof Dr Anja Amend-Traut) an der Juristischen Fakultaumlt der Universitaumlt Wuumlrzburg sowie Wiss Mitarbeiter bei Freshfields Bruckhaus Deringer in der Praxisgruppe Globale Transaktionen in Frankfurt am Main
Schick Einfuumlhrung in die Logik Rezension Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 50
Buchrezension bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo
Drphil habil Alexander Aichele Dr phil Jakob Meier Prof Dr iur Joachim Renzikowski Sebas-
tian Simmert MA
-
von Stefan Schick
Wer sich als Jurist mit einem Buch zur Logik als wissenschaft-
licher Disziplin konfrontiert sieht stellt sich hierbei zunaumlchst die
Frage warum er sich mit dieser Materie die wohl auf den ersten
Blick der Mathematik zuzuordnen ist beschaumlftigen sollte Diese
Frage beantworten die Autoren selbst zu Beginn Wie jede Wis-
senschaft versucht die Rechtswissenschaft die Welt in ihrem Ge-
genstandsbereich (Recht) durch Aussagen zu analysieren Fuumlr
die Frage ob eine Aussage anwendbar ist und wie verschiedene
Aussagen in Beziehung zu setzen sind ist die Logik die ent-
scheidende Grunddisziplin Logik ist damit die Grundvorausset-
zung jeder sinnhaften Aussage und des informationsvermitteln-
den Kommunizierens
Die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo ist im Jahr
2015 im CHBeck Verlag Muumlnchen (Reihe bdquoJura kompaktldquo)
in Erstauflage erschienen Das vierkoumlpfige Autorenteam ist in-
terdisziplinaumlr wobei Prof Dr Joachim Renzikowski der den
Lehrstuhl fuumlr Strafrecht Rechtsphilosophie und Rechtstheorie
an der Martin-Luther-Universitaumlt Halle-Wittenberg innehat fuumlr
die spezifische juristische Fachkompetenz sorgt Die Abhand-
lung beruht auf einer gleichnamigen Vorlesung im Winterse-
mester 20092010 an der Martin-Luther Universitaumlt Halle-Wit-
tenberg
Die Abhandlung gliedert sich in fuumlnf groumlszligere Abschnitte Im
ersten dieser Abschnitte werden zunaumlchst die Grundbegriffe und
Grundmodelle der wissenschaftlichen Logik erlaumlutert insbeson-
dere wird der Begriff als Grundgegenstand der Logik naumlher aus-
geleuchtet Der zweite Abschnitt beschaumlftigt sich in der Folge
mit der Verbindung mehrerer Begriffe also der Aussage Dabei
werden die konstruktiven Grundvoraussetzungen sinnhafter
Aussagen erarbeitet darauf folgend verschiedene Arten von
Aussagen und besondere Auspraumlgungen solcher klassifiziert
Der dritte Abschnitt beschaumlftigt sich dann mit der Beziehung
mehrerer Aussagen zueinander Dabei geht es vor allem darum
vom Wahrheitsgehalt einer Aussage auf den Wahrheitsgehalt
anderer Aussagen zu schlieszligen Dies wird von den Autoren als
der Kernbereich der wissenschaftlichen Logik identifiziert Im
vierten Abschnitt geht es um die sog Deontische Logik Darun-
ter versteht man den spezifisch rechtswissenschaftlichen Be-
reich der Logik also das Verhaumlltnis von Handlungen und Nor-
men Im fuumlnften und letzten Abschnitt wird die Urteilsbegruumln-
dung des BGH im bekannten Jauchegruben-Fall unter logi-
schen Gesichtspunkten untersucht Hier schwingt auch deutliche
Kritik an der Vernachlaumlssigung der Logik als wissenschaftlicher
Disziplin im Bereich juristischer Methodenlehre mit Abge-
schlossen wird die Abhandlung dann mit einem formalen Uumlber-
blick
Grundsaumltzlich positiv faumlllt die Bemuumlhung der Autoren auf
die komplexe Materie der wissenschaftlichen Logik auch fuumlr
Neulinge auf diesem Gebiet anschaulich zu erklaumlren Schoumln sind
in diesem Zusammenhang auch die vielen juristischen Bei-
spiele Der Umfang der Darstellung ist mit 86 Seiten uumlberschau-
bar Jedoch waumlre es der Lesbarkeit in diesem Zusammenhang
zugutegekommen wenn fuumlr eine groumlszligere Schriftgroumlszlige einige
Seiten mehr in Kauf genommen worden waumlren
Zugegebenermaszligen handelt es sich bei der bdquoEinfuumlhrung in die
Logik und ihren Gebrauchldquo weder um eine Lektuumlre die fuumlr das
Studium unmittelbar weiterhilft noch um eine einfache Bettlek-
tuumlre Wer sich aber fuumlr Hintergruumlnde ndash insbesondere auch fach-
uumlbergreifend ndash interessiert und eine gewisse Freude am abstrak-
ten Denken mitbringt kann von dieser Grunddarstellung klar
profitieren Diese Freude am abstrakten Denken ist aber auch
notwendig so sind die Ausfuumlhrungen teilweise ndash trotz der ge-
lungenen Veranschaulichung ndash sehr komplex was aber selbst-
verstaumlndlich auch der komplexen Thematik geschuldet ist
Der Autor promoviert und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Muumlnchen
UN
SE
RE
ST
AN
DO
RT
E
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website | wwwschrade-partnerde
Seit 1976 betreuen wir Unternehmen und Unternehmer in allen Fragen des Wirtschaftsrechts Mit fuumlnf Standorten im suumldlichen Baden-Wuumlrttemberg und einem in Berlin sind rund 35 Rechtsanwaumlltinnen und Rechtsanwaumllte immer genau dort wo unsere Mandanten uns brauchen
bdquoWir geben der Wirtschaft Rechtldquo
Unser Credo praumlgt unsere taumlglichen Aufgaben Wir bieten ein breites Spektrum an Fachwissen und verfuumlgen uumlber einen groszligen Erfahrungsschatz in folgenden Kernkompetenzfeldern
- Gesellschaftsrecht - Handelsrecht - Unternehmenskauf (MampA) Unternehmensumstrukturierung - Arbeits- und Dienstvertragsrecht - Aktienrecht - Erbrecht und Unternehmensnachfolge - Sanierungs- und Restrukturierungsberatung Insolvenzrecht - Vergabe- und Kartellrecht - Prozessfuumlhrung Litigation - Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht - Recht des Gesundheitswesens
Wir arbeiten standortuumlbergreifend und interdisziplinaumlr Selbstverstaumlndlich werden neben den rechtlichen auch saumlmtliche steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Aspekte beruumlcksichtigt Deshalb pflegen wir eine enge Zusammenarbeit mit Steuerberatern und Wirtschaftspruumlfern Auszligerdem stehen unsere Beratungskonzepte immer in einem vernuumlnftigen finanziellen Verhaumlltnis zur Aufga-benstellung
Sie moumlchten uns besser kennenlernen Sprechen Sie uns gerne jederzeit an
BERLIN Georgenstraszlige 23 10117 Berlin Telefon +4930235024-0 Telefax +4930235024-99 berlinschrade-partnerde
LAHR Stefanienstraszlige 45 77933 Lahr Telefon +49782199039-30 Telefax +49782199039-59 lahrschrade-partnerde
TUTTLINGEN Bahnhofstraszlige 44 78532 Tuttlingen Telefon +497461965093-10 Telefax +497461965093-99 tuttlingenschrade-partnerde
FREIBURG Hermann-Herder-Straszlige 4 79104 Freiburg Telefon +49761389469-0 Telefax +49761389469-99 freiburgschrade-partnerde
VILLINGEN-SCHWENNINGEN Max-Planck-Straszlige 11 78052 Villingen-Schwenningen Telefon +49772120626-0 Telefax +49772120626-100 villingenschrade-partnerde
SINGEN Hegau-Tower Maggistraszlige 5 78224 Singen Telefon +49773159145-500 Telefax +49773159145-510 singenschrade-partnerde
Wer sind wir
FREILAW ist die studentisch-juristische Zeitschrift der Albert-Ludwigs-Universitaumlt
Freiburg und besteht als Projekt Freiburger Studierender bereits seit 2006 Die
Zeitschrift erscheint in drei bis vier Ausgaben jaumlhrlich online und teilweise auch
gedruckt Neben wissenschaftlichen Artikeln veroumlffentlichen wir auch solche die uumlber
das Fachliche hinausgehen und fuumlr Jurastudierende lesenswert sind In unseren
Ausgaben veroumlffentlichen wir daruumlber hinaus regelmaumlszligig Erfahrungsberichte uumlber
Auslandsaufenthalte sowie Interviews im Rahmen der Berufsperspektive fuumlr Juristen
Warum gerade Ihr Egal ob Ihr im ersten oder letzten Semester seid Ihr koumlnnt euch bei uns jederzeit in die
Redaktionsarbeit einbringen oder sogar eigene Artikel veroumlffentlichen
Was erwartet Euch Wir haben Aufgaben in vielen Bereichen von der Redaktionsmitarbeit der Pflege
unseres Internetauftritts bis hin zur Oumlffentlichkeitsarbeit uvm Euch erwartet eine
angenehme Arbeitsatmosphaumlre in einem netten und motivierten Team
Was erwarten wir
Kreative und motivierte Mitarbeiter die Interesse an der Weiterentwicklung des
Journals haben
Worauf wartet Ihr Kommt einfach zur naumlchsten Redaktionssitzung vorbei
Die Termine der Redaktionssitzung werden auf unserer
Homepage (wwwfreilawde) und auf unserer
Facebook-Seite (wwwfacebookcomfreilaw) bekanntgegeben
IMPRESSUM Herausgeber (Verantwortlich nach sect 5 TMG) Freilaw eV Chefredaktion Sarah Baukelmann und Joeumll Stumpp Kontakt Freilaw eV Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg Werthmannstr 4 Dekanat der Rechtswissenschaftlichen Fakultaumlt zHd Freilaw eV D ndash 79085 Freiburg E-Mail redaktionfreilawde Cover Sarah Baukelmann ISSN 1865-0015
Urheberrechtliche Hinweise Fuumlr den Inhalt der Artikel sind allein die Autoren verantwortlich Die Herausgeber uumlberpruumlfen die Texte koumlnnen allerdings keine Garantie dafuumlr uumlbernehmen dass durch die Artikel keinerlei Urheber- oder anderweitige Nutzungsrechte verletzt werden Sollte dies der Fall sein so ist dies nicht beabsichtigt Wir bitten Sie deshalb uns umgehend zu informieren Die Publikation der Artikel erfolgt exklusiv durch Freilaw Eine unberechtigte oumlffentliche Verwendung der Artikel ist nicht gestattet Auf Anfrage sind wir allerdings gerne bereit hiervon Ausnahmen zu machen
Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 III
Freilaw 12019
Thema EU und Israel ndash zwei aktuelle Herausforderungen im internationalen Recht
Till Gawlyta Von der Thora bis zur Knesset- Das Menschenwuumlrdeverstaumlndis Israels und dessen Einfluss auf das israelische Recht 1 Lucie Schultz Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verlegung der US- Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts 10
Soma Hegedős Die Problematik der europaumlischen Demokratie und die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGH 17
Datenschutzrecht
Sonja Buumlhler Conditional consent as a valid legal ground for data processing - a misbelief 25
Rechtsschutz im Rahmen der EMRK
Sarah Baukelmann
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo ndash Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK 32
Strafprozessrecht
Samuel Hahn
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen 40
Rezensionen
Tino Haupt Familienrecht 48 Stefan Schick Einfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauch 50
Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 IV
Vorwort der Chefredaktion
Liebe Leserinnen und Leser
Recht ist nie stetig sondern stets im Wandel Sichtbar wird dies immer wieder dann wenn
Gesetze oder rechtlich bedeutende Handlungen auf gesellschaftliche Kritik stoszligen und
Kontroversen ausloumlsen Eine solche Entwicklung lieszlig und laumlsst sich in der letzten Zeit etwa in
Israel und ganz besonders in der Europaumlischen Union feststellen
So moumlchten wir in dieser Ausgabe den ein oder anderen Aspekt juumlngerer Entwicklungen im
Recht oder in seiner Anwendung beleuchten
Zunaumlchst koumlnnen Sie dazu einen Artikel zum bdquoMenschenwuumlrdeverstaumlndnis Israels und dessen
Entwicklung auf das israelische Rechtldquo lesen Sodann wird der politisch brisante Aspekt der
bdquoAnerkennung Jerusalems und der Verlegung der US-Botschaft im Rahmen des Voumllkerrechtsldquo
vorgestellt
Dem schlieszligen sich zu europarechtlichen Fragestellungen ein Artikel zur bdquoProblematik der
europaumlischen Demokratie und der rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGHldquo sowie ein Artikel zu
bdquoConditional consent as a valid legal ground for data processingldquo innerhalb der DSGVO an
Ebenfalls an das Europarecht angelehnt erscheint die Fallbesprechung der Causa Magnus
Gaumlfgens die im Rahmen des Rechtsschutzes und der Verfahrensgarantien der EMRK
beleuchtet wird Zum anderen erhalten Sie durch die Abhandlung zum bdquoSchutz des Kernbereichs
der Persoumlnlichkeit im Rahmen strafprozessualer Ermittlungenldquo einen Einblick in bedeutende
Problemfelder des Strafprozessrechts
Abgerundet wird auch diese Ausgabe durch zwei Rezensionen zum einen uumlber das Lehrbuch
bdquoFamilienrechtldquo von Nina Dethloff und zum anderen uumlber die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren
Gebrauchldquo von Alexander Aichele Jakob Meier Joachim Renzikowski und Sebastian Simmert
Wir wuumlnschen Ihnen viel Spaszlig beim Lesen
Ihre Chefredaktion von Freilaw
(Sarah Baukelmann) (Joeumll Stumpp)
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
1
Von der Torah bis zur Knesset ndash Uumlber die Entwicklung des juumldischen
Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses und dessen Einfluss auf das
israelische Recht
-
Till Gawlyta
A Einleitung
Der Artikel beruht auf einer Seminararbeit mit dem Titel bdquoRechtsphilosophische Grundlagen der Menschenwuumlrde-diskussion - Die Menschenwuumlrde in Israel als Ausdruck europaumlischer Rechtsrezeption oder eigener religioumlser Tra-ditionldquo die im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher (Universitaumlt Freiburg) eingereicht wurde Be-handelt werden die Entwicklung der Menschenwuumlrdega-rantie in Israel und ihre Stellung innerhalb der israelischen Rechtsordnung Dazu erfolgt eine Darstellung der Genese des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses sowie wegweisender Urteile des obersten Gerichtshofs seit der Einfuumlhrung des Grundrechts auf Menschenwuumlrde im Jahr 1992 Der Arti-kel beleuchtet dabei einerseits die verbluumlffende Fort-schrittlichkeit des antiken juumldischen Menschenwuumlrdedis-kurses und andererseits das Ringen von religioumlsem und saumlkularem Wuumlrdeverstaumlndnis um die Vorherrschaft in der Gesetzgebung und Rechtsprechung Israels
B Die Entwicklung des juumldischen
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Der heutige Wortlaut fuumlr Menschenwuumlrde im Hebraumlischen
Kvod Harsquoadam ist erst seit der Verbreitung der Menschenwuumlrde
in europaumlischen Rechtsordnungen waumlhrend der zweiten Haumllfte
des 20 Jahrhunderts gelaumlufig den Ausgangspunkt fuumlr die Be-
zeichnung einer Wuumlrde des Menschen bildet im Judentum das
in der Bibel haumlufig vorkommende Wort Kavod das urspruumlnglich
mehrere Bedeutungen hatte zum einen bdquoWuumlrdeldquo und (soziale)
bdquoEhreldquo im Sinne eines gesellschaftlichen Status aumlhnlich der rouml-
mischen Dignitas zum anderen die Gegenwart Gottes1 Da jeder
Mensch nach dem in Genesis angelegten Verstaumlndnis ein Eben-
bild Gottes im Hebraumlischen Tzelem Elohim ist und durch jeden
Menschen Gott gegenwaumlrtig ist kommt auch jedem Menschen
Kavod zu2 Ein anderer vor allem in klassischen juumldischen
Rechtstexten gelaumlufiger Begriff fuumlr Wuumlrde ist Kvod Habriyot
der sich mit bdquoEhreWuumlrde der Menschenldquo uumlbersetzen laumlsst Die-
ser Begriff kann fuumlr einen dem Menschen innewohnenden Wert
1 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 2 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667f 3 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 4 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 669
stehen ist jedoch auch mit einer Wuumlrde im Sinne der Dignitas
konnotiert3 Der Begriff Kvod Habriyot ist im Plural formuliert
und beschreibt daher in weiten Teilen die Wuumlrde des Menschen
als integralen Teil eines Kollektivs4
I Das Wuumlrdeverstaumlndnis der Torah
Der erste und bedeutendste Teil der juumldischen Bibel ist die
Torah die aus den fuumlnf Buumlchern Mose besteht und dem Chris-
tentum als das Alte Testament bekannt ist Die Torah ist die aumll-
teste und bedeutendste schriftliche Quelle des Judentums und
stellt den Ausgangs- und Bezugspunkt saumlmtlicher folgender
Schriften des Judentums dar Die Torah enthaumllt Rechtstexte die
Halakhah die den aumlltesten Teil des kanonischen Rechts des Ju-
dentums bilden
1 Ebenbildlichkeit als Demokratisierung der Bindung
zu Gott
Vergleicht man das in Genesis angelegte Verstaumlndnis der Eben-
bildlichkeit Tzelem Elohim der Menschen mit Gott mit der zum
Zeitpunkt der Entstehung der fuumlnf Buumlcher Mose im Nahen Osten
vorherrschenden Vorstellung von der Bindung zwischen Gott-
heiten und Menschen erscheint das juumldische Verstaumlndnis als
sehr fortschrittlich In benachbarten Kulturen wie in Mesopota-
nien und Aumlgypten ging man davon aus dass lediglich der Herr-
scher sowie dessen Nachkommenschaft Ebenbilder und Kinder
des Goumlttlichen sein koumlnnen5 Das juumldische Verstaumlndnis das al-
len Menschen durch ihre Abstammung von Adam und Eva eine
Ebenbildlichkeit mit Gott zuspricht fuumlhrte somit zu einer De-
mokratisierung der Bindung zwischen dem Goumlttlichen und dem
Menschlichen6 Nicht nur die in benachbarten Kulturen den
Herrschern vorbehaltene Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
sondern auch der damit einhergehende Titel bdquoSohn Gottesldquo
wurde im Judentum der gesamten Bevoumllkerung uumlbertragen7
5 Y Lorberbaum Disempowered King ndash Monarchy in Classical Jewish Lit-
erature 2011 S 145f 6 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137 7 A Boumlckler Die Tora nach der Uumlbersetzung von Moses Mendelssohn 2014
Deuteronomium Kap 14 Vers 1
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 2
Auch wenn daraus noch kein normativer Anspruch folgte mar-
kiert der Gedanke des Tzelem Elohim die Geburt des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses im Judentum
Als Folge dieser Demokratisierung der Bindung zwischen
dem Menschen und dem Goumlttlichen konnten Herrschaftsanspruuml-
che in der juumldischen Gesellschaft nicht lediglich auf eine exklu-
sive Bindung der Herrschenden zu Gott gestuumltzt werden son-
dern es bedurfte weiterer Legitimation8 Der Anspruch dass ein
Herrscher daher auch ein gottgefaumllliges Handeln an den Tag le-
gen muss um sich seiner Stellung als wuumlrdig zu erweisen ist an
einem in der Torah formulierten Katalog von koumlniglichen bdquoHerr-
schafts- und Verhaltensregelnldquo9 abzulesen Aus diesen Vor-
schriften ergab sich fuumlr die Bevoumllkerung kein der modernen
Menschenwuumlrde entsprechender Anspruch auf Schutz vor staat-
licher Willkuumlr aber eine erste Beschraumlnkung koumlniglichen Han-
delns
2 Die Todesstrafe als Ausdruck eines extrinsischen
Werts des Menschen
Bevor sich der Talmud im Judentum durchsetzte und den Rege-
lungsgehalt der Torah ergaumlnzte war die Todesstrafe im alten Is-
rael wie auch in allen anderen Kulturen des Nahen Ostens eine
etablierte Praxis10 Als Grundlage des biblischen Strafrechts und
insbesondere der Todesstrafe im Judentum wird die Textstelle
angesehen in der es heiszligt bdquoWer Menschenblut vergieszligt dessen
Blut wird durch Menschen vergossen Denn Als Abbild Gottes
hat er den Menschen gemachtldquo11 Dies ist ein Ausdruck des fruuml-
hen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ndash der einem jeden Men-
schen innewohnenden Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
wurde ein universeller Wert beigemessen Es wurden keine Ab-
stufungen nach gesellschaftlichem Rang vorgenommen son-
dern jede Toumltungshandlung wurde grundsaumltzlich als gleich ver-
werflich angesehen auf die Person des Getoumlteten kam es zu-
naumlchst nicht an Gleichzeitig wurde der Grad der Verwerflich-
keit einer Toumltungshandlung houmlchstmoumlglich angesetzt da nur die
Anwendung der verwerflichen Handlung selbst auf den Taumlter als
adaumlquate Strafe angesehen wurde Die darin liegende Wertschaumlt-
zung der bdquoHeiligkeit des menschlichen Lebensldquo ist Ausdruck ei-
nes Wuumlrdeverstaumlndnisses das den Wert des Menschen durch
sein goumlttliches Element begruumlndet der Wert des Menschen ist
also nicht in- sondern extrinsisch12
3 Gebote und Verbote als Ausdruck des
8 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 9 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 17 Vers 16ff 10 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137f 11 A Boumlckler Die Tora 2014 Genesis Kap 9 Vers 6 12 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 673 13 A Boumlckler Die Tora Exodus Kap 20 Verse 2-17 Deuteronomium Kap
5 Verse 6-21 14 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext ndash Geschichten ndash Erscheinungs-
formen ndash Neuere Entwicklungen 2013 79 81
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Neben der in der Ebenbildlichkeit begruumlndeten Wuumlrde finden
sich in der Torah Gebote und Verbote die auf vergleichbare Art
Ausdruck des Wuumlrdeverstaumlndnisses des Tzelem Elohim wie
auch die modernen Menschenrechte Ausfluss des modernen
Wuumlrdeverstaumlndnisses sind Beispielsweise erfassen die Zehn
Gebote die Unverletzlichkeit von Leben Familie und Eigen-
tum13 Ansaumltze sozialer Rechte finden sich zum Beispiel in den
an benachbarten Kulturen gemessen fortschrittlichen Schutz-
rechten fuumlr Sklaven welche die Sabbatruhe die Freilassung
nach Ablauf von sieben Dienstjahren sowie Schutz vor Koumlrper-
verletzungen garantierten14 Auch die Ausweitung der Naumlchs-
tenliebe auf Fremde die sich aus den eigenen Erfahrungen der
Juden als Minderheit in Aumlgypten speiste wurde vorgeschrie-
ben15 und daraus ein Folterverbot hergeleitet16 Zudem ist ein
Asylrecht fuumlr zu Unrecht Verfolgte in der Torah angelegt17
Auch ein Andauern der Wuumlrde uumlber den Tod hinweg laumlsst sich
durch das eine Entwertung der Ebenbildlichkeit verhindernde
Verbot in Deuteronomium 2122 Gehaumlngte am jeweiligen
Baum zu belassen und nicht unverzuumlglich zu begraben herlei-
ten18
4 Universalitaumlt und Grenzen der Wuumlrde
Mitunter war der Kreis der durch die biblischen Vorschriften ge-
schuumltzten Personen jedoch auch beschraumlnkt Laut der Torah soll
beispielsweise alle sieben Jahre Schuldnern ein Schuldenerlass
gewaumlhrt werden19
und es soll davon abgesehen werden Zinsen
fuumlr verliehenes Geld zu erheben20
Die beiden letztgenannten
Regeln dienen der Verhinderung von extremer Armut und ent-
sprechen somit dem modernen Anspruch der Menschenwuumlrde
dass ein humanitaumlrer Mindeststandard zu wahren ist jedoch gel-
ten sie im Gegensatz zur heutigen Menschenwuumlrde begrenzt
naumlmlich nicht im Umgang mit Auslaumlndern21
Ebenso verhaumllt es
sich mit der Todesstrafe bei Toumltungsdelikten die nur Anwen-
dung finden sollte wenn ein Mitbuumlrger Opfer der Straftat
wurde22
An beiden Beispielen zeigt sich dass Teile des in der
Torah dargelegten Wuumlrdeverstaumlndnisses nur fuumlr Mitglieder der
eigenen Glaubensgemeinschaft gelten sollen
Somit ergeben sich die Fragen wie universell das Wuumlrdever-
staumlndnis der Torah ist und wie stark es mit der modernen Men-
schenwuumlrde vergleichbar ist Nach moderner Lesart sind insbe-
sondere vor dem Hintergrund verschiedener Schutzrechte fuumlr
Minderheiten und Verfolgte alle jene Gebote und Verbote die
niemanden explizit von ihrem Schutz ausschlieszligen universell
15 A Boumlckler Die Tora 2014 Leviticus Kap 19 Vers 33f 16 K Bland The Muslim World Journal 103 (2013) 199 201 17 A Boumlckler Die Tora 2014 Numeri Kap 35 Verse 22-25 18 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667 19 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 1f 20 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 23 Vers 20f 21 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 3 Kap 23 Vers
22 22 A Boumlckler Die Tora 2014 Exodus Kap 21 Vers 14
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 3
guumlltig und somit auch das durch sie transportierte Wuumlrdekon-
zept Fruumlhe juumldische Gelehrte haben diese Position jedoch groumlszlig-
tenteils nicht eingenommen23 Somit fehlt es dem biblischen
Wuumlrdekonzept im Vergleich mit dem modernen Wuumlrdebegriff
trotz des Grundgedankens der universellen Ebenbildlichkeit und
der auf dem Konzept der Naumlchstenliebe basierenden Rechte der
Minderheiten an einem stringenten klar formulierten Gleich-
heitsgedanken der einen normativen Anspruch auf grundsaumltzli-
che Gleichbehandlung begruumlndet Jedoch eroumlffnet die in den
meisten Faumlllen unklare Formulierung des Adressatenkreises der
biblischen Regeln die Moumlglichkeit das biblische Wuumlrdekonzept
nach modernen Standards auszulegen
II Entwicklung des Wuumlrdeverstaumlndnisses im Talmud
Neben der Torah wurde das Judentum umfangreich vom Tal-
mud einer Sammlung von Kommentierungen Analysen und
Dialogen fruumlher Rabbiner die die Themen der Torah behandeln
gepraumlgt bdquoDerldquo Talmud ist kein einheitliches Werk sondern es
bestehen zwei inhaltlich verschiedene Versionen der weitaus
bedeutendere und verbreitetere Babylonische Talmud und der
weniger strenge Jerusalemer bzw Palaumlstinische Talmud Beide
Werke entstanden in der Zeit nach der Zerstoumlrung Jerusalems
durch die Roumlmer ab ca 70 n Chr Wie auch die Torah enthaumllt
der Talmud Halakhah-Abschnitte die Teil des kanonischen
Rechts des Judentums sind Mit der Entwicklung des Talmud
kam es zu einer Losloumlsung vom reinen Wortlaut der Torah Dies
geschah im Zuge vielfaumlltiger Analysen Kommentierungen und
Auslegungen der Torah durch Rabbiner die mitunter auch
Rechtspraxen entwickelten die dem Wortlaut der Torah entge-
genstehen24
1 Priorisierung der Wuumlrde gegenuumlber biblischen
Vorschriften
In der Torah und im Babylonischen Talmud wurde die Befol-
gung biblischer Vorschriften noch konsequent uumlber die Wuumlrde
des Einzelnen gestellt Im Jerusalemer Talmud kam hingegen
erstmals ein anderer Ansatz zum Tragen
Beispielhaft ist die Frage ob das Umfeld einer sich in der
Oumlffentlichkeit befindlichen Person uumlber die sich herausstellt
dass sie ein Gewand das aus einem nach der biblischen Kleider-
ordnung verbotenen Stoff besteht traumlgt diese Person unverzuumlg-
lich zum Ablegen des Gewands bewegen muss Der neue Ansatz
einiger Stimmen des Jerusalemer Talmud bestand darin dass die
Befolgung der biblischen Gebote also das Ablegen des verbo-
tenen Gewandes herausgezoumlgert werden darf bis sich der Trauml-
ger nicht mehr in der Oumlffentlichkeit befindet damit eine oumlffent-
liche Erniedrigung des Traumlgers und somit eine Verletzung seiner
Wuumlrde (Kvod Habriot) und der Gesellschaft vermieden wird
Dieser Schutz der Wuumlrde entgegen den biblischen Vorschriften
23 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1104f 24 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1106f 25 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671f
sollte nicht nur die Vermeidung oumlffentlicher Erniedrigung um-
fassen sondern auch auf die Vermeidung geringerer Beschauml-
mung einer Person ausstrahlen25
Bezeichnend sind auch die in der Gemara dem zweiten Teil
des Talmud dargelegten Uumlberlegungen von Rabinern zur wuumlr-
devollen Vollstreckung der Todesstrafe bei Frauen Eine im ge-
samten Nahen Osten verbreitete Methode die Todesstrafe zu
vollstrecken war die Steinigung Maumlnner wurden grundsaumltzlich
nackt gesteinigt Diese Praxis wurde als wuumlrdevoll angesehen
da Bekleidung die Wurfgeschosse abfedern kann und somit den
mit koumlrperlichem Leiden erfuumlllten Zeitraum bis zum Eintreten
des Todes verlaumlngern kann In Bezug auf Frauen ergab sich den
Rabbinern das Problem dass sich nach ihrem Verstaumlndnis
Frauen im Gegensatz zu Maumlnnern bloszligstellt und erniedrigt fuumlh-
len wenn man sie verpflichtet sich in der Oumlffentlichkeit zu ent-
kleiden eine bekleidet gesteinigte Frau jedoch mehr Schmerzen
erleiden muumlsse Die Loumlsung sah daher vor Frauen in den Koumlrper
bedeckenden aber duumlnnen und daher moumlglichst gering abfe-
dernden Gewaumlndern zu steinigen26
In beiden Beispielen wurden im Zuge einer Abwaumlgung bibli-
sche Vorschriften zugunsten der Wuumlrde des Menschen be-
schraumlnkt im ersten Beispiel durch eine spaumltere Ausfuumlhrung im
zweiten Beispiel durch eine Aumlnderung der Art der Ausfuumlhrung
Somit wurde aumlhnlich dem modernen Menschenwuumlrdebegriff der
Wuumlrde ein normativer Vorrang vor bdquoregulaumlrenldquo Gesetzen einge-
raumlumt Nichtsdestotrotz ist abgrenzend zu bemerken dass der
Vorrang der Vermeidung von Wuumlrdeverletzungen mit dem
Schutz der geistigen Ebenbildlichkeit begruumlndet27 wird und da-
her nicht abgekoppelt vom religioumlsen Verstaumlndnis zu betrachten
ist
2 Schutz der Ebenbildlichkeit durch bdquomakelloseldquo
Todesstrafe
Im Talmud erfuhr die Todesstrafe eine erste Einschraumlnkung in-
dem man sich von Arten der Vollstreckung abwandte die eine
sichtbare Verletzung des Koumlrpers mit sich brachten Das zuvor
herrschende lediglich auf der Torah aufbauende Verstaumlndnis
hatte noch darauf abgezielt dass der Verurteilte nicht nur durch
seinen Tod geistig ausgeloumlscht werden sollte sondern dass
durch ein Zerschmettern des Koumlrpers auch dieser zerstoumlrt wer-
den sollte Mit dem Talmud setzte sich die Idee durch dass zu-
mindest der Koumlrper des zum Tode Verurteilten als physisches
Ebenbild Gottes keinen sichtbaren Schaden nehmen soll Man
nahm an dass Gott beim Toumlten von Suumlndern sein eigenes Eben-
bild nicht verunstalten wuumlrde und daher bdquomakelloseldquo Formen
der Toumltung grundsaumltzlich zu bevorzugen seien28
Die Tatsache dass besonders grausame Arten die Todesstrafe
zu vollstrecken dadurch weitestgehend ausgeschlossen wurden
26 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312f 27 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671 28 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 4
stellt grundsaumltzlich eine Annaumlherung an das moderne europaumli-
sche Menschenwuumlrdeverstaumlndnis dar die Begruumlndung dieses
Paradigmenwechsels bleibt jedoch im goumlttlich zentrierten Ver-
staumlndnis der Wuumlrde verhaftet
3 Abschaffung der Todesstrafe und des Lex talionis
als Ausdruck einer unverlierbaren Wuumlrde
Letztendlich kam es in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n
Chr zu einer praktischen Verdraumlngung der Todesstrafe da an
eine Verurteilung zum Tode eine Reihe von schwer erfuumlllbaren
Anforderungen geknuumlpft wurde29
So wurde zum Beispiel eine
verschaumlrfte Form des Vorsatzes gefordert die darin bestehen
sollte dass der Taumlter kurz vor der Tat noch einmal explizit ge-
warnt worden sein muss dass sein Vorhaben mit dem Tod be-
straft wird und er sein volles Bewusstsein dieser Tatsache be-
zuumlglich der bevorstehenden Toumltung ausdruumlckt und kurz darauf
die Tat begeht Des Weiteren bedurfte es zweier Augenzeugen
deren Aussagen nur verwertet werden sollten sofern sie sich in
keinem Detail widersprachen und eine Verurteilung durch das
zustaumlndige 23-koumlpfige Gericht sollte nur erfolgen koumlnnen wenn
mindestens ein Richter sich gegen einen Schuldspruch aus-
sprach bei Einstimmigkeit der Verurteilung soll diese automa-
tisch in einen Freispruch umgewandelt werden30
Grundlage fuumlr diese faktische Abschaffung der Todesstrafe
war neben dem Bemuumlhen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen
zu vermeiden eine weitere Auslegung des Wuumlrdebegriffs als zu-
vor So wurde die Wuumlrde nun als etwas verstanden das auch
durch das groumlszligte Verbrechen nicht verwirkt werden kann und
daher sollten auch die groumlszligten Suumlnder Ebenbilder Gottes blei-
ben31 Zudem wurde im Talmud angenommen dass bei einer
Beeintraumlchtigung der Ebenbildlichkeit Gottes durch Verletzung
oder Toumltung dieser aufgrund seiner menschlichen Immanenz
ebenso leidet Daher fand auch das Lex talionis eine Abloumlsung
und wurde durch Geldstrafen ersetzt32
Die Losloumlsung von Todesstrafe und Lex talionis in Verbin-
dung mit dem Gedanken dass die Wuumlrde unverlierbar ist fuumlhrt
zu einer groumlszligeren Deckungsgleichheit des juumldischen Wuumlrdever-
staumlndnisses mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken in der Rechtsanwendung Die Begruumlndung dieses
Schritts dass Verletzung und Toumltung von Menschen um das Lei-
den des Goumlttlichen und nicht des Menschen zu vermeiden sind
zeigt hingegen dass die Wuumlrde des Menschen weiterhin extrin-
sisch begruumlndet wurde und nicht der Mensch an sich sondern
Gott der Grund des auf dem Tzelem Elohim aufbauenden As-
pekts des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ist
4 Die Naumlchstenliebe des Talmud als Bestandteil des
29 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f 30 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 309ff 31 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 311f
Naturrechts
Das bereits in der Torah angelegte Konzept der Naumlchstenliebe
erfuhr im Talmud eine noch staumlrkere Ausformung die Rabbiner
Hillel als goldene Regel zusammenfasste ldquoWas Dir nicht lieb
ist tue auch deinem Naumlchsten nicht das ist die gesamte Geset-
zeslehre alles andere ist nur Erlaumluterung geh und lerneldquo Nach
dem Rabbiner Leo Baeck ergibt sich aus der Verbindung der in
Torah und Talmud angelegten Naumlchstenliebe Inklusion des
Fremden und Menschenrechte ein staatlicher Rechtsgedanke
der nur auf den Menschen abstellt und damit als ein Grundbe-
griff des Naturrechts gelten kann33 Torah und Talmud bieten
somit neben dem untrennbar mit Gott verknuumlpften Gedanken der
Ebenbildlichkeit Ansaumltze fuumlr ein Konzept der Menschenwuumlrde
das sich saumlkular auslegen laumlsst und daher eine grundsaumltzliche
Vereinbarkeit mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken aufweist
5 Zwischenfazit
Das in Torah und Talmud angelegte Wuumlrdeverstaumlndnis weist
verschiedene Ansaumltze des modernen europaumlischen Menschen-
wuumlrdegedankens auf Aus dem Konzept der Gottesebenbildlich-
keit entspringt der Gedanke einer unverlierbaren Gleichheit aller
Menschen aus der jedoch kein universeller normativer An-
spruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden kann Des Wei-
teren weisen Torah und Talmud Ansaumltze verschiedener Frei-
heits- und Sozialrechte auf die auch vom heutigen Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis umfasst werden und mit dem im Talmud ver-
staumlrkten Konzept der Naumlchstenliebe ist auch ein Bezugspunkt fuumlr
einen naturrechtlichen Menschenwuumlrdebegriff angelegt Diese
Ansaumltze reichen in Summe jedoch nicht aus um daraus das mo-
derne europaumlische Menschenwuumlrdeverstaumlndnis vollstaumlndig her-
zuleiten Insbesondere die Uumlberlegungen zum Menschen als ver-
nunftfaumlhigem Individuum die im Entwicklungsprozess des eu-
ropaumlischen Menschenwuumlrdegedankens zum Tragen gekommen
sind finden in Torah und Talmud keine klare Ausformung Der
Schutz der Wuumlrde des Menschen zielt im Judentum lediglich auf
den Schutz des goumlttlichen Anteils am Menschen ab Der Vorrang
der Wuumlrde vor den biblischen Gesetzen ist daher kein Vorrang
der Wuumlrde vor staatlichen oder religioumlsen Direktiven sondern
eine innerreligioumlse Priorisierung ebenjener Der Mensch wird im
kanonischen Recht des Judentums vor allem als Teil einer mit
dem Goumlttlichen verbundenen Gemeinschaft angesehen und das
Ausmaszlig des Schutzes seiner Wuumlrde wird mitunter an die Zuge-
houmlrigkeit zur Religion gekoppelt
III Einfluss der Diaspora auf das juumldische
Wuumlrdeverstaumlndnis
Neben religioumlsen und philosophischen Erwaumlgungen werden
ethische Konzepte wie das der Menschenwuumlrde auch immer
durch historische Gegebenheiten beeinflusst Ab der Zerstoumlrung
des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n Chr kam es zu einer
32 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312
33 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext 2013 79 81
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 5
knapp 2000 Jahre anhaltenden Vertreibung und Verfolgung von
Juden der Diaspora34 Im Folgenden werden die Auswirkungen
eines fehlenden juumldischen Staats und die Stellung der Juden als
diskriminierte Minderheit auf das juumldische Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde beleuchtet
1 Auswirkungen anhaltender Diskriminierung auf
das juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde
Die Diskriminierung der Juden nahm im Mittelalter mit dem
Einsetzen der Kreuzzuumlge ein noch staumlrkeres Ausmaszlig an als zu-
vor Dieser Hass der Mitgliedern der juumldischen Glaubensge-
meinschaft entgegengebracht wurde wirkte sich auch auf das
juumldische Recht aus So kam es im Shullan Arukh der bedeu-
tendsten Kodifikation juumldischen Rechts des spaumlten Mittelalters
zu einer Beschneidung der Menschenrechte von Nichtjuden
Exemplarisch sind insbesondere die Beschraumlnkungen die juumldi-
schen Frauen fuumlr die Hilfe bei der Niederkunft nichtjuumldischer
Frauen und juumldischen Aumlrzten bei der Behandlung nichtjuumldischer
Patienten auferlegt wurden Im Kern wurde ihnen das Entgegen-
bringen jeglicher Hilfe gegenuumlber Andersglaumlubigen untersagt
Einzig wenn sie dadurch die Feindseligkeit von Andersglaumlubi-
gen riskierten war es ihnen gestattet von dieser Regelung Ab-
stand zu nehmen35
Die Unterdruumlckung der Juden im Mittelalter fuumlhrte somit zu
einer Einschraumlnkung der Menschenrechte von Andersglaumlubigen
im juumldischen Recht Unter der Annahme dass Menschenrechte
Ausdruck des zugrundeliegenden Wuumlrdeverstaumlndnisses sind
kann daher vermutet werden dass der auf dem biblischen Kon-
zept der Naumlchstenliebe fuszligende Aspekt des juumldischen Wuumlrde-
verstaumlndnisses im Mittelalter eine Einengung auf Juden erfuhr
um der dauerhaften gegenwaumlrtigen Gefahr der die juumldischen
Gemeinden ausgesetzt waren Rechnung zu tragen Dem mit
dem modernen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis verknuumlpfbare natur-
rechtlichen Ansatz der aus der Naumlchstenliebe hergeleitet wer-
den kann wurde damit die Grundlage genommen
2 Ausbleiben einer saumlkularen Weiterentwicklung der
juumldischen Menschenwuumlrde
An dieser Stelle werden drei Vermutungen angestellt wie sich
das Fehlen eines juumldischen Staats im Zeitraum der Diaspora auf
das juumldische Konzept der Menschenwuumlrde ausgewirkt hat
Die erste Uumlberlegung besteht darin dass zur Durchsetzung
von menschenrechtlichen Garantien auf Draumlngen eines Teils der
Bevoumllkerung diese auch der zu veraumlndernden Rechtsordnung
praktisch unterworfen sein muss um sich an der betreffenden
Rechtsordnung stoumlren zu koumlnnen Da Juden in Europa eine un-
terdruumlckte Minderheit darstellten gab es zu keiner Zeit der
Diaspora einen Staat dessen Regierung durch das Judentum an-
stelle des Christentums legitimiert wurde Die juumldischen Gesetze
fanden durch das Fehlen eines juumldischen Staats keine Anwen-
34 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1110
dung durch irgendeinen Staat somit war auch die Erprobung ih-
rer Schwachstellen und Aktualitaumlt begrenzter als die von Rechts-
ordnungen mit tatsaumlchlicher Guumlltigkeit Das juumldische Recht
blieb daher das Beschaumlftigungsfeld der begrenzten Gruppe de-
rer die ohnehin fuumlr ihre Bewahrung und Entwicklung zustaumlndig
waren also die der Rechtsgelehrten Philosophen und Rabbiner
Eine Einforderung von Buumlrgerrechten als Annaumlherung an die
moderne Menschenwuumlrde wie sie sonst in Europa uumlber Jahrhun-
derte mehrfach stattgefunden hat konnte daher in Bezug auf das
juumldische Recht gar nicht geschehen Ein Beitrag zur Entwick-
lung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses durch eine
durch Aufstaumlnde und Revolutionen einem juumldischen Staat abge-
trotzte Reihe von Menschenrechten unterblieb daher infolge des
Fehlens eines juumldischen Staats
Als zweite These wird angenommen dass auch eine Weiter-
entwicklung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses
durch eine breite Beteiligung der Juden an den Bemuumlhungen fuumlr
die Gewaumlhrung von Menschenrechten in den europaumlischen Staa-
ten weitestgehend entfiel da sie flaumlchendeckend diskriminiert
wurden und als Buumlrger zweiter Klasse galten Bevor sie eine
sichtbare Rolle im Kampf der bdquoDurchschnittsbevoumllkerungldquo fuumlr
die Durchsetzung der Menschenwuumlrde spielen konnten mussten
sie erst den rechtlichen Status der christlichen Bevoumllkerung er-
langen Eine stetige Erweiterung des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs aufgrund einer Miturheberschaft an neu erlangten
Freiheits- und Schutzrechten innerhalb europaumlischer Rechtsord-
nungen entfaumlllt folglich ebenfalls
Der dritte Ansatz ist dass eine andere Moumlglichkeit der saumlku-
laren Weiterbildung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis-
ses die Reformierung der juumldischen Rechtsordnung bdquovon obenldquo
gewesen waumlre Dies waumlre durch das Einwirken von Juden die
als hochrangige Beamte in den europaumlischen Staaten Reformen
angestoszligen und begleitet haben denkbar gewesen Ihre Exper-
tise als Staatsmaumlnner koumlnnte dann als Legitimation fuumlr die Wei-
terentwicklung der juumldischen Rechtstheorie gehandelt worden
sein Die Diskriminierung der Juden in Europa machte jedoch
auch eine solche Entwicklung unmoumlglich
Diesen Uumlberlegungen folgend kann man annehmen dass es
im Gegensatz zu den christlich gepraumlgten europaumlischen Konzep-
ten der Menschenwuumlrde keine saumlkularen Ansaumltze Eingang in das
juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde finden konnten Ver-
schiedene Ausformungen des Wuumlrdeverstaumlndnisses die saumlku-
lare Elemente wie das Naturrecht und religioumlse Elemente unter-
schiedlich stark gewichten haben sich daher im Gegensatz zum
europaumlischen Wuumlrdebegriff in Verbindung mit dem juumldischen
Wuumlrdebegriff nicht entwickeln koumlnnen Es bleibt folglich bei ei-
ner rein religioumls begruumlndeten Wuumlrde die nie die Stellung als
oberster Wert einnehmen konnte da sie mit dem Goumlttlichen von
einer noch houmlheren Instanz begruumlndet wird
C Die Entwicklung der Menschenwuumlrde im positiven
35 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32 (2011) 1101 1110ff
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 6
Recht Israels
In diesem Abschnitt werden Rechtsschaffung und Rechtspre-
chung in Israel im Spannungsfeld zwischen dem bisher skizzier-
ten juumldischen und dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde eingeordnet Im Anschluss kommt es zu einer
Auseinandersetzung mit der Frage ob das heutige Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde in Israel im Feld der eigenen religioumlsen
Tradition verortet werden kann oder ob eine europaumlische
Rechtsrezeption vorliegt
I Das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis bis 1992
Der moderne Staat Israel wurde im Jahr 1948 durch die israeli-
sche Unabhaumlngigkeitserklaumlrung proklamiert die Israel als juumldi-
schen Staat definiert36 Der Begriff der Menschenwuumlrde ist in
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung nicht zu finden Bei Gruumlndung
des Staats Israel wurde die bestehende Gesetzeslage des Com-
mon Law aus der Zeit der britischen Mandatsherrschaft die Ele-
mente des osmanischen Rechts enthielt weitestgehend uumlber-
nommen37 Der Oberste Gerichtshof entwickelte daran durch
Auslegung eine Reihe von Menschenrechten die unter anderem
Demonstrationsfreiheit Freizuumlgigkeit Vereinigungsfreiheit
den freien Zugang zu den Gerichten und Meinungsfreiheit um-
fassten38 Eine erste Nennung im positiven Recht erfuhr der Be-
griff der Menschenwuumlrde erst in einer Entscheidung des Obers-
ten Gerichtshofs aus dem Jahr 1980 dem Fall Katalan v Prison
Services39 in dem der Oberste Gerichtshof das Auspumpen der
Maumlgen von Gefaumlngnisinsassen aufgrund des Verdachts auf Dro-
genschmuggel im Koumlrper verbot40
In dieser Anfangsphase des Staats Israel sind klare Ansaumltze
im Recht die die Freiheit und Autonomie des Individuums uumlber
dem Konzept der bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde des Kol-
lektivs und biblischen Vorschriften ansiedeln und dadurch eine
Naumlhe zum europaumlischen Menschenwuumlrdebegriff anzeigen nicht
ersichtlich Die bis ins Jahr 1980 lediglich indirekte und nach-
folgend noch immer geringe Ausformung der Menschenwuumlrde
im positiven Recht Israels scheint mit Blick auf die Definition
Israels als juumldischer Staat daher dem zuvor dargestellten juumldi-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu entsprechen
II Das israelische Grundrecht bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo
Israel verfuumlgt uumlber keine abschlieszligende Verfassung jedoch gibt
es eine Reihe einzelner Grundrechte Seit dem Jahr 1992 hat der
Begriff der Menschenwuumlrde mit dem Grundrecht bdquoMenschen-
wuumlrde und Freiheitldquo auch expliziten Eingang in die israelische
36 Israelische Unabhaumlngigkeitserklaumlrung Abs 12 37 A Weilert Grundlagen und Grenzen des Folterverbots in verschiedenen
Rechtskreisen 2009 240f 38 B Genut Fordham International Law Journal 19 (1996) 2120 2146f 39 HCJ 35579 40 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 41 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 42 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 43 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 44 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 2 3 4 7 45 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 6
Rechtsordnung gefunden Zuvor hatte die Menschenwuumlrde nur
in wenigen Urteilen des Obersten Gerichtshofs Israels Erwaumlh-
nung gefunden41 und Menschenrechte waren bis auf wenige
Ausnahmen als Teil des Common Law ebenfalls nur uumlber die
Rechtsprechung im positiven Recht Israels verankert42
1 Umfang des Grundrechts
Die Menschenwuumlrde ist durch das Grundrecht in Israel sowohl
ein Verfassungsprinzip43 als auch ein subjektives Recht Durch
das Grundrecht sind der Schutz von Leib Leben Wuumlrde Eigen-
tum und Privatsphaumlre garantiert44 Auch wird allen Menschen
freie Ausreise aus Israel und israelischen Staatsbuumlrgern daruumlber
hinaus freie Einreise nach Israel garantiert45 Uumlber weitere
Grundrechte sind die Freiheit der Berufswahl46 das Wahl-
recht47 das Recht fuumlr Aumlmter zu kandidieren48 sowie das Recht
auf Zugang zu den Gerichten49 garantiert
Bezuumlglich der Geltung weiterer auf der Menschenwuumlrde auf-
bauender Menschenrechte hat der Oberste Gerichtshof Israels
sowohl eine enge Auslegung des Rechts auf Menschenwuumlrde
als auch eine weite Auslegung des Grundrechts abgelehnt50
Eine enge Auslegung haumltte lediglich den Schutz vor physischer
und psychischer Verletzung Folter Demuumltigung und Erniedri-
gung umfasst eine weite Auslegung haumltte saumlmtliche in den mo-
dernen Rechtsordnungen vorhandenen Menschenrechte einge-
schlossen51 Stattdessen befand der Oberste Gerichtshof dass
das Recht auf Menschenwuumlrde das Verfassungsprinzip der Men-
schenwuumlrde umfassen soll52 Da im Verstaumlndnis des israelischen
Common Law die Menschenwuumlrde als Quelle aller Menschen-
rechte betrachtet wird fuumlhrt dies jedoch nicht zu einem Aus-
schluss der Rechte die durch die weite Auslegung des Rechts
auf Menschenwuumlrde garantiert worden waumlren53 Durch diese
Entscheidung wurde das Grundrecht auf Menschenwuumlrde zu ei-
nem zusammengesetzten Recht erklaumlrt das aus einem Buumlndel an
Tochterrechten besteht die verschiedene Aspekte des Mutter-
rechts abbilden und dadurch dessen multiple Wirkrichtungen si-
chern54
Folgende Tochterrechte wurden durch Entscheidungen des
Obersten Gerichts bisher anerkannt das Recht auf Gleichbe-
handlung Meinungsfreiheit Religionsfreiheit Freizuumlgigkeit
die Gruumlndung einer Familie freie Berufswahl Bildung ein or-
dentliches Gerichtsverfahren einen humanitaumlren Mindeststan-
dard Schutz vor Rufschaumldigung und ein Persoumlnlichkeitsrecht55
Zudem hat der Oberste Gerichtshof ein Hinausreichen der Men-
schenwuumlrde uumlber den Tod anerkannt56
46 Basic Law Freedom of Occupation 47 Basic Law The Knesset Abs 5 48 Basic Law The Knesset Abs 6 49 Basic Law The Judiciary Abs 3 50 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 47 49f 51 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 805 52 A Barak Human Dignity 2015 287 53 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 39 49f 54 A Barak Human Dignity 2015 287f 55 A Barak Human Dignity 2015 288ff 56 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 55
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 7
2 Geltung des Grundrechts und Stellung innerhalb
der Rechtsordnung
Das Grundrecht auf Menschenwuumlrde ist ein relatives Recht
Aufgrund einer im Grundrecht verankerten Bestimmung sind
Einschraumlnkungen der einzelnen durch das Grundrecht garantier-
ten Menschenrechte durch Notverordnungen moumlglich57 Zudem
unterliegt das Grundrecht nicht wie in Deutschland einer Ewig-
keitsklausel58 sondern kann durch das israelische Parlament die
Knesset veraumlndert werden59 Eine Abschaffung der Grundrechte
ist daher nicht explizit ausgeschlossen Jedoch kann der Oberste
Gerichtshof Aumlnderungen oder Abschaffungen von Grundgeset-
zen die seiner Ansicht nach der Demokratie oder den weiteren
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung innewohnenden Grundwerten
entgegenstehen fuumlr verfassungswidrig erklaumlren60 Somit ist die
Moumlglichkeit einer impliziten Sperre fuumlr die Abschaffung des
Grundrechts gegeben
Die Grundrechte wurden ebenso wie andere Gesetze Israels
von der Knesset mit einer einfachen Mehrheit beschlossen und
stehen daher formell nicht uumlber anderen Gesetzen61 Sie wurden
aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1995 zu
Gesetzen mit Verfassungscharakter erklaumlrt die einen den ande-
ren Gesetzen uumlbergeordneten Status genieszligen62 Sie haben nur
Vorrang vor Gesetzen die juumlnger sind aumlltere Normen werden
vom Grundrecht nicht verdraumlngt und verdraumlngen dieses eben-
falls nicht beide Normen gelten parallel Aumlnderungen und Er-
weiterungen von Gesetzen die bereits vor dem Grundrecht be-
standen genieszligen jedoch nicht diesen Schutz und werden durch
das Grundrecht verdraumlngt63
3 Zwischenfazit
Wie auch in europaumlischen Rechtsordnungen genieszligt die Men-
schenwuumlrde damit grundsaumltzlich Vorrang vor einfachen Geset-
zen Die Position der Menschenwuumlrde innerhalb des israelischen
Rechts ist gemessen an europaumlischen Rechtsordnungen zum
Beispiel der Griechenlands64 oder Deutschlands65 weniger pro-
minent und fest verankert Im israelischen Rechtssystem das
keine Ewigkeitsklauseln kennt und keine abgeschlossene Ver-
fassung hat kommt der Menschenwuumlrde dennoch eine heraus-
ragende Stellung als Gesetz mit Verfassungscharakter und
Quelle aller Menschenrechte zu die jedoch durch die Parallel-
wirkung zu aumllterem Recht und die grundsaumltzliche Einschraumlnk-
barkeit des Grundrechts aufgrund von Notverordnungen ge-
schmaumllert wird
57 Basic Law Human Dignity and Freedom Abs 12 58 Art 79 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 59 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 41 60 A Barak Human Dignity 2015 284f 61 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 796 A Bendor M Sachs
Israel Law Review 44 (2011) 25 41f 62 B Bracha University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 3
(2001) 581 583
III Die bdquokonstitutionelle Revolutionldquo
Mit der Verabschiedung des Grundrechts bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo erfolgte nicht nur eine Verankerung der Menschen-
wuumlrde im israelischen Recht sondern auch eine neue Ausrich-
tung des Menschenwuumlrdebegriffs in Israel Diese Veraumlnderung
der Gesetzeslage wird ruumlckblickend als bdquokonstitutionelle Revo-
lutionldquo bezeichnet66 Die Gesetzgebung der Knesset erfolgt in
der Regel unter Beteiligung eines breiten politischen Spektrums
da zur Bildung von Mehrheiten in Israel oft eine Einbeziehung
von mehr als zwei Parteien notwendig ist Parteien die dem ult-
raorthodoxen Umfeld zuzurechnen sind wirken ihrem An-
spruch entsprechend oft blockierend auf Gesetzesentwuumlrfe ein
die die Vorrangstellung der Religion im Staat eindaumlmmen koumlnn-
ten sie sind um die Beibehaltung des Status quo bemuumlht67 Un-
ter diesen Gesichtspunkten stellt das Grundrecht auf Menschen-
wuumlrde zum einen eine bedeutende Neuerung in der israelischen
Gesetzgebung dar zum anderen ist es Ausdruck eines Kompro-
misses
Das Gesetz definiert Israel woumlrtlich nicht mehr nur als juumldi-
schen sondern auch als demokratischen Staat68 Durch den Na-
men des Gesetzes bdquoHuman Dignity and Libertyldquo erfaumlhrt die
Wuumlrde eine Verknuumlpfung mit dem Autonomiegedanken Somit
wird die Wuumlrde sowohl mit religioumlsen als auch mit saumlkularen
Ansaumltzen des Menschenwuumlrdegedankens verknuumlpft Diese Ge-
wichtung fuumlhrt zu einer Ausbalancierung beider Ansaumltze die je-
doch auch das Potential einer bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des Gesetzes
birgt
IV Auswirkungen des Grundgesetzes auf die
Rechtsprechung
Im Folgenden werden Entscheidungen des Obersten Gerichts-
hofs Israels dargestellt die nach dem Erlass des Grundrechts auf
Menschenwuumlrde gefaumlllt wurden und deren Entscheidung von der
Einnahme der traditionellen juumldischen bzw der modernen euro-
paumlischen Perspektive auf die Menschenwuumlrde abhaumlngig war
1 Sheffer v State of Israel
Im Fall Sheffer v State of Israel69 der im Jahr 1993 entschieden
wurde standen sich das juumldische Konzept der bdquoHeiligkeit des
Lebensldquo das auf der Idee des Tzelem Elohim basiert und die
Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenuumlber Die Mutter ei-
nes zweijaumlhrigen Maumldchens das an einer unheilbaren Erkran-
kung litt und im Wachkoma lag klagte darauf die medizinische
Behandlung der Tochter bis auf die Gabe von Schmerzmitteln
einstellen zu duumlrfen und Wiederbelebungsmaszlignahmen an dem
Maumldchen zu unterlassen Das Gericht hatte somit uumlber das Recht
63 A Barak Human Dignity 2015 305ff 64 Art 2 I Verfassung Griechenlands 65 Art 1 I Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 66 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 799 67 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 41 68 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 69 Israeli Supreme Court CA 50688 Sheffer v State of Israel Israel Law Re-
ports 1992 1 ndash 144
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 8
von Patienten und Eltern minderjaumlhriger Patienten medizini-
sche Behandlungen zu verweigern zu entscheiden Der Oberste
Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Menachem Elon
wies die Klage unter Berufung auf die bdquoHeiligkeit des Lebensldquo
zuruumlck Diese Entscheidung ist daher dem traditionellen juumldi-
schen und nicht dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zuzuordnen jedoch wurde im Jahr 2005 das
Terminal Patient Law erlassen das praumlfinalen Patienten und de-
ren gesetzlichen Vormunden das Recht zugesteht weitere me-
dizinische Behandlung abzulehnen und somit klar dem europaumli-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zuzuordnen ist70
2 Hevra Kadisha v Lional Aria Kestenbaum
Der Streitpunkt des Falls Hevra Kadisha v Lional Aria Kesten-
baum71 aus dem Jahr 1992 war das Verstaumlndnis der postmortalen
Wuumlrde wobei das juumldische Konzept der Kvod Habriyot und das
europaumlische Verstaumlndnis der Wuumlrde des Einzelnen mit einander
kollidierten Die Kadisha-Organisation verwaltet Friedhoumlfe in
Israel wobei die Vorschrift dass Inschriften auf Grabsteinen
einheitlich auf hebraumlisch abgefasst sein muumlssen Teil der Ver-
traumlge der Organisation mit den dort Bestatteten ist Die Familie
des Verstorbenen hatte sich fuumlr eine nicht auf hebraumlisch abge-
fasste Inschrift entschieden wogegen die Organisation klagte
Richter Elon sprach sich im Sinne des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs dafuumlr aus dass die Wuumlrde der bereits auf dem betref-
fenden Friedhof Bestatteten im Sinne der Kvod Habriyot der
Wuumlrde des Einzelnen vorzuziehen sei Jedoch setzten sich die
Richter Meir Shamgar und Aharon Barak durch die zugunsten
eines saumlkular-liberalen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ent-
schieden dass der Wuumlrde des Einzelnen den Vorzug vor kol-
lektiven Werten gewaumlhrt72
3 Lior Horev et al v Minister of Transportation
Im Jahr 1996 musste der Oberste Gerichtshof eine weitere Ent-
scheidung im Spannungsfeld zwischen biblischen Vorschriften
und der Autonomie des Einzelnen faumlllen Im Fall Lior Horev et
al v Minister of Transportation73 wurde auf die Sperrung einer
Straszlige am Sabbath geklagt die durch ultrareligioumlse Bezirke Je-
rusalems fuumlhrt Der Oberste Gerichtshof entschied im Sinne des
europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses unter Herleitung
der Verkehrsfreiheit aus der Menschenwuumlrde gegen eine Sper-
rung der Straszlige Richter Tzvi Tal teilte die Ansicht der anderen
Richter jedoch nicht da er religioumlsen Traditionen und Werten
eine houmlhere Prioritaumlt als der Verkehrsfreiheit einraumlumte74
4 Zwischenfazit
In der Gesamtschau zeigen diese Beispiele dass sich der im
Grundrecht auf Menschenwuumlrde angelegte Dualismus von tra-
ditionellem juumldischem und modernem europaumlischem Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis in den Entscheidungen des Obersten Ge-
70 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 676f 71 Israeli Supreme Court CA 91294 72 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 677f 73 Israeli Supreme Court CA 965016
richtshofs wiederspiegelt was neben der Zweideutigkeit der ge-
setzlichen Grundlage auf die gezielt heterogene Besetzung des
Obersten Gerichtshofs mit religioumlsen und saumlkularen Richtern zu-
ruumlckzufuumlhren ist75
Auch wenn sich eine Verzerrung des Bildes durch die be-
grenzte Auswahl an Beispielen nicht ausschlieszligen laumlsst scheint
sich der moderne europaumlische Begriff der Menschenwuumlrde in
der israelischen Gesetzgebung und Rechtsprechung durchzuset-
zen Zur Annahme dieser These fuumlhrt zum einen der Charakter
des Common Law durch den sich die Rechtsprechung bei neuen
Entscheidungen stark an bereits ergangenen Urteilen orientiert
In den letzteren beiden Faumlllen wurde folglich mit Urteilen im
Sinne des europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses eine
Grundlage fuumlr weitere europaumlisch orientierte Entscheidungen in
Fragen des Verhaumlltnisses von der Wuumlrde des Kollektivs und bib-
lischer Vorschriften zur Autonomie des Individuums geschaf-
fen Ein Ruumlckgriff auf parallel wirkende Gesetze aus der Zeit
vor 1992 die im Einzelfall dem Grundrecht entgegenstehen
scheint aufgrund des Anspruchs der grundrechtskonformen
Auslegung aumllterer Gesetze76 und der Existenz eines neuen bdquoLei-
turteilsldquo unwahrscheinlich Zum anderen wird die Vermutung
durch die im ersten Beispiel erfolgte Staumlrkung des europaumlischen
Ansatzes der Wuumlrde durch den Gesetzgeber gestuumltzt Eine ge-
setzliche Kehrtwende ist aufgrund der bereits erlaumluterten Mehr-
heitsverhaumlltnisse der Knesset unwahrscheinlich
V Die Entstehung der israelischen Menschenwuumlrde
Die Menschenwuumlrde im israelischen Recht bewegt sich im
Spannungsfeld zwischen dem modernen europaumlischen und dem
traditionellen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis Eine klare Zuord-
nung zu einem der beiden Wuumlrdeverstaumlndnisse ist seit der bdquokon-
stitutionellen Revolutionldquo und der darauf aufbauenden Recht-
sprechung nicht mehr moumlglich Die bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des
Grundrechts auf Menschenwuumlrde fuumlhrt zu einem bestaumlndigen
Ringen beider Konzepte um Vorrang im positiven Recht Es
scheint jedoch dass der europaumlische Ansatz leicht die Oberhand
gewonnen hat Eine umfassende Saumlkularisierung des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses erscheint in Israel einem modernen Staat
dessen Existenz sich auf das Judentum stuumltzt hingegen unwahr-
scheinlich
Im Hinblick auf das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis im israeli-
schen Recht bietet es sich daher an nicht mehr von einem mo-
dernen europaumlischen oder einem traditionellen juumldischen son-
dern von einem israelischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu
sprechen Ebenso wie in Europa der moderne saumlkulare Wuumlrde-
begriff auf die Basis christlicher Uumlberzeugungen gestellt werden
kann ohne von diesen abhaumlngig gemacht zu werden ist dies
auch mit juumldischen Erklaumlrungsansaumltzen moumlglich Die Vorausset-
zung fuumlr einen solchen modernen Begriff der Menschenwuumlrde
ist in jedem Fall die Betrachtung der Religion als zusaumltzlichen
74 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 679 75 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 675 76 A Barak Human Dignity 2015 306f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 9
und nicht als einzigen Begruumlndungsansatz der Wuumlrde des Men-
schen
D Fazit
Wie sich gezeigt hat sind der Begriff und das Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zu unterscheiden waumlhrend die Gesetzeslage in
Europa und Israel auf einen vergleichbaren Mindestgehalt des
Begriffs Menschenwuumlrde schlieszligen laumlsst kann das Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde und der daraus folgende Umgang mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde in der Rechtsprechung variieren
Die Darstellung der Grundlagen und Genese des Begriffs im Ju-
dentum ergab dass sich aus der Auseinandersetzung mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde auf religioumlser philosophischer je-
doch nicht auf saumlkularer Ebene in der Tradition des Judentums
ein anderes Verstaumlndnis als in Europa entwickelt hat Das juumldi-
sche Wuumlrdeverstaumlndnis unterscheidet sich vom europaumlischen
Wuumlrdeverstaumlndnis maszliggeblich in der Priorisierung des Goumlttli-
chen die zu einem Vorrang der im Ebenbildlichkeitsgedanken
begruumlndeten bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde der Gemein-
schaft und der biblischen Regeln vor der Autonomie und der
Freiheit des Individuum fuumlhrt Im positiven Recht Israels sind
seit der bdquokonstitutionellen Revolutionldquo beide Verstaumlndnisse ver-
ankert und es zeichnet sich ein Erstarken des saumlkularen europauml-
ischen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ab In dieser Ent-
wicklung kann die Etablierung eines israelischen und nicht
mehr lediglich europaumlischen oder juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis-
ses gesehen werden das in seiner Schwerpunktsetzung saumlkular
ist jedoch religioumls begruumlndet werden kann
Vor diesem Hintergrund kann von einer einsetzenden euro-
paumlischen Rechtsrezeption der Menschenwuumlrde in Israel gespro-
chen werden In Anbetracht des vergleichsweise kurzen Beste-
hens des modernen Staats Israel laumlsst sich die gegenwaumlrtige Ent-
wicklung des Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses im israelischen
Recht jedoch auch als originaumlre Evolution des religioumlsen Wuumlr-
deverstaumlndnisses zu einem in modernen Demokratien praktikab-
len Wuumlrdeverstaumlndnis verstehen deren weiterer Verlauf nicht
auf die vollstaumlndige Angleichung an das europaumlische Modell der
Menschenwuumlrde begrenzt ist
Der Autor studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt und be-findet sich derzeit in der Examensvorbereitung Der Artikel ist Teil einer Seminararbeit die im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher entstanden ist
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
10
Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verle-
gung der US-Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts
-
von Lucie Schultz
A Abstract
Am 6122017 verkuumlndete US-Praumlsident Donald Trump
es sei an der Zeit Jerusalem offiziell als Hauptstadt Isra-
els anzuerkennen Mit der Planung zur Verlegung der US-
Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem solle umgehend
begonnen werden1 Damit stieszlig er international auf heftige
Reaktionen und vielfach auf Kritik Der folgende Beitrag
will untersuchen inwieweit diese begruumlndet sind und ob
Trump durch seine Ankuumlndigungen an die Grenzen des
Voumllkerrechts stoumlszligt oder sie uumlberschreitet
B Staatliche Souveraumlnitaumlt im Konflikt mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Voumllker
Der Zentrale Streitpunkt hierbei ist die Frage nach dem voumllker-
rechtlichen Status Jerusalems welcher wiederrum maszliggeblich
von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen in der Stadt abhaumlngig ist
Staatliche Souveraumlnitaumlt ist die notwendige Bedingung gar
Grundlage des Voumllkerrechts2 Gemeint ist die Faumlhigkeit einer ju-
ristischen oder natuumlrlichen Person zu ausschlieszliglicher rechtli-
cher Selbstbestimmung3 Dabei ist zu unterscheiden zwischen
rechtlicher und faktischer Souveraumlnitaumlt erstere meint den recht-
maumlszligigen Titel letztere tatsaumlchliche Kontrolle und Herrschaft4
Durch den rechtmaumlszligigen Titel wird faktische Kontrolle zur voll
ausgereiften Souveraumlnitaumlt Die faktische Herrschaft ist - insbe-
sondere bei militaumlrischen Konflikten - leichter festzustellen als
die Souveraumlnitaumlt uumlber das betreffende Gebiet5
Sowohl Israel als auch Palaumlstinenser sehen Jerusalem als ihre
jeweilige Hauptstadt Rechtsanspruumlche auf Territorium ergeben
sich zum groszligen Teil aus dem voumllkerrechtlichen Selbstbestim-
mungsrecht6 welches damit die staumlrkste Legitimationsquelle fuumlr
Souveraumlnitaumltsanspruumlche ist7 Gleichzeitig besteht aber auch ein
Spannungsverhaumlltnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht
1 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember 2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-
jerusalem (Stand 24022019) 2 Hillgruber in Der Staat Vol 53 Nr3 2014 475 476 3 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 173 4 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 111 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 321 5 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 181
der Voumllker in seiner offensiven Auspraumlgung (gerichtet auf eine
Aumlnderung des Territorialstatus8) und der Souveraumlnitaumlt der Staa-
ten Da das Selbstbestimmungsrecht im Einklang mit den Best-
immungen der UN-Charta gefoumlrdert werden soll wird es grund-
saumltzlich dem Souveraumlnitaumltsgrundsatz nachgeordnet9 Die UNO
bekraumlftigt gleichwohl das Recht der Palaumlstinenser auf Selbstbe-
stimmung als unabdingbar im Nahostkonflikt10
C Die Anerkennung im Voumllkerrecht
I Bedeutung Rechtsnatur und Arten
Die voumllkerrechtliche Anerkennung bezeichnet die einseitige Er-
klaumlrung eines Voumllkerrechtssubjekts eine bestimmte Sach- oder
Rechtslage fuumlr rechtmaumlszligig zu erachten11 Voraussetzung fuumlr die
Anerkennung eines Staates ist das Bestehen von Staatsgebiet -
volk und -gewalt im Sinne der Drei-Elemente-Lehre12 Fuumlr das
Staatsgebiet ist eine endguumlltige Festsetzung der Auszligengrenzen
nicht erforderlich es bedarf lediglich eines unbestrittenen Kern-
gebiets13 Wenngleich jeder Staat seine Hauptstadt frei waumlhlen
darf und hierfuumlr grundsaumltzlich keine Anerkennung benoumltigt geht
es bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gerade
auch um die territoriale Ausdehnung der effektiven Staatsgewalt
im nicht unbestrittenen Staatsgebiet denn die Anerkennung als
Hauptstadt impliziert die Anerkennung der Ausdehnung des
Staatsgebiets auf dem Territorium der Stadt Eine Anerkennung
betrifft das bilaterale Verhaumlltnis zwischen anerkanntem und an-
erkennendem Staat und ist daher sehr politisch gepraumlgt14 Im po-
litischen Sinne ist die Anerkennung konstitutiv im rechtlichen
Sinne dagegen hat sich die deklaratorische Theorie15 als vor-
zugswuumlrdig durchgesetzt16 Das bedeutet zunaumlchst eine be-
grenzte rechtliche Wirkung von Trumps Anerkennung Jerusa-
lems als Hauptstadt Israels Jerusalem wird nicht dadurch zur
Hauptstadt und zum Staatsgebiet Israels Es ist der Kontext des
6 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 239 7 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 240 8 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 41 9 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 10 ARES6719 11 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 160-1 12 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 13 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 391 14 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 379 394 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5
RN 173 15 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 174 16 Shaw International Law 2017 331
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
11
voumllkerrechtlichen und politischen Konflikts um den Status der
Stadt der der Anerkennung eine hohe Bedeutung verleiht
Es wird bei der Art der Anerkennung zwischen de facto und
de jure Anerkennung unterschieden Erstere beinhaltet keinen
diplomatischen Austausch hat einen politischen Charakter wird
als vorlaumlufig und weniger verbindlich bezeichnet und geht oft-
mals einer Anerkennung de jure voraus17 So erkannten die USA
den Staat Israel zunaumlchst nur de facto an nach vollzogenen
Wahlen auch de jure18
II Das Prinzip der Nichtanerkennung
Durch die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und
die damit verbundene Verlegung der US-Botschaft kann Trump
nur dann gegen Voumllkerrecht verstoszligen wenn eine Pflicht zur
Nichtanerkennung besteht Neben einer politisch motivierten
Nichtanerkennung (etwa die Nichtanerkennung Israels durch die
Arabische Liga) kann die Nichtanerkennung auf der voumllkerge-
wohnheitsrechtlich anerkannten Rechtspflicht zur Nicht-Aner-
kennung von Herrschaftsverbaumlnden die unter Verstoszlig gegen das
Gewaltverbot oder das Selbstbestimmungsrecht der Voumllker ent-
standen sind beruhen19 Das Prinzip dieser Rechtspflicht beruht
auf dem Grundgedanken dass es sich kein Rechtssystem erlau-
ben kann Verstoumlszlige gegen seine eigene Ordnung zu tolerieren20
Ein Wandel von dem fruumlher geltenden Effektivitaumltsgrundsatz ex
factis jus oritur nach dem das Recht seine Guumlltigkeit verliert
wenn kontinuierliche Rechtsbruumlche durch ihre Tolerierung er-
folgreich bleiben21 zeigte sich erstmals in der Stimson-Doktrin
einer US-amerikanischen politischen Absichtserklaumlrung von
1932 Unter Verstoszlig gegen den Kellogg-Pakt zur Aumlchtung des
Krieges oder die Voumllkerbundsatzung zustande gekommenen Zu-
staumlnden wurde hiernach die Anerkennung verweigert22 Seither
fand nach dem baldigen Konsens hinsichtlich des Gewaltverbots
eine Festigung des Legalitaumltsgrundsatzes ex injuria jus non ori-
tur statt Aus diesem Grundsatz ergibt sich dass die Anerken-
nung einer verbotenen Handlung ebenso widerrechtlich ist wie
die verbotene Handlung selbst23
Insbesondere durch die Friendly-Relations-Deklaration von
1970 hat sich der Grundsatz zur Pflicht erhaumlrtet 1986 hat der
IGH die vormals nicht rechtsverbindliche Friendly-Relations-
Deklaration als Voumllkergewohnheitsrecht anerkannt bezog sich
jedoch auf die gesamte Resolution nicht auf einzelne Vorschrif-
17 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 166 Brownlie 91 f Shaw International
Law 2017 341 18 Loudwin Die konkludente Anerkennung im Voumllkerrecht S 33 19 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 20 Patel Recognition in the Law of Nations S 111 21 H Lauterpacht Recognition in International Law S 427 22 Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 434 23 Vgl Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 440 IGH Wall in the Occupied
Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 24 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 12 bezugnehmend auf IGH Military and Paramilitary Ac-
tivities in and against Nicaragua Merits Judgement ICJ Reports 1986 14 25 Talmon in TomuschatThouvenin The Fundamental Rules of the International
Legal Order Jus Cogens and Obligations Erga Omnes 2006 99 102 IGH Wall
in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 26 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 4
ten24 2004 nahm der IGH explizit auf die Pflicht zur Nicht-An-
erkennung Bezug er sieht sie als gewohnheitsrechtlich begruumln-
det an25
3 Die Entwicklung der Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
uumlber Jerusalem und der voumllkerrechtliche Status der
Stadt
Der voumllkerrechtliche Status Jerusalems und damit die Frage ob
eine Anerkennung rechtmaumlszligiger Weise erfolgen kann oder ob e
contrario die Pflicht zur Nicht-Anerkennung besteht haumlngt
maszliggeblich von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen ab Hierzu bie-
tet sich ein Abriss der historischen Entwicklung der Souveraumlni-
taumlt auf dem Territorium Jerusalems an
II Vom Britischen Mandat zum Teilungsplan
Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des
Ersten Weltkriegs erhielt Groszligbritannien ein Mandat des Voumll-
kerbundes zur Administration des Mandatsgebiets Palaumlstina Je-
rusalem war waumlhrend dieser Zeit die Hauptstadt des Mandatsge-
biets26 Das Volk im Mandatsgebiet wurde nicht seiner Souve-
raumlnitaumlt beraubt sondern an seiner Ausuumlbung voruumlbergehend ge-
hindert27 Daher wird die genaue Souveraumlnitaumltslage seit diesem
Zeitpunkt treffend als bdquoVakuumldquo bezeichnet28 Insbesondere
war Palaumlstina inklusive Jerusalem zu diesem Zeitpunkt keine
terra nullius auf dem ein originaumlrer Gebietserwerb durch Ok-
kupation29 moumlglich gewesen waumlre
Nach der Aufloumlsung des Voumllkerbundes uumlbertrug Groszligbritan-
nien die Entscheidungsmacht zur Zukunft Palaumlstinas ndash nicht aber
die Souveraumlnitaumlt ndash an die UNO Der UN-Teilungsplan fuumlr Palaumls-
tina 1947 sah eine Beendigung des britischen Mandats und eine
Aufteilung in arabische und juumldische Gebiete vor ndash Jerusalem
sollte als corpus seperatum unter internationale Kontrolle ge-
stellt werden30 Der Teilungsplan verhinderte die Aufgabe der
Souveraumlnitaumlt im Sinne einer Dereliktion welche Palaumlstina zur
terra nullius gemacht haumltte31 Der Treuhandrat der UNO wurde
mit der Administration Jerusalems betraut Auch diese Admi-
nistration bedeutete lediglich die bdquobesitzendeldquo Gebietshoheit
keine rechtliche Souveraumlnitaumlt32 Dem Teilungsplan kam keine
Legislativwirkung zu33
27 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 6 28 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 13 Draper in Koumlchler The
Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 Hirsch in Israel Law Review Volume 38 Issue 1-2 2005
298 300 29 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 36 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumll-
kerrecht S 331 30 UN ARES181 (II) 31 Draper in Koumlchler The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 32 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 8 33 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 274 Fn 8 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy
Places S 16
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
12
Die Jewish Agency eine Art Vorlaumluferregierung Israels war
mit dem Teilungsplan einverstanden die arabische Seite auf-
grund der Unproportionalitaumlt gemessen an der Bevoumllkerungs-
zahl dagegen nicht34
II Erster Arabisch-Israelischer Krieg
In der Folge des nach der Proklamation des Staates Israels am
14051948 (dem Tag des Mandatsendes) ausbrechenden Kriegs
zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde das haupt-
saumlchlich juumldisch bevoumllkerte West-Jerusalem von Israel und Ost-
Jerusalem wo uumlberwiegend Araber lebten von Jordanien mili-
taumlrisch besetzt35 Die Besetzungen werden teils schon als fakti-
sche Annexionen beider Seiten36 und als stillschweigend von der
UNO akzeptiert angesehen37 Als Annexion wird der einseitige
Akt eines Staates bezeichnet durch den dieser gegen den Willen
eines fremden Staates dessen Staatsgebiet zu seinem eigenen
macht38 Selbst wenn das Schweigen der UNO als Duldung in-
terpretiert wird kann sich diese nur auf das Vorliegen der de
facto Autoritaumlt beziehen und nicht die Anerkennung voll ausge-
reifter Souveraumlnitaumlt begruumlnden39 Die Aufteilung in West- und
Ostjerusalem wurde Teil des Waffenstillstandsabkommens vom
441949 zwischen Israel und Jordanien und als sog bdquogruumlne Li-
nieldquo bekannt40 Sie ist die Grundlage anerkannter politischer
faktischer Souveraumlnitaumlt41 Am 23011950 erklaumlrte Israel Jerusa-
lem zu seiner Hauptstadt und siedelte seine Regierung in West-
jerusalem an42 Damit schafft Israel vollendete Tatsachen mit
der Absicht der Dauerhaftigkeit (fait accompli) was einer de-
facto Annexion gleichkommt43
III Sechstagekrieg
Bei diesem Status der Teilung zwischen Ost- und Westjerusalem
blieb es bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 bei dem Israel
nach einem Uumlberraschungsschlag Ostjerusalem eroberte in
seine Verwaltung eingliederte44 Ob Israel oder seine Gegner
letztlich Aggressor des Sechstagekriegs waren ist bis heute um-
stritten45 Jedoch betont der Sicherheitsrat die Unzulaumlssigkeit
des Gebietserwerbs durch Krieg ohne bei der Formulierung auf
Aggression abzustellen46 Somit spielt es keine Rolle wer letzt-
lich Aggressor war denn klar ist dass die Besetzung Ostjerusa-
lems durch Waffengewalt erreicht wurde47
34 Saperia in Journal of East Asia and International Law Vol 3 Nr 1 2010
175 177 35 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 279 Cattan Palestine and International Law The Le-
gal Aspects of the Arab-Israeli Conflict S 23 f Korman The Right to Con-
quest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 36 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 25 37 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 23 38 HailbronnerKau in Vitzthum Voumllkerrecht 2010 RN 137 39 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 281 40 42 UNTS 303 No 656 41 Korman The Right to Conquest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 42 UN DPI2276 Chapter 12 S 4 43 vgl IGH Wall in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 121 44 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 Cassese The Human Dimension of International Law Sel-ected Papers of Antonio Cassese 2008 272 284
Der UN Sicherheitsrat forderte zur sofortigen Beendigung
aller kriegerischen Aktivitaumlten und zum Ruumlckzug der israeli-
schen Streitkraumlfte aus (den) im juumlngsten Konflikt eroberten Ge-
bieten48 auf Dass auf zuvor besetzte Gebiete kein Bezug ge-
nommen wird wird als de facto Anerkennung der Souveraumlnitaumlt
innerhalb der vor dem Sechstagekrieg bestehenden faktischen
Grenzen gewertet49
IV Die Annexion Ostjerusalems durch Israel
Die de-jure Annexion folgt mit dem sog Jerusalemgesetz50
1980 welches rechtliche Anspruumlche auf die ganze Stadt als
ewige und unteilbare Hauptstadt Israels erhob51 Israel verstoumlszligt
damit gegen das in Art 2 (4) der UN-Charta festgelegte Gewalt-
verbot und gegen die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung52
Der Sicherheitsrat forderte Israel auf vom Festhalten an einer
Politik und an Maszlignahmen abzusehen die sich auf den Status
Jerusalems auswirken53 Als Israel dem nicht Folge leistete er-
klaumlrte der Sicherheitsrat das Jerusalemgesetz fuumlr null und nichtig
und forderte alle Mitgliedstaaten auf bestehende diplomatische
Vertretungen aus der heiligen Stadt abzuziehen54 Die rechtlich
bindende Resolution des Sicherheitsrates verurteilt eindeutig
das Vorgehen Israels als voumllkerrechtswidrig Es bestehen keine
Souveraumlnitaumltsrechte Israels auf Ostjerusalem
V Souveraumlnitaumltsanspruumlche der Palaumlstinenser
Auf der anderen Seite begruumlndeten die Palaumlstinenser ihren An-
spruch auf Jerusalem als Hauptstadt eines zukuumlnftigen unabhaumln-
gigen Staates vor allem damit dass vor der massenhaften Aus-
wanderung vieler Juden aus allen Laumlndern Europas waumlhrend des
Holocaust nach Israel Muslime die groumlszligte Bevoumllkerungsgruppe
im Gebiet des historischen Palaumlstina waren Koumlnig Hussein von
Jordanien erklaumlrte im Juli 1998 den Verzicht Jordaniens auf
Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Jerusalem und das Westjordanland
zugunsten der 1964 gegruumlndeten Palaumlstinensischen Befreiungs-
organisation PLO55 Diese wird seit 1974 von der Generalver-
sammlung als legitime Repraumlsentation des Volkes anerkannt56
45 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 46 SRES233 47 Wright in The Americal Journal of Internatinal Law Vol 64 Nr 2 1970
270 270 48 SRES242 engl from territories frnz des territoires 49 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 252 50 Basic Law Jerusalem Capital of Israel Sefer Ha-Chukkim No 980 of the
23th Av 5740 (5 August 1980) S 186 Englische Fassung unter httpswwwknessetgovillawsspecialengbasic10_enghtm (Stand
24022019) 51 Dawidowitz in Crawford ua The Law of International Responsibility Ox-ford Commentaries on International Law 2010 677 681 52 Randelzhofer in Simma The Charter of the United Nations A Commentary
Art 2 S 74 RN 14 53 SRES476 54 SRES478 55 Paech in Das Argument 321 59 Jahrgang Heft 12017 91 100 56 Shaw International Law 2017 196 ARES3236 (XXIX) APV2282
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
13
Am 15111988 rief die PLO in Algier den Staat Palaumlstina aus57
Die Staatsqualitaumlt Palaumlstinas ist jedoch umstritten Zum einen ist
trotz des jordanischen Verzichts die genaue Territorialhoheit zu
unbestimmt zum anderen ist das Ausuumlben einer effektiven
Staatsgewalt zweifelhaft58 Seit Ende 2012 erkennt die UNO Ge-
neralversammlung Palaumlstina als non-member observer state an
was als Vorstufe zur Vollmitgliedschaft gilt59 In der entspre-
chenden Resolution wird Jerusalem als Hauptstadt zweier Staa-
ten bezeichnet Die Weltgemeinschaft haumllt also am Streben nach
einer Zwei-Staaten-Loumlsung fest Eine Vollmitgliedschaft in der
UNO scheiterte bisher trotz der begruumlszligenden Haltung der Gene-
ralversammlung60 am Veto der USA im Sicherheitsrat61
VI Zwischenfazit
Die Darstellung zeigt dass der Status der Stadt nicht nur um-
stritten sondern noch ungeklaumlrt ist Eine verbindliche einver-
nehmliche Regelung gab es nicht Die exakten Souveraumlnitaumltsver-
haumlltnisse in Jerusalem befinden sich nach wie vor im Schwebe-
zustand Trotzdem ist Jerusalem die de facto Hauptstadt Israels
Israels Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Westjerusalem sind weniger
umstritten als diejenigen auf Ostjerusalem Durch die rechtliche
Anerkennung der Veraumlnderung des Status Ostjerusalems durch
die uumlberwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft oder durch
Organe der UN mit entsprechen Kompetenzen koumlnnte die zu-
naumlchst illegitime Autoritaumlt Souveraumln werden62 Dies meint nicht
die Genese von Staatlichkeit im Sinne der konstitutiven Theorie
sondern die Entstehung von Voumllkergewohnheitsrecht
E Trumps Politik und ihre voumllkerrechtlichen Grenzen
I Hintergruumlnde das Verhaumlltnis der USA und Israel
Die Ambiguitaumlt zwischen dem bisherigen Abstimmverhalten der
USA in der UNO und dem ploumltzlichen Umschwenken durch
Trump hat ihren Ursprung in der Gewaltenteilung63 Waumlhrend
die Exekutive oftmals im Einklang mit Haltung der Staatenge-
meinschaft handelte unternahm die nationale Legislative Ver-
suche sie hieran zu hindern64 Die Anerkennung der Rechtmauml-
szligigkeit des Status quo ist in der US-Politik kein Novum inner-
halb der Exekutive und auf auszligenpolitischer Ebene dagegen ist
Trumps sympathisierende Haltung eine Kehrtwende
Die US-amerikanische auszligenpolitische Haltung laumlsst sich
dahingehend zusammenfassen dass keine entschiedene Position
57 Unabhaumlngigkeitserklaumlrung des Staates Palaumlstina in Algier 15111988 Deut-
sche Fassung abrufbar unter der Webpraumlsenz der diplomatischen Mission Palaumls-
tinas in Deutschland httppalaestinaorguploadsmediaunabhaengigkeitser-klaerungpdf (Stand24022019) 58 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 138 59 ARES6719 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und
Voumllkerrecht Band 30 2016 173 190 60 ARES6719 61 A66371 S2011592 23 62 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 286 63 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 64 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 65 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 2 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
bezuumlglich des Status Jerusalems bezogen wurde denn dieser
solle in kuumlnftigen Verhandlungen der beteiligten Parteien fest-
gelegt werden Die Anerkennung Israels durch US-Praumlsident
Truman begruumlnde keine Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt
uumlber Jerusalem65 Eine Anerkennung Israelischer Souveraumlnitaumlt
unterblieb sogar bezuumlglich West-Jerusalems aufgrund von
Zweifeln an der Faumlhigkeit zur tatsaumlchlichen Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung66 wenngleich die USA Jerusalem als de facto Hauptstadt
Israels anerkannten67
Eine klarere Position vertrat der legislative Zweig Im Kon-
gress herrschte die Auffassung Jerusalem sei die rechtmaumlszligige
Hauptstadt Israels68 was zudem der uumlberwiegenden Auffassung
der US-amerikanischen Bevoumllkerung entspricht69 Diese Sicht-
weise versuchte der Kongress der Exekutive durch eine Reihe
von Gesetzesinitiativen aufzudraumlngen70 Der Jerusalem Em-
bassy Act of 1995 sieht die Verlegung der US-Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem vor71 Jedoch liegt die verfassungsmaumlszligige
Entscheidungshoheit uumlber die Anerkennung beim Praumlsidenten
da nur die Exekutive Zugriff auf alle entscheidungsrelevanten
Informationen hat72 Daher musste der Act mit einer Klausel er-
lassen werden welche die Moumlglichkeit eines Aufschubs durch
den Praumlsidenten zur Wahrung der nationalen Sicherheit um je-
weils sechs Monate vorsieht73 Von diesem Vollstreckungshin-
dernis machten die US-Praumlsidenten seit 1995 Gebrauch Die
Botschaftsverlegung und Anerkennung der Hauptstadt ist eine
politische Entscheidung keine diplomatische Trump beugt sich
dem Druck der Legislative und erfuumlllt ein Wahlkampfverspre-
chen
II Die Vereinbarkeit von Trumps Vorgehen mit dem voumllkerrechtlichen Status Jerusalems
Die Frage nach der voumllkerrechtlichen Vereinbarkeit muss be-
zuumlglich der Anerkennung als Hauptstadt und der Verlegung der
Botschaft getrennt beantwortet werden
1 Die Anerkennung als Hauptstadt
a) Gesamtjerusalem als Gegenstand der Anerkennung
66 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 340 67 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 838 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 68 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839-40 69 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 70 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 71 Jerusalem Embassy Act of 1995 Sec 3a (3) 3b httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 72 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 10 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 73 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 6 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
14
Die Anerkennung von Israels Wahl seiner Hauptstadt ist nicht
gaumlnzlich neu Bereits am 6042017 erklaumlrte Russland Westje-
rusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen Gleichzeitig
wurde das Bestreben bekraumlftig Ostjerusalem solle die Haupt-
stadt eines kuumlnftigen Palaumlstinensischen Staates werden74 Trump
signalisierte ebenfalls seine weiterhin bestehende Unterstuumltzung
der Zwei-Staaten-Loumlsung und betonte keine Position zum fina-
len Status zu beziehen insbesondere nicht bezuumlglich der spezi-
fischen Grenzen israelischer Souveraumlnitaumlt75 Das erscheint je-
doch widerspruumlchlich da er gleichzeitig nicht zwischen Ost-
und Westjerusalem unterscheidet Wenngleich er sich nicht di-
rekt auf das Jerusalem in der israelischen Sichtweise bezieht
handelt er in Ausfuumlhrung des Jerusalem Embassy Act welcher
Jerusalem als bdquowiedervereintldquo durch die Folgen des Sechstage-
krieges bezeichnet76 Ferner bezieht er sich auf die tatsaumlchlich
bestehende Herrschaft Israels welche sich ebenfalls auf die ge-
samte Stadt erstreckt Im Wortlaut seiner Erklaumlrung vom
6122017 findet sich keine Unterscheidung zwischen Ost und
West und schon im Wahlkampf hatte er eine Anerkennung der
ungeteilten Stadt angekuumlndigt77
b) Anerkennung faktischer Souveraumlnitaumlt
Trump betont ndash ebenso wie die Botschafterin der USA bei der
UNO Nikki Haley ndash uumlber den finalen Status der Stadt also auch
uumlber die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse kein Urteil faumlllen zu wol-
len78 Es stellt sich folglich die Frage ob die Anerkennung oder
Akzeptanz der faktischen Situation von der Anerkennung recht-
licher Souveraumlnitaumlt zu unterscheiden ist Jedoch ist die Wahl der
Hauptstadt Ausdruck des inneren Souveraumlnitaumltsrechts Waumlhrend
de facto Herrschaft ohne rechtliche Souveraumlnitaumlt bestehen kann
ist die Wahl der Hauptstadt Ausdruck von Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung braucht daher einen Rechtsgrund Somit kommt eine An-
erkennung faktischer Souveraumlnitaumlt nicht in Betracht ohne zu-
gleich eine anerkennende Haltung bezuumlglich voll ausgereifter
Souveraumlnitaumltsrechte zu treffen
c) Anerkennung rechtlicher Souveraumlnitaumlt
Anknuumlpfend an das Abstellen auf tatsaumlchlich bestehende Herr-
schaftsverhaumlltnisse koumlnnte die Argumentation zur Rechtmaumlszligig-
keit der Anerkennung mit dem aus dem roumlmischen Recht stam-
menden Grundsatz uti possidetis ita possidetis (wie ihr besitzt
so sollt ihr besitzen)79 begruumlndet werden Das Prinzip baut auf
das Vorliegen rechtlicher Eingestaumlndnisse des vormaligen Sou-
74 Foreign Ministry statement regarding Palestinian-Israeli settlement
6 April 2017 httpwwwmidruenforeign_policynews-asset_pub-lishercKNonkJE02Bwcontentid2717182p_p_id=101_INSTANCE_cKNon-
kJE02Bwamp_101_INSTANCE_cKNonkJE02Bw_languageId=en_GB (Stand
24022019) 75 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember
2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-jerusalem (Stand 24022019) 76 Jerusalem Embassy Act Sec 2 (6) httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 77 Dpa Trump wuumlrde ganz Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen Suumld-
deutsche Zeitung Meldung vom 25 September 2016 2207
httpwwwsueddeutschedenewspolitikwahlen-trump-wuerde-ganz-jerusa-lem-als-hauptstadt-israels-anerkennen-dpaurn-newsml-dpa-com-20090101-
160925-99-587350 (Stand 24022019) 78 SC13125 79 Torres Bernaacuterdez FS-Zemanek 1994 417 421
veraumlns zu einem bestimmten entscheidungserheblichen Zeit-
punkt auf80 Im Fall israelischer Gebietsanspruumlche uumlber Ostjeru-
salem fehlt es an diesen beiden Faktoren Bezuumlglich auf Westje-
rusalem begrenzte Souveraumlnitaumltsanspruumlche koumlnnte das Waffen-
stillstandsabkommen von 1949 herangezogen werden81 Die
bdquogruumlne Linieldquo koumlnnte dabei das territoriale Eingestaumlndnis sein
Jedoch wird der uti possidetis Grundsatz von konkreten voumllker-
rechtlichen Vereinbarungen verdraumlngt82 Eine solche besteht fuumlr
Jerusalem durch das Waffenstillstandsabkommen von 194983
Somit schlaumlgt auch die Anwendung des uti possidetis Prinzips
unter Hinzuziehung des Effektivitaumltsgrundsatzes fehl
Waumlhrend Mitte des 20 Jahrhunderts der gewohnheitsrecht-
liche Standard anerkannt war gewaltsame Gebietsaumlnderungen
fuumlr rechtmaumlszligig anzuerkennen laumlsst sich dies heute nicht mit der
Pflicht zur Nichtanerkennung unrechtmaumlszligiger Situationen ver-
einbaren84 Insbesondere bei der Bildung von Voumllkergewohn-
heitsrecht hat das Faktische eine normative Kraft es schafft je-
doch kein Recht85 Dies wird von Trump grundlegend verkannt
Auf die Abkehr von dem Prinzip ex factis ius oritur wurde be-
reits eingegangen86 Rechtliche Wirkung entfalten allein voumllker-
rechtliche Normen Die vorangegangenen Ausfuumlhrungen und
die Untersuchung des voumllkerrechtlichen Status Jerusalems zei-
gen dass es keine entsprechende voumllkerrechtliche Fundierung
fuumlr die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gibt das
Voumllkerrecht dem sogar klar entgegensteht
Es wird diskutiert ob die Pflicht zur Nicht-Anerkennung un-
mittelbar anwendbar ist sobald die ausloumlsenden Tatbestandsvo-
raussetzungen vorliegen oder ob es eines entsprechenden Hin-
weises einer unparteiischen Autoritaumlt bedarf um zu verhindern
dass sich einzelne Staaten als Schiedsrichter aufspielen87 Die
Frage eruumlbrigt sich da entsprechende Resolutionen der UNO
vorliegen Es spielt keine Rolle dass die unrechtmaumlszligige Anne-
xion bereits fast 40 Jahre zuruumlck liegt denn die Pflicht zur
Nichtanerkennung ist in ihrer Dauer unbegrenzt88
Somit konnte zeigt sich im Ergebnis die Unvereinbarkeit ei-
ner Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt uumlber Gesamtjerusa-
lem mit dem Voumllkerrecht
2 Die Verlegung der Botschaft
Davon getrennt ist abschlieszligend noch die Frage zu klaumlren ob
auch die Botschaftsverlegung gegen das Voumllkerrecht verstoumlszligt
Die Nichtigkeitserklaumlrung des Jerusalemgesetzes beinhaltete
80 Nesi in Max Planck Encyclopedia of International Public Law 2011 Uti Pos-
sidetis Doctrine RN 10 81 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumll-
kerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht
Band 30 2016 173 181 82 Blumenwitz FS Wuumlrzburg 2002 377 381 83 42 UNTS 303 No 656 84 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues and uncertainties S 7 85 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumllkerrecht S 69 bezugnehmend auf
Jellineks allgemeine Staatslehre 86 Vgl oben (Fn22) H Lauterpacht Recognition in International Law S 426 87 Vgl Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger
Gebietsaumlnderungen S 146 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contempo-rary international law issues and uncertainties S 12 f 88 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 18
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
15
auch die Aufforderung des Sicherheitsrates an alle Nationen die
diplomatische Missionen in Jerusalem aufgebaut hatten diese
aus der heiligen Stadt abzuziehen89 Daraufhin verlegten alle 13
in Jerusalem diplomatisch vertretenen Nationen ihre Botschaf-
ten nach Tel Aviv90 Jedoch trifft die entsprechende Resolution
keine Aussage uumlber die Dauerhaftigkeit des Ruumlckzugs Somit ist
zu fragen ob es daher grundsaumltzlich ausgeschlossen ist wieder
Botschaften nach Jerusalem zu verlegen Die Pflicht zur Nicht-
Anerkennung umfasst auch die Pflicht Handlungen zu unterlas-
sen die eine Anerkennung implizieren koumlnnten91 In Jerusalem
befinden sich unter anderem Generalkonsulate von Italien Grie-
chenland Groszligbritannien Frankreich und den USA92 Jedoch
geht im Gegensatz zu einer konsularischen Mission von einer
Botschaft eine hohe symbolische Wirkung aus93 Dem konklu-
denten Inhalt dieser Symbolkraft muumlsste explizit widersprochen
werden anderenfalls muumlsste die Verlegung der Botschaft als
konkludente Anerkennungserklaumlrung von Israelischer Souverauml-
nitaumlt uumlber das Gebiet des Botschaftsstandorts verstanden wer-
den94 Wenngleich die meisten diplomatischen Missionen in den
Hauptstaumldten aufgebaut werden enthaumllt die Wahl des Bot-
schaftsstandorts fuumlr sich genommen auch keine Aussage uumlber
den Status einer Stadt als Hauptstadt auch die USA unterhalten
in einigen Laumlndern Botschaften auszligerhalb der anerkannten
Hauptstadt95 Es bestuumlnde die Moumlglichkeit die Botschaft nach
Westjerusalem zu verlegen wo die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
weniger umstritten sind96 Angekuumlndigt ist der Umzug in das be-
reits bestehende Konsulat in Arnona97 Das Viertel wird von der
Grenze zwischen Ost und Westjerusalem durchzogen Das US-
Konsulat befindet sich auf der Waffenstillstandslinie von 1949
Somit wuumlrde nicht inhaumlrent eine Anerkennung uumlber Souveraumlni-
taumltsverhaumlltnisse erfolgen
Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Verlegung der
Botschaft vor allem deshalb so hohe Bedeutung beigemessen
wird weil sie im selben Atemzug angekuumlndigt wird wie die An-
erkennung Gesamtjerusalems als Hauptstadt Israels und diese
somit symbolisch bekraumlftigt Fuumlr sich betrachtet waumlre ein Um-
zug moumlglich ohne die Grenzen des Voumllkerrechts zu uumlberschrei-
ten Dann muumlsste zugleich bekraumlftigt werden dass eine Aner-
kennung der Annexion von 1980 unterbleibt Der von Trump
gewaumlhlte Rahmen der Anordnung der Botschaftsverlegung ent-
haumllt jedoch eine konkludente Anerkennung Israelischer Souve-
raumlnitaumlt und verstoumlszligt damit gegen das Voumllkerrecht
III Internationale Bewertungen und Reaktionen
Als Reaktion auf Trumps Entscheidung sah ein von Aumlgypten
eingebrachter Resolutionsentwurf des Sicherheitsrates vor alle
89 SRES 478 90 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 53 91 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 15 92 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-saumlnderungen S 53 93 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 31 94 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 165 95 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839 Fn 11 96 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The Future of Jerusalem A Symposium 837 839 840
Nationen aufzufordern keine diplomatischen Missionen in Je-
rusalem aufzubauen die Abhaumlngigkeit des finalen Status Jeru-
salems von zukuumlnftigen Verhandlungen zwischen Israelis und
Palaumlstinensern zu betonen und juumlngste Entscheidungen die dem
entgegenstuumlnden zu verurteilen Auszligerdem sollten Trends die
die Zwei-Staaten-Loumlsung gefaumlhrden reversiert werden98 Der
Entwurf scheiterte am 18122017 durch das Veto der USA mit
einer 14-1 Abstimmung
Einen Tag spaumlter verabschiedete die Generalversammlung
mit 128 Ja-Stimmen 9 Nein-Stimmen und 35 Enthaltungen eine
Resolution mit aumlhnlichem Tenor Unter anderem rief sie alle
Mitgliedstaaten dazu auf den Aufbau diplomatischer Missionen
in Jerusalem zu unterlassen99 Eine direkte Erwaumlhnung und Ver-
urteilung der von Trump eingeleiteten Schritte erfolgte gleich-
wohl nicht Die Resolution ist rechtlich nicht bindend hat aber
Symbolcharakter Die Haltung der Staatengemeinschaft laumlsst
sich als Verurteilung des Nichtnachkommens der voumllkerrechtli-
chen Pflicht die Annexion Ostjerusalems von 1980 nicht anzu-
erkennen qualifizieren
Die Reaktionen zeigen zudem dass die internationale Staa-
tengemeinschaft Trumps Entscheidungen fuumlr die weitere Ent-
wicklung des Nahostkonflikts fuumlr nicht friedensfoumlrderlich haumllt
was zumindest zunaumlchst durch die weitere Entwicklung bestaumltigt
wurde In den Tagen nach Trumps Verkuumlndung kam es in Jeru-
salem vermehrt zu Gewalt Palaumlstinensische Extremisten kuumln-
digten bdquoTage des Zornsldquo an100 Am Tag der Botschaftsverlegung
am 15052018 kam es zu Ausschreitungen mit Duzenden Toten
F Fazit
Jerusalems Sonderrolle als heilige Stadt dreier Weltreligionen
bringt eine emotionale Aufladung des Konflikts mit sich und er-
schwert den Friedensprozess da scheinbar wichtigere Werte das
Ziel in den Schatten stellen101 Fuumlr eine Internationalisierung
konnten sich beide Seiten nicht begeistern102 Ein beidseitiger
Verzicht auf Jerusalem als politische Hauptstadt koumlnnte der Son-
derrolle der Stadt als religioumlse Staumltte am besten gerecht werden
den Konflikt durch Vermeidung von Provokationen emotional
entladen und so den Friedensprozess foumlrdern
Die Autorin studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaf-ten an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg mit dem Schwerpunkt bdquoDeutsches Europaumlisches und Internationales Oumlffentliches Rechtldquo Der Beitrag beruht auf einer Studienarbeit im Rahmen des Seminars bdquoGrundlagen und Grenzen staatlicher Souveraumlnitaumlt ndash aktuelle Prob-leme und voumllkerrechtliche Loumlsungenldquo bei Frau Prof Dr Voumlneky im Sommersemester 2018
97 Nauert Heather Press Statement Opening of US Embassy in Jerusalem
23 Februar 2018 httpswwwstategovrpaprsps201802278825htm
(Stand 24022019) 98 S20171060 99 AES-10L22 100 Reuters Israeli minister sees Trump sbquohintlsquo at Jerusalem Partition with Pales-tinians 8 Dezember 2017 httpswwwreuterscomarticleus-usa-trump-is-
rael-partitionisraeli-minister-sees-trump-hint-at-jerusalem-partition-with-pa-
lestinians-idUSKBN1E21OL (Stand 24022019) 101 Wilson in Middle East Journal Vol 23 No 1 1969 1 1 StoverMankaryous
in International Journal on World Peace Vol 25 Nr 4 Dezember 2008 115
129 102 Ben-DrorZiedler in Diplomacy amp Statecraft Volume 26 2015 636 639
Praktikanten Referendare Wissenschaftliche Mitarbeiter (mw)
Eins drauflegenWas gute Juristen noch besser macht
Besondere Talente verdienen besondere Foumlrderung Fuumlr diesen Anspruch steht unsere ReferendarAcademy Als eine der weltweit fuumlhrenden Anwaltssozietaumlten sind wir immer auf der Suche nach hochqualifizierten Nachwuchskraumlften (mw) fuumlr unsere Buumlros in Duumlsseldorf Frankfurt am Main und Muumlnchen Ausgezeichnete Examina und exzellentes Englisch setzen wir dabei voraus Im Rahmen unserer ReferendarAcademy bieten wir Ihnen als Referendar u a in Zusammenarbeit mit dem Repetitorium KAISERSEMINARE Intensivkurse zur Vorbereitung auf das Assessorexamen einen Uumlber blick uumlber unsere Rechts be reiche und eine Einfuumlh rung in relevante Business Skills Fuumlr die stetige Weiter bildung un-serer Anwaumllte sorgt die Clifford Chance Academy
Erfahrene externe und interne Referenten informieren uumlber aktuelle juristische Entwick lungen und ver mitteln Faumlhigkeiten und Kenntnisse die fuumlr eine Berater per-soumln lichkeit entscheidend sind Haben wir Ihr Inter esse ge weckt Wir freuen uns uumlber Ihre Bewerbung per E-Mail an karrierecliffordchancecom Ihre Ansprech partnerin Nicola von Tschirnhaus 069 7199-4477
Career starts with CInformationen zu uns und der ReferendarAcademy wwwclif fordchancecomkarriere
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 17
Die Problematik der europaumlischen Demokratie und
die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGHs
-
von Soma Hegedős
Abstract
Eine Kardinalskritik in Bezug auf die Funktionsweise der
EU ist dass die EU eine bdquoantidemokratischerdquo Institution sei
sowie dass die Buumlrgerschaft der Mitgliedsstaaten ihre
Entscheidungen kaum beeinflussen kann Von diesem kri-
tischen Aspekt ausgehend wird die Beziehung zwischen
Demokratie und der EU unten ndash umfassend - untersucht
Ein zentraler Aspekt dieser Untersuchung ist die genaue
Betrachtung des Status und der Kompetenzen des EuGH
und zwar vor allem aus zweierlei Gruumlnden Zum einen ist
ein entscheidender Punkt der Kritiken die rechtsschoumlp-
fende Taumltigkeit des EuGH seit den Sechzigern bis heute
ohne ausreichende (demokratische) Legitimation Zum
anderen kann man mit der Pruumlfung seiner rechtsfortbilden-
den Taumltigkeit und seinen zur Rechtsschoumlpfung fuumlhrenden
Urteilsfeststellungen auch die Problematik der Demokratie
und der EU im Zeitalter der Globalisierung besser begrei-
fen
A Einleitung
Zahlreiche moderne Theoretiker - beispielsweise der ungarische
Gyula Mooacuter1 - sehen die Demokratie nicht nur als einen bloszligen
politikwissenschaftlichen Begriff oder eine Organisationsme-
thode von Gewalt an sondern als einen komplexeren Ausdruck
der auch die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen erklaumlren
kann Die Theorien die sich auf den pluralistischen Charakter
der Gesellschaften und des politischen Spektrums bzw auf die
Elitebildung fokussieren haben auf viele kritische Punkte hin-
gewiesen und in vielen Faumlllen die Durchfuumlhrbarkeit der Demo-
kratie infrage gestellt Nach ihren Thesen werden gewisse enge
Elitegruppierungen ndash fruumlher oder spaumlter ndash unmittelbaren Ein-
fluss auf die politischen Entscheidungen haben Hier ist die De-
mokratie-Vorstellung von Joseph Schumpeter zu erwaumlhnen in
deren Mittelpunkt der Konkurrenzkampf und der marktwirt-
schaftliche Wettbewerb stehen Schumpeter sieht das von den
Elitetheorien beleuchtete Problem darin so aufgeloumlst dass die
um die politische Macht kaumlmpfenden Eliten auch fuumlr die Voten
der Einzelnen kaumlmpfen muumlssen Und die Individuen koumlnnen
1 Vgl Gyula Mooacuter A demokraacutecia oumlrveacutenyei In Erdei-Fischer-Horvaacuteth
A demokraacutecia Egyetemi Nyomda Budapest 1945 s 96 ff 2 Vgl Schumpeter Joseph A Kapitalismus Sozialismus und Demokra-
tie A Francke Verlag Tuumlbingen 2018 S 365 ff 3 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie In Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 S 237
eben durch diesen um ihre Voten durchgefuumlhrten Wettbewerb
(bdquoKonkurrenzkampfldquo) Einfluss auf das oumlffentlichen Leben er-
werben2 Hans Kelsen hat es so gehalten dass diese Konfronta-
tion der Gerichte sowohl gegenuumlber der Gesetzgebung als auch
gegenuumlber der Regierung nicht stichhaltig sei Die strenge Tren-
nung der Gewalten schraumlnkt eben die Erfuumlllbarkeit des Volks-
willens ein3 Laut Giovanni Sartori sollte die Volksherrschaft
nach wie vor im Fokus einer demokratischen Staatsorganisation
stehen D h man muss auf solche Fragen eine sinnvolle Ant-
wort geben wie Was ist ein Volk uumlberhaupt und wie kann das
Volk den entscheidenden Einfluss auf die Herrschaft behalten4
In der Auffassung von Juumlrgen Habermas kann die Loumlsung dieser
Probleme durch die Institution eines Parlaments verwirklicht
werden5 In der Demokratie-Interpretation von Habermas ist we-
sentlich dass die zivile Gesellschaft eine tatsaumlchliche Kontrolle
uumlber die politische Sphaumlre und Verwaltung ausuumlbt und das Par-
lament ndash als Teil der Zivilgesellschaft - eine zentrale Rolle in
diesem Kontrollmechanismus spielt
Diese oben genannten Beispiele zeigen dass ein lebhafter
Diskurs uumlber die Interpretationsmoumlglichkeit und die Durchfuumlhr-
barkeit von Demokratie stattgefunden hat Das bdquoSortimentrdquo der
Vorstellungen uumlber die institutionelle Realisation der Demokra-
tie bdquoreicht von rousseauistischen uumlber elitenbezogene und plura-
listische sowie partizipationsorientierte Demokratiemodelle bis
hin zu den Spielarten marxistischer Staatstheorierdquo allerdings
darf das Erfordernis der Demokratie nicht ins bdquostaatstheoreti-
sche Ungewisse fuumlhrenrdquo ndash stellt Winfried Veil fest6 Daraus folgt
die Frage was jene festen Gedankengrundlagen sind aus denen
ein demokratisches Institutionsgefuumlge auch auf der europaumli-
schen ndash bzw transnationalen - Ebene konfiguriert werden kann
das zugleich auch uumlber rechtliche Bindekraft verfuumlgt
4 Vgl Sartori Giovanni DemokratietheorieWissenschaftliche Buchg
Darmstadt 1992 16 ff 5 Vgl Juumlrgen Habermas Faktizitaumlt und Geltung Frankfurt am Main
Suhrkamp 1992 S 430 ff 6 Veil Winfried Volkssouveraumlnitaumlt und Voumllkersouveraumlnitaumlt in der EU
Nomos Baden-Baden 2007 43
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 18
B Demokratiedilemma auf der Ebene der EU
I Das Europaumlische Parlament und die europaumlischen
Voumllker
Veil ndash die Situation vor dem in Kraft treten der Lissabon-Ver-
traumlge pruumlfend ndash sieht das so dass die Realisierung der Demokra-
tie auf EU-Ebene unter den heutigen gesellschaftlichen und po-
litischen Umstaumlnden keineswegs moumlglich sei Genauer gesagt
zweifelt er daran ob uumlberhaupt die Moumlglichkeit eines richtigen
europaumlischen repraumlsentativen Systems vorliegen koumlnne bdquo(hellip)
findet demokratische Repraumlsentation durch das Europaumlische
Parlament nicht statt Repraumlsentation erfordert naumlmlich mehr als
die bloszlige Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregelnrdquo7
Das Problem besteht einerseits im Mangel an einem europaumli-
schen bdquoDemosrdquo anderseits ist auch das Europaumlische Parlament
nicht dazu geeignet das Demos zu repraumlsentieren Die europaumli-
schen Voumllker sind nicht einheitlich weder kulturell noch
sprachlich noch politisch so kann der Diskurs der zum Funkti-
onieren der Demokratie unabdingbar notwendig ist nicht statt-
finden Es fehlt im Wesentlichen an der zur demokratischen
Meinungsbildung wichtigen bdquoBuumlhnerdquo zur Diskussion der Ange-
legenheiten auf Unionsebene Die Spannung zwischen dem Eu-
ropaumlischen Parlament und der Demokratie entsteht dadurch
dass die Kompetenzen des Europaumlischen Parlaments sehr be-
grenzt innerhalb der EU sind Aus diesem Grund kann das EP
den vom Demos durch die Wahlen ausgedruumlckten Volkswillen
nur eingeschraumlnkt zur Geltung bringen
Das andere grundlegende Problem ist der Verlauf der Euro-
pawahlen Das Ergebnis der Stimmabgabe spiegelt mehr die in-
neren Beziehungen der einzelnen Staaten den Zustand bdquoRegie-
rung-Oppositionrdquo ndash wieder als das Ergebnis jener gesellschaft-
lichen-politischen Dispute die uumlber die gemeinsamen bdquoeuropaumli-
schenrdquo Themen stattgefunden haumltten ndash eroumlrtert Veil8 Ein wei-
teres Dilemma ist die demokratische Legitimation der Instituti-
onen und Handlungen der EU genauer gesagt deren Mangels an
Legitimation Da die Subjekte des Voumllkerrechtes in erster Linie
die Staaten sind und die demokratische Legitimation von den
von Voumllkern begruumlndeten Staaten abgeleitet werden kann soll
die EU als spezieller sui generis Staatenverbund eine Parallelitaumlt
zwischen ihren Handlungen und dem Volkswillen aufweisen
Allerdings kann diese Parallelitaumlt in Bezug auf alle Hauptorgane
der EU nur schwach oder gar nicht nachgewiesen werden meint
Veil Zwar stellt dieser fest dass die demokratische Legitima-
tion nicht eine bdquoAlles oder Nichtsrdquo Frage sei vielmehr eine
bdquomehr oder wenigerrdquo Relation trotzdem bestreitet er ob uumlber-
haupt der akzeptable Mindestgrad der Legitimation jeglicher
EU-Organe noch vorhanden sei9 Umsonst kann man die insti-
tutionellen Grundlagen der EU mit voumllkerrechtlichen Vertraumlgen
sowie Volksabstimmungen legitimieren wenn die vertraglichen
Fundamente nicht mehr mit dem tatsaumlchlichen politischen Be-
trieb der EU vereinbart werden koumlnnen bdquoDas von den Gemein-
7 Veil aao S 157 8 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 9 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 10 Veil aaO S 273
schaftsvertraumlgen errichtete politische System deckt aber die lau-
fende Willensbildung der Gemeinschaftsorgane in legitimatori-
scher Hinsicht nicht mehr abrdquo ndash schreibt Veil10
II Demokratieverflechtung
Das sogenannte Lissabon-Urteil des deutschen BVerfG hat ver-
sucht auf diese Frage eine Antwort zu geben Ein Bundestagab-
geordneter hat 2008 eine Verfassungsbeschwerde gegen den
von Deutschland ratifizierten Vertrag von Lissabon bzw das
Bundesgesetz zum Vertrag von Lissabon eingereicht Nach der
Verfassungsbeschwerde wird der staatliche Charakter Deutsch-
lands mit dem Vertrag von Lissabon gefaumlhrdet zudem wurde
die Verletzung des Demokratiegebotes und das eigentliche Feh-
len der demokratischen Legitimation der EU moniert Das
BVerfG hat in seiner besonders detaillierten Begruumlndung darge-
legt dass auch der Vertrag von Lissabon das Problem des De-
mokratiedefizites nicht loumlsen koumlnne Paradoxerweise wurde zu-
gleich gesagt dass die EU keine bdquoDemokratiefaumlhigkeitrdquo besitze
und daruumlber hinaus darf sie keinen houmlheren Grad der Demokra-
tie disponieren als ihre Mitgliedstaaten Nach Marcus Houmlreth
wird als eine Folgerung des Urteiles die Problematik der sog
Demokratieverflechtung genannt Er begruumlndet dass die Sub-
jekte der demokratischen Legitimation weiterhin die Voumllker der
Mitgliedstaaten bleiben Die EU kann von der Legitimation
durch die mitgliedstaatlichen parlamentarischen Demokratien
nicht abruumlcken Aus diesem Grund ndash und aus der Gebundenheit
an das deutsche Verfassungsrecht ndash folgt dass der Wirkungs-
kreis der mitgliedstaatlichen Parlamente auf keinen Fall voll-
staumlndig ausgehoumlhlt werden darf Nach der Auffassung des deut-
schen BVerfG ist Demokratie ein Staatssystem in dem der
Mehrheitswille von den Parlamenten die durch die auf den glei-
chen Stimmrechten beruhenden Wahlen gewaumlhlt werden in
Form der Gesetzgebung und der Regierungsbildung kontinuier-
lich zur Geltung kommt Der Rahmen dieses Gefuumlges wird
dadurch gegeben dass es vor allem ein bdquoVolkrdquo gibt sowie eine
oumlffentliche Publizitaumlt die fuumlr das Volk die Diskussionen und den
Wettbewerb zwischen der Regierung und der Opposition trans-
parent abbilden kann Das Parlament kommt durch die mehr-
heitliche Entscheidung waumlhrend der Wahlen zustande was vor
allem den Wahlwillen der Bevoumllkerung abbildet und die Kapa-
zitaumlt hat den Volkswillen zu offenbaren Das deutsche BVerfG
hat sich in seiner Demokratieauffassung auf die parlamentari-
sche Souveraumlnitaumlt fokussiert und ausgesagt dass das Instituti-
onssystem der EU diesen Anforderungen nicht entspreche weil
die bdquoauszligerrechtlichen Voraussetzungenrdquo allzu unterentwickelt
sind Aus diesem Grund kann man die Demokratie auf EU-
Ebene nicht mit der nationalstaatlichen Stufe gleichsetzen ndash
fuumlhrt Houmlreth aus11
11 Marcus Houmlreth Die Demokratieverflechtungsfalle ndash Warum die EU
nach dem Lissabon-Urteil demokratisch defizitaumlr bleiben muss In
Lhotta ndash Ketelhut ndash Schoumlne Das Lissabon-Urteil Springer Fach-medien Wiesbaden 2013 S 48 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 19
III Wirtschaftliche Globalisierung und Demokratie
Auch die Machtstrukturen veraumlndern sich mit der Europaumlisie-
rung der Wirtschaft und der Gesellschaften wo Machtausuumlbung
zum bdquoRegierenrdquo wird das Regieren entterritorialisiert wird so
Richard Muumlnch Die Durchfuumlhrbarkeit der Demokratie er-
schwert sich mit der Relativierung der Machtausuumlbung uumlber
konkretes Gebiet und konkretes Volk Es gibt im Zentrum der
Politik nicht mehr den demokratischen Willen der sich durch
die politischen Dispute ausformt sondern die Entscheidungen
werden vom Wettbewerb determiniert Dementsprechend ndash
nach Muumlnch ndash vollzieht der EuGH das Programm der europaumli-
schen Liberalisierung und Individualisierung d h der Integra-
tion deren zentraler Handlungsbeauftragter er ist12 bdquoDie Insti-
tutionalisierung des transnationalen europaumlischen Rechtsraumes
ist in erheblichem Umfang das Werk des Europaumlischen Ge-
richtshofesldquo ndash meint Muumlnch13
Wegen der steigenden Bedeutung von der EU aumlhnlichen in-
ternationalen wirtschaftlichen Kooperationen beschaumlftigen sich
Wissenschaftler immer mehr mit Moumlglichkeiten der Durchsetz-
barkeit der Demokratie auf internationaler Ebene bdquojenseits des
Staatesldquo Drei wichtige Aspekte sind hier von groszliger Bedeu-
tung Der Mangel einer zentralen Macht (Regierung) und des
Parlamentes und die transnationale Transformation des oumlffentli-
chen Diskurses Diese drei Eckpunkte scheinen auch in Bezug
auf die demokratische Qualitaumlt der EU entscheidend zu sein die
unter den wichtigsten internationalen Zusammenschluumlssen ndash
wegen ihrer breiten Aufgabenbereiche und politischen Einfluumlsse
ndash den groumlszligten Demokratiebedarf hat14
C Richterrecht Juristokratie
Weltkonstitutionalisierung
I Richterrecht der politische Aktivismus des
Richters
Die Problematik des Richterrechts ist eine Achillesferse fuumlr die
demokratische Handlungsweise der unterschiedlichen richterli-
chen Foren (siehe z B bei Dworkin) Die Taumltigkeit der Verfas-
sungsgerichte sowie der internationalen Gerichtshoumlfe wurde
durch die richterliche bdquoRechtsschoumlpfungrdquo nunmehr so wesent-
lich dass man uumlber ein spezielles Phaumlnomen der sog bdquojuristo-
kratischenrdquo Tendenzen sprechen kann
Das Richterrecht ist ein altes Problem fuumlr die Rechts - und
Staatstheorie Fuumlr Friedrich Carl von Savigny der eine wichtige
Rolle in der Deutung des Richterrechtes gespielt hatte wurzelt
das Recht im bdquoVolksgeistrdquo als das Ergebnis einer geschichtli-
chen Entwicklung Der politische Aktivismus richtet sich nach
12 Vgl Muumlnch Richard Die Konstruktion der europaumlischen Gesellschaft
Zur Dialekt von transnationaler Integration und nationaler Desintegra-tion Campus Verlag FrankfurtNew York 2008 S 372 ff
13 Vgl Muumlnch aaO S 108 14 Vgl Dingwerth Klaus - Blauberger Michael - Schneider Christian
Postnationale Demokratie VS Verlag fuumlr Sozialwissenschaften Sprin-
ger Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden 2011 S 23 ff und
204 ff 15 Vgl Ruumlthers Bernd Die unbegrenzte Auslegung Mohr Siebeck
Auffassung von Philipp Heck letztendlich auf die Beeinflussung
der Gesetzgebung Wenn die Rechtsbildung durch die richterli-
che Rechtsprechung geschieht wird dem Richter also quasi eine
bdquopolitische Funktionrdquo verliehen Dies kann fuumlr die modernen
Demokratien wichtige Grundprinzipien verletzen das sind die
Konzeptionen uumlber die RechtssicherheitRechtstaatlichkeit und
das mit der Rechtsstaatsidee verbundene bdquogeschriebene Rechtrdquo
bzw bdquokodifizierte Rechtrdquo und die Idee der Gewaltenteilung Ob-
wohl die Ursachen der Abweichungen grundsaumltzlich historisch
sind kann der wesentliche bdquounuumlberwindbareldquo Unterschied zwi-
schen den Rechtskreisen common lawldquo und bdquocivil lawldquo immer
Sache von theoretischen Disputen sein15 bdquo(hellip) evolution of both
a codified and a judge made system of law is characterized by a
constant interplay between legislative and judicial actionrdquo ndash
schreibt Sauveplanne16 der meint ldquoa system of law must be cre-
ated and developed by the interaction between legislature and
judiciaryrdquo17
Es gibt unterschiedliche Ansichten die Substanz des Richter-
rechtes zu bestimmen Der Richter interpretiert das Recht nach
eigenen Anschauungen oder um es mit den Worten Bernd
Ruumlthers zu sagen bdquoder Richter stellt sich in einen Gegensatz zu
gesetzlichen Wertungenrdquo Die verbreitete Ansicht allerdings ist
dass das Richterrecht nichts anderes ist als Rechtsfortbildung in
einer bdquorechtsleerenrdquo Domaumlne sozusagen bdquounentdeckte Raumlumerdquo
die vom Gesetz noch nicht geregelt wurden Eine dritte bdquoweiter-
entwickelterdquo Auffassung uumlber das Richterrecht ist dass der
Richter die Luumlcken mit Wertungen ausfuumlllen soll wie zB im
Fall von Generalklauseln Mit dieser Ansicht verwandt ist der
vierte Typ ein Begriff der unterschiedliche Bedeutungen (In-
halt) haben koumlnnte und daher vom Richter konkretisiert wird18
II Richterrechttypologie und Luumlckenproblematik
Das Richterrecht bildet sich in allen Rechtsordnungen anders
heraus und ist von anderer Bedeutung In den zwei fuumlr die EU
so wichtigen Rechtsordnungen in der franzoumlsischen und deut-
schen gibt es Diskrepanzen im Vergleich in Bezug auf das
Richterrecht Man kann begrifflich das bdquoInterpretierenrdquo von der
bdquoRechtsfortbildungrdquo (Rechtsschoumlpfung) in der deutschen
Rechtstheorie abtrennen Der grundsaumltzliche Unterschied ist der
bdquoSchoumlpfercharakterrdquo der Rechtsfortbildung D h der Richter
uumlbertritt mit der Rechtsfortbildung die Textrahmen der Rechts-
norm waumlhrend er im Fall des Interpretierens nur den Textinhalt
erkennt Die Problematik der Rechtsluumlcke (siehe dazu mehr un-
ter II A) steht im Zentrum der Rechtsfortbildung d h eine Luuml-
cke die nicht vom Text des geschriebenen Rechts gedeckt ist
Diese Luumlcken koumlnnen verschiedenen Typs sein Einige Luumlcken
sind die Ergebnisse einer bewussten Entscheidung des Gesetz-
gebers der das Ausfuumlllen der Rechtsluumlcken der richterlichen
Rechtsprechung der Judikative uumlberlaumlsst In anderen Faumlllen ist
Tuumlbingen 2017 S 1 ff und 457 ff und JG Sauveplanne Codified
and judge made law The Role of Courts and Legislators in Civil and Common Law Systems North-Holland Publishing Company Amster-
dam Oxford New York 1982 16 Sauveplanne aaO S 25 17 Sauveplanne aaO S 28 18 Vgl Ruumlthers dazu aaO S 458 f und vgl Walter Kondrad Rechts-
fortbildung durch den EuGH Duncker amp Humblot Berlin 2009 S
41 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 20
die Luumlckenhaftigkeit der Regelung uumlberhaupt nicht absichtlich
Der Richter kann die Luumlcken mit seinen Beschluumlssen sozusagen
praeter legem (oder pactum) ausfuumlllen in diesem Fall wird die
Regelung im Endeffekt vom Richter ergaumlnzt Die Entscheidung
des Richters steht nicht gegen den moumlglichen Inhalt des Textes
obwohl sie nicht darauf basiert Der Beschluss geht im Fall der
bdquocontra legem (pactum)rdquo Rechtsfortbildung uumlber den Wortlaut
des Gesetzes (oder des Vertrages) hinaus oder steht im konkre-
ten Fall dem Gesetz diametral gegenuumlber Sowohl die Rechts-
fortbildung als auch die bdquoInterpretationrdquo kann in der franzoumlsi-
schen Rechtsordnung im Rahmen der sog bdquoInterpreacutetationrdquo statt-
finden Zudem ist das ein wesentlicher Unterschied im Ver-
gleich zum deutschen System dass also auch die Interpretation
zur Rechtsschoumlpfung fuumlhren kann Die Praxis des EuGHs fokus-
siert sich auf die bdquoInterpreacutetationldquo-Auffassung er macht also kei-
nen terminologischen Unterschied zum franzoumlsischen Recht
Allerdings ist eine inhaltliche Distinktion moumlglich Die Trennli-
nie befindet sich zwischen der Auslegung und Rechtsfortbil-
dung sodass die Auslegung innerhalb des Rahmens eines moumlg-
lichen Wortsinnes noch zumindest mit einer Sprachfassung bdquoab-
gedecktldquo werden kann Dagegen entspricht die Rechtsfortbil-
dung semantisch nicht mehr dem Wortsinn entweder ergaumlnzt sie
die vertraglichen Vorschriften oder die richterliche rechts-
schoumlpfende Taumltigkeit kann nicht mehr mit dem Vertragszweck
parallelisiert werden Ernsthafte Kritiken richten sich konkreter
auch gegen die richterliche Rechtsetzung des EuGHs teilweise
auch von diesem Gesichtspunkt Nach einigen Stellungnahmen
sollten die Grenzen seiner rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit bzw
seiner speziellen Befugnisse ausdruumlcklich in den Vertraumlgen be-
stimmt werden Man darf daher das bdquoVertragswerkldquo des Unions-
rechtes nur als unvollstaumlndig betrachten und die Rolle des
EuGHs als bdquoLegislativorganldquo nur beschraumlnkt akzeptieren19
III Vom Richterrecht zur Juristokratie
Das Problem ist dass die Rechtsauslegungsbefugnisse der Ver-
fassungsgerichte und der internationalen Gerichte immer staumlrker
mit Skepsis betrachtet werden Das Richterrecht das als Ergeb-
nis der richterlichen Rechtsauslegung entsteht erlangt nach ei-
nigen kritischen Betrachtungen nahezu so groszlige Bedeutung
dass man schon uumlber systemumfassende Veraumlnderungen dh
uumlber den Uumlbergang von Demokratie zur Juristokratie von der
Rechtsstaatlichkeit zur sog juristokratischen Regierungsform
sprechen kann Beacutela Pokol ungarischer Verfassungsrichter hat
diese Tendenz vor allem auf der Ebene der Taumltigkeit des Verfas-
sungsgerichtes nachgewiesen Diese Tendenz hat nach Pokol
politische und rechtstheoretische Gruumlnde Rechtstheoretischer
Grund sei zum Beispiel die Ruumlckkehr des weltlichen Natur-
rechts sowie die Staumlrkung der Auffassung uumlber die auf moral-
philosopischer Argumentation basierenden Menschenrechte ndash
19 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff (45-111) und Mittmann Patrick Die
Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europaumlischen Gemein-
schaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europaumlischen Union Peter Lang GmbH Frankfurt am Main 2000 S 235-244 und
S 269 20 Vgl Beacutela Pokol Der juristokratische Staat die Zerlegung seiner As-
pekte Nemzeti Koumlzszolgaacutelati Egyetem Working papers on state Gov-
ernance and Administration 201611 httparchivuni-nkehuup-
loadsmedia_itemsbela-pokol-der-juristokratische-staat-die-zerlegung-
schreibt Pokol20 Man kann unter anderem auch die Ausbreitung
der Rechtsauslegungsmoumlglichkeiten von den Gerichten her klas-
sifizieren die die starke Bindung der Rechtsprechung an den
Gesetzestext gelockert haben Die Grundlage dieser Wandlung
ist dass die Richter im Laufe der Interpretation nicht mehr das
gesucht haben was die subjektive Absicht der Gesetzgebung ge-
wesen ist sondern das was aufgrund der bdquoobjektiven Rationali-
taumltrdquo Ziel gewesen sein koumlnnte Eine dritte Seite dieser Veraumlnde-
rung ist die strukturelle Staumlrkung der Verfassungsgerichte ge-
genuumlber den Parlamenten Die Verfassungsgerichte konnten mit
actio popularis d h mit den gegen die Parlamente anwendbaren
einem dem Vetorecht aumlhnlichen Mittel Entscheidungen der Par-
lamente revidieren
bdquoAuf diese Weise verwandelt sich die Triple-Struktur der Poli-
tikStaatsverwaltungJustiz in die doppelte Struktur der durchpolitisier-
ten Justiz (mit dem Verfassungsgericht an der Spitze) und der unterwor-
fenen oumlffentlichen Verwaltung Die demokratischen Wahlen und die
durch sie entstehende legislative Mehrheit funktionieren nur als legiti-
mierender Schleier uumlber die tatsaumlchliche Machtausuumlbungrdquo
ndashPokol21
IV Juristokratische Tendenzen auf der
internationalen Buumlhne
Man kann die besondere Bedeutung und die immer staumlrker wer-
dende Tendenz der richterlichen Rechtsschoumlpfung auch auf in-
ternationaler Ebene wahrnehmen Von Bogdandy und Venzke
vertreten den Standpunkt dass die Arbeit der internationalen
Gerichte von bdquointernationaler Gerichtsbarkeitrdquo in einfache
Streitbeilegungsverfahren umbenannt werden sollte22 Der
Grund dafuumlr ist dass diese internationalen richterlichen Foren
wirklich mehr Funktionen erfuumlllen als nur das Schlichten diver-
ser Streitigkeiten zwischen Staaten Diese Funktion besteht zum
einen darin dass das Rechtsgefuumlhl d h die normative Kalkula-
tion und das Rechtsbewusstsein der Staaten und der internatio-
nalen Organisationen staumlrker wird Zu diesem Thema gehoumlrt
gleichermaszligen dass die staatlichen Akte aufgrund der Recht-
sprechung der internationalen Gerichte nach einem voumllkerrecht-
lichen Maszligstab uumlberpruumlft werden und wenn sie dieser Uumlberpruuml-
fung standhalten zugleich legitimiert werden koumlnnen beispiels-
weise dadurch dass sie den internationalen Standards entspre-
chen Dies entspricht der bdquoKontroll und Legitimationrdquo-Funktion
von Von Bogdandy Die wichtigste Rolle der internationalen
Gerichtshoumlfe ist die Rechtsschoumlpfung die mit den zwei anderen
oben genannten Funktionen in einem engen Zusammenhang
steht Zwei Typen der Rechtsschoumlpfung werden von von
Bogdandy unterschieden Der erste Typ ist die richterliche
Rechtsschoumlpfung in konkreten Streitfaumlllen Eine solche ist zum
seiner-aspekte-von-bela-pokoloriginalpdf S 18 Ff (2018 oktoacuteber
12) 21 Pokol aaO S 3 22 Von Bogdandy Armin ndash Venzke Ingo bdquoInternationale Streitbeteili-
gungldquo oder bdquointernationale Gerichtsbarkeitldquo In Arbeitspapiere Goe-
the Universitaumlt Frankfurt am Main 20164 httppublikatio-nenubuni-frankfurtdefrontdoorindexindexdocId39019 (2018 ok-
toacuteber 15)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 21
Beispiel die breitere Interpretation des Verbotes der Gewaltan-
wendung nach Artikel 2 der UNO-Charta im sog Nicaragua-
Urteil des Internationalen Gerichtshofs Der andere Typ der
Rechtsschoumlpfung ist die systemweite und bewusste Taumltigkeit
solcher internationalen meistens bdquoregional taumltigenrdquo sowie spe-
zialisierten Gerichte die das Rechtssystem in der mit Ihnen ver-
bundenen Sphaumlre mit Prospektivitaumlt bestimmen wollen Bei-
spiele dafuumlr sind gewisse Verfahrensregelungen seitens des Eu-
ropaumlischen Gerichtshofes fuumlr Menschenrechte ndash schreibt Von
Bogdandy
Tamara Ehs meint dass diese auf supranationalischer Ebene
erscheinenden juristokratischen Tendenzen auch mit der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH verbunden sind Nach Ehs hat
zwar der EuGH gegen die Politik das Recht bdquodes letzten Wor-
tesldquo aber dem EuGH fehlt das demokratische Moment23 Ehs
stellt fest dass der EuGH zum einen ndash innerhalb der EU ndash ein
europaumlisches Verfassungsrecht schaffen will zum anderen auch
politischen Aktivismus aufzeigt Die wichtigen Mittel dieses po-
litischen Aktivismus sind die Resolutionen in Vorabentschei-
dungsverfahren mit denen der EuGH tief hinter die mitglied-
staatlichen Grenzen reichen kann Allerdings sollte die Rolle des
EuGH auch in den weiteren internationalen Relationen gepruumlft
werden da das nach Ehs kein alleiniger Darsteller einer welt-
weiten Verfassungsordnung ist Solche weiteren bdquoElementeldquo
sind beispielsweise noch das WTO und IMF Im Zentrum dieser
Weltkonstitutionalisierung steht die Errichtung eines Systems
das auf den modernen neoliberalen Grundlagen der Weltwirt-
schaft beruht und das gegen die Ordnung der volksstaatlichen
Nationalwirtschaften gerichtet ist Daruumlber hinaus entspricht es
nicht den Prinzipien der demokratischen Repraumlsentation
D Die Rechtfertigungsversuche der
rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH
I Das Kompetenzdilemma des EuGH bdquoeffet utileldquo
und die Ultra-vires-Handeln
Eines der groumlszligten Dilemmas in Bezug auf den Kompetenzkreis
des EuGH sowie das von ihm geschaffene Richterrecht ist die
Dualitaumlt der Grenzen und des Zwanges der auf Rechtsschoumlp-
fung gerichteten Taumltigkeit des EuGH bdquoDer EuGH balanciert
stets bei seiner Rechtsprechung zwischen Kompetenzgrenze
und Kompetenzpflicht (hellip) Einerseits darf er kompetenzrecht-
lich nur gewisses Richterrecht schaffen anderseits ist er aber
genau berufen das Notwendige und Moumlgliche zu entwickelnrdquo
ndash schreibt Michel daruumlber24 Diese Spannung haumlngt eng mit der
Luumlckenproblematik des Gemeinschaftsrechts zusammen In ers-
ter Linie stellte sich die Frage der Kompetenzen der souveraumlnen
Mitgliedstaaten ob die Luumlckenhaftigkeit der neuen europaumli-
schen Rechtsordnung nicht absichtlich ist Die Antwort des
EuGH auf diese Frage war ua im seinen CostaENEL- und van
23 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 233-247 httpswwwmomentum-quarterlyorgojs2in-
dexphpmomentumarticleview16691333 234 (2018 oktoacuteber 15) 24 Michel Morten Alexander Die Kompetenzentwicklung des Europaumli-
schen Gerichtshofes in seiner juumlngeren Rechtsprechung und ihre Integ-
rationseffekte in den Mitgliedstaaten Shaker Verlag Aachen 2002
159
Gend amp Loos ndash Rechtsspruumlchen angelegt Sein bdquoneinldquo bedeutete
dass das Unionsrecht ein neues komplettes Rechtssystem sogar
bdquoeine neue Voumllkerrechtsordnungldquo ausmachen solle Zwar ist die
Rolle des Integrationsgebotes und seine Auslegunsmittel die
sog bdquoeffet utileldquo-Formel in der Arbeit des EuGH ziemlich um-
stritten sie kann aber ihre Grundkonzeption der Rechtferti-
gungslogik der richterlichen Rechtsschoumlpfung gut darstellen
Mit der Anwendung ndash unter anderem ndash des effet utile-Grund-
satzes hat der EuGH nach dem Muster des franzoumlsischen
Conseil dlsquoEtat versucht die maximal bdquonuumltzliche Wirkungldquo zu
erreichen um diese selbstaumlndige Rechtsordnung ausgestalten zu
koumlnnen bdquoMoreover the fact that within the bdquoschematic effet
utilerdquo orientation of the ECJ the national law surroundings of
EC law are not considered may ultimately lead to the paradoxi-
cal result that the combined application of EC and national law
in a given specific case does not promote the effet utile of the
applicable European legislationrdquo ndash schreibt Schmid uumlber die an-
dere Seite dieser Problematik25 Der Zwang zur Rechtsentwick-
lung des EuGH folgt vor allem aus der Aufgabe der Rechtsaus-
legung und Rechtsanwendung die ihm von den Gruumlndungsver-
traumlgen als Verpflichtungen vorgeschrieben sind D h die
Schaffung des Richterrechtes ist in gewissen Faumlllen ausdruumlck-
lich notwendig Allerdings sollte es wichtige Grenzen geben die
die Grenzen der Verbands- bzw Organkompetenz des EuGH
markieren Ihre Uumlberschreitung bedeutet einen sog Ultra-Vires-
Akt Die richterliche Rechtsfortbildung darf keine sog bdquoKom-
petenz-Kompetenzrdquo-Befugnis bedeuten da die begrenzte Ein-
zelermaumlchtigung sich als ndash wiewohl nicht allgemeine aber ndash
wichtige Gebundenheit meldet D h der EuGH darf solche
Kompetenzen die in den Vertraumlgen nicht festgelegt sind weder
vorschreiben noch entziehen und muss die sog bdquoVerfassungsi-
dentitaumltldquo der Mitgliedstaaten respektieren26 Trotzdem wurden
zahlreiche solche richterlichen Entscheidungen seit den 1960zi-
gern getroffen bei denen die richtige Wahrung dieser Schranken
streitig geworden ist Die Entscheidungen (Franchovich- Bras-
serie du pecheur-Urteile)27 uumlber die Errichtung der sog europauml-
ischen Staatshaftung dienen als gute Beispiele Die Essenz die-
ser EU-Beschluumlsse besteht darin dass die einzelnen Mitglied-
staaten gegenuumlber ihren Staatsbuumlrgern mit der Ermoumlglichung
des Anspruchs auf Schadenersatz bezuumlglich der angemessenen
Uumlbernahme und Anwendung des Unionsrechtes verantwortlich
gemacht wurden Die Errichtung der Institution der Staatshaf-
tung ist wieder ein ernsthafter Schritt in die Richtung der In-
tegration gewesen und die zugleich auch Streit hervorgerufen
hat ob der EuGH uumlberhaupt uumlber angemessene Kompetenzen zu
einem solchen Schritt verfuumlgt Zu einer vollstaumlndigen Pruumlfung
der Kompetenzen des EuGH gehoumlrt die Aufdeckung zahlreicher
weiterer Teilbereiche (Subsidiaritaumlt effet utile usw) jedoch
muumlssen wir uns auf die folgenden Bemerkungen einschraumlnken
Die Schaffung eines solchen Richterrechtes das die der Staats-
haftung aumlhnlichen Rechtsfortbildung folgt kann nach Michel
25 Christoph U Schmid The ECJ as a Constitutional and a Private Law Court Bremen ZERP an der Univ Bremen Bremen 2006 S 24
26 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff und 320 ff und Streinz
EUVAEUV 3 Aufl CHBeck Muumlnchen 2018 S 210 Rn 14-16 und dazu auch Schmid aaO S 22-28
27 (Rechtssachen C-690 und C-990 1991 sowie C-4693 und C-4893
1996)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 22
nur in jenen Faumlllen akzeptiert werden wo sie solchen Zielen
dient die nicht im Gegensatz zu den in den Gruumlndungsvertraumlgen
offenbarten Willen der Mitgliedstaaten stehen Auszligerdem brin-
gen sie die Rechtsstaatlichkeit und die Wirksamkeit des Euro-
parechtes voran Michel sieht das Problem darin dass solche Ur-
teile nur ausnahmsweise vorkommen sollten dagegen ist der
EuGH einerseits ndash mit den Worten von Michel ndash der bdquoWegbre-
cher der Integrationrdquo andererseits bdquoder Notgesetzgeberrdquo der EU
Der EuGH hat nunmehr ein gewisse bdquoquasi Kompetenzldquo die
dadurch legitimiert wird dass die Mitgliedstaaten solche Ent-
scheidungen des EuGH einfach stillschweigend akzeptieren28
bdquoDennoch muss man aus rechtstaatlicher Sicht wie aus Rechts-
sicherheitsgruumlnden die Akzeptanzkompetenz als echte Organ-
kompetenz des EuGH ablehnenrdquo ndash schreibt Michel29
II Die rechtliche Grundlage die bdquoWahrung des
Rechts zu sichernldquo
Die Grundlage des Richterrechtes das im Rahmen der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH geschaffen wird wird von ei-
ner permissiven Interpretation der Wendung bdquosichert die Wah-
rung des Rechtsrdquo in der Fachliteratur gegeben30 und sie umfaumlngt
nach dieser Interpretation auch die richterliche Rechtsfortbil-
dung des Unionsrechtes Diese breite Interpretation wird damit
begruumlndet dass der Richter nicht nur im sog bdquocommon lawldquo
Rechtskreis sondern auch in der europaumlischen Rechtstradition
mehr als bloszlig bdquoder Mund des Gesetzesldquo war Auch das BVerfG
hat sich mit dieser Frage in seinem UStRiL-Urteil beschaumlftigt
und sich auf die Uumlberlieferungen des Gemeinen Rechts des Rouml-
mischen Rechts bzw des englischen common law berufen Es
hat das festgestellt dass die Gruumlndungsvertraumlge auch aus der
Perspektive der europaumlischen rechtsgeschichtlichen Traditionen
interpretiert werden sollen Ein weiteres Auslegungsargument
ist dass die EU vor allem eine bdquoRechtsgemeinschaftldquo ist und
als solche braucht es die aktive integrierende Taumltigkeit des
EuGH damit das die Harmonie des Gemeinschaftsrecht verbuumlr-
gen kann bdquo(hellip) Der EuGH (muss) in gewissen Grenzen zur Ver-
wirklichung des Rechts Normen schaffen duumlrfen um das Recht
zu sichern wenn diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht
zu erreichen ist ndash schreibt Walter31
E Der Versuch der demokratischen Legitimierung
der Taumltigkeit von EuGH
I Die Unabhaumlngigkeit und die juumlngsten Urteile des
EuGH
Die herausragende Bedeutung des EuGH innerhalb der EU
kommt aus seinem umfangreichen Wirkungsbereich sowie aus
sonstigen organisatorischen Umstaumlnden Solch ein bdquoorganisato-
rischer Umstandrdquo ist dass mehrere Mitglieder des Organismus
EU einander in den unterschiedlichen Verfahren ergaumlnzen und
28 Vgl dazu Michel aaO S 157 ff und 162 ff 29 Michel aaO S 170 30 Vgl dazu Michel aa O S 24 ff und Calliess-Ruffert-Blanke EUV-
AEUV das Verfassungsrecht der Europaumlischen Union mit Europaumli-
scher Grundrechtecharta Kommentar 5 Aufl CH Beck Muumlnchen
2016 S 311 ff Rn 12-18 und dazu auch Streinz aaO S 209 f
RN 12-16
kontrollieren ihre Arbeit sich in einer speziellen Wechselwir-
kung verwirklicht Daraus folgt dass die klassische These der
Gewaltenteilung sich in diesem Bezug nicht durchsetzt Der
EuGH verfuumlgt uumlber eine ziemlich groszlige Unabhaumlngigkeit Dazu
wesentliches Kompetenzpotenzial konzentriert sich in seiner
Hand Aus Hinsicht der Mitgliedstaaten ist die Position des
EuGH noch staumlrker Die Judikatur des EuGH schraumlnkt sowohl
die nationalen Parlamente sowie die Verfassungsgerichte als
auch die nationalen Gerichte stark ein Die nationalen (Verfas-
sungs-) Gerichte muumlssen auf das Unionsrecht sowie auf die Ur-
teile des EuGH Ruumlcksicht nehmen und daruumlber hinaus sogar an-
wenden wenn die gerichtliche Rechtsauslegung dem Unions-
recht entsprechen soll Aus diesem Grund verlagert sich das
Machtpotenzial von den Mitgliedstaaten hin zum EuGH Die de-
mokratische Legitimation dieses Machtpotentials wird sowohl
in der organisatorischen Struktur der EU als auch aus Richtung
der Mitgliedstaaten beansprucht
bdquoInsbesondere im Hinblick auf die enorme Bedeutung und Autoritaumlt
des EuGH und EuG im institutionellen Gefuumlge der EU scheint die Frage
nach deren demokratischer Legitimation unausweichlich und von
grundsaumltzlicher Bedeutung zu sein (hellip) Diese beiden Fundamentalprin-
zipien beeinflussen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander
verbunden und bauen ein Spannungsverhaumlltnis zueinander aufrdquo
ndash Kathrin F Baltes32
Die Kritiker des EuGH lassen nach Baltes ein sehr wichtiges
Postulat auszliger Acht die richterliche Unabhaumlngigkeit Die An-
forderung der Unabhaumlngigkeit zieht eine Grenzlinie fuumlr die Er-
weiterung der demokratischen Legitimation des EuGH Das Er-
fordernis der Unabhaumlngigkeit wurde auch in den juumlngsten Urtei-
len33 des EuGH bekraumlftigt Nach der Rechtsprechung des EuGH
ist die richterliche Unabhaumlngigkeit bdquovon grundlegender Bedeu-
tungldquo und ein wichtiger Eckpfeiler der modernen rechtsstaatli-
chen Demokratie und im Vergleich zu den zwei anderen Staats-
gewalten schreibt sie der Judikative spezielle Anforderungen
vor Der Richter der im gegebenen Fall Entscheidungen treffen
soll sollte vollstaumlndig unabhaumlngig von anderen Organisationen
und politischen und sonstigen Einfluumlssen sein Der Richter soll
auf die Gesetze Ruumlcksicht nehmen und darf bei der Ausuumlbung
seines Amtes von niemandem angewiesen werden und seine
Entscheidungen duumlrfen nicht von anderen (nicht gerichtlichen)
Organen uumlberpruumlft werden Der EuGH hat vor kurzem in seinem
Urteil ausgesprochen dass die unabhaumlngige Einrichtung des Ge-
richtes sowohl auf der Ebene der Union als auch auf der mit-
gliedstaatlichen Ebene unerlaumlsslich ist Sehr wichtig ist dass der
EuGH auch den ndash auf der Charta basierenden ndash Grundrecht-
schutz fest mit der richterlichen Unabhaumlngigkeit zusammenge-
bunden hat und zugleich als Bedingung einer bdquoreibungslosenldquo
justiziellen Kooperation bestimmt hat Zu der richterlichen Un-
abhaumlngigkeit gehoumlrt die bdquovoumlllige Autonomieldquo ndash hat der EuGH
31 Walter aaO S 145 32 Baltes Kathrin F Die demokratische Legitimation und die Unabhaumln-
gigkeit des EuGH und des EuG Peter Lang Frankfurt am Main 2011 S 3
33 (Rechtssachen C-6416 EUC2018117 und C-21618 PPU
EUC2018586)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 23
betont Ein entscheidendes Moment ist also die Unabhaumlngigkeit
gegenuumlber nationalstaatlichen Einfluumlssen
II bdquoZeitgemaumlszligeldquo Legitimationsmodelle
Man muss zur umsichtigen Festsetzung der Position des EuGH
die Legitimationsart der EU untersuchen Die Errichtung der mit
den Nationalstaaten analog einhergehenden demokratischen Le-
gitimation ist ndash ohne Zweifel ndash problematisch in Bezug auf die
EU Allerdings betont Baltes gebe es zwar kein einheitliches
bdquoeuropaumlisches Demosrdquo aber das bdquoVolkrdquo ndash im Einklang mit den
europaumlischen gesellschaftlichen Tendenzen - ist nicht monis-
tisch kollektiv sondern soll pluralistisch individuell interpre-
tiert werden34 Dies ist ein entscheidender Punkt weil die EU
auf einer sog dualistischen Legitimationsbasis beruht Der si-
multane Status der mitgliedstaatlichen und europaumlischen Staats-
buumlrgerschaft ermoumlglicht die demokratische Legitimation sowohl
auf EU-Ebene die von der Institution des Europaumlischen Parla-
ments praumlsentiert wird als auch auf der Ebene der Mitgliedstaa-
ten die ndash auszligerhalb des EP ndash vom Ministerrat und dem Europauml-
ischem Rat realisiert wird Waumlhrend nach einigen die mitglied-
staatliche Legitimationsbasis Vorrang hat hat nach anderen die
bdquoeuropaumlischerdquo Legitimationsbasis Der EuGH hat sich schon in
seinen fruumlheren Urteilen (zB 13879 Roquette Freacuteres vs Rat)
eher fuumlr die letztere Variante ausgesprochen mit der Begruumln-
dung dass das EP bdquo(altough limited) it reflects at Community
level the fundamental democratic principle that the people
should take part in the exercise of power through the intermedi-
ary of a representative assemblyldquo Baltes unterstreicht ihre
Gleichwertigkeit als die Entwicklung der EU von Baltes als ein
solcher bdquodynamischer Prozessrdquo bezeichnet wird bdquoder nicht auf
ein konkretes starres und ausnahmsloses Prinzip beschraumlnkt
werden kannrdquo35
Laut der Klassifikation von Baltes kann die demokratische
Relation zwischen der EU und den Staatsbuumlrgern grundsaumltzlich
durch zwei unterschiedlich logische Mechanismen ferner durch
die Kombination derselben geschaffen werden Der erste Me-
chanismus ist die sog bdquoLegitimationsruumlckkopplungrdquo die darauf
fokussiert ob die Machtausuumlbung auf den buumlrgerlichen Willen
bzw auf dessen Initiative zuruumlckgefuumlhrt werden kann Unter-
schiedliche Schemata wurden als Methoden der Ruumlckkopplung
bearbeitet zB die Schemata der bdquoLegitimationskettenrdquo oder
des bdquoKontrollmodellsrdquo Im Fokus der Legitimationsketten steht
das Volk als die staumlndige und kontinuierliche Quelle der Staats-
gewalt Zwar gibt es Abweichungen zwischen den einzelnen un-
terschiedlichen praktischen Formen (institutionelle formelle
persoumlnliche inhaltliche Legitimation usw) aber ndash nach der all-
gemeinen Form des Schemas ndash das Volk soll das Parlament
waumlhlen und dem im Wesentlichen alle anderen oumlffentlich-recht-
lichen Anstalten unterordnen Die Regierungsmacht ist durch
ihre parlamentarische Verantwortlichkeit und auch durch kon-
kretes Weisungsrecht sowie durch Rechtsvorschriften die vom
34 Baltes aaO S 65 35 AaO S 83
Parlament als Legislative konstituiert werden begrenzt Die Le-
gitimationskette beruht auf dieser Dependenz Es ist sichtbar
dass die Jurisdiktion schwerer in die Legitimationskette einge-
fuumlgt werden kann und sie ist daher auch schwerer auf den Volks-
willen zuruumlckzufuumlhren Die Spannung kann schlieszliglich nur in
der Ausgestaltung der strengen Gesetzesbindung von richterli-
chen Amtsbefugnissen in diesem Legitimationsverstaumlndnis auf-
geloumlst werden Diese Verkettung ist deshalb leicht angreifbar
und daruumlber hinaus entsteht ein weiteres Problem die Legitima-
tionskette auf der Ebene der EU kann ungeachtet der Dualitaumlt
der nationalen sowie Unionsstaatsbuumlrgerschaft nur bdquoschwer-
lichrdquo aufgezogen werden Aus dem Loumlsungsversuch dieses Di-
lemmas sind die weiteren Modelle die mehr oder weniger als
Ergaumlnzungen des Schemas der Legitimationskette dienen ent-
standen Die sog personale Legitimation ist daher wichtig in
diesem Themenbereich weil ihre Vertreter meinen dass die Le-
gitimationskette allein eben darum nicht maszliggeblich ist weil
der Bewegungsraum der Richter nie vollstaumlndig eingeschraumlnkt
werden darf zum Beispiel wegen der Notwendigkeit der Ent-
wicklung bzw Interpretation des Unionsrechts Daraus folgt die
Forderung dass die Auswahl der Richter bdquodemokratischrdquo so
zum Beispiel durch Parlamentsausschuumlsse stattfinden sollte
Man muss ndash nach einer anderen bdquoLegitimationsergaumlnzungrdquo ndash
mit fachlichen Vorschriften bzw Standards die Legitimations-
kette verstaumlrken (zB Amtshaftung die Publizitaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens bzw der gerichtlichen Beschluumlsse) Das Kon-
trollmodell basiert ebenfalls auf der derivativen Partizipation
sowie auf der Ruumlckkopplung des Volkswillens aber weicht in-
haltlich von der Auffassung des Legitimationsmodelles ab Der
Entwickler dieses Modelles Axel Tschentscher betont die fach-
lichen und auch persoumlnlichen Faktoren Der entscheidende
Punkt in diesem Modell ist die unabhaumlngige Position des Rich-
ters von anderen Institutionen abzusichern In Tschentschers
Auffassung ist die richterliche Rechtsschoumlpfung bzw die An-
wendung des Richterrechts in einer demokratischen Ordnung
daher nicht problematisch weil die Legislative ein bdquopraktischesrdquo
Revisionsrecht hat Falls das Parlament anders beschlieszligt kann
es eine von der richterlichen Entscheidung abweichende Rechts-
norm schaffen ndash legt Baltes das theoretische System von Tsch-
entscher dar36
F Fazit
Wie man das auch basierend auf dem oben dargestellten
wahrnehmen kann koumlnnenmuumlssen wir den Demokratieldquoindexldquo
der europaumlischen Organisationsstruktur nunmehr auf mehreren
Ebenen analysieren und ndash zu einem authentischen angemesse-
nen Ergebnis ndash die Problematik der WTO-Struktur und der sog
bdquoJuristokratieldquo bzw bdquoWeltkonstitutionalisierungldquo (siehe oben
bei Ehs) das Dilemma des Parlamentarismus (siehe oben bei
Veil) und auch der Mitgliedstaaten (siehe oben z B bei den
Ultra-Vires Handlungen) etc zusammen betrachten und pruumlfen
Es bedarf daher noch weiterer Pruumlfungsschritte Daraus ergibt
sich dass wir uns auf die folgenden Feststellungen beschraumlnken
muumlssen
36 AaO S 86 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 24
Ein wichtiger Punkt ist dass bedeutende Theoretiker das un-
verzichtbare Element der Demokratie im Parlamentarismus
wahrnehmen Das Fehlen eines tatsaumlchlich funktionierenden
Parlamentes kann auf der Ebene der EU festgestellt werden weil
wichtige gesellschaftliche und politische Bedingungen dazu
nicht oder nur mangelhaft vorhanden sind Es ist zu betonen
dass der Mangel an Parlamentarismus daher problematisch ist
weil die europapolitischen richtunggebenden Entscheidungen
nicht vom Volk bzw nicht von den europaumlischen Buumlrgern be-
stimmt werden koumlnnen Wie im zweiten Teil dargestellt wurde
hat der EuGH ndash nach zB Michel - seit den Sechzigern diese
quasi (bdquoersatz- oder not-bdquo) gesetz- und richtunggebende Rolle
des Parlamentes teilweise uumlbergenommen Baltes weist ndash siehe
den dritten Teil der Untersuchung ndash auf die besondere Bedeu-
tung der institutionellen Unabhaumlngigkeit des EuGHs hin aller-
dings unterscheiden sich seine Legitimationskonzepte grund-
saumltzlich von den bdquotraditionellenldquo nationalstaatlichen Demokra-
tievorstellungen d h von der auf der Volkssouveraumlnitaumlt basie-
renden parlamentarischen Demokratie Falls die Befugnisse des
EuGH weiterhin so weitreichend bleiben kann man schwierig
das institutionelle Gefuumlge der EU nicht als juristokratische
Machtstruktur definieren In diesem Bezug scheint Hans Kel-
senrsquos Stellungnahme uumlber die Notwendigkeit der Einheit der
staatlichen Gewalten aus der Hinsicht der Demokratie voraus-
schauend und bemerkenswert zu sein Das Erfordernis der rich-
terlichen Unabhaumlngigkeit und das sehr groszlige Kompetenzpoten-
zial ohne wirklich funktionierende parlamentarische Gegenkon-
trolle bedeuten zusammen auf der Ebene eines sich noch immer
entwickelnden Staatenverbundes eine bedeutsame Machtkon-
zentration in der Hand des EuGH Also was unsere Grundfrage
angeht d h ob die europaumlischen Buumlrger wirklich einen demo-
kratischen effektiven Einfluss auf die Entscheidungen der EU
ausuumlben koumlnnen kann man nicht eindeutig mit bdquojaldquo oder bdquonein
beantwortet werden Muumlnch und auch Baltes schreiben uumlber eine
bdquozeitgemaumlszligeldquo Demokratievorstellung die die Gesellschaft plu-
ralistisch und individualistisch betrachtet Die sog bdquoOutputldquo-
oder Ergebnislegitimationsmodelle koumlnnen sich zwar als sehr
wichtige Bestandteile eines demokratischen Gefuumlges des EuGH
bzw der EU erweisen allerdings ersetzen sie nicht die demo-
kratische Funktion des zur Zivilgesellschaft gehoumlrenden (siehe
oben bei Habermas) Parlamentes Daruumlber hinaus liegt auch ein
weiteres Problem mit der Ergebnislegitimation vor Wie schon
im ersten Kapitel dargestellt wurde bedeutet die sog Elitebil-
dung immer eine ernsthafte Gefahr fuumlr die Demokratie Sofern
die Einzelnen als bdquoVolkldquo ihren Willen durch das Parlament nicht
zu validieren vermoumlgen und so auch Schumpeterrsquos Wettbe-
werbsmodell uumlber die bdquoHerrschaft der Politikerldquo marginalisiert
wird wird das Risiko der Herausbildung von Elitegruppierun-
gen noch beachtlicher Eine Demokratie muss den Rahmen des
politischen Kampfes (bdquoWettbewerbesldquo) der Mehrheits- und
Minderheitsansichten immer gewaumlhrleisten ferner das eine
Minderheitsmeinung zu einer Mehrheitsmeinung werden kann
Daraus folgt dass man unbedingt pruumlfen muss wie die Effizienz
des Parlamentarismus auch auf der Ebene der EU aussieht wie
die europapolitischen Auseinandersetzungen fuumlr die mitglied-
staatlichen Buumlrger wirksamer verdeutlicht werden koumlnnen und ndash
vor allem ndash wie die Kompetenzverteilung zwischen dem EP und
dem EuGH noch effektiver zugunsten der Prinzipien des Parla-
mentarismus ausgestaltet werden kann
Die Autorin hat bereits das erste juristische Staatsexa-men abgelegt und befindet sich derzeit im Masterstu-dium an der Universitaumlt zu Koumlln (Staatsrecht mit Bezuuml-gen zum Europa- und Voumllkerrecht)
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 25
Conditional consent as a valid legal ground for data processing
- a misbelief
-
Sonja Buumlhler
A Introduction
An inflationary use of personal data due to internet-con-
nected devices such as smart-TVs smartwatches fitbits
or smartphones and online services such as Spotify or
Netflix is taking place forming a valuable economic asset1
To counter this development there is a need to effectively
protect personal data of users Consumers often find
themselves in situations where they have no choice but to
agree to the processing of personal data if they want to
use a certain device or service
This article examines whether a term of use clause mak-
ing use of a device or service conditional on consenting to
data collection through the device is compatible with Arti-
cle 7(4) GDPR (II)2 Therefore it recalls the principle of
consent as a legal ground for processing (II1) and con-
siders under which conditions conditional consent is
freely given (II2) Thereby the article takes into account
the question whether a real choice of the user is denied
due to an imbalance of power I will argue that the imbal-
ance of power arises due to the form of the contract which
gives no opportunity for renegotiation (II21) I argue that
positive incentives to give consent cannot be considered
inadmissible force (II22) whereas factual dependency
and a lack of alternatives prevent free consent (II23)
Further I argue that withdrawing consent will most likely
lead to detriment and thus consent is invalid (II24) This
article will also show that data processing often is not nec-
essary for the contract and thus consent is very likely to
be invalid (II25) I will conclude that in many situations
conditional consent is not freely given under Art 7(4)
(II3)
In a second step I will discuss other safeguards of the
GDPR applying in this scenario (III) Those are especially
the principles of data processing namely the principle of
1 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regulation
(GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 2 All articles cited in the following are articles of the GDPR if not indicated
otherwise 3 Art 6(1) GDPR 4 Art 6(1)(a) GDPR For general information about consent as a justifica-
tion see D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford and Portland Oregon (2007) p 61 ff
purpose limitation (III1) data minimisation (III2) and ac-
countability (III3) I will conclude that consumers are not
always sufficiently protected by those safeguards from a
situation where they might be ldquoselling their soul for Netflixrdquo
(III4)
Hence the article considers other regulatory constraints
such as strengthening the rights of the user through con-
sumer protection law that are necessary in order to protect
users (IV)
After all I will find most of the conditional consents are
probably invalid and thus do not constitute a legal ground
for processing Currently the situation of the data subjects
in practice is not enhanced by the invalidity but the legal
situation has to be improved (V)
B Consent - when can conditional consent be
considered freely given
I Principle of consent as a legal ground for
processing data
Following the rule and exception doctrine of the GDPR pro-
cessing data is always considered unlawful except if one of the
legal grounds of Art 6 applies3 The legal ground considered in
this article is consent Data processing is lawful when the data
subject gave consent to it4 Very often consent will be given by
accepting privacy policies5 It is questionable if and under
which circumstances processing of personal data can be based
on consent in the special situation when consent is a condition
for using a device or service such as smart TVs Fitbits or Net-
flix
To illustrate the findings of this article I will use the online
service Netflix as an example Nevertheless the general find-
ings made in this article can be applied to any other kind of in-
ternet-connected device or online service if its use is conditional
on giving consent6
5 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 They state
The controller can achieve this either by way of contractual means (by
stating in the contract that it will only be performed if consent for certain processing is provided) or through technical means (eg through an app
which does not install or function if consent is not provided) 6 The problem of conditional consent arises also in context with tracking
walls when consent has to be given in order to be able to get access to a
website See therefore F J Zuiderveen Borgesius S Kruikemeier S C
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 26
II Freely given conditional consent - nearly
impossible due to imbalance of power
Consent is any freely given specific informed and unambigu-
ous indication of the data subjectrsquos wishes by which he or she
by a statement or by a clear affirmative action signifies agree-
ment to the processing of personal data relating to him or her7
This definition confirms that giving consent is an expression of
self-determination8 Out of those requirements for valid consent
the words freely given are of special interest in cases where
consent is conditional for the performance of a contract or for
providing a service
In those constellations the user is in an especially vulnerable
position and extremely likely to give consent to the use of per-
sonal data Whether consent that is conditional for the perfor-
mance of a contract or providing the service is really given
freely has to be considered carefully with special relevance9
As Recital 43 lines out consent should not provide a valid legal
ground for the processing of personal data in a specific case
where there is a clear imbalance between the data subject and
the controller10 The purpose of Art 7(4) is to ensure that con-
sent to the processing of personal data which is necessary for
conducting the contract or service is not bundled with consent
to data processing which is not necessary for the contract11
Nevertheless it does not contain an absolute ban that condi-
tional consent can be given freely but it has to be considered
with the utmost scrutiny for each case depending on the con-
text and circumstances
So to come back to our case the question arises whether
there is an imbalance of power between the user and the control-
ler (eg Netflix) that could preclude free consent A clear imbal-
ance is assumed in relation with public authorities and employ-
ers12 In this case the imbalance of power due to subordination
is apparent The question is whether the same degree of imbal-
ance can be established between the producers of smart devices
or providers of online services and their users
1 Imbalance expressed by form contract
First of all it has to be considered that the terms of contract usu-
ally cannot be renegotiated as they are part of a form contract
The two contracting parties are not at eye level but the user is
Boerman N Helberger Tracking Walls Take-It- Or-Leave-It Choices the GDPR and the ePrivacy Regulation (2017) European Data Protec-
tion Law Review pp 353-368 7 GDPR Art 4(11) Relevant Recitals of the GDPR are Recital 32 and 33 8 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 169 9 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 218 10 Recital 43 GDPR 11 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 B Kostić E Vargas Penagos The freely given
consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computer-
recht p 218 12 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 7 Recital 43 S 1 GDPR 13 See for this opinion also M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data
Protection through Consumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Re-
view Vol 5 Issue 1
in a weaker bargaining position and does in fact not have the
possibility to introduce his own interests into the contract The
user only has the possibility to accept the terms or not to con-
clude the contract13 This so called structural power of the con-
troller limits the private autonomy of the user14 Thus it appears
that the form of the contract and the way by with the contract is
concluded (namely without any possibility to negotiate or adjust
it) already implies an imbalance of power15
2 Imbalance due to lack of real choice - Impact of
negative and positive forces
Secondly an imbalance exists when the user has no real choice
whether or not to give consent Only if such a real choice exists
the consent is valid
For having a genuine and free choice consent has to be given
without external force Force can be negative in the form of
threat making a consent invalid but there is also positive force
which is an act of force that intends to influence the individual
in a positive way such as an inducement16 Positive force does
not itself make consent invalid and can be considered a weaker
kind of force Those influences can eg be of financial emo-
tional or practical nature17 Consent is still freely given even
when a small degree of positive pressure is exercised on the in-
dividual18 This is rather a resistible offer than an actual
threat19 An example is a shopping discount in return to using a
bonus card collecting user information It can be hard to draw a
line between a simple incentive and a real influence on the free-
dom of choice of the data subject20
But in the case of smart devices or online services the pres-
sure exerted on users to consent is not negative force but rather
positive force as the consent establishes the possibility to gain
access to a service or use a special device It expands the free-
dom of action of each user by giving the opportunity to use the
device or service There is an incentive to give consent in order
to use the device which is making life easier but that could also
be resisted This positive force as such does in my opinion not
amount to a limitation of the freedom of will and does not estab-
lish an imbalance of power
3 Imbalance due to lack of choice - Impact of factual
14 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
3 15 The article comes back to this issue and gives an answer how this prob-
lem could be tackled through consumer law See below at V 16 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 172 On unforced choice see also D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford
and Portland Oregon (2007) pp 131 f 17 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14 18 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 173 19 R R Faden T L A Beauchamp A History and Theory of Informed Con-
sent (1986) p 340 20 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 27
dependency and lack of alternatives
But even without negative force consent can still be unfree if
there is a factual dependency on the device or service and a lack
of alternatives If the service or device it is indispensable it is
likely that there is a relationship of dependency between the
controller and the data subject and thus there is no balance of
power21 This is even more likely if a controller does have a
monopoly22
Users clearly always have the choice not to use the device or
service at all Many modern electronic devices such as smart
watches Fitbits or smart TVs can (still) be replaced by devices
not connected to the internet and thus not requiring personal data
(like traditional watches TVs DVDs) In the current status of
the society people are not completely relying on internet-con-
nected devices So if there is an alternative on the market that
does not require personal data a free choice might be given23
Maybe this changes within the next centuries but right now
there is no dependency on smart devices or online services com-
parable to the dependency to your employee or public authori-
ties So from this point of view the data subject has a free
choice whether or not to give consent
But the question is how realistic it is that this choice can be
made against the use of smart devices or services It has to be
seen that in our modern society users are largely depending on
the use of electronic devices and services (such as laptops
smartphones or tablets) for example for school university and
work but also for their social and private life Choosing not to
use certain devices or services means excluding oneself from
many advantages benefits and possibilities The everyday use
of data processing devices will even increase in the future24
However the Article 29 Working Party in contrast takes a
different starting point It asks for a data-processing-free
choice within one controller and not a choice between different
market players25 The performance or conduct of a contract must
not depend on consent to data processing even if the user could
have access to an equivalent and reasonable service somewhere
else at the market where the user does not need to give consent
to data processing26 This seems convincing as otherwise the
freedom of choice would depend on the existence of equivalent
services or devices by other market players which is outside the
area of influence of the controller27 The choice is not between
21 A Golland Das Kopplungsverbot in der Datenschutz-Grundverordnung
Anwendungsbereich oumlkonomische Auswirkungen auf Web 20-Dienste
und Loumlsungsvorschlag (2018) Multimedia und Recht p 132 22 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 43 23 See for this view the example 31 on External choice in B Kostić E
Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision
under the GDPR (2017) Computerrecht p 222 24 See for more information and examples C Storr P Storr New Technol-
ogy Big Data and the Law The internet of things Right to Data from a
European Perspective (2017) pp 65 - 96 25 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9 f 26 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 45 27 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9
use or not use the device or service but between use one and
the same device or service with or without data processing28
This more user-friendly approach would require each control-
ler to offer an alternative to the conditional use of data So if
two versions of a product or service are offered eg a more ex-
pensive version where you do not have to give consent to data
processing the data subject has a real choice whether he or she
wants to pay with their data or not29
This approach can be criticized as consent in those cases
would technically speaking not be conditional anymore as the
service or device can also be used without the consent30 Offer-
ing two options would make conditional consent obsolete But
in my opinion this criticism mistakes that each of the two pos-
sible choices (pay more without data processing or pay less with
data processing) has to be considered separately When the user
decides not to pay money for the use of a service but to give
consent to the use of its data the consent in this particular situ-
ation is conditional But the user has a free and genuine choice
to get the same service without giving consent to data pro-
cessing
I conclude that in many cases a real choice has to be doubted
There might in some cases be a factual dependency on the de-
vice or service But even if there is no factual dependency there
is often a lack of real choice if the controller does not an offer
data-processing-free alternative
4 No free will due to detriment when withdrawing the
consent
Furthermore consent is only valid if it can be refused or with-
drawn without detriment31 Vice versa it is unfree if the user is
penalised or suffers detriment when withdrawing consent Pos-
sible detriment can be deception intimidation coercion or sig-
nificant negative consequences32
For better clarity Art 29 Working Party gives an example
constituting detriment33 In this example a lifestyle phone app
wants to get information about the movements of its users using
the accelerometer of the phone This data is not necessary for
the app to work Once the consent to use the accelerometer is
withdrawn the app only works to a limited extend This amounts
to detriment under Recital 42 GDPR and thus consent was not
valid
28 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 with further references 29 This opinion is also shared by L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU Gen-
eral Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 30 See for this criticims L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General Data
Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 31 Recital 42 last sentence 32 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 10 already Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition of Consent p 12 regarding consent
under Art 2 h DPD Art 2 lit h DPD stated Consent can only be valid if
the data subject is able to exercise a real choice and there is no risk of de-ception intimidation coercion or significant negative consequences if
heshe does not consent 33 See Example 8 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p 11
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 28
So in the case of smart devices and services their restriction
in use after withdrawing consent amounts to detriment If a user
does not give consent to data processing by his or her internet-
connected TV the TV cannot be used in the first place This
means the owner cannot use his or her property thoroughly And
if the consent is withdrawn later the TV can most probably not
be used anymore It is thus very likely that in most cases of con-
ditional consent detriment (eg regarding the usage of their
property) will happen meaning that the consent is not freely
given
5 Is consent not freely given when data processing
(or consent) is not necessary for performing the
contract
Art 7(4) states that for considering whether consent has been
given freely ldquoutmost account shall be taken of whether (hellip) the
performance of a contract (hellip) is conditional on consent to the
processing of personal data that is not necessary for the perfor-
mance of the contract Additionally Recital 43 S 2 GDPR pre-
sumes that consent is not given freely when consent is not nec-
essary for the performance34 The burden of proof to disprove
this assumption lies with the controller35
Considering the wording of Art 7(4) it is somewhat unclear
whether the words ldquothat is not necessaryrdquo relate to ldquoconsentrdquo or
to ldquothe processing of personal datardquo Comparing the English and
the German versions of the GDPR it catches the readerrsquos eye
that the German version quite explicitly relates the necessity-
requirement to the processing of personal data that is not nec-
essary for the performance of the contract (the translation would
literally be whether ldquoit is conditional on consent to the pro-
cessing of various36 personal data that are not necessary for the
performance of the contractrdquo)37 This difference in the German
version is regarded as being a translation error by some authors
claiming that the validity of consent should be considered de-
pending on whether consent is necessary for the performance of
the contract38 This finding also seems to be supported by Re-
cital 43 S 2 Recital 43 S 2 assumes that consent is not freely
34 Recital 43 sentence 2 GDPR Consent is presumed not to be freely given
() if the performance of a contract including the provision of a service
is dependent on the consent despite such consent not being necessary for
such performance 35 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 219 f 36 various was added by the author to clarify that personal data is in the
form of plural in the German text 37 Art 7(4) DSGVO bdquoBei der Beurteilung ob die Einwilligung freiwillig
erteilt wurde muss dem Umstand in groumlszligtmoumlglichem Umfang Rechnung getragen werden ob unter anderem die Erfuumlllung eines Vertrags ein-
schlieszliglich der Erbringung einer Dienstleistung von der Einwilligung zu
einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhaumlngig ist die fuumlr die Erfuumlllung des Vertrags nicht erforderlich sindldquo
38 This opinion is taken in L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General
Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 39 This is also the leading opinion in literature see eg P Voigt A von dem
Bussche The EU General Data Protection Regulation (GDPR) A Practi-
cal Guide (2017) p 96 40 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 41 This conclusion is also in line with the interpretation of Art 29 Data Pro-
tection Working Party Guidelines on Consent under Regulation 2016679
p 9
given if the performance of a contract including the provision
of a service is dependent on the consent despite such consent
not being necessary for such performance
However to base an interpretation on an alleged translation
error is not convincing Following a teleological approach in-
stead it is more likely that it plays a role whether data pro-
cessing is necessary and not whether consent is necessary39 The
purpose of Art 7(4) is to ensure that personal data processing is
not disguised nor bundled with the provision of a contract of a
service for which these personal data are not necessary40 Vice
versa if data processing is indeed necessary to perform the con-
tract or service Art 6(1)(b) will already be a legal ground for
processing So Art 7(4) in fact only applies to data processing
that is not necessary for the contract or service41
It is thus decisive whether the data processing is necessary
for the performance of the contract42
The meaning of necessary in Art 7(4) could be the same as
in Art 6(1)(b)43 Thereby a strict interpretation should be ap-
plied excluding everything that is ldquonot genuinely necessary for
the performance of a contract but rather unilaterally imposed on
the data subject by the controllerrdquo44 There needs to be a direct
and objective link between the processing itself and the purposes
of the contractual performance expected from the data45 So in
order to assess what is necessary the scope of the substance
and fundamental objective of the contract has to be consid-
ered46 This does not mean that processing is necessary for the
contract just because it is mentioned in the contract47 But pro-
cessing is necessary if it is a targeted and proportionate way of
achieving the purpose of the contract and it is not necessary if
the controller can reasonably achieve the purpose by some
other less intrusive means48 An example for necessary data
processing eg is the processing of credit card details in order to
conduct payments49
But let us take a closer look to the example of Netflix50 Net-
flix uses a lot of information such as demographics location
42 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7 subparagraph 41
43 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 44 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 45 Art 29 Data Protection Working Party Opinion on recent developments
on the Internet of Things p 15 46 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 47 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 48 ICO Guide to the General Data Protection Regulation (GDPR) Lawful
basis for processing August 2018 p 5 49 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 50 The information used here is taken from Netflix Privacy Policy available
at httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policy last access on
141218
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 29
language movie queues made by users ratings but also inter-
actions of the users such as scrolls mouse-overs clicks or the
time spent on a given page51 All this data is used to optimize
the user experience and give custom-fit recommendations in or-
der to make the user spend more time on Netflix The recom-
mendation system Netflix has is one of its main business driv-
ers52 But data is also shared with processing partners for adver-
tisement purposes53 It can be argued that the recommendation
of movies is also part of the contract between the user and Net-
flix This would be the case if the user and Netflix agree that
the recommendation is part of the service offered by Netflix In-
deed many users might appreciate the recommendations If this
is the case then the right legal ground for data processing would
not be consent but contract54
Following Art 29 Working Party building a profile of the
users tastes (hellip) based on his clickstream on a website is not
covered by the contract on delivering a certain good or service55
The purpose of the service (Netflix) is to offer access to movies
and series in return for a monthly payment Netflix can also offer
videos without knowing the personal preferences viewing hab-
its or location of the user All additional data that is eg used for
advertisement purposes is not needed for the contractual obli-
gations Thus a lot of data that Netflix processes is not neces-
sary and thus consent is presumed to be not freely given and thus
invalid56
III Conclusion
It has been shown that conditional consent has to overcome
many obstacles in order to be valid It is very likely that condi-
tional consent under Art 7(4) is not valid due to an imbalance
of power due to the form of the contract and the lack of a real
choice This is not only the case when a user depends on the
devices or services A lack of choice also exists if within one
market player there is no data-processing-free option Addi-
tionally when the withdrawal of consent for data processing that
is not necessary for the contract leads to a restriction of the use
of the device or the service consent is not freely given
In the end there is the presumption that conditional consent
to processing that is not necessary for the contract is unfree The
processing consented to is most of the time not necessary for the
contract Then consent is invalid meaning the processing bears
a legal ground and thus is illegal
51 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p4 52 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p2 53 see Netflix Privacy Policies available at httpswwwwhats-on-net-
flixcomprivacy-policygdpr-information last access on 141218 54 Art 6(1)(b) GDPR 55 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 56 Recital 43 S2 GDPR 57 Art 5 GDPR 58 Art 5(1)(b) GDPR
C Other safeguards of the GDPR
Nevertheless if data is processed by the controller there are still
other safeguards protecting personal data namely the principles
for data processing57 Those are the principles of lawfulness
fairness and transparency purpose limitation data minimisa-
tion accuracy storage limitation integrity and confidentiality
and accountability Of special interest regarding conditional
consent are the principles of purpose limitation data minimisa-
tion and accountability
I The principle of purpose limitation
The principle of purpose limitation stipulates that data can only
be collected for specified explicit and legitimate purposes and
shall not be further processed in a manner that is incompatible
with those purposes58 The aim of this principle is that the us-
ers know what the data is used for Only than they can make an
informed decision whether to give consent to data processing59
There is a close connection to the necessity requirement of Art
7(4) because there the purpose of the contract has to be consid-
ered as well60
The purpose of data processing has to be specified whereby
the level of detail should be considered on a case-to-case basis
in order to tell the user why the data is processed and what is
intended to be done with it61
As a result of the purpose limitation principle many services
have published their purposes in their privacy policies It has to
be examined critically whether the outlines purposes are de-
tailed enough Controllers will tend do give as little detail as
possible Eg in the case of Netflix you will find some cryptic
purposes like to enhance costumer experience and to fulfil an
obligation under law or contract62 So in theory purpose limita-
tion seems to be a good safeguard which in practice might easily
fail
Further purpose limitation might not be enough of protec-
tion as it is limited itself If data shall be reused then the con-
troller shall take into account various factors eg the terms of
contract (Art 6(4)(b)) But shall is not giving the same level
of protection as if the controller must take those into ac-
count63
II The principle of Data minimisation and right to be
forgotten
The principle of data minimisation64 means that the amount of
collected personal data must be adequate relevant and limited
59 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 032013 on purpose limi-
tation p 46 at the end 60 Art 29 Working Party 2014 Opinion 062014 on the notion of legitimate
interests of the data controller under Art 7 of Directive 9546EC p 17 61 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 89 62 Netflix Privacy Policy How we use your personal data availabe at
httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policygdpr-processing last accessed 141218
63 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review p 5 64 Art 5(1)(c) GDPR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 30
to what is necessary in relation to the purpose for which they are
processed65 Personal data should be processed only if the pur-
pose of the processing could not reasonably be fulfilled by other
means66 What is adequate and relevant depends on the specific
purpose for processing so this principle is linked to the principle
of purpose limitation
Consent for processing that is not necessary for the perfor-
mance of the contract has to be scrutinized67 Whether pro-
cessing is necessary depends on whether it is adequate relevant
and limited to what is needed to achieve the determined purpose
Art 7(4) thus enforces the principle of data minimisation by its
necessity-requirement
Additionally data processing that cannot be consented to due
to Art 7(4) and thus has no legal ground The data subject
whose data have been processed without a valid legal ground as
a consequence of has the right to be forgotten68 which means
that the data has to be deleted
The principle of data minimisation thus is already inherent in
Art 7(4) As an infringement of this principle in context with
Art 7(4) will probably make the legal ground of consent invalid
controllers are well advised to be in compliance with this prin-
ciple
III Principle of accountability
The principle of accountability means that the controller is
responsible for compliance with data processing under the
GDPR69 It also includes a material obligation to demonstrate
compliance70 One expression of this obligation is that the bur-
den of proof whether free consent has been given lies with the
controller71
In the case of conditional consent consent is presumed not to
be freely given if it is not necessary for the performance of the
contract72 This means that the burden of proof in cases of con-
ditional consent is on the controller It has to proof that consent
was freely given and is thus valid The controller will only be
able to proof this that consent is valid if the consent is neces-
sary for the contract
IV Conclusion - are consumers sufficiently
protected from a situation where they might be
ldquoselling their soul for Netflixrdquo
This article has discussed the different scenarios in which con-
ditional consent is not valid due to Art 7(4) The data processing
65 Art 5 (1)(c) GDPR and also Recital 39 GDPR ICO Guide to the General
Data Protection Regulation (GDPR) Principle Data minimisation availa-ble at httpsicoorgukfor-organisationsguide-to-the-general-data-protec-
tion-regulation-gdprprinciplesdata-minimisation last access on
141218 66 Recital 39 GDPR 67 Art7(4) GDPR 68 Developed by ECJ ruling of 13 May 2014 Google Spain C-13112 Now
also in Art 17 Sec 1 lit a-f GDPR 69 Art 5(2) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010
on the principle of accountability p4 70 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010 on the principle of
accountability at Nr 41
principles shall give additional protection As Art 7(4) already
includes a lot of those principles indirectly I conclude that they
hardly add a higher level of protection
Even though the consent is invalid in many cases of condi-
tional consent and controllers thus have no legal ground for pro-
cessing this does not stop controllers from using consent as a
legal basis for a lot of data processing Due to the overwhelming
power of large companies acting as controllers users do not
have a choice and often feel like they have to give their consent
even though the consent is invalid Eg it has been shown that
from the perspective of the majority of people in Europe there
is no alternative than to provide personal information if you
want to obtain products or services73 Users will probably not
even be aware that their consent is invalid The asymmetry in
power of the user and the controllers hinders an uproar of the
users against this practice Also it is in the interest of the users
to have access to the service or use the device It does not serve
their interests that the law just declares the consent invalid with-
out any further actions following
D Lack of consumer protection - what other
regulatory safeguards should be considered
But how could this lack of consumer protection be tackled One
could argue that market forces themselves will develop a higher
level of protection of personal data meaning that users would
prefer services that use less data But this is a very unlikely sce-
nario as many different factors come into play when a user
chooses a certain device (such as prize availability personal
preferences)74 Also reality has shown that the market fails to
protect privacy So there is an urgent need for the legislator to
increase consumer protection
A possible regulatory constraint could be that controllers are
obliged to offer two versions of a service or device of which
one does not process unnecessary data but charging a fee75 But
a legal obligation to offer two versions would be an interfer-
ence with the principle of party autonomy and freedom of con-
tract of the controller and thus would has to be justified76
A different legal constraint could be to combine EU con-
sumer protection and data protection law forming a data con-
71 Art 7(4) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p9 72 Recital 43 GDPR 73 Special Eurobarometer 431 Data Protection June 2015 p 30 available
at eceuropaeucommfrontofficepublicopinionar-chivesebsebs_431_enpdf last access 141218
74 J Rauhofer Judith ldquoOne Step Forward Two Steps Back Critical observa-
tions on the proposed reform of the EU data protection frameworkldquo Jour-nal of Law and Economic Regulation (2013) Vol 6 No 1 2013 p 69
75 W Kerber Digital markets data and privacy competition law consumer
law and data protection (2016) Journal of Intellectual Property Law amp Practice p 862
76 Art 8 ECHR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 31
sumer law which could be beneficial especially as the con-
sumer market is more and more data driven77 Data protection
law deals with fair processing and protection of fundamental
rights and consumer protection law shall empower consumers
in situations where they have low bargaining power78 The lack
of power is the reasons why the users rights are not sufficient
to protect their privacy in practice A stronger interplay of data
protection and consumer law could strengthen the autonomy of
the users
As noted above it is not very helpful for the user if the data
processing is unlawful but no consequences follow This would
be different if the unlawfulness would result in concrete rights
for the user If a Smart-TV unlawfully processes data (eg be-
cause the consent is invalid) or cannot be used because the user
refuses to give consent an effective solution for the user would
be to have the right to return the TV79 Consumer law could in-
crease the options of users by offering remedies and strengthen
their market power80
Consumer law could further be used to assess the fairness of
terms and conditions on personal data and limit the possibility
of the controller to impose terms on the users81 This would be
possible as processing data is not considered the main subject
matter of the contract82 The conditions of the contract could be
assessed and conditional consent is probably likely to lead to
an unfair situation as the lack of real choice would be against
good faith83 As a consequence controllers cannot impose un-
fair terms on their users
E Conclusion and Prospect
I conclude that in the case of smart devices or online services
where consent is conditional to use them the consent is likely to
be invalid for various reasons It has been shown that the user
has no real choice due to an imbalance of power between him or
her and the controller This imbalance arises from the lack of the
possibility to renegotiate terms and conditions and from the lack
of data-processing-free alternatives Further consent is not free
as withdrawing will lead to detriment And consent is presumed
not to be valid in the many cases where data processing is not
necessary for the contract Other safeguards namely the data
processing principles of purpose limitation data minimisation
and accountability fail to add any additional protection as they
are already included in Art7(4) I also conclude that the effect
of invalidating the consent is of very little help for the data sub-
ject
77 This is eg suggested by N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1428 78 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-
tion law (2017) Common Market Law Review p 1436 79 See for this example N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-
sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1440 80 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
It is therefore essential having in mind the importance of data
protection as a fundamental right84 and the exploding amount of
data processed to consider other legal constraints for the future
The weak point of data protection and the GDPR in my view is
the lack of remedies that are really useful for the data subject
A combination with consumer law could help to protect the data
subjects rights more efficiently The article has exemplified two
points Consumer law could be used to apply its fairness test to
the contract involving data processing between the data subject
and the controller limiting the possibilities of the controller and
thus balancing the difference in power And it could be used to
create remedies such as a right to return a device that cannot be
used without illegal data processing
Overall Art 7(4) has the best intentions to protect data sub-
jects but further steps need to be taken to transfer those good
intentions into the reality of data subjects
Die Autorin hat im Fruumlhjahr 2018 die erste juristische Staatspruumlfung an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau abgelegt Derzeit absolviert sie ein LLM-Studium in Intellectual Property Law an der University of Edinburgh Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Seminares Data Protection and Information Privacy auf Grundlage einer dort gestellten Essay-Frage entstanden
7 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1449
81 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1451 Monopolkom-
mission Competition Policy The challenge of digital markets Special Re-
port No 56 at para 341 82 This is at least the case in the Digital Content Directive 83 Art 3(1) of the Unfair Contract Terms Directive 84 Art 7 Charter of Fundamental Rights
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 32
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo
-Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK-
-
Sarah Baukelmann
Abstract
Der Fall Gaumlfgen hat die deutsche sowie die europaumlische
Rechtsprechung vor eine Herausforderung gestellt Die
abweichenden Meinungen der einzelnen RichterInnen1 in
den zwei ergangenen Urteilen zeigt das Dilemma mit dem
sich die fuumlnfte Kammer und die Groszlige Kammer des
EGMR konfrontiert sahen In diesem Fall wurde der Taumlter
zum Opfer der polizeilichen Vernehmungsmethode Frag-
lich ist unter welchen Voraussetzungen ein Straftaumlter sich
selbst als Opfer der Justiz bezichtigen kann Und wie geht
der Gerichtshof mit diesem Fall um der methodologisch
normativ und moralisch an die Grenzen des Rechts und
der bisherigen Rechtsprechung stoumlszligt Vorweg sei gesagt
nicht einheitlich
Diese Arbeit hat zum Ziel den Umgang die Methodik und
das Ergebnis zu beleuchten
A Einleitung I Fakten
Gefasst wurde der 27-jaumlhrige Student der Rechtswissenschaften
Magnus Gaumlfgen am Nachmittag des 30 Septembers als er ei-
nen mit Loumlsegeld bezahlten gemieteten Mercedes abholen
wollte2 Die Polizeibeamten die unter der irrtuumlmlichen An-
nahme standen dass das Entfuumlhrungsopfer Jakob noch am Le-
ben sei befragten den mutmaszliglichen Taumlter bis 1Uhr nachts
Am Morgen des 01Oktobers 2002 bevor der leitendende
Hauptkommissar seinen Dienst antrat fuumlhrte der Kriminal-
hauptkommissar Ennigkeit das Verhoumlr Zu diesem Zeitpunkt
wurde der Elfjaumlhrige schon seit vier Tagen vermisst Er drohte
Gaumlfgen auf Anordnung des Vizepraumlsidenten der Frankfurter Po-
lizei Daschner mit der Zufuumlgung von massiven Schmerzen von
1 In dieser Arbeit wird wenn es sich um Maumlnner und Frauen handelt die ver-
kuumlrzte Form der Beidnennung verwendet um geschlechtersensibler und in-klusiver Sprache gerecht zu werden
2 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 82 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 3 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 96 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018)
einer speziell fuumlr diese Zwecke ausgebildeten Person wenn er
den Aufenthaltsort des Kindes nicht preisgebe3 Von Angst mo-
tiviert nannte der Beschuldigte nach etwa zehn Minuten die
Fundstelle der Leiche
Magnus Gaumlfgen wurde am 28072003 wegen Mordes in Tat-
einheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und
wegen falscher Verdaumlchtigung in Tateinheit mit Freiheitsberau-
bung in zwei Faumlllen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamt-
strafe verurteilt Zudem wurde die besondere Schwere der
Schuld festgestellt4
Die Polizeibeamten wurden wegen Noumltigung im Amt und
wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Noumltigung im
Amt fuumlr schuldig befunden und gegen beide Angeklagte eine
Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen Geldstrafen von
60 bzw 90 Tagessaumltzen zu je 60 Euro fuumlr Ennigkeit und 120
Euro fuumlr Daschner wurden hinsichtlich der Verurteilung ver-
haumlngt5
II Was und Warum
Die folgenden gerichtlichen Verfahren stellen in nur mehr als
einer Hinsicht bdquoGrenzfaumllleldquo sowohl fuumlr die deutsche als auch
die europaumlische Justiz dar die Exekutive uumlberschreitet ihre
rechtlichen Grenzen die Strafprozesspflege stoumlszligt an die Gren-
zen des Beweisverwertungsverbots und dessen Fernwirkung
der europaumlische Gerichtshof fuumlr Menschenrechte sieht sich mit
der Grenze des Grundrechtsschutzes insbesondere dem Verbot
der Folter und der Verfahrensgarantie des fairen Verfahrens
konfrontiert Kontrovers wird die Causa Gaumlfgen nicht nur in den
allgemeinen Medien diskutiert sondern ebenso im rechtswis-
senschaftlichen Diskurs6 Besonders deutlich wird dies anhand
der abweichenden Meinungen in den Urteilen des EGMR
III Wie
Die Disparitaumlt der Urteile sowie die -herrschenden und abwei-
chenden- Meinungen bezuumlglich der Rechtsfrage um den Entfall
4 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Tenor abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 5 LG FrankfurtM Urt v 20122004 ndash 527 KLs 7570 Js 20381403 (404) in
NJW 2005 S 692 (693) 6 Vgl aus dem umfangr Schrifttum zit nach Heinrich Goumltz Das Urteil gegen
Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes in NJW 2005
S 953 (953)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 33
der Opfereigenschaft und der Fairness des Verfahrens gilt es in
der Ausarbeitung dazustellen Zur Erreichung dessen ist es not-
wendig die Hintergruumlnde zu beleuchten und den Ablauf der
Verfahren auf deutscher Seite wiederzugeben
Daruumlber hinaus ist im anschlieszligenden Vergleich unter Her-
anziehung vergangener Rechtsprechung des EGMR der Ver-
fahrensgang nach Straszligburg zu beleuchten und zu erlaumlutern
Durch eine tripartitaumlre Darstellung (bisherige Rspr-EGMR I-
EGMR II) laumlsst sich das Urteil der Groszligen Kammer besser ta-
xieren und ein Gesamtergebnis zusammenfassen
B Hauptteil
I Deutscher Verfahrensgang 1 Urteil des LG Frankfurt
Anfaumlnglich erklaumlrte Gaumlfgen den Tod Jakobs nicht geplant zu
haben Nach eingehender Belehrung uumlber die Konsequenzen ei-
ner Aussage hat Gaumlfgen sich in der Hauptverhandlung aus freien
Stuumlcken erneut umfaumlnglich eingelassen und raumlumte letztlich je-
doch ein dass er bereits von Anfang an geplant hatte das Kind
zu toumlten und in dieser Absicht gehandelt habe Er umschrieb
sein Gestaumlndnis dann als den einzigen Weg seine schwere
Schuld zu akzeptieren und als die groumlszligtmoumlgliche Entschuldi-
gung fuumlr den Mord an dem Kind
Das Gericht stellte fest dass sich Gaumlfgen des Mordes schul-
dig gemacht hat und dabei mit direktem Vorsatz gehandelt hat
Ferner folgte die Feststellung von drei Mordmerkmalen Heim-
tuumlcke Habgier und Verdeckungsabsicht Der Taumlter wollte sich
die Maske seines luxurioumlsen Lebens aufrechterhalten Seine Op-
ferauswahl basierte auf der Vermoumlgenslage der Eltern sodass
eine hohe Loumlsegeldforderung realistisch blieb Hauptmotiv war
damit ein Gewinnstreben mit dem der Angeklagte ruumlcksichtslos
die Existenz eines Menschen opferte welches nur als abstoszligend
gewertet werden kann Auch ging es Gaumlfgen darum zu verde-
cken dass er sich des erpresserischen Menschenraubs strafbar
gemacht hat Daher toumltete er den einzigen Zeugen und Opfer die-
ser Straftat Das Fehlverhalten der Exekutive also der Polizei-
beamten koumlnne die rechtsprechende Gewalt nicht daran hin-
dern die Tatsachenfeststellungen nach Recht und Gesetz zu be-
werten und zu beurteilen
Die Kammer hat die Schwere der Schuld aufgrund einer zu-
sammenfassenden Wuumlrdigung von Tat und Taumlterpersoumlnlichkeit
unter Abwaumlgung der fuumlr und gegen den Angeklagten sprechen-
den Gesichtspunkte bejaht Als Gesamtstrafe ist eine lebens-
lange Freiheitsstrafe anzuerkennen
7 BGH Urt v 21052004 ndash 2 StR 3504 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrr2042-35-04php (Abrufdatum 09082018) 8 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (656) 9 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 10 Vgl BVerfG Beschl v 2742000 ndash 2 BvR 7594 in NJW 2000 S 3557
2 Verfahren Bundesgerichtshof
Gaumlfgen legte daraufhin Revision beim BGH in Karlsruhe ein
der diese jedoch mit der Begruumlndung dass die Nachpruumlfung kei-
nen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe7
als unbegruumlndet ablehnte
3 Verfahren Bundesverfassungsgericht
Es folgte eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen die Ent-
scheidungen des LG und des BGH wandte in der Gaumlfgen die
Verletzung von Art 1 I GG sowie Art 104 I 2 GG ruumlgte da die
Behandlung der Polizei in Anbetracht seiner damaligen psychi-
schen und physischen Verfassung sowie des planmaumlszligigen
durch die Polizeihierarchie abgesicherten und von dem ernsthaf-
ten Willen zur (spurenlosen) Umsetzung getragenen Vorgehens
Folter iS des Art 3 EMRK gewesen sei8
Das BVerfG entschied dass die Begruumlndung nicht den An-
forderungen des Vorbringens gem sectsect 23I 2 92 BVerfGG ent-
spreche da es zum einen an der Darlegung der Grundrechtsver-
letzung durch die angegriffenen Maszlignahmen mangele und dass
die geltend gemachten Folge verfassungsrechtlich zwingend
sei9 Inwiefern die Ablehnung eines Verfahrenshindernisses die
verfassungsrechtlich verbuumlrgten Rechte des Beschwerdefuumlhrers
verletze10 hielt das BVerfG nicht fuumlr ausreichend dargestellt da
sich der Beschwerdefuumlhrer ausschlieszliglich gegen seine Verurtei-
lung durch das LG und auf die Verwerfung seiner Revision
durch den BGH11 beschraumlnke Die Verwertbarkeit der Beweis-
mittel betreffend wurde von beiden Gerichten das Beweisver-
wertungsverbot hinsichtlich der Aussagen gem sect 136a StPO an-
erkannt bzw die Fernwirkung desselbigen bzgl der Beweismit-
tel abgelehnt Die Verfassungsbeschwerde wurde mangels Zu-
laumlssigkeit abgelehnt
4 Amtshaftungsklage
Mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg lehnte das LG
Frankfurt den Anspruch auf Schadensersatz gegen das Land
Hessen ab Das OLG Frankfurt hat mit einem Beschluss v
2822007 die Ablehnung der Prozesskostenhilfe bestaumltigt12
II Europaumlische Rechtsprechung
Gaumlfgen als Beschwerdefuumlhrer hat sich an den EGMR gem Art
34 S 1 EMRK13 gewandt und behauptet dass er bei seiner poli-
zeilichen Vernehmung unter Verstoszlig gegen Art 3 gefoltert wor-
den sei Auszligerdem sei er in seinem durch Art 6 I garantierten
Recht auf ein faires Verfahren das ein Recht sich nicht selbst
zu bezichtigen einschlieszlige verletzt worden14 Sein Recht auf
Verteidigung sei ihm durch die Verwertung der Beweismittel
und des Gestaumlndnisses entzogen worden
11 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 12 OLG FrankfurtM Beschl v 2822007 ndash 1 W 4706 in NJW 2007 S 2494 13 Folgende Artikel ohne Kennzeichnung sind solche der EMRK 14 EGMR (V Sektion) Entschv 10042007 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland)
in NJW 2007 S 2461 (2462)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 34
1 Zulaumlssigkeit
Die Beschwerde ergibt fuumlr den Gerichtshof mit Hinblick auf
seine bisher erarbeiteten Rechtsprechungskriterien dass diese
Ruumlge nicht offensichtlich unbegruumlndet iS von Art 35 III ist
2 Verletzung von Art 3
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Schutz von Art 3 ist einer der wichtigsten und grundle-
gendsten Werte unserer demokratischen Gesellschaft15 Art 3
ist nicht einschraumlnkbar und gehoumlrt zu den Bestimmungen von
denen auch im Notstandsfall nicht abgewichen werden darf16
Auch wenn immer mal wieder die Frage der Abwaumlgung zwi-
schen den Risiken fuumlr die betroffene Person und der nationalen
Sicherheit auftauchte lehnte der Gerichtshof eine implizite Be-
grenzung strikt ab17 Selbst in den schwierigsten Umstaumlnden
wie im Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen
verbietet die Konvention Folter und unmenschliche oder ernied-
rigende Behandlung oder Bestrafung absolut ohne jede Aus-
nahme18 Daher hat es fuumlr Art 3 keine Bedeutung welche Straf-
tat dem Betroffenen vorgeworfen wird19
Um von Art 3 erfasst zu werden muss eine Misshandlung ein
Mindestmaszlig an Schwere erreichen Die Beurteilung dieses Min-
destmaszliges ist der Natur der Dinge nach relativ es ist abhaumlngig
von saumlmtlichen Umstaumlnden des Einzelfalls20 Der Zweck sowie
die Absicht und die Beweggruumlnde bilden Faktoren fuumlr die Ein-
ordnung der Behandlung21 So zum Beispiel die Erlangung eines
Gestaumlndnisses22 und der Kontext der fraglichen Behandlung23
Der Gerichtshof hat eine Behandlung als erniedrigend erach-
tet wenn sie dazu angetan ist bei den Opfern Gefuumlhle der Angst
Beklemmung und Unterlegenheit hervorzurufen die geeignet
sind sie zu demuumltigen zu entwuumlrdigen und moumlglicherweise ih-
ren koumlrperlichen oder geistigen Widerstand zu brechen24 Bei
der Beurteilung ob eine Bestrafung oder eine Behandlung er-
niedrigend iS des Art 3 ist wird das Gericht auch pruumlfen ob es
dem Zweck dient die betreffende Person zu erniedrigen und zu
benachteiligen und ob sie in Bezug auf die Folgen ihre Persoumln-
lichkeit in einer Weise beeintraumlchtigt die mit Art 3 unvereinbar
ist mit einer Behandlung die Gefuumlhle von Angst Angst und
Minderwertigkeit hervorruft die geeignet sind das Opfer zu er-
niedrigen oder zu entwerten und moumlglicherweise seinen physi-
schen oder moralischen Widerstand zu brechen oder das Opfer
15 EGMR Urtv 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 119 abrufbar unter
httphudocechrcoeintengi=001-58559 (Abrufdatum 2882018) 16 EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ 1997 S
1078 17 Vgl EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ
1997 S 1078 18 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 wwwhu-
docechrcoeintengitemid[001-58559] (Abrufdatum 15082018) 19 EGMR Urtv 2822008 - 3720106 (SaadiItalien) Rn 139-140 in NVwZ
2008 S 1330 20 EGMR Urt v 1811978 Rn 162 in EuGRZ 1979 Seite 149 21 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 88 (Abrufdatum 21082018)
22 EGMR Urtv 8121996 - 2198793(AksoyTuumlrkei) Rd 64 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-58003 (Abrufdatum 28082018) 23 EGMR Urtv 20122000 - 3087396 (EgmezZypern) Rd 78 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59100 (Abrufdatum 28082018)
zu veranlassen gegen seinen Willen oder Gewissen zu han-
deln25 Art 1 UN-Antifolterkonvention postuliert dass bdquowenn
eine Behandlung erfolgt um () ein Gestaumlndnis zu erlangen oder
um zu bestrafen einzuschuumlchtern oder zu noumltigenldquo es sich um
Folter handelt Die bloszlige Bedrohung mit einem durch Art 3 ver-
botenen Verhalten kann mit dieser Bestimmung in Konflikt ge-
raten Die Bedrohung eines Menschen mit Folter koumlnnte demge-
maumlszlig unter bestimmten Umstaumlnden zumindest eine bdquounmensch-
liche Behandlungldquo darstellen26 Hat jedoch ein innerstaatliches
Verfahren stattgefunden so ist es nicht Aufgabe des Gerichts-
hofs anstelle der innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt zu
wuumlrdigen und es obliegt in der Regel diesen Gerichten die
ihnen vorliegenden Beweise zu wuumlrdigen27
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die angedrohte Bedrohung
wenn sie erfolgt waumlre als Folter anzusehen waumlre und ist vor die-
sem Hintergrund der Auffassung dass der Bf waumlhrend der Be-
fragung am 1102002 einer nach der Konvention verbotenen
unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war28
c) EGMR II
Unter Beruumlcksichtigung der fuumlr die Beurteilung wesentlichen
Gesichtspunkte haben die gegen den Bf ausgesprochenen realen
und direkten Drohungen das Mindestmaszlig an Schwere erreicht
um das umstrittene Verhalten der Polizeibeamten in den Anwen-
dungsbereich von Art 3 zu bringen Das durch die Androhung
ausgeloumlste psychische Leiden dem der Bf ausgesetzt war ist
schwerwiegend genug um als eine nach Art 3 verbotene und
unmenschliche Behandlung gewertet zu werden aber nicht das
Niveau der Grausamkeit erreicht um sie als Folter zu bezeich-
nen29
d) Fazit
Die Verletzung von Art 3 wurde bereits von den innerstaatli-
chen Gerichten und der Kammer anerkannt Die Anwendbarkeit
von Art 3 insgesamt mithin das Vorliegen einer Behandlung
die dessen Tatbestand erfuumlllt begruumlndet die Groszlige Kammer aus-
fuumlhrlich und eng an den Kriterien der bisherigen Rspr ange-
lehnt30 Die Groszlige Kammer weicht mit dieser Einschaumltzung
nicht von ihrem vorherigen Rechtskurs ab31
24 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 abrufbar unter wwwhudocechrcoeintengitemid[001-58559 (Abrufdatum
15082018) 25 EGMR 342001 - 2722995 (KeenanUK) Rd 110 abrufbar unter wwwhu-
docechrcoeintengi=001-59365 (Abrufdatum 28082018) 26 EGMR Urtv 2521982 - 751176 (Campbell CosansUK) Rd 23 abrufbar
unter httphudocechrcoeintengi=001-57455 (Abrufdatum 28082018)
27 EGMR Urtv 2291993 - 1547389 (KlaasDeutschland) Rd 29 Serie A Bd
269 28 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 69 ff 29 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3146) 30 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 31 Fuumlr Beispiele als Einordnung von Folter siehe Christoph Grabenwarter Ka-
tharina Pabel Europaumlische Menschenrechtskonvention ein Studienbuch
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 35
3 Opfereigenschaft
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Gerichtshof verlangt fuumlr den Fortfall der Opfereigenschaft
1 dass der beklagte Staat den Eingriff aufhebt und anerkennt
dass eine Konventionsverletzung vorgelegen hat und 2 dass er
die Konventionsverletzung angemessen wiedergutmacht32 Eine
angemessene Wiedergutmachung der Konventionsverletzung
kann durch unterschiedliche Rechtsbehelfe bewirkt werden33
Im Zuge dessen hat der Gerichtshof festgestellt dass es nicht um
die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten
sondern um die voumllkerrechtliche Verantwortung des Staates
ginge34 Die Zustaumlndigkeit des Gerichtshofs beschraumlnkt sich auf
Letztere In sbquovergleichbarenlsquo Faumlllen wurde beanstandet dass
keinerlei disziplinarischen Maszlignahmen gegen die Staatsbe-
dienstete eingeleitet wurden35 sowie das Unterlassen einer Sus-
pendierung oder die Entlassung bei Verurteilung36
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die deutschen Gerichte die Kon-
ventionsverletzung ausdruumlcklich und der Sache nach anerkannt
haben37Zur Wiedergutmachung ist der Schuldspruch vom
20122004 gegen die Polizeibeamten zu nennen Unter Beruumlck-
sichtigung aller Umstaumlnde stellte der Gerichtshof fest dass der
Verstoszlig gegen Art 3 in der Androhung einer Misshandlung be-
steht (im Unterschied zu einer tatsaumlchlichen koumlrperlichen Miss-
handlung die die Schwelle fuumlr die Anwendbarkeit von Art 3
erreicht) Eine Wiedergutmachung fuumlr die Verletzung wurde
durch die wirksame Strafverfolgung und Verurteilung der ver-
antwortlichen Polizeibeamten mit der unzweifelhaft der Un-
rechtsgehalt der Misshandlung festgestellt wurde38 anerkannt
Diese Uumlberlegungen fuumlhren dazu dass der Bf nicht mehr be-
haupten kann Opfer einer Verletzung von Art 3 zu sein da die
innerstaatlichen Gerichte hinreichend Wiedergutmachung fuumlr
die gegen Art 3 verstoszligene Behandlung geleistet haben
c) EGMR II
Die Verletzung von Art 3 wurde durch die innerstaatlichen Ge-
richte ausdruumlcklich anerkannt Jedoch sei die Verurteilung zu
Geldstrafen iHv 60 bzw 120 Euro zu je 60 bzw 90 Tagessaumlt-
zen die auch noch zur Bewaumlhrung auszusetzen sind keine an-
gemessene Reaktion auf einen Verstoszlig gegen Art 3 Eine solche
bdquooffensichtlich unverhaumlltnismaumlszligigeldquo Strafe fuumlr die Verletzung
eines der wesentlichen Grundrechte der Konvention hat nicht
die abschreckende Wirkung die notwendig ist um neuen Ver-
stoumlszligen gegen das Verbot von Misshandlungen in kuumlnftig moumlgli-
6Aufl 2016 sect20 Rn 42 Maureen Spencer und John Spencer Human
Rights in a Nutshell 3 Aufl S89 32 Meyer-LadewigKulick Europaumlische Menschenrechtskonvention Handkom-
mentar 4 Auflage Art 34 Rd 31 33 EGMR Urt v 2932006 ndash 3681397 (ScordinoItalien) Rd 186 in NJW
2007 S1259 34 EGMR Urt v 1042001 - 2612995 (TanliTuumlrkei) Rd 111 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59372 (Abrufdatum 2882018) 35 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 63 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 36 EGMR Urtv 2112004 - 3244696 (AbduumllsametTuumlrkei) Rd 55 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-67228 (Abrufdatum 2882018)
chen schwierigen Situationen vorzubeugen39 Die von den deut-
schen Gerichten ergriffenen Maszlignahmen entsprechen keiner
Widergutmachung die jemand bekommen sollte wenn Art 3
verletzt worden ist Mangels ausreichender Wiedergutmachung
ist der Bf nach wie vor Opfer der Verletzung von Art 3
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die bulgarische Richterin Kalaydjieva konnte sich den Ausfuumlh-
rungen der Mehrheit (mit sechs zu einer Stimme) des Entschlus-
ses der Kammer nicht anschlieszligen Sie begruumlndet ihre Auffas-
sung damit dass die Verletzung von Art 3 bereits festgestellt
worden ist und dass die Opfereigenschaft nicht durch Entschauml-
digung wegfalle Vielmehr wuumlrde dies den Weg ebnen fuumlr die
Legitimierung von Zwang als Methode zur Beschaffung von Be-
weismitteln in Strafverfahren in denen bei wichtigen Faumlllen
die Devise Zahlen und Foltern gelte Danach koumlnnten Ver-
stoumlszlige gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung im Namen der Gerechtigkeit begruumln-
det und beguumlnstigt werden40
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen stimmen mit der Mehrheit der GK uumlberein
weichen jedoch bei der Begruumlndung der Opfereigenschaft ab
Die innerstaatlichen Behoumlrden die uumlber die Erschoumlpfung aller
innerstaatlichen Rechtsbehelfe entscheiden haben die Verlet-
zung von Art 3 anerkannt Die GK hat bereits festgestellt dass
eine Widergutmachung nicht stattgefunden hat da die Wirkung
der Strafen keine ausreichende abschreckende Wirkung hatte
Fraglich ist allerdings ob die Waffe der Bestrafung als Abschre-
ckungswirkung der einzige Weg der Wiedergutmachung gewe-
sen waumlre Nach Auffassungen der drei RichterInnen unter Be-
ruumlcksichtigung der Gesamtumstaumlnde des Falls waumlre fuumlr die
festgestellte und anerkannte Verletzung von Art 3 ein Verwer-
tungsverbot fuumlr die konventionswidrig erlangten Beweise eine
angemessene und hinreichende Widergutmachung gewesen41
cc) Richter Casadevall ua
Die abweichende Meinung von Richter Casadevall der sich die
Richter Kovler Mijović Jaeger Jočiene und Loacutepez Guerra an-
geschlossen haben negiert die Opfereigenschaft des Bf sowie
die Feststellung der Verletzung von Art 3 Der andorranische
Richter schlieszligt sich der Rspr der Kammer an dass die Andro-
hung von Gewalt eine unmenschliche Behandlung darstellt
Dies wurde jedoch bereits von den deutschen Gerichten foumlrm-
lich anerkannt Die Begruumlndung des Gerichtshofs die Opferei-
Vgl Conclusions and Recommendations of the United Nations Committee
against Torture Turkey 27 May 2003 CATCCR305 37 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 77 38 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 80 39 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3147) 40 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 118-119 (Abrufdatum
16082018) 41 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 7 der abw Meinung (Ab-
rufdatum 17082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 36
genschaft nicht abzuerkennen war die milde Bestrafung der Po-
lizeibeamten obwohl es nicht seine Aufgabe ist uumlber die
Schwere der Schuld des Einzelnen zu entscheiden denn es han-
delt sich hierbei um Angelegenheiten die in die ausschlieszligliche
Zustaumlndigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte fallen42 Die
Opfereigenschaft des Bf ist nicht abhaumlngig von der Houmlhe der ge-
gen die Polizeibeamten verhaumlngten Strafen Ebenso ist die Frage
der Houmlhe der Strafen willkuumlrlich denn wird die Houmlhe der Strafe
zum Maszligstab gemacht so kann man sich fragen welches Straf-
maszlig fuumlr die Mehrheit wohl genuumlgt haumltte um die Feststellung
treffen zu koumlnnen dass die Opfereigenschaft des Bf entfalle Der
Richter erhebt Zweifel an dem Erfordernis einer Entschaumldigung
und an der Amtshaftungsklage die nicht einmal eine Entschaumldi-
gung zum Ziel hat sondern ein neues Verfahren und die erst drei
Jahre nach Eintritt des Schadens versucht wurde geltend zu ma-
chen Zweifelhaft ist auch der Tenor des Urteils denn letztlich
bestaumltigt der Gerichtshof das was die innerstaatlichen Behoumlrden
bereits anerkannt haben die Verletzung von Art 3
e) Fazit
Die GK verweist auf die Verfolgung der fuumlr die unmenschliche
Behandlung Verantwortlichen Beamten Die in der Rechtspre-
chung -uumlberwiegend in Urteilen uumlber Beschwerden gegen die
Tuumlrkei und Russland-43 verfestigten Kriterien fuumlr eine gruumlndli-
che und effektive Untersuchung bringt der EGMR auch hier zur
Anwendung Raschheit Verfahrensdauer Ergebnisse der Un-
tersuchung und anschlieszligender Strafverfahren einschlieszliglich
disziplinaumlrer Maszlignahmen44 Dies erscheint auf dem ersten Blick
auch angemessen da mit der Verletzung von Art 3 eine Verlet-
zung des garantierten Rechtsschutzes vorliegt Jedoch weisen
die Urteile vorheriger Faumllle Unterschiede in der Schwere der
Misshandlung auf die bis hin zu Folter und zu einer Verletzung
von Art 2 durch Staatsbedienstete gehen Im vorliegenden Gaumlf-
gen Fall handelt es sich um eine 10-minuumltige unmenschliche Be-
handlung Die Faumllle NiklovaBulgarien TanliTuumlrkei und Ab-
duumllsametTuumlrkei bei denen die Opfer in Polizeigewahrsam auf-
grund von Folter gestorben sind gleichzusetzen mit der Andro-
hung von Gewalt uumlberzeugt nicht Die Grundsaumltze sind in der
bisherigen Rspr entwickelt worden in Faumlllen in denen gegen
die verantwortlichen Polizeibeamten keinerlei disziplinarische
Sanktionen eingeleitet worden sind Die vermeintliche Kritik
dass Daschner und Ennigkeit nicht suspendiert wurden schlaumlgt
ebenfalls fehl da beide bereits waumlhrend der Untersuchungen
und des Strafverfahrens von Positionen entfernt wurden in de-
nen sie in direkter Verbindung mit der Untersuchung von Straf-
taten standen45 Wenn die Beurteilung des Mindestmaszliges fuumlr die
42 Vgl EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 123 (Abrufdatum 17082018)
43 Vgl EGMR Urtv 3092004 ndash 5022299 (Krastanov) Rd 48 EGMR
Urtv1772008 ndash 284330202 (Camdereli) Rd 28 44Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 45 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 46 EGMR Urt v 1811978 - 531071 (IrlandUK) Rn 162 in EuGRZ 1979
S149 47 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129)
Schwere einer Behandlung also relativ ist abhaumlngig von saumlmtli-
chen Umstaumlnden des Einzelfalls wie die Dauer der Behandlung
ihre physischen und psychischen Folgen46so scheint die Frage
die Richter Casadevall aufgeworfen hat wann die Schwere der
Bestrafung ausreichend gewesen waumlre fuumlr einen Entfall der Op-
fereigenschaft unbeantwortet zu bleiben Trotz Erfuumlllung aller
formalistischen Voraussetzungen entscheidet die GK uumlber die
general-praumlventive Eignung der Strafe einen Anspruch des Fol-
teropfers auf eine bestimmte Mindestbestrafung die die Verlet-
zung beseitigt47Dem Gerichtshof obliegt es nicht uumlber inner-
staatliches Recht zu fuumlr die verurteilten Polizeibeamten zu urtei-
len Die Schutzrichtung des Art 3 zielt nach erfolgtem Fehlver-
halten darauf ab das Entstehen einer Gleichguumlltigkeit zu verhin-
dern nicht aber auch entscheiden48 so seine eigene Rspr im Jahr
2007
4 Verletzung Art 6
a) Bisherige Rechtsprechung
Das Recht zu Schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen ist
nicht ausdruumlcklich in Art 6 erwaumlhnt ergibt sich aber aus dem
Grundsatz eines fairen Verfahrens und entspricht allgemein an-
erkannten internationalen Standards49 Wird eine strafrechtliche
Verurteilung ausschlieszliglich auf ein durch Verletzung von Art 3
gewonnenes Beweismittel gestuumltzt kann darin eine Verletzung
von Art 6 liegen50 Wenn es sich um Beweise handelt die nur
indirekt durch den Art3 verletzende Methoden erlangt wurden
ist es in der Regel zwar erforderlich dass diese Beweise in ei-
nem Strafverfahren nicht verwendet werden51 Eine Frage nach
Art6 I kann aufgeworfen werden wenn es sich um Beweise
handelt die unter Verletzung von Art3 erlangt worden sind
selbst wenn die Zulaumlssigkeit solcher Beweise bei der Verurtei-
lung des Beschuldigten nicht ausschlaggebend gewesen ist52
Wird das Recht zu schweigen durch eine Maszlignahme verletzt
die gegen Art3 verstoumlszligt so sind in der Folge dann wenn ein
Fall der Folter vorliegt auch koumlrperliche Beweismittel die auf-
grund der Folterung erlangt werden koumlnnen unverwertbar ohne
dass es auf eine Abwaumlgung ankaumlme53 Die Verwertung rechts-
widrig erlangter Beweise kann zu einer Verletzung des Art 6 I
1 fuumlhren eine solche wird aber selbst bei Verletzung anderer
Konventionsrechte nur nach Umstaumlnden des Falles nicht aber
per seacute anerkannt soweit die Beweise unter Beachtung der Natur
der Verletzung in der adversatorischen Hauptverhandlung unbe-
hindert angefochten werden koumlnnen54
48 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 163 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 49 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 129 50 EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006 S
3117 (3123) 51 Grabenwarter und Pabel Fn 80 sect24 Rn 71 52 EGMR Entschv912003 - 5491900 (Iccediloumlk Tuumlrkei) Rd 3 abrufbar unter
www httphudocechrcoeintengi=001-22982 (Abrufdatum 28082018)
53 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 133 54 Karsten Gaede Fairness als Teilhabe ndash Das Recht auf konkrete und wirksame
Teilhabe durch Verteidigung gemaumlszlig Art 6 EMRK S322
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 37
b) EGMR I
Die wesentliche Grundlage fuumlr das Urteil des LG ist allein das
neue und umfassende Gestaumlndnis das er nach qualifizierter Be-
lehrung in der Hauptverhandlung als erwiesen ansah waumlhrend
alle anderen Beweismittel einschlieszliglich der beanstandeten
sachlichen Beweismittel eine Nebenrolle spielten und nur ver-
wertet wurden um den Wahrheitsgehalt dieses Gestaumlndnisses zu
uumlberpruumlfen55
Folglich kommt das Gericht zu dem Ergebnis dass keine der
beanstandeten Beweismittel bei der Uumlberpruumlfung der Schuld
eine Rolle spielten und dass die Verteidigungsrechte des Bf in-
folge ihrer Zulassung nicht beeintraumlchtigt wurden Im Ergebnis
liegt durch die Verwertung kein Verstoszlig gegen das Gebot des
fairen Verfahrens gem Art 6 I und III vor
c) EGMR II
Der Bf behauptet dass die Verwertung der Beweismittel in dem
gegen ihn gefuumlhrten Strafverfahren eine erhebliche Rolle bei sei-
ner Verurteilung gespielt haumltte
Problematisch ist der Anwendungsbereich der Ausschlussre-
gel von Beweismitteln die durch eine Verletzung von Art 3 ge-
wonnen wurden Bisher besteht keine gaumlngige Rspr weder bei
den Konventionsstaaten noch den Gerichten anderer Staaten o-
der Institutionen die uumlber die Wahrung von Menschenrechten
zu wachen haben
Ein Ausschluss so erlangter Beweismittel wuumlrde die Strafver-
folgung erheblich in ihrer Wirksamkeit beeintraumlchtigen Auf der
anderen Seite stehen die Opfer oder Familienangehoumlrigen der
Opfer die Interesse an der Aufklaumlrung der Straftat haben wie es
im vorliegenden Fall auch der Fall ist Ein von Wesentlichkeit
gepraumlgtes oumlffentliches Interesse an der Integritaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens das die Werte unserer zivilisierten Gesell-
schaft schuumltzt ist vorhanden damit die erarbeiteten Grundsaumltze
nicht an Bodenhaftung verlieren Eine Zulassung der illegal er-
worbenen Beweismittel koumlnnten eine Veranlassung sein das ab-
solute Verbot des Art 3 zu umgehen oder bei wirksamem
Schutz des Einzelnen gegen solche Methoden ein Verbot der
Zulassung
Im vorliegenden Fall ist zu beachten dass die rechtswidrige
Vernehmungsmethode angewandt wurde um das in Art 2 ma-
nifestierte Grundrecht des Kindes auf Leben zu retten Die Kon-
vention verpflichtet die Vertragsstaaten auch das Recht auf Le-
ben zu schuumltzen56 Jedoch kann weder der Schutz menschlichen
Lebens noch eine strafrechtliche Gefaumlhrdung um den Preis einer
Gefaumlhrdung der Garantie des absoluten Rechts von Art 3 aus-
gesetzt werden ohne die Werte zu opfern und die Justiz in Verruf
zu bringen Die Fairness des Verfahrens ist hingegen nur betrof-
fen wenn feststeht dass sich der Verstoszlig gegen Art 3 auf den
Ausgang des Verfahrens gegen den Angeklagten ausgewirkt hat
anders gesagt wenn er die Entscheidung uumlber seine Schuld und
die Strafe beeinflusst hat57
55 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (701) Rd 106 56 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) EGMR Urt v 28101998 - 2345294 (OsmanUK) in Slg
1998-III S3159-3160 Nr 115-116 57 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Fuumlr das LG Frankfurt waren nicht die Beweismittel ein-
schlieszliglich der beanstandeten koumlrperlichen Beweismittel we-
sentliche Grundlage fuumlr das Urteil sondern allein das neue und
umfassende Gestaumlndnis das nach qualifizierter Belehrung in der
Hauptverhandlung abgelegt wurde Die umstrittenen bdquoeinge-
faumlrbtenldquo Beweismittel waren nicht notwendig und haben nicht
dazu gedient die Schuld des Bf zu beweisen oder die Strafe fest-
zustellen
Dass der Bf in der Hauptverhandlung keine andere Wahl ge-
habt haben soll ist der erneuten qualifizierten Belehrung und
dem Hinweis des Gerichts dass seine bisher getaumltigten Gestaumlnd-
nisse nicht gegen ihn verwertet werden koumlnnen entgegenzustel-
len Zumal er zugegeben hat sein Gestaumlndnis aus Reue abzuge-
ben
Die GK ist nicht der Meinung dass die Verletzung von Art
3 im Ermittlungsverfahren Einfluss auf das in der Hauptver-
handlung abgelegte Gestaumlndnis hatte Die Rechte der Verteidi-
gung und das Recht sich selbst zu bezichtigen wurden ebenfalls
beachtet Folglich ist Art 6 I iVm III nicht verletzt
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die Absolutheit von Art 3 ziehe eine Verletzung der Selbstbe-
lastungsfreiheit nach sich und somit einen Verstoszlig gegen Art 6
Der Gerichtshof unterscheide nicht zwischen durch Zwang er-
worbene Aussagen und durch von Zwang erworbene Beweis-
mittel Die Verwertung der Beweismittel im vorliegenden Fall
und der angebliche Verlust der Opfereigenschaft stellt einen ge-
faumlhrlichen Ansatz dar der zu einer illegalen Beschaffung von
Beweismitteln solange das Verhaumlltnis zwischen Nutzen und
Schaden vertretbar ist verleite
Ob die Beweismittel ggf zu einem spaumlteren Zeitpunkt aufge-
funden worden waumlren ist nicht ob dem Gericht daruumlber zu spe-
kulieren Die Frage ist ob das Recht auf die Selbstbelastungs-
freiheit wirksam ausgeuumlbt wurde ohne sich dabei auf illegal er-
langte Beweismittelverwertung zu stuumltzen Angeblich so das in-
nerstaatliche Gericht sei der Umfang der Beweisverwertung nur
auf die Uumlberpruumlfung des Gestaumlndnisses beschraumlnkt Tatsche je-
doch ist dass ohne die Beweismittelverwertung die nach inner-
staatlichem Recht das Gestaumlndnis nicht haumltten uumlberpruumlfen koumln-
nen die Qualifizierung von erpresserischen Menschenraub zu
Mord nicht haumltte stattfinden koumlnnen58
Die Frage der Verfahrenseinstellung ist keine Abwaumlgung
zwischen der Gefahr oder Schwere einer Misshandlung gegen
die Gefaumlhrlichkeit fuumlr die Gemeinschaft denn dies kommt
der Feststellung gleich dass der Schutz der nationalen Sicher-
heit es rechtfertigt die Gefahr einer Misshandlung des Betroffe-
nen eher in Kauf zu nehmen59 Festzustellen ist ob zur Schuld-
feststellung ein Zugriff auf die durch Androhung von Zwang er-
langten Beweismittel hinzugezogen wurden selbst wenn es nur
zur Uumlberpruumlfung eines Gestaumlndnisses galt Durch den Ruumlckgriff
58 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 124 (Abrufdatum 16082018)
59 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 117 (Abrufdatum 16082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 38
auf die illegal erlangten Beweismittel ist die Unschuldsvermu-
tung und damit die Fairness des Verfahrens eingeschraumlnkt
Die einzige Heilung fuumlr den Verstoszlig gegen Art 6 und die Ab-
sprache der Opfereigenschaft sei ein neues Verfahren
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen weichen von der mehrheitlichen Meinung ab
dass keine Verletzung von Art 6 Abs I und III stattgefunden
hat Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ergebe
sich aus der Zulassung der Beweismittel die unmittelbar aus
Art 3 sichergestellt worden sind und unter selbstbelastenden
Umstaumlnden erlangt worden sind Deren Zulassung ist eine fun-
damentale und auszligerordentlich wichtige Grundsatzfrage die die
Fairness iSv Art 6 betrifft Die bisherige Rspr habe Gestaumlnd-
nisse die unter einer Verletzung von Art 3 gewonnen wurden
als immer unzulaumlssig betrachtet Uneindeutig war bisher der
Umfang des Verwertungsverbots fuumlr sachliche Beweismittel
Nach Auffassung der RichterInnen kann ein Strafverfahren in
dem Beweismittel die infolge eines Verstoszliges gegen eine derart
absolute Konventionsvorschrift erlangt wurden zugelassen und
bdquoin welchem Umfang auch immerldquo zur Entscheidung herange-
zogen werden nicht fair sein60 Unfair sei selbst wenn unter an-
gemessenen Verfahrensgarantien erlangt Beweismittel verwer-
tet werden denen auch nur der Makel von Druck oder Zwang
anhaftet Die Diskrepanz zwischen der Zulaumlssigkeit der Aussa-
gen und der Zulaumlssigkeit der Beweismittel gefaumlhrde durch deren
Begruumlndung das absolute Rechte Der angeblichen Unterbre-
chung der Kausalkette koumlnnen sich die RichterInnen nicht an-
schlieszligen Die Trennung die der Gerichtshof vornimmt zwi-
schen der Verurteilung wegen Mordes und dem bdquoeingeschlage-
nen Wegldquo im Rahmen der Beweisverwertung sei unrealistisch
und formalistisch Die in der Ermittlungsphase geschehene Ver-
letzung ziehe seine nachteiligen Folgen in dem sich ergebenden
Verfahren da die Bedeutung der Ermittlungsphase einen Rah-
men bestimmen kann fuumlr den Ansatz eines Gerichts Die nach-
teiligen Folgen haumltten fuumlr eine Wiedergutmachung komplett be-
seitigt werden koumlnnen durch ein Beweisverwertungsverbot und
einer bdquosauberen Durchfuumlhrungldquo des Verfahrens Die StA haumltte
den Bf wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge
anklagen und damit den wirksamen Schutz aufrechterhalten
koumlnnen Fraglich erscheint jedoch die Unterscheidung zwischen
Beweismitteln Zumal sich die Frage stellt warum wenn die
bdquounsauberen Beweismittelldquo nicht zur Verurteilung dienten sie
uumlberhaupt zugelassen werden mussten Nach Einschaumltzung der
teilweise abweichenden Meinung hatten die Beweismittel Ein-
fluss auf den Ausgang des Verfahrens und eine Heilung durch
die Unverwertbarkeit der Gestaumlndnisse des Bf nuumltzte ihm wenn
uumlberhaupt nur wenig Im Gegenteil da die Zulaumlssigkeit derer
60 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 2 der abw Meinung (Ab-rufdatum 17082018)
61 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) 62Vgl EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006
S 3117 (3123) 63 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131)
die Freiheit sich zu verteidigen erheblich oder gar voumlllig ein-
schraumlnkt ist eine Verurteilung nahezu unausweichlich Die
Amtstraumlger handelten zwar in einer schwierigen und sehr ange-
spannten Situation doch gerade in kritischen Zeiten duumlrfen ab-
solute Werte nicht aufs Spiel gesetzt werden Die Umstaumlnde aumln-
dern nichts an der Tatsache dass sie durch einen Verstoszlig gegen
Art 3 sachliche Beweismittel erlangten die spaumlter in dem Straf-
verfahren gegen den Beschwerdefuumlhrer verwertet und zur Be-
gruumlndung herangezogen wurden Da es sich um ein absolutes
Recht handelt sind alle Verstoumlszlige dagegen schwerwiegend und
die wirksamste Moumlglichkeit dieses absolute Verbot durchzuset-
zen ist eine strenge Anwendung des Verwertungsverbots im
Hinblick auf Art 6
e) Fazit
Die GK schlieszligt sich in ihrem Urteil im Wesentlichen dem an
was die Kammer in ihrem Entschluss bewertete Der Bf hatte
die Moumlglichkeit der Bekaumlmpfung der bdquovergiftetenldquo Beweise vor
dem LG deren Ausschluss er auch in seinem Antrag vor der
Hauptverhandlung beantragte Durch die qualifizierte Beleh-
rung uumlber das Schweigerecht und den Umstand dass keine sei-
ner fruumlheren Aussagen als Beweis gegen ihn verwendet werden
duumlrfe wurde der Bf in den Status quo ante versetzt61 Jedoch
stimmt das Argument der bulgarischen Richterin Kalaydjieva
nachdenklich In seiner vorherigen Rspr hat der EGMR keine
Unterscheidung zwischen Aussagen und koumlrperlichen Beweisen
gemacht Im Gegenteil in Urteilen wie Jalloh als einem Dro-
gendealer seine Beute durch die Zufuumlhrung von Brechmitteln
entwendet wurde wurde die Zulassung der illegal erworbenen
Beweismittel als moumlgliche Verletzung von Art 6 I gewertet62
Dem koumlnnte das oumlffentliche Interesse der Verurteilung von Gaumlf-
gen entgegenstehen die es im oben genannten Beispiel nicht
gab63 Man gewinnt den Eindruck dass der EGMR etwas hin-
und hergerissen ist zwischen der Absolutheit des Art3 und dem
bdquoweicherenldquo Fairnessgebot bis er sich zur Abwaumlgung iRv Art6
durchringt64
Einen Ausweg scheint der EGMR in der Schuldbegruumlndung
zu finden Dies erscheint jedenfalls schon beinahe konstruiert
und uumlberzeugt wenig da auf der einen Seite die koumlrperlichen
Beweise keine Rolle spielen und auf der anderen Seite genau
dieselben den Wahrheitsgehalt des Gestaumlndnisses uumlberpruumlfen
sollen Die in Jalloh offen gelassene Frage der indirekten Ver-
wertbarkeit ist nun beantwortet und laumlsst insofern eine bdquoHinter-
tuumlrldquo offen65 indem ein Ausschluss von Beweisen erforderlich
sein koumlnnte aber nur fuumlr den Fall des Einflusses auf das Ge-
staumlndnis oder die Strafe66
65 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 66 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 39
5 Ergebnis
Das endguumlltige Urteil aus Straszligburg uumlberrascht Der Gerichtshof
bleibt sich den Grundsaumltzen des Art 3 treu Umso mehr uumlber-
rascht die Bewertung der innerdeutschen Strafprozesspflege und
die Verhaumlngung der Strafen Um die Absolutheit von Art 3 zu
schuumltzen bestimmt sich der Gerichtshof selbst als Kontrol-
linstanz fuumlr die Schwere von Strafen Aus Angst Art 3 wuumlrde
unterwandert beschlieszligt die GK dass sich Gaumlfgen weiter als
bdquoOpferldquo der Justiz iSv Art 34 I bezeichnen darf Es finden sich
in dem endguumlltigen Urteil Abweichungen der bisherigen Rspr
die sich weniger rechtlich als moralisch erklaumlren lassen Eine
Abwaumlgung fuumlr eine Beweisverwertung ist kritisch zu betrach-
ten67 Die abweichenden Meinungen streuen begruumlndete Zweifel
in die zugebenermaszligen neue Leitlinie des EGMR
III Gesamtfazit
Die moralische und rechtliche Problematik wird deutlich an der
scharfen Meinungsspaltung der Jurisprudenz Die Mehrheit der
5 Kammer und die Minderheit der GK sowie die innerdeut-
schen Gerichte stimmen uumlberein dass die milde Strafe der Poli-
zisten die Verletzung von Art3 kompensiere Vorherzusehen
war es nicht dass der EGMR der Rspr der deutschen Gerichte
zustimmt und Einigkeit herrscht Der absolute Schutz von Art3
bleibt bewahrt und der Umfang des Beweisverbots ist nach wie
vor -wenn auch etwas weniger- ungeklaumlrt
C Ausleitungsteil
Anknuumlpfend an die anfangs aufgestellten Herausforderungen
und die Ausgangsproblematik dieser Arbeit laumlsst sich folgendes
sagen der EGMR hat neues Terrain betreten
Methodologisch bestand die Grenzerfahrung in der Erhaltung
des Rechtsschutzes fuumlr Gaumlfgen als Rechtssubjekt und Grund-
rechtstraumlger Die objektive Bewertung stellt sich bereits als her-
ausfordernd dar
Normativ war zu entscheiden ob die Androhung von Gewalt
unter Folter fiel und ob die Androhung vergleichbar mit brutalen
und gewaltsamen Vernehmungsmethoden war Die Herausfor-
derung bestand darin zu entscheiden ob dies nicht das ganze
Strafverfahren Gaumlfgens gefaumlhrdete und seine Verurteilung
Moralisch ist zu unterscheiden zwischen dem Unrechtsgehalt
der Tat und dem Unrechtsgehalt der Behandlung Strafe sollte
nicht dem Zweck der Vergeltung dienen Fuumlr die begangene Tat
wurde Gaumlfgen zu lebenslanger Haft verurteilt Seine Rechte als
Grundrechtstraumlger stehen ihm ebenso zu wie die Anspruumlche Ver-
letzungen geltend zu machen Die Grundsaumltze unseres Rechts-
staates wurden uumlber Jahrhunderte lang erarbeitet und erkaumlmpft
und sind gerade in Anbetracht unserer Historie unumstoumlszliglich
Der zu behandelnde Fall ist nicht nur von juristischer Schwie-
rig- und Spitzfindigkeit sondern auch von moralischer Unwei-
gerlich stellen wir die Uumlbereinstimmung unseres Rechts und un-
seres Rechtsempfindens in Frage Damit scheinen wir jedoch
nicht alleine zu sein denn auch die RichterInnen in Straszligburg
stehen vor dem Menschenwuumlrdedilemma zwischen Opfer und
67 Naumlher dazu Karsten Gaede Fairness als Teilhabe 2007 S810 ff
Taumlter Die Schwierigkeit in diesem besonderen Fall war es den
Taumlter einer Straftat als Opfer der Polizei und des Rechtsstaates
zu betrachten was auf den ersten Blick schon fast antagonistisch
wirkt Der schuldig gesprochene Gaumlfgen hat alle Rechtsmittel
auf deutscher und europaumlischer Ebene ergriffen Es faumlllt schwer
zuzugeben seine Penetranz und sein Kampf um das Recht auch
als bdquorechtensldquo zu bewerten In Rechtsfragen die der EGMR zum
ersten Mal anders interpretiert hat fragt man sich in diesem Zu-
sammenhang was uumlberhaupt Recht-sprechen bedeutet Somit er-
reicht der Fall nicht nur die Grenze des Strafrechts und des Oumlf-
fentlichen Rechts sondern auch der Rechtsphilosophie in der
die Trennung von Recht und Moral ein zentrales Thema dar-
stellt Es reicht hin bis zu der Frage ob es unrichtiges Recht
gesetzliches Unrecht gebe und was das bdquoRechtldquo uumlberhaupt sei68
bdquoWas rechtens sei (quid sit iuris) das ist was die Gesetze an einem
gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben kann
der Rechtsgelehrte noch wohl angeben aber ob das was sie wollten
auch recht sei und das allgemeine Kriterium woran man uumlberhaupt
Recht sowohl als Unrecht (istum et iniustum) erkennen koumlnne bleibt
(ihm) wohl verborgenhellipldquo
ndash Immanuel Kant
Der Fall Magnus Gaumlfgen bleibt in vielerlei Hinsicht
-juristisch sowie moralisch- grenzwertig
Die Autorin studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau im achten Semester Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus der Seminararbeit die im WS 201819 im Rahmen des trinationalen Eucor-Seminars ge-schrieben und verteidigt wurde Das Seminar wurde angebo-ten von Prof Dr Jestaedt (Freiburg) unter dem Namen bdquoRechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der Eu-ropaumlischen Grundrechtecharta und der Menschenrechtskon-ventionldquo Die Autorin ist seit 2014 Mitglied der Freilaw-Re-daktion und leitet seit 2017 die Chefredaktion Sie befindet sich derzeit in der Examensvorbereitung
68 Christian Fahl Angewandte Rechtsphilosophie ndash bdquoDarf der Staat folternldquo in
JR 2004 S 182 (185)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
40 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Der Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen
-
Samuel Hahn
A Einleitung
Es ist eine dem liberalen Gedankengut des 19 Jahrhun-
derts entstammende Idee dass der Mensch nicht nur Buumlr-
ger ist sondern der Staatsverband lediglich einen Teil der
Persoumlnlichkeit absorbiert Neben der oumlffentlichen Rolle als
Staatsbuumlrger existiert noch eine private Rolle in der sich
der Mensch ganz individuell ausleben kann Diese Privat-
heit sichert ein ungestoumlrtes Zu-sich-selbst-Verhalten der
Person ohne das ein Herausbilden einer authentischen
Identitaumlt unmoumlglich ist1 Nun hat jedoch der Staat haumlufig
ein Interesse daran in den privaten Bereich der Buumlrger
vorzudringen Gerade im Rahmen strafprozessualer Er-
mittlungen ist dies der Fall da Straftaumlter ihre Verfehlungen
selten publik machen sondern diese so weit wie moumlglich
vor der Oumlffentlichkeit verbergen Dem Staat bleibt bei der
Strafverfolgung also nichts anderes uumlbrig als die private
Sphaumlre seiner Buumlrger auszuforschen Waumlhrend dies fruuml-
her mehr oder minder offen in Form von Haus- und Perso-
nendurchsuchungen geschah ermoumlglicht die heutige
Technik heimliche Uumlberwachungsmaszlignahmen die es
dem Buumlrger unmoumlglich machen seine innersten Vorgaumlnge
in einer fuumlr ihn kontrollierbaren Sphaumlre zu bewahren Da
diese innersten Vorgaumlnge fuumlr eine autonome Charakter-
entwicklung unentbehrlich sind gebietet es die Men-
schenwuumlrde dass der Staat dem Buumlrger ein Herzstuumlck der
Privatheit einen Kernbereich der privaten Lebensgestal-
tung ganz selbst uumlberlaumlsst und ihn nicht staatlichen Inte-
ressen unterordnet Die vorliegende Arbeit widmet sich
der Entstehung dieser Rechtsfigur und dem Schutz der
sich aus ihr ergibt
I Terminologie
Das BVerfG an dessen Rechtsprechung sich diese Arbeit orien-
tiert hat hinsichtlich der Benennung des absolut geschuumltzten
Bereichs keine klare Nomenklatur entwickelt Es bezeichnet ihn
uneinheitlich als bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo2 bdquoIntim-
sphaumlreldquo3 bdquounantastbaren Bereich privater Lebensgestaltungldquo
4
bdquoabsolut geschuumltzten Kernbereich privater Lebensgestaltungldquo5
1 Roumlssler Der Wert des Privaten S 275 2 BVerfGE 6 S 55 (81) 3 BVerfGE 32 S 373 (379) 4 BVerfGE 27 S 1 (6) 5 BVerfGE 80 S 137 (153)
und bdquoKernbereich der Persoumlnlichkeitldquo6 Die Terminologie in
dieser Arbeit wird daher ebenso variieren Einzig auf die Ver-
wendung des Terminus der Intimsphaumlre wird verzichtet da es
unklar ist ob das BVerfG diese begriffliche Identitaumlt konsequent
aufrechterhaumllt7
II Untersuchungsgegenstand
Gegenstand dieser Arbeit ist anhand der Rechtsprechung des
BVerfG den Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
strafprozessualen Ermittlungsverfahren zu untersuchen Dabei
wird im Besonderen auf Widerspruumlche in den Entscheidungen
des Gerichts eingegangen und gepruumlft was diese fuumlr den Kern-
bereichsschutz bedeuten Die Untersuchung beschraumlnkt sich da-
bei auf den fuumlr die Strafverfolgung besonders bedeutungsvollen
Schutz vor Informationserhebung aus dem Kernbereich privater
Lebensgestaltung Aufgrund seiner engen Verbindung zur Men-
schenwuumlrdegarantie hat jeder Schutz vor staatlichen Maszlignah-
men eine gewisse Kernbereichsrelevanz Zum Zwecke einer
Analyse des reinen von anderen Grundrechten losgeloumlsten
Kernbereichsschutzes sollen in dieser Arbeit andere Konstella-
tionen mit Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung
wie der Schutz der Kommunikation mit zeugnisverweigerungs-
berechtigten Personen auszligen vor bleiben
III Gang der Untersuchung
Im Folgenden wird zuerst die Entwicklung der Kernbereichs-
rechtsprechung durch das BVerfG dargestellt und analysiert
Anhand der auftretenden Diskrepanzen wird anschlieszligend eine
moumlgliche Relativierung des Kernbereichsschutzes gepruumlft und
schlieszliglich wird die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
anhand seines juumlngsten Urteils neu interpretiert
B Entwicklung des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung durch das BVerfG
Der Gedanke eines Kernbereichs der Persoumlnlichkeit auf den der
Staat nicht zugreifen kann hat in der Rechtsprechung der deut-
schen Verfassungsgerichtsbarkeit lange Tradition8
6 BVerfGE 34 S 238 (245) 7 Dies bejahend Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
S 14 kritisch Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 256 8 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (161) Dammann Der Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung S 23
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 41
Bereits 1957 sprach das BVerfG in der sog Elfes-Entscheidung
erstmals von einer bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo die dem
einzelnen Buumlrger verfassungskraumlftig vorbehalten sei9 Es leitet
dies aus der Menschenwuumlrde ab Der Gesetzgeber darf die buumlr-
gerlichen Freiheitsrechte bei entsprechenden entgegenstehen-
den Interessen zwar einschraumlnken die Menschenwuumlrde aller-
dings ist unantastbar woraus folgt dass bdquoein letzter unantastba-
rer Bereich menschlicher Freiheit besteht der der Einwirkung
der gesamten oumlffentlichen Gewalt entzogen istldquo10
Diesen absolut geschuumltzten Bereich sah das BVerfG lange al-
lein in der nichtkommunikativen Sphaumlre11
Er war gekennzeich-
net durch Gedanken die der Buumlrger allein sich selbst anver-
trauen wollte ein forum internum in dem er bdquosich selbst besitztldquo
und zu dem bdquodie Umwelt keinen Zutritt hatldquo12
Ein Raum in
welchem die innere Daseinsbewaumlltigung die Auseinanderset-
zung mit sich selbst und die Rechenschaftsablegung gegenuumlber
sich selbst stattfinden13
Nach der damaligen Rechtsprechung
war der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung grundsaumltz-
lich nicht beruumlhrt sobald die Handlung einen Sozialbezug auf-
wies also die Persoumlnlichkeitssphaumlre eines anderen Menschen
beruumlhrte14
Damit waren auch intime zwischenmenschliche Be-
ziehungen vom absoluten Schutz der Persoumlnlichkeit ausge-
schlossen15
In seinem Tagebuchurteil16
relativierte das BVerfG dieses
harte Exklusionskriterium dahingehend dass nicht entscheidend
sei ob uumlberhaupt ein Sozialbezug bestehe sondern vielmehr
dessen bdquohoumlchstpersoumlnlicher Charakterldquo und bdquoin welcher Art und
Intensitaumlt aus sich heraus die Sphaumlre anderer und die Belange
der Gemeinschaft beruumlhrtldquo werden bdquoDer Mensch als Person
auch im Kernbereich seiner Persoumlnlichkeit verwirklicht sich
notwendig in sozialen Bezuumlgenldquo17
Zugleich schraumlnkt das Ge-
richt den Umfang des Schutzes dahingehend ein dass bdquoGesprauml-
che die Angaben uumlber begangene Straftaten enthalten [hellip] dem
Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Le-
bensgestaltungldquo zuzuordnen und deshalb auch nicht von dessen
absolutem Schutz erfasst sind18
C Urteil groszliger Lauschangriff
Zwar hatte das BVerfG in den vorangegangenen Entscheidun-
gen seine Rechtsprechung zu einem absolut geschuumltzten Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit stetig fortgefuumlhrt einen staatlichen
Eingriff in denselben jedoch nie bejaht Die Entscheidung fiel
stets auszligerhalb des Kernbereichs naumlmlich im Bereich der Ab-
waumlgung zwischen Individualschutz und Gemeinwohlinteresse
nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes19
Dies aumln-
derte sich im Urteil zum groszligen Lauschangriff20
dem in der
9 BVerfGE 6 S 32 (41) 10 BVerfGE 6 S 32 (41) 11 BVerfGE 27 S 1 (6) BVerfGE 33 S 367 (377) 12 BVerfGE 27 S 1 (6) 13 Warntjen Heimliche Zwangsmaszlignahmen und der Kernbereich S 54 14 BverfGE 6 S 389 (433) 15 Benda Gefaumlhrdungen der Menschenwuumlrde S35 16 BVerfGE 80 S 367 17 BVerfGE 80 S 367 (374) 18 BVerfGE 80 S 367 (374) 19 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (14) Hervorhebung
hier
Entwicklung der Kernbereichsrechtsprechung besondere Be-
deutung zukommt21
Erstmals stellte das Gericht eine Verlet-
zung des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit fest22
Es skizziert
sorgfaumlltig und wesentlich detaillierter als in fruumlheren Entschei-
dungen sein Kernbereichskonzept entwickelt Schutzvorkehrun-
gen und zeigt Konsequenzen eines Eingriffs auf
I Bestimmung des Kernbereichs
Entscheidend fuumlr eine Einbeziehung des Sachverhalts in den
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist das Kriterium der
Houmlchstpersoumlnlichkeit23
Gespraumlche und Aumluszligerungen sind dann
vom Kernbereich erfasst wenn es um bdquoausschlieszliglich innere
Eindruumlcke und Gefuumlhleldquo geht der bdquoBereich des Houmlchstpersoumlnli-
chenldquo betroffen ist und ein bdquoBezug des konkreten Gespraumlchs
zum Persoumlnlichkeitskernldquo nicht fehlt24
Konsequent nimmt das
Gericht eine Kernbereichsverletzung auch bei umfassenden
Uumlberwachungen an deren Ergebnisse bdquozur Grundlage eines Per-
soumlnlichkeitsprofils werden koumlnnenldquo25
Auch hinsichtlich des
Straftatenbezugs lockerte das Gericht seine Exklusionskriterien
Waumlhrend das entscheidungstragende Votum im Tagebuchbe-
schluss bereits einen mittelbaren Straftatenbezug genuumlgen lieszlig
um eine Kernbereichsrelevanz zu verneinen26
scheint sich der
Senat im Urteil zum groszligen Lauschangriff dem abweichenden
Votum des Tagebuchbeschlusses27
anzuschlieszligen28
bdquoAuf-
zeichnungen oder Aumluszligerungen im Zwiegespraumlch die zum Bei-
spiel ausschlieszliglich innere Eindruumlcke und Gefuumlhle wiedergeben
und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten gewinnen
nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug dass sie Ursa-
chen oder Beweggruumlnde eines strafbaren Verhaltens freizulegen
vermoumlgenldquo29
Das heiszligt lediglich Aumluszligerungen mit unmittelbarem Bezug zu
einer geplanten oder begangenen Tat sind nicht vom Kernbe-
reich erfasst30
Nicht beruumlhrt sei der Kernbereich allerdings
wenn der Betroffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssach-
verhalts selbst keinen Wert lege wobei nicht jede Kundgabe an
einen anderen Menschen auf das Fehlen eines Geheimhaltungs-
willen schlieszligen lasse es kaumlme vielmehr auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation an31
II Schutz des Kernbereichs
Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist unantastbar
und jeglichem staatlichen Zugriff entzogen Die inhaltsbezo-
gene Kernbereichsdefinition des BVerfG schafft das Dilemma
dass Strafverfolgungsbehoumlrden vor der Uumlberwachung gar nicht
wissen koumlnnen ob der Kernbereich des Uumlberwachten betroffen
ist Erst durch die Spaumlhmaszlignahme selbst laumlsst sich anhand des
20 BVerfGE 109 S 279 21 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (13) bdquogroszliges Urteilldquo 22 BVerfGE 109 S 279 (311) 23 BVerfGE 109 S 279 (313 320) 24 BVerfGE 109 S 279 (319 320) 25 BVerfGE 109 S 279 (323) 26 BVerfGE 80 S 367 (377) 27 BVerfGE 80 S 367 (381) 28 So auch SK-StPOWolter sect 100c Rn 60 29 BVerfGE 109 S 279 (319) 30 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 43 31 BVerfGE 109 S 279 (319)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
42 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Inhalts der Aumluszligerung oder Aufzeichnung das Vorliegen einer
Kernbereichsrelevanz feststellen Dann aber wurden die houmlchst-
persoumlnlichen Informationen bereits von den Behoumlrden wahrge-
nommen Das BVerfG stellt deswegen folgendes fest bdquoDie
Uumlberwachung muss in Situationen von vornherein unterbleiben
in denen Anhaltspunkte bestehen dass die Menschenwuumlrde
durch die Maszlignahme verletzt wirdldquo32
Damit loumlst das BVerfG das Dilemma dahingehend auf dass
die allein uumlber die Betroffenheit des Kernbereichs Gewissheit
verschaffende dabei aber zugleich denselben potentiell verlet-
zende Maszlignahme bereits dann unterbleiben muss wenn sie
wahrscheinlich den Kernbereich verletzen wuumlrde Zu vermuten
sei dies beispielsweise beim groszligen Lauschangriff auf Privat-
wohnungen oder wenn der Uumlberwachte mit Personen des
houmlchstpersoumlnlichen Vertrauens kommuniziere33
Diese Vermu-
tungswirkung kann jedoch widerlegt werden wenn Indikatoren
dafuumlr vorliegen dass der Kernbereich nicht betroffen ist34
Auch
dann darf lediglich bdquoeine fuumlr die Bewertung des Gespraumlchsin-
halts unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschen-
wuumlrde erforderliche erste Sichtungldquo durchgefuumlhrt werden bei
der groumlszligtmoumlgliche Zuruumlckhaltung geboten ist35
Diese Vorkehrungen koumlnnen letztendlich aber eine Erhebung
kernbereichsrelevanter Daten nicht ausschlieszligen sondern nur
das Risiko minimieren36
Deswegen fuumlhrt das BVerfG weiter
aus bdquoFuumlhrt die akustische Wohnraumuumlberwachung im Uumlbrigen
unerwartet zur Erhebung von absolut geschuumltzten Informatio-
nen muss sie abgebrochen werden und die Aufzeichnungen
muumlssen geloumlscht werden jede Verwendung solcher im Rahmen
der Strafverfolgung erhobener absolut geschuumltzter Daten ist aus-
geschlossenldquo37
Das Verwertungsverbot kernbereichsrelevanter
Daten erstreckt sich damit nicht nur auf die Verwendung als Be-
weismittel im Hauptverfahren sondern auch auf die Verwen-
dung als Spurenansatz fuumlr weitere Ermittlungen38
Dieses zweistufige Schutzkonzept der Vermeidung der Erhe-
bung kernbereichsrelevanter Daten auf der ersten Ebene zusam-
men mit der Loumlschpflicht und des umfassenden Verwertungs-
verbots auf der zweiten Ebene wird vom BVerfG seither in staumln-
diger Rechtsprechung als notwendige Voraussetzung fuumlr den
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aufrecht erhalten39
D Widerspruumlche in der Kernbereichsrechtsprechung
des BVerfG
Umso mehr uumlberrascht es dass das BVerfG seither in mehreren
Urteilen Eingriffe in den Kernbereich faktisch gebilligt hat So
hat es beispielsweise die Telekommunikationsuumlberwachung
32 BVerfGE 109 S 279 (318) 33 BVerfGE 109 S 279 (321) 34 BVerfGE 109 S 279 (332) 35 BVerfGE 109 S 279 (332) 36 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (168) 37 BVerfGE 109 S 279 (318) 38 Ausdruumlcklich BVerfGE 109 S 279 (318) 39 BVerfGE 113 S 348 (391f) BVerfGE 120 S 247 (388f) BVerfGE 129
S 208 (245f) 40 So auch Reiszlig StV 2008 S 539 (542) 41 BVerfG NJW 2012 S 833 (837) 42 BVerfG NJW 2012 S 833 (837)
gem sect 104a StPO fuumlr verfassungsmaumlszligig erklaumlrt obwohl dort
keinerlei Prognose notwendig ist ob in der abzuhoumlrenden Kon-
versation kernbereichsrelevante Aumluszligerungen zu erwarten sind
Dies steht in direktem Widerspruch zum zweistufigen Schutz-
modell des BVerfG das Uumlberwachungsmaszlignahmen nur dann
zulaumlsst wenn eine Kernbereichsverletzung zumindest unwahr-
scheinlich ist40
In Faumlllen in denen es bdquopraktisch unvermeidbarldquo
ist dass Ermittlungsbehoumlrden kernbereichsrelevante Informati-
onen zur Kenntnis nehmen sei es bdquoverfassungsrechtlich nicht
gefordert den Zugriff wegen des Risikos einer Kernbereichs-
verletzung auf der Erhebungsebene von vornherein zu unterlas-
senldquo41
Selbst bei konkreten Anhaltspunkten dass der Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung von einer Maszlignahme beruumlhrt
werden wird hat diese nur bdquogrundsaumltzlichldquo zu unterbleiben42
Mit dieser Rechtsprechung schlieszligt das BVerfG an sein 2008
ergangenes Urteil zur Online-Durchsuchung43
an Feststellend
dass die Datenerhebung bei der Online-Durchsuchung aus tech-
nischen Gruumlnden automatisiert erfolgt und damit eine vorherige
Unterscheidung zwischen Daten mit und ohne Bezug zum Kern-
bereich quasi unmoumlglich ist forderte es bereits dort von den ent-
sprechenden gesetzlichen Ermaumlchtigungen lediglich bdquodarauf
hinzuwirken dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten
soweit wie informationstechnisch und ermittlungstechnisch
moumlglich unterbleibtldquo44
Es genuumlge dann bdquofuumlr hinreichenden Schutz in der Auswer-
tungsphase zu sorgenldquo und bdquodurch geeignete Verfahrensvor-
schriften sicherzustellen dass dann wenn Daten mit Bezug zum
Kernbereich privater Lebensgestaltung erhoben worden sind
die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung und ihre Auswirkun-
gen fuumlr die Persoumlnlichkeit und Entfaltung des Betroffenen so ge-
ring wie moumlglich bleibenldquo45
Damit wandeln sich so die zu-
naumlchst als Ergaumlnzung konzipierten Verfahrensvorschriften der
zweiten Stufe zum einzigen Stuumltzpfeiler des Kernbereichsschut-
zes46
Besonders irritiert dass das BVerfG sich sowohl im Urteil
zur Online-Durchsuchung47
als auch bei der Billigung des sect
100a Abs 448
auf seine Kernbereichsrechtsprechung im Abhoumlr-
Urteil bezieht Waumlhrend es damals aber noch Maszlignahmen fuumlr
unzulaumlssig erklaumlrte die wahrscheinlich in den Kernbereich ein-
dringen49
laumlsst es nun Uumlberwachungen zu obwohl eine Erfas-
sung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unvermeidbar
ist50
Diese Urteile stehen in einem starken Widerspruch sogar
gegenteilig zur fruumlheren Rechtsprechung sodass die Frage be-
rechtigt ist ob das BVerfG nicht laumlngst von dem Konzept eines
absolut geschuumltzten Kernbereichs der Persoumlnlichkeit abgewi-
chen ist
43 BVerfGE 120 S 274 44 BVerfGE 120 S 274 (338) 45 BVerfGE 120 S 274 (338) 46 Schwabenbauer Heimliche Eingriffsmaszlignahmen S 283 mit Verweis auf
BVerfG 113 S 348 (392) bdquoHinzu muumlssen Vorkehrungen kommen die si-
chern dass Kommunikationsinhalte des houmlchstpersoumlnlichen Bereichs nicht
gespeichert und verwertet werden duumlrfenldquo 47 BVerfGE 120 S 274 (338) 48 BVerfGE NJW 2012 S 833 (837) 49 BVerfGE 109 S 279 (318) 50 BVerfGE 120 S 274 (338)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 43
E Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Diesen Schluss ziehen viele Stimmen in der Literatur51
Teil-
weise wird vermutet dass dies eine Reaktion auf den nach der
Entscheidung zum groszligen Lauschangriff erhobenen Vorwurf
der Praxisuntauglichkeit darstellt52
Vor diesem Hintergrund
gibt es auch Unterstuumltzer fuumlr die vermeintliche Entscheidung des
BVerfG den Kernbereich nun doch der Abwaumlgung mit oumlffentli-
chen Interessen zugaumlnglich zu machen53
Im Folgenden soll nun gepruumlft werden ob das BVerfG seinen
vormals absoluten Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
tatsaumlchlich aufgegeben und zugunsten staatlicher Strafverfol-
gungsinteressen relativiert hat
I Prozessuale Relativierung infolge der Disponibilitaumlt
des Verwertungsverbots
Hauck54
meint eine Relativierung des Kernbereichsschutzes
darin zu erkennen dass der BGH es Beschuldigten eroumlffnet auf
das Verwertungsverbot von Beweismitteln mit Kernbereichsre-
levanz zu verzichten und ihnen so zur Zulaumlssigkeit zur verhel-
fen55
Er vertritt dies mit der Begruumlndung dass wenn sich der
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aus der Menschen-
wuumlrde herleite welche unstreitig indisponibel sei somit auch
der Kernbereichsschutz selbst indisponibel sein muumlsse56
Unab-
haumlngig davon ob die Menschenwuumlrde tatsaumlchlich indisponibel
ist57
schuumltzt der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
aber nicht unmittelbar die Menschenwuumlrde selbst sondern eine
sich aus der Menschenwuumlrde ergebende Sphaumlre der Privatheit
die dem Buumlrger auch bei uumlberragenden entgegenstehenden staat-
lichen Interessen zugestanden werden muss Was von diesem
Kern der Privatheit umfasst ist bestimmt sich anhand von zwei
Faktoren der Houmlchstpersoumlnlichkeit und dem Sozialbezug
Wenn mangels Sozialbezug bdquoallein [hellip][die] eigene Sphaumlre tan-
giert istldquo58
kann der Buumlrger Elemente seiner houmlchstpersoumlnli-
chen Sphaumlre beliebig aus dem geschuumltzten Kernbereich der Pri-
vatheit entlassen indem er sie freiwillig der Oumlffentlichkeit zu-
gaumlnglich macht Dieser Ansicht ist auch das BVerfG wenn es
ausfuumlhrt der Kernbereich sei nicht betroffen wenn der Be-
troffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssachverhalts selbst
keinen Wert lege59
Dieses Ergebnis ist auch dahingehend sinn-
voll dass Beweisverwertungsverbote regelmaumlszligig Schutzinteres-
sen des Beschuldigten dienen60
Es waumlre deshalb widerspruumlch-
lich dem Beschuldigten die Einbringung von entlastenden Be-
weisen mit dem Argument zu verwehren sie unterfielen seinem
Kernbereich privater Lebensgestaltung obwohl offensichtlich
kein Geheimhaltungswille besteht Insofern unterscheidet sich
51 Hoffmann-Riem JZ 2008 S 1009 (1021) Dammann Der Kernbereich der
privaten Lebensgestaltung S 51 Schwabenbauer Heimliche Zwangsmaszlig-
nahmen S 283 Sachs JuS 2012 S 374 (375) Baldus JZ 2008 S 218
(224) 52 Volkmann AnwBl 2009 S 118 (123) 53 So bspw Boumlckenfoumlrde JZ 2008 S 925 (932) 54 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 55 BGHSt 51 S 1 (4) bdquoAuch uumlber ein derartiges Verwertungsverbot kann der
Angeklagte disponieren soweit allein seine eigene Sphaumlre tangiert istldquo 56 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 57 So naumlmlich MKS-GGStarck Art 1 Rn 114 58 BGHSt 51 S 1 (4)
das disponible absolute Verwertungsverbot des Kernbereichs-
schutzes von dem indisponiblen absoluten Verwertungsverbot
des sect 163a Abs 3 S 2 welches seinen Grund darin hat dass
Aussagen die unter den dort genannten Umstaumlnden hervorge-
bracht worden sind auch in ihrem Beweiswert zweifelhaft er-
scheinen61
Eine Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung daran festzumachen
dass der BGH das absolute Beweisverwertungsverbot des Kern-
bereichsschutzes zur Disposition gestellt hat ist somit nicht ge-
rechtfertigt
II Materielle Relativierung durch funktionale
Auslegung des Kernbereichsbegriffs
Ein haumlufiger Vorwurf ist auch das BVerfG relativiere den abso-
luten Schutz des Kernbereichs indem es Aumluszligerungen die einen
unmittelbaren Bezug zu konkreten Straftaten haben vom
Schutzbereich ausschlieszligt62
Viele meinen darin zu erkennen
dass das Gericht beim Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlich-
keit entgegen seiner Proklamation63
doch auf Abwaumlgungsuumlber-
legungen zuruumlckgreift ndash nur eben nicht erst bei der tatsaumlchlichen
Anwendung des Kernbereichsschutzes sondern bereits bei der
Bestimmung der Reichweite desselben64
Absolut geschuumltzt
waumlre demnach nur was diesen Abwaumlgungsvorgang mit staatli-
chen Interessen erfolgreich durchlaufen hat65
Dieser Vorwurf
wird damit begruumlndet dass es anders nicht erklaumlrbar sei Aumluszlige-
rungen mit Straftatenbezug vom Schutzbereich auszunehmen
Fraglich ist ob dies zutrifft Das Kriterium das das BVerfG zur
Bestimmung des absolut geschuumltzten Kernbereichs des Privaten
heranzieht ist die Houmlchstpersoumlnlichkeit des Inhalts und in wel-
cher Art und Intensitaumlt er aus sich heraus die Belange der Ge-
meinschaft beruumlhrt66
Dabei ist klar dass bloszlige Erzaumlhlungen o-
der Prahlereien uumlber die Begehung von Straftaten sowie deren
Planung schon mangels Houmlchstpersoumlnlichkeit nicht in den
Schutzbereich fallen Relevant wird das Ausschlusskriterium
des Straftatenbezugs erst bei Aumluszligerungen houmlchstpersoumlnlicher
Art beispielsweise dem vielzitierten Mordgestaumlndnis unter Ehe-
leuten67
Eine Straftat selbst kann weil sie gegen Regeln ver-
stoumlszligt die fuumlr ein gemeinsames Zusammenleben in einer Gesell-
schaft unerlaumlsslich sind niemals ein privater Akt sein68
Da je-
der Buumlrger der Gesellschaft die Einhaltung dieser Normen
schuldet beruumlhren Aussagen bezuumlglich der Nichteinhaltung der
strafrechtlichen Verbote stets die Belange der Gemeinschaft
Somit haben Aussagen mit Straftatenbezug auch immer einen
Sozialbezug und sind damit nie nur houmlchstpersoumlnlich Das
BVerfG schlieszligt jedoch nicht (mehr) alle Aumluszligerung mit sozial-
bezogenem Inhalt kategorisch vom Schutz des Kernbereichs
59 BVerfG 109 S 279 (318) 60 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 492 61 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 491 62 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 51 63 BVerfG 109 S 279 (314) 64 Baldus JZ 2008 S 218 (224) Lindemann JR 2006 S 191 (198) LR-
StPOHauck sect 100a Rn 138 65 Baldus JZ 2008 S 218 (224) 66 BVerfGE 109 S 279 (314) 67 Meyer-GroszlignerSchmidt sect 100c Rn 16 68 Vgl LR-StPOHauck sect 100a Rn 151 auch Rogall FS-Fezer S 61 (67)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
44 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
aus er differenziert nach Art und Intensitaumlt Ebendieser Diffe-
renzierung ist es geschuldet wenn es feststellt dass Aumluszligerun-
gen die bdquoUrsachen und Beweggruumlnde eines strafbaren Verhal-
tens freizulegen vermoumlgenldquo69
trotz Straftatenbezugs vom Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit erfasst sind
Insofern findet tatsaumlchlich eine Abwaumlgung statt jedoch nicht
in der Art dass aufgrund des Strafverfolgungsinteresses Aumluszlige-
rungen die zur Aufklaumlrung von Straftaten fuumlhren koumlnnen vom
absoluten Kernbereich ausgeschlossen sind sondern schlicht
ob eine Aumluszligerung der houmlchstpersoumlnlichen Privatsphaumlre zuzu-
rechnen ist oder nicht Dies bemisst sich auf der einen Seite am
selbstreflektierenden Charakter der Aumluszligerung also in welchem
Maszlig sie bdquosich als individuelle Entfaltung im Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung darstelltldquo70
und auf der anderen Seite bdquoin
welcher Art und Intensitaumlt sie aus sich heraus die Belange der
Gemeinschaft beruumlhrtldquo71
also wie unmittelbar und konkret sie
Bezug auf den oumlffentlichen Akt der Straftatbegehung nimmt
Dass das BVerfG eine Abwaumlgung mit dem Strafverfolgungsin-
teresse nicht vornimmt zeigt sich auch daran dass die Schwere
der konkreten Straftat auf die sich die Aumluszligerung bezieht fuumlr den
Straftatenbezug keine Rolle spielt72
Es liegt in der Natur einer inhaltsbezogenen Kernbereichsde-
finition nicht operationalisierbar zu sein maszliggebend sind im-
mer die Besonderheiten des jeweiligen Falles73
Uumlber den Straf-
tatenbezug gibt das BVerfG den Entscheidungstraumlgern ein star-
kes Indiz fuumlr einen Sozialbezug an die Hand so wie das Selbst-
gespraumlch ein starkes Indiz fuumlr die Houmlchstpersoumlnlichkeit der Aumlu-
szligerungen ist Ob eine Aumluszligerung in den Kernbereich der Persoumln-
lichkeit faumlllt wird sich immer anhand des Zusammenspiels die-
ser beiden Faktoren bestimmen So koumlnnen selbst Aumluszligerungen
die sich unzweifelhaft unmittelbar auf eine Straftat beziehen und
damit Belange der Gemeinschaft betreffen aber in einem
Selbstgespraumlch getaumltigt wurden aufgrund des uumlberragend
houmlchstpersoumlnlichen Charakters des Selbstgespraumlchs unter den
absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
fallen74
In der Regel75
werden solche Aumluszligerungen aber die Be-
lange der Gemeinschaft in einer Art und Intensitaumlt beruumlhren
dass sie nicht dem Kernbereich zugerechnet werden koumlnnen
Hinter dieser Wertung steckt aber keine heimliche Abwaumlgung
mit Strafverfolgungsinteressen sondern lediglich eine konse-
quente Anwendung der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchst-
persoumlnlichkeit von Aumluszligerungen
III Widerspruumlchlichkeit des Gestattens von Eingriffen
in den absolut geschuumltzten Bereich
Es stellt sich also die Frage wie es mit dem absoluten Schutz
des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit zusammenpasst dass das
BVerfG in seinen juumlngeren Entscheidungen Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen auch dann zulieszlig wenn Eingriffe in den Kernbereich
69 BVerfGE 109 S 279 (319) 70 BVerfGE 109 S 279 (314) 71 BVerfGE 109 S 279 (314) 72 Vgl BVerfGE 109 S 279 (319 343) das die Schwere der Tat als nur fuumlr
die Verhaumlltnismaumlszligigkeit relevant betrachtet siehe auch Schwabenbauer
Heimliche Grundrechtseingriffe Fn 470 73 BVerfGE 109 S 279 (314) 74 Vgl BGHSt 50 S 206 (213)
praktisch unvermeidbar waren Zwar werden die Konsequenzen
dieser Eingriffe die kernbereichsrelevanten Daten geloumlscht und
nicht weiter verwertet dies aumlndert jedoch nichts daran bdquodass
stets ein Eingriff in diesen Kernbereich zunaumlchst hingenommen
wirdldquo wie sich bereits in der noch sehr kernbereichsschutz-
freundlichen Entscheidung zum groszligen Lauschangriff die Rich-
terinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt in einer abweichen-
den Meinung aumluszligerten76
Wie kann es also sein dass das
BVerfG in einem Satz den absolut geschuumltzten Kernbereich pri-
vater Lebensgestaltung proklamiert der jedem staatlichen Ein-
griff entzogen ist und im naumlchsten Satz Eingriffe in diesen
Kernbereich ausdruumlcklich zulaumlsst wenn sie nicht vermeidbar
sind
1 Exkurs Demontierung der Unantastbarkeit der
Menschenwuumlrde
Dieser augenscheinliche Widerspruch in der Rechtsprechung
des BVerfG hat mehr Sprengkraft als es auf den ersten Blick
scheint Manche folgern aus den Diskrepanzen dass das
BVerfG offensichtlich nicht willens sei den Kernbereich der
Persoumlnlichkeit tatsaumlchlich absolut zu schuumltzen77
Andere jedoch
gehen noch weiter und argumentieren dass wenn sich der aus
der Menschenwuumlrde herleitende Kernbereich privater Lebens-
gestaltung als abwaumlgungs- und relativierungsoffen erweise
auch der Absolutheitsanspruch der Menschenwuumlrdegarantie aus
Art 1 Abs 1 GG selbst in Zweifel zu ziehen sei78
Das BVerfG
sei bei dem Versuch die Wuumlrdegarantie in konkreten grund-
rechtlichen Problemlagen nutzbar zu machen gescheitert79
Die
Folge daraus sei dass es keine absolut geschuumltzten Rechtsguumlter
geben koumlnne nicht einmal im Bereich der Menschenwuumlrde80
Anhand der Rechtsprechung zum Kernbereichsschutz soll die
Menschenwuumlrdegarantie insgesamt gegenuumlber Abwaumlgungen mit
staatlichen Sicherheits- bzw Strafverfolgungsinteressen geoumlff-
net werden Wenn dies aber zutrifft was bedeutet dies fuumlr die
verbotenen Vernehmungsmethoden aus sect 136a StPO Fuumlr das
Folterverbot Hat das BVerfG tatsaumlchlich klammheimlich diese
Buumlchse der Pandora geoumlffnet
a) Menschenwuumlrde als Achtungsgebot
Den obigen Uumlberlegungen liegt die Vorstellung zugrunde dass
jede staatliche Wahrnehmung von Informationen die dem Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit zuzurechnen sind eine Menschen-
wuumlrdeverletzung darstellt Poscher bietet eine andere Interpre-
tation der Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung Fuumlr ihn wurzeln die oben gezeigten teil-
weise dramatischen Konsequenzen die ein Teil der Literatur aus
der Kernbereichsrechtsprechung zieht in einem tiefer liegenden
Missverstaumlndnis des Menschenwuumlrdeschutzes dass sich auch in
der Verraumlumlichung des Kernbereichsschutzes zeige81
Die
75 BT-Drucksache 154533 S 14 76 BVerfG 109 S 279 (383) 77 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 265 78 So Baldus JZ 2008 S 218 (224) 79 Baldus JZ 2008 S 218 (225) 80 MaunzDuumlrig-GGHerdegen Art 1 Rn 50 Rogall FS-Fezer S 61 (86) 81 Poscher JZ 2009 S 269 (274)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 45
Menschenwuumlrde sei aber kein ideeller Raum der durch einen
Eingriff in den Kernbereich privater Lebensfuumlhrung verletzt
werden koumlnne so wie ein Eindringen in die Wohnung das Recht
aus Art 13 Abs 1 GG verletze Vielmehr sei der Satz aus Art 1
Abs 1 GG woumlrtlich gemeint bdquoDie Wuumlrde des Menschen ist un-
antastbarldquo ist demnach keine Forderung sondern eine Feststel-
lung Der Staat koumlnne die Wuumlrde des Menschen nie verletzen
verletzbar sei lediglich der Achtungsanspruch der sich aus ihr
ergibt82
Dieser Achtungsanspruch wuumlrde aber nicht bereits
dadurch verletzt dass der Staat in bestimmte Freiheitsraumlume
eindringe im Extremfall koumlnne der Staat einen Angreifer sogar
toumlten ohne seine Wuumlrde zu verletzen indem er ihn zumindest
als einen Feind achte83
Der aus der Menschenwuumlrde flieszligende
Achtungsanspruch sei erst dann verletzt wenn in der Rechtsver-
letzung gerade eine Missachtung der Wuumlrde zum Ausdruck
komme so beispielsweise bei der Folter wo die Verletzung der
koumlrperlichen Unversehrtheit gerade darauf gerichtet ist die ver-
nuumlnftige Willensbildung und damit das zu negieren was den
Menschen als Gattung auszeichnet Poscher macht damit die In-
tention des Staates zum wesentlichen Kriterium der Verletzung
der Wuumlrdegarantie aus Art 1 Abs 1 GG Wenn ein Polizist auf
Streife zufaumlllig aufgrund eines geoumlffneten Fensters intime De-
tails wahrnehme liege darin keine Menschenwuumlrdeverletzung
und auch nicht wenn Beamten bei der Durchsuchung der Woh-
nung eines Drogenhaumlndlers in einer Schublade auf intime Pho-
tographien desselben stoszligen84
Eine Verletzung des Achtungs-
anspruchs bestehe erst dann wenn der Staat (gezielt) auf den
Kernbereich zugreift um Daten aus dem Kernbereich fuumlr seine
Zwecke zu nutzen denn damit zeige er dass er alle Bereiche der
Persoumlnlichkeit instrumentalisiert und seinen Zwecken unterord-
net85
Die Achtung der Menschenwuumlrde verlange demnach dass
die nicht-intendierte Erfassung von kernbereichsrelevanten Da-
ten so weit als moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen
erfolgende nicht-intendierte Kenntnisnahmen umgehend unter-
brochen werden anfallende Kernbereichsdaten sofort vernichtet
und besonders in keiner Weise verwendet werden
b) Zwischenergebnis
Mit der Ruumlckbesinnung auf die Menschenwuumlrdegarantie als
Achtungsanspruch laumlsst sich der Widerspruch in der Kernbe-
reichsrechtsprechung des BVerfG zumindest insoweit erklaumlren
als dass er nicht mehr als Beweis fuumlr die offizielle Aufgabe des
Absolutheitsanspruches der Menschenwuumlrdegarantie angefuumlhrt
werden kann Das Konzept des Gerichts beruhe demnach nicht
auf einer relativierenden Abwaumlgung der Menschenwuumlrde gegen
staatliche Sicherheitsinteressen sondern auf einem Urteil uumlber
das was der aus der Menschenwuumlrde folgende Achtungsan-
spruch gegenuumlber nicht-intendierten Folgen staatlichen Han-
delns gebietet86
2 Kernbereich der Persoumlnlichkeit als
82 Poscher JZ 2009 S 269 (274) auch BVerfGE 96 S 375 (399) 83 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 84 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 85 Poscher JZ 2009 S 269 (275)
Achtungsgebot
Den moderateren Vorwuumlrfen das BVerfG halte unabhaumlngig da-
von ob darin eine Relativierung des Absolutheitsanspruches der
Menschenwuumlrdegarantie zu sehen ist oder nicht zumindest sei-
nen absoluten Schutz des Kernbereichs nicht konsequent durch
schafft diese Interpretation jedoch noch keine Abhilfe Poscher
geht indessen noch einen Schritt weiter indem er das Achtungs-
gebot der Menschenwuumlrde auf den Kernbereich der Persoumlnlich-
keit uumlbertraumlgt
bdquoDer aus der Menschenwuumlrdegarantie abgeleitete Kernbe-
reichsschutz gilt nicht der Abdichtung eines physischen oder
ideellen Raums sondern der Achtung vor bestimmten Lebens-
aumluszligerungen von hoher Relevanz fuumlr die psychologische und so-
ziale Integritaumlt eines Grundrechtstraumlgers in welchen Raumlumen
auch immer sie sich ereignenldquo87
Diese Theorie die in der Literatur als Konstruktion kritisiert
wurde88
im Hinterkopf behaltend soll im Folgenden ein Blick
in die aktuellste Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung geworfen werden
F Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016
Am 20 April 2016 entschied das BVerfG89
anlaumlsslich einer
Verfassungsbeschwerde dass die Ermaumlchtigung des Bundeskri-
minalamts zum Einsatz von heimlichen Uumlberwachungsmaszlignah-
men zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus
zwar im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar ist die der-
zeitige Ausgestaltung von Befugnissen aber in verschiedener
Hinsicht dem Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatz nicht genuumlgt Teil
des Urteils waren dabei die Ausfuumlhrungen zu den verfassungs-
rechtlich vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen fuumlr den Kern-
bereich privater Lebensgestaltung Diese Ausfuumlhrungen sollen
nun daraufhin analysiert werden ob sie neue Erkenntnisse zu
den augenscheinlichen Diskrepanzen in der Kernbereichsrecht-
sprechung des BVerfG bieten koumlnnen
I Untermauerung der Uumlberlegungen zur Exklusion
des Straftatenbezugs
In den obigen Uumlberlegungen zur Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung wurde
der Versuch unternommen zu erlaumlutern warum dieses Krite-
rium kein Beweis fuumlr die Relativierung des absoluten Schutz des
Kernbereichs ist sondern lediglich die konsequente Anwendung
der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchstpersoumlnlichkeit von Aumlu-
szligerungen Demnach koumlnnen auch Aumluszligerungen mit konkretem
Straftatenbezug in den Kernbereich der Persoumlnlichkeit fallen
wenn die Elemente der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Gewissen und der Selbstreflexion die fuumlr eine individuelle Ent-
faltung unerlaumlsslich sind den Gesamtinhalt der Aumluszligerung stark
genug praumlgen Nach dem BGH der ein Selbstgespraumlch trotz
konkretem Straftatenbezug zum Kernbereich der Persoumlnlichkeit
86 Poscher JZ 2009 S 269 (276) 87 Poscher JZ 2009 S 269 (276) Hervorhebung hier 88 So Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270 89 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 -
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
46 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
zaumlhlte bestaumltigt nun auch das BVerfG in seiner juumlngsten Ent-
scheidung diese Interpretation indem es in aller Deutlichkeit
ausfuumlhrt
bdquoAuch koumlnnen trotz Straftatenbezugs Situationen in denen
Einzelnen gerade ermoumlglicht werden soll ein Fehlverhalten ein-
zugestehen oder sich auf dessen Folgen einzurichten wie
Beichtgespraumlche oder vertrauliche Gespraumlche mit einem Psy-
chotherapeuten oder einem Strafverteidiger der houmlchstpersoumlnli-
chen Privatsphaumlre unterfallen die dem Staat absolut entzogen
istldquo90
Damit laumlsst das BVerfG nun auch Aumluszligerungen mit unmittel-
baren Bezug zu konkreten Straftaten in den Kernbereich privater
Lebensgestaltung fallen Bei der in fruumlheren Entscheidungen91
noch so kategorisch anmutenden Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung han-
delt es sich somit um eine Vermutung die ihre Ausnahme in
Aumluszligerungen findet die in besonders hohem Maszlige der individu-
ellen Reflektion und Selbstentfaltung dienen und damit den So-
zialbezug des straftatbezogenen Inhalts uumlberwiegen
II Bestaumltigung des Achtungsgebots der
Menschenwuumlrde
Seit das BVerfG Uumlberwachungsmaszlignahmen zulieszlig obwohl
eine Erfassung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unver-
meidbar war musste es viel Kritik einstecken Der schaumlrfste
Vorwurf war mit der Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs auch die Menschenwuumlrde selbst Abwaumlgungsuumlber-
legungen zugaumlnglich zu machen Vermutlich um diesen Ten-
denzen ein Ende zu setzen stellte das Gericht in seinem neuen
Urteil klar
bdquoDer Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist
strikt und darf nicht durch Abwaumlgung mit den Sicherheitsinte-
ressen nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes re-
lativiert werden [hellip] Dies bedeutet jedoch nicht dass jede tat-
saumlchliche Erfassung von houmlchstpersoumlnlichen Informationen stets
einen Verfassungsverstoszlig oder eine Menschenwuumlrdeverletzung
begruumlndetldquo92
Damit scheint das Gericht Poschers Interpretation der Men-
schenwuumlrdegarantie als Achtungsanspruch zu bestaumltigen Indem
es feststellt dass zum Schutz des Kernbereichs Vorkehrungen
zu treffen sind bdquodie eine unbeabsichtigte Miterfassung von
Kernbereichsinformationen nach Moumlglichkeit ausschlieszligenldquo93
orientiert es sich nicht nur stark an der Formulierung Po-
schers94
sondern erwaumlhnt uumlberhaupt erstmals das Kriterium der
90 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
122 91 BVerfGE 80 S 367 (374) BVerfGE 109 S 279 (319) 92 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 93 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
126 Hervorhebung hier 94 Poscher JZ 2009 S 269 (275) bdquo[hellip] dass das nicht-intendierte Eindringen
[in den Kernbereich] soweit als moumlglich vermieden wirdldquo 95 Kant Die Metaphysik der Sitten Teil 2 sect 38 96 BVerfGE 109 S 279 (313)
staatlichen Intention im Zusammenhang mit der Kernbereichs-
rechtsprechung und laumlsst damit den Schluss auf eine sich auf das
Kantlsquosche Instrumentalisierungsverbot95
beziehende Interpreta-
tion der Menschenwuumlrde zu Dies ist insoweit wenig uumlberra-
schend da das BVerfG bereits im Abhoumlrurteil von einem abso-
lut geschuumltzten Achtungsanspruch der Menschenwuumlrde
sprach96
Ausdruumlcklich bdquoDie akustische Wohnraumuumlberwa-
chung zu Strafverfolgungszwecken verstoumlszligt dann gegen die
Menschenwuumlrde wenn der Kernbereich privater Lebensgestal-
tung nicht respektiert wirdldquo97
III Bestaumltigung des Achtungsgebots des
Kernbereichs
Erstaunlich am juumlngsten Urteil des BVerfG zum Kernbereichs-
schutz ist dass es diesen Achtungsanspruch auf den Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung uumlbertraumlgt Absolut geschuumltzt ist
demnach nicht der Kernbereich selbst sondern das Achtungsge-
bot des Kernbereichs Wie bei der Menschenwuumlrde liegt dem-
nach nur dann eine Verletzung des Kernbereichs bzw des Ach-
tungsgebots desselben vor wenn der Kernbereich missachtet
wird also der Staat bewusst auf den Kernbereich zugreift um
die houmlchstpersoumlnlichen Inhalte fuumlr Strafverfolgungszwecke zu
instrumentalisieren So schreibt das BVerfG
bdquoDer Kernbereich privater Lebensgestaltung beansprucht ge-
genuumlber allen Uumlberwachungsmaszlignahmen Beachtungldquo98
und kurz darauf noch deutlicher
bdquoDie Verfassung verlangt [hellip] fuumlr die Ausgestaltung der
Uumlberwachungsbefugnisse die Achtung des Kernbereichs als eine
strikte nicht frei durch Einzelfallerwaumlgungen uumlberwindbare
Grenzeldquo99
Ausdruumlcklich wird hier als Eingriffsgrenze staatlicher Uumlber-
wachungsmaszlignahmen nicht der Kernbereich privater Lebensge-
staltung selbst sondern die Achtung vor demselben angefuumlhrt
Uumlberraschend distanziert sich das BVerfG damit von einem
raumlumlich-gedachten Kernbereich der bei einem Eingriff verletzt
ist obwohl Formulierungen in fruumlheren Urteilen noch auf ein
solches Verstaumlndnis hindeuten100
Bei genauerer Betrachtung
jedoch taucht die Rhetorik von der Achtung des Kernbereichs
bereits in der Entscheidung zur akustischen Wohnraumuumlberwa-
chung auf Dort ist die Rede von einem bdquoverfassungsrechtlichen
Gebot unbedingter Achtung einer Sphaumlre des Buumlrgers fuumlr eine
ausschlieszliglich private ndash eine houmlchstpersoumlnliche ndash Entfal-
tungldquo101
Auch im Urteil zur Online-Durchsuchung spricht das
Gericht von einer bdquoverfassungsrechtlich gebotenen Achtung des
Kernbereichs privater Lebensgestaltungldquo102
97 BVerfGE 109 S 279 (314) 98 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
123 99 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 100 Bspw BVerfGE 120 S274 (338) bdquoDer Gesetzgeber hat [hellip] sicherzustel-
len dass [hellip] die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung [hellip] so gering wie
moumlglich [bleibt]ldquo ndash scheinbar Verletzung des Kernbereichs durch Eingriffe 101 BVerfGE 109 S 279 (313) 102 BVerfGE 120 S 274 (339)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 47
Es scheint als haumltte Poscher mit seiner Interpretation der
Menschenwuumlrde und der vorsichtigen Uumlbertragung dieses Kon-
zepts auf den Kernbereichsschutz ins Schwarze getroffen Legt
man dieses Verstaumlndnis uumlber die Urteile zum Kernbereichs-
schutz die bei einer Interpretation des Kernbereichs als absolut
geschuumltzten Raum so widerspruumlchlich erscheinen loumlsen sich die
Diskrepanzen in der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
in Luft auf Eine versehentliche Wahrnehmung kernbereichsre-
levanter Informationen stellt demnach noch keine Kernbereichs-
verletzung dar sondern erst wenn der Staat damit seine Miss-
achtung zum Ausdruck bringt Letztendlich ist diese Interpreta-
tion recht naheliegend denn wenn sich der Kernbereich der Per-
soumlnlichkeit aus der Menschenwuumlrde ergibt dann ist es logisch
dass der Staat zum Kernbereich das gleiche Verhaumlltnis hat wie
zur Menschenwuumlrde naumlmlich dass er sie zu achten hat
IV Konsequenz eines Achtungsgebots des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Die Frage die sich nun stellt ist Was verlangt das Achtungsge-
bot des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Genau dies ist
es was das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Kernbe-
reichsschutz herausgearbeitet hat und im oberen Teil der Arbeit
dargestellt wurde Die Schutzvorkehrungen sind damit keine
Kriterien die einen absoluten Schutz garantieren sollen sondern
das was das BVerfG fuumlr notwendig haumllt um die staatliche Ach-
tung vor dem Kernbereich der Persoumlnlichkeit auszudruumlcken
Dass er Eingriffe zulaumlsst obwohl die Erfassung kernbereichsre-
levanter Daten praktisch unvermeidbar ist basiert auf der Wer-
tung dass der Achtung des Kernbereichs genuumlge getan ist wenn
das nicht-intendierte (denn gezielt kernbereichsausforschende
Maszlignahmen waumlren zweifellos eine Missachtung) Eindringen
soweit wie moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen er-
folgende unbeabsichtigte Kenntnisnahmen umgehend zu unter-
brechen anfallende Kernbereichsdaten sofort zu vernichten und
in keiner Weise zu verwenden
Nun koumlnnte man diese Wertung mit dem Standpunkt anzwei-
feln dass die einzige Form mit der die Achtung des Kernbe-
reichs ausgedruumlckt werden kann darin besteht die Eingriffe die
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu unbeabsichtigten
Wahrnehmungen kernbereichsrelevanter Daten fuumlhren grund-
saumltzlich zu unterlassen103
Wenn der Staat Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen durchfuumlhrt obwohl eine Erfassung kernbereichsrele-
vanter Daten praktisch unvermeidbar ist ist dies nicht anders
als wenn gezielt auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung
zugegriffen wird schlieszliglich sind zwangslaumlufige Folgen einer
Handlung von der Handlungsintention stets miterfasst104
Letz-
teres Argument laumlsst sich zumindest dogmatisch dadurch ent-
kraumlften dass Uumlberwachungsbeamte regelmaumlszligig darauf hoffen
werden gerade keine kernbereichsrelevanten Daten zu erheben
um die Ergebnisse ihrer Uumlberwachung uumlberhaupt verwerten zu
koumlnnen Den Ansatz die Achtung vor dem Kernbereich gebiete
es Maszlignahmen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der
Kernbereichsberuumlhrung kategorisch zu unterlassen strikt durch-
103 So bspw SachsKrings JuS 2008 S 481 (485f) 104 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270
zusetzen wuumlrde bedeuten dass etliche Strafverfolgungsmaszlig-
nahmen wie beispielsweise die klassische Wohnungsdurchsu-
chung in Privatwohnungen ebenfalls unzulaumlssig waumlren Letzt-
endlich genuumlgt es jedoch nicht dem BVerfG vorzuwerfen seine
Kriterien wuumlrden dem Achtungsgebot des Kernbereichs der Per-
soumlnlichkeit nicht gerecht Es muumlsste vielmehr gezeigt werden
inwiefern ein Staat der alles praktisch und technisch Moumlgliche
unternimmt um den Kernbereich der Persoumlnlichkeit seiner Buumlr-
ger vor Wahrnehmungen zu schuumltzen der sich jede Verwertung
versagt und zudem eine unabhaumlngige Uumlberwachung einrichtet
trotz dieser Anstrengungen seine Missachtung zum Ausdruck
bringt105
G Fazit
Anhand der Interpretation des absolut geschuumltzten Kernbereichs
als Achtungsgebot ist es moumlglich die Kernbereichsrechtspre-
chung des BVerfG mit sich selbst in Einklang zu bringen Die
Aufloumlsung der oben diskutierten augenscheinlichen Widerspruuml-
che duumlrfte das Verstaumlndnis fuumlr die bundesverfassungsgerichtli-
che Judikatur foumlrdern und die zukuumlnftige Diskussion um den
Schutz des Kernbereichs erleichtern Ob der faktische Kernbe-
reichsschutz davon ebenso profitiert ist fraglich Die Verlage-
rung der Debatte auf die Wertung was die Achtung vor dem
Kernbereich gebiete laumlsst dem BVerfG bei seiner Rechtspre-
chung wesentlich mehr Wuumlrdigungsspielraum und gibt Kriti-
kern weniger handfeste Argumente an die Hand als eine raumlum-
lich-gedachte absolute Grenze Die Kernbereichsklausel des sect
100a Abs 4 StPO bleibt jedoch auch bei dieser Interpretation
mangelhaft denn wenn den Behoumlrden erlaubt wird auch bei An-
haltspunkten auf eine Beruumlhrung des Kernbereichs abzuhoumlren
kann von einer Achtung desselben keine Rede sein Unzweifel-
haft hat die Rechtsfigur des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
Vergleich zum Abhoumlrurteil an Wert verloren sie aumlhnelt nun eher
einer Konkretisierung der Menschenwuumlrdegarantie bei informa-
tionserhebenden Maszlignahmen Zwar ist die Nutzbarmachung der
Menschenwuumlrde in dieser Form eine begruumlszligenswerte Entwick-
lung die Idee eines tatsaumlchlich absolut geschuumltzten Bereichs
menschlicher Freiheit in den der Staat um keinen Preis eindrin-
gen kann war jedoch ein erfrischender Gegentrend zu der Ten-
denz Individualinteressen prinzipiell dem kollektiven Nutzen
unterzuordnen Die Scheu vor dieser Entwicklung wird es auch
sein was das BVerfG bis heute dazu bewegt in jedem Urteil
wieder die Unantastbarkeit des Kernbereichs zu proklamieren
und diese dem liberalen Verfassungsstaat entstammende Idee
des jedem staatlichen Zugriff entzogenen Freiheitsraumes am
Leben zu erhalten
Der Autor hat sein erstes juristisches Staatsexamen an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg 2018 abgelegt Des Weiteren war er seit 2015 am Max-Planck-Institut ebenfalls in Freiburg taumltig und war wissenschaftlicher Mitarbeit beim Lehrstuhl Prof Dr Perron (Frei-burg) bis er im April 2019 sein Referendariat am LG Freiburg begon-nen hat Die Arbeit entstand im Rahmen eines interdisziplinaumlren Se-minars zum Thema Cybercrime digitale Ermittlungen und Daten-schutz im WS 20162017
105 Poscher JZ 2008 S 269 (275)
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
48 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Buchrezension bdquoFamilienrechtldquo
-
Prof Dr Nina Dethloff
Tino Haupt
Das Familienrecht hat insbesondere in den letzten Jahren
stark im oumlffentlichen Interesse gestanden Beispielhaft ge-
nannt sei hier die sogenannte bdquoEhe fuumlr alleldquo Nach mona-
telangen emotional in der Oumlffentlichkeit gefuumlhrten Debat-
ten hat der Bundestag sich am 30 Juni 2017 mit einer
deutlichen Mehrheit fuumlr den Bundesratsentwurf und somit
die Eheoumlffnung entschlossen
Hervorzuheben sind auszligerdem die in letzter Zeit erfolgten
Aumlnderungen zur Bekaumlmpfung von Kinderehen und stetige
Entwicklungen im Abstammungsrecht
Gut geeignet fuumlr das Erlernen all dieser Gebiete ist das
Werk von Nina Dethloff zum Familienrecht
I Allgemeines zur Autorin und zum Lehrbuch
Nina Dethloff ist Professorin an der Universitaumlt Bonn und dort
Inhaberin des Lehrstuhls fuumlr Buumlrgerliches Recht Internationales
Privatrecht Rechtsvergleichung und Europaumlisches Privatrecht
Zuletzt war sie unter anderem Vorsitzende der Abteilung fuumlr
Familienrecht bei dem 72 Deutschen Juristentag in Leipzig
(Thema Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach
Trennung und Scheidung ndash Reformbedarf im Sorge- Umgangs-
und Unterhaltsrecht)
Das hier behandelte Lehrbuch zum Familienrecht wurde von
Guumlnther Beitzke begruumlndet und in der 26 und 27 Auflage von
Alexander Luumlderitz bearbeitet Mit der 28 Auflage wurde die
Bearbeitung von Nina Dethloff uumlbernommen Im Jahr 2018 ist
das Werk in der 32 Auflage im Verlag CH Beck erschienen
und ist fuumlr einen Preis von 3290 euro im Buchhandel erhaumlltlich
II Zum Inhalt
Die Autorin gliedert 548 Seiten Lehrbuchtext in eine Einleitung
sowie drei Kapitel und diese in insgesamt 17 Paragraphen Die
drei Kapitel des Werkes tragen die Titel bdquoEhe und Partner-
schaftldquo bdquoFamilieldquo und bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo
Vor dem Einstieg in die eigentliche Materie erlaumlutert die
Autorin in einer Einleitung von 25 Seiten die Hintergruumlnde des
Rechtsgebietes bdquoFamilienrechtldquo Deutlich wird hierbei die hohe
praktische Relevanz des Familienrechts aufgrund der enormen
Anzahl an familienrechtlichen Streitigkeiten Dargestellt wird
auszligerdem der Zusammenhang des Familienrechts mit dem
Verfassungsrecht sowie dem internationalen Recht Auch eine
Erlaumluterung der wichtigsten Reformgesetze und der elementaren
Begriffe erfolgt
Mit diesem Grundwissen ausgeruumlstet stellt die Autorin im 1
Kapitel (bdquoEhe und Partnerschaftldquo) den Gang der Ehe dar der mit
dem Verloumlbnis beginnt und haumlufig mit der Ehescheidung endet
Dargestellt wird auszligerdem die eingetragene Lebenspartner-
schaft (wobei diese mit der erfolgten Oumlffnung der Ehe erheblich
an Relevanz verloren hat) und die praktisch auszligerordentlich
relevante faktische Lebensgemeinschaft das heiszligt Lebensge-
meinschaften die ohne Eheschlieszligung oder Begruumlndung einer
Lebenspartnerschaft erfolgen Etwas zu kurz geraten hier die
Ausfuumlhrungen zu den vermoumlgensrechtlichen Anspruumlchen bei
Beendigung der Gemeinschaft Um der Bedeutung insbesondere
in Klausuren gerecht zu werden koumlnnte vor allem die
Darstellung des Bereicherungsrechts in diesem Zusammenhang
ausfuumlhrlicher erfolgen
Neben dem Eherecht ist das Verwandtschaftsrecht das zweite
groszlige Gebiet welches im familienrechtlichen Teil des BGB ge-
regelt ist Die Autorin behandelt diese Aspekte im 2 Kapitel
welches den Titel bdquoFamilieldquo traumlgt Uumlberzeugend ist hier das auch
immer wieder klausurrelevante Abstammungsrecht Neben der
Darstellung der Abstammung von der Mutter und dem Vater
werden auch kontrovers diskutierte Themen wie Leihmutter-
schaft und Babyklappen anschaulich und zum weiteren
Nachdenken anregend behandelt Die weiteren Ausfuumlhrungen
betreffen unter anderem den Unterhalt und die elterliche Sorge
aber auch die Thematik der Pflegefamilie und der Adoption
Abschlieszligend behandelt die Autorin in einem 3 Kapitel wel-
ches den Titel bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo traumlgt Fragestellungen die
im Zusammenhang mit Vormundschaft Rechtlicher Betreuung
und Pflegschaft entstehen
Im Anhang findet sich auszligerdem die Duumlsseldorfer Tabelle
mit Stand zum 112018 welche eine Richtlinie fuumlr den durch
den Barunterhaltspflichtigen an das Kind zu zahlenden Unter-
halt gibt
Hinsichtlich des inhaltlichen Aufbaus laumlsst sich feststellen dass
die einzelnen Paragraphen mit teils kurzen manchmal auch laumln-
geren Faumlllen eingelaumlutet werden die dann im Laufe der jeweili-
gen Darstellung geloumlst werden Das Buch erfuumlllt somit auch teil-
weise die Funktion von Fallbuumlchern und kann diese deshalb
ersetzen Hinzu kommen am Ende eines jeden Paragraphen
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen welche das gerade
Erlernte noch einmal abfragen und somit vertiefen Die
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 49
Loumlsungen zu diesen Fragen finden sich erst gesammelt am Ende
des Buches sodass die Motivation groumlszliger ist zunaumlchst einmal
selbst uumlber die Loumlsung nachzudenken anstatt sofort die Muster-
loumlsung nachzulesen Zudem finden sich immer wieder Angaben
zum relevanten Schrifttum
III Stellungnahme
Die Neubearbeitung des Lehrbuchs zum Familienrecht ist auch
in der 32 Auflage erfolgreich verlaufen
Alle relevanten Gesetzesaumlnderungen und die Entwicklungen
in der Rechtsprechung und der Literatur sind angemessen verar-
beitet Fuumlr eine schnelle Wiederholung des Familienrechts kurz
vor der Klausur eignet sich das Werk aufgrund des nicht gerade
geringen Umfangs nicht unbedingt Hier bieten sich kompaktere
Darstellungen zum Familienrecht an Gerade bei der Erstellung
von Haus- und Seminararbeiten sowie der tiefergehenden Vor-
bereitung auf die Klausur im Familienrecht etwa fuumlr das Erste
Juristische Staatsexamen oder den Schwerpunktbereich kommt
einem die ausfuumlhrliche Darstellung jedoch zugute Auszligerdem
kann durch die uumlbersichtliche Aufteilung in Kapitel und Para-
graphen schnell das Gesuchte gefunden werden Gerade fuumlr die
familienrechtlichen Klausuren im Studium kann somit eher als
bdquoSpezialwissenldquo Anzusehendes wie zB die Ausfuumlhrungen zur
Duumlsseldorfer Tabelle auch weggelassen werden
Erfreulich waumlre die Aufnahme eines Paragraphenverzeich-
nisses ndash dieses sucht man vergeblich Insbesondere bei Unklar-
heiten oder sonstigem Lesebedarf zu einer bestimmten Norm
erweist sich dieses als besonders hilfreich Unterstuumltzend bei der
Suche nach bestimmten Begriffen im Buch und deshalb auch
uumlberzeugend ist hingegen das umfangreiche und dennoch
anschaulich gestaltete Sachverzeichnis
Der Autor ist Wiss Mitarbeiter am Lehrstuhl fuumlr Deutsche und Europaumlische Rechtsgeschichte Kirchenrecht und Buumlrgerliches Recht (Prof Dr Anja Amend-Traut) an der Juristischen Fakultaumlt der Universitaumlt Wuumlrzburg sowie Wiss Mitarbeiter bei Freshfields Bruckhaus Deringer in der Praxisgruppe Globale Transaktionen in Frankfurt am Main
Schick Einfuumlhrung in die Logik Rezension Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 50
Buchrezension bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo
Drphil habil Alexander Aichele Dr phil Jakob Meier Prof Dr iur Joachim Renzikowski Sebas-
tian Simmert MA
-
von Stefan Schick
Wer sich als Jurist mit einem Buch zur Logik als wissenschaft-
licher Disziplin konfrontiert sieht stellt sich hierbei zunaumlchst die
Frage warum er sich mit dieser Materie die wohl auf den ersten
Blick der Mathematik zuzuordnen ist beschaumlftigen sollte Diese
Frage beantworten die Autoren selbst zu Beginn Wie jede Wis-
senschaft versucht die Rechtswissenschaft die Welt in ihrem Ge-
genstandsbereich (Recht) durch Aussagen zu analysieren Fuumlr
die Frage ob eine Aussage anwendbar ist und wie verschiedene
Aussagen in Beziehung zu setzen sind ist die Logik die ent-
scheidende Grunddisziplin Logik ist damit die Grundvorausset-
zung jeder sinnhaften Aussage und des informationsvermitteln-
den Kommunizierens
Die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo ist im Jahr
2015 im CHBeck Verlag Muumlnchen (Reihe bdquoJura kompaktldquo)
in Erstauflage erschienen Das vierkoumlpfige Autorenteam ist in-
terdisziplinaumlr wobei Prof Dr Joachim Renzikowski der den
Lehrstuhl fuumlr Strafrecht Rechtsphilosophie und Rechtstheorie
an der Martin-Luther-Universitaumlt Halle-Wittenberg innehat fuumlr
die spezifische juristische Fachkompetenz sorgt Die Abhand-
lung beruht auf einer gleichnamigen Vorlesung im Winterse-
mester 20092010 an der Martin-Luther Universitaumlt Halle-Wit-
tenberg
Die Abhandlung gliedert sich in fuumlnf groumlszligere Abschnitte Im
ersten dieser Abschnitte werden zunaumlchst die Grundbegriffe und
Grundmodelle der wissenschaftlichen Logik erlaumlutert insbeson-
dere wird der Begriff als Grundgegenstand der Logik naumlher aus-
geleuchtet Der zweite Abschnitt beschaumlftigt sich in der Folge
mit der Verbindung mehrerer Begriffe also der Aussage Dabei
werden die konstruktiven Grundvoraussetzungen sinnhafter
Aussagen erarbeitet darauf folgend verschiedene Arten von
Aussagen und besondere Auspraumlgungen solcher klassifiziert
Der dritte Abschnitt beschaumlftigt sich dann mit der Beziehung
mehrerer Aussagen zueinander Dabei geht es vor allem darum
vom Wahrheitsgehalt einer Aussage auf den Wahrheitsgehalt
anderer Aussagen zu schlieszligen Dies wird von den Autoren als
der Kernbereich der wissenschaftlichen Logik identifiziert Im
vierten Abschnitt geht es um die sog Deontische Logik Darun-
ter versteht man den spezifisch rechtswissenschaftlichen Be-
reich der Logik also das Verhaumlltnis von Handlungen und Nor-
men Im fuumlnften und letzten Abschnitt wird die Urteilsbegruumln-
dung des BGH im bekannten Jauchegruben-Fall unter logi-
schen Gesichtspunkten untersucht Hier schwingt auch deutliche
Kritik an der Vernachlaumlssigung der Logik als wissenschaftlicher
Disziplin im Bereich juristischer Methodenlehre mit Abge-
schlossen wird die Abhandlung dann mit einem formalen Uumlber-
blick
Grundsaumltzlich positiv faumlllt die Bemuumlhung der Autoren auf
die komplexe Materie der wissenschaftlichen Logik auch fuumlr
Neulinge auf diesem Gebiet anschaulich zu erklaumlren Schoumln sind
in diesem Zusammenhang auch die vielen juristischen Bei-
spiele Der Umfang der Darstellung ist mit 86 Seiten uumlberschau-
bar Jedoch waumlre es der Lesbarkeit in diesem Zusammenhang
zugutegekommen wenn fuumlr eine groumlszligere Schriftgroumlszlige einige
Seiten mehr in Kauf genommen worden waumlren
Zugegebenermaszligen handelt es sich bei der bdquoEinfuumlhrung in die
Logik und ihren Gebrauchldquo weder um eine Lektuumlre die fuumlr das
Studium unmittelbar weiterhilft noch um eine einfache Bettlek-
tuumlre Wer sich aber fuumlr Hintergruumlnde ndash insbesondere auch fach-
uumlbergreifend ndash interessiert und eine gewisse Freude am abstrak-
ten Denken mitbringt kann von dieser Grunddarstellung klar
profitieren Diese Freude am abstrakten Denken ist aber auch
notwendig so sind die Ausfuumlhrungen teilweise ndash trotz der ge-
lungenen Veranschaulichung ndash sehr komplex was aber selbst-
verstaumlndlich auch der komplexen Thematik geschuldet ist
Der Autor promoviert und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Muumlnchen
UN
SE
RE
ST
AN
DO
RT
E
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website | wwwschrade-partnerde
Seit 1976 betreuen wir Unternehmen und Unternehmer in allen Fragen des Wirtschaftsrechts Mit fuumlnf Standorten im suumldlichen Baden-Wuumlrttemberg und einem in Berlin sind rund 35 Rechtsanwaumlltinnen und Rechtsanwaumllte immer genau dort wo unsere Mandanten uns brauchen
bdquoWir geben der Wirtschaft Rechtldquo
Unser Credo praumlgt unsere taumlglichen Aufgaben Wir bieten ein breites Spektrum an Fachwissen und verfuumlgen uumlber einen groszligen Erfahrungsschatz in folgenden Kernkompetenzfeldern
- Gesellschaftsrecht - Handelsrecht - Unternehmenskauf (MampA) Unternehmensumstrukturierung - Arbeits- und Dienstvertragsrecht - Aktienrecht - Erbrecht und Unternehmensnachfolge - Sanierungs- und Restrukturierungsberatung Insolvenzrecht - Vergabe- und Kartellrecht - Prozessfuumlhrung Litigation - Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht - Recht des Gesundheitswesens
Wir arbeiten standortuumlbergreifend und interdisziplinaumlr Selbstverstaumlndlich werden neben den rechtlichen auch saumlmtliche steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Aspekte beruumlcksichtigt Deshalb pflegen wir eine enge Zusammenarbeit mit Steuerberatern und Wirtschaftspruumlfern Auszligerdem stehen unsere Beratungskonzepte immer in einem vernuumlnftigen finanziellen Verhaumlltnis zur Aufga-benstellung
Sie moumlchten uns besser kennenlernen Sprechen Sie uns gerne jederzeit an
BERLIN Georgenstraszlige 23 10117 Berlin Telefon +4930235024-0 Telefax +4930235024-99 berlinschrade-partnerde
LAHR Stefanienstraszlige 45 77933 Lahr Telefon +49782199039-30 Telefax +49782199039-59 lahrschrade-partnerde
TUTTLINGEN Bahnhofstraszlige 44 78532 Tuttlingen Telefon +497461965093-10 Telefax +497461965093-99 tuttlingenschrade-partnerde
FREIBURG Hermann-Herder-Straszlige 4 79104 Freiburg Telefon +49761389469-0 Telefax +49761389469-99 freiburgschrade-partnerde
VILLINGEN-SCHWENNINGEN Max-Planck-Straszlige 11 78052 Villingen-Schwenningen Telefon +49772120626-0 Telefax +49772120626-100 villingenschrade-partnerde
SINGEN Hegau-Tower Maggistraszlige 5 78224 Singen Telefon +49773159145-500 Telefax +49773159145-510 singenschrade-partnerde
Wer sind wir
FREILAW ist die studentisch-juristische Zeitschrift der Albert-Ludwigs-Universitaumlt
Freiburg und besteht als Projekt Freiburger Studierender bereits seit 2006 Die
Zeitschrift erscheint in drei bis vier Ausgaben jaumlhrlich online und teilweise auch
gedruckt Neben wissenschaftlichen Artikeln veroumlffentlichen wir auch solche die uumlber
das Fachliche hinausgehen und fuumlr Jurastudierende lesenswert sind In unseren
Ausgaben veroumlffentlichen wir daruumlber hinaus regelmaumlszligig Erfahrungsberichte uumlber
Auslandsaufenthalte sowie Interviews im Rahmen der Berufsperspektive fuumlr Juristen
Warum gerade Ihr Egal ob Ihr im ersten oder letzten Semester seid Ihr koumlnnt euch bei uns jederzeit in die
Redaktionsarbeit einbringen oder sogar eigene Artikel veroumlffentlichen
Was erwartet Euch Wir haben Aufgaben in vielen Bereichen von der Redaktionsmitarbeit der Pflege
unseres Internetauftritts bis hin zur Oumlffentlichkeitsarbeit uvm Euch erwartet eine
angenehme Arbeitsatmosphaumlre in einem netten und motivierten Team
Was erwarten wir
Kreative und motivierte Mitarbeiter die Interesse an der Weiterentwicklung des
Journals haben
Worauf wartet Ihr Kommt einfach zur naumlchsten Redaktionssitzung vorbei
Die Termine der Redaktionssitzung werden auf unserer
Homepage (wwwfreilawde) und auf unserer
Facebook-Seite (wwwfacebookcomfreilaw) bekanntgegeben
Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 III
Freilaw 12019
Thema EU und Israel ndash zwei aktuelle Herausforderungen im internationalen Recht
Till Gawlyta Von der Thora bis zur Knesset- Das Menschenwuumlrdeverstaumlndis Israels und dessen Einfluss auf das israelische Recht 1 Lucie Schultz Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verlegung der US- Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts 10
Soma Hegedős Die Problematik der europaumlischen Demokratie und die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGH 17
Datenschutzrecht
Sonja Buumlhler Conditional consent as a valid legal ground for data processing - a misbelief 25
Rechtsschutz im Rahmen der EMRK
Sarah Baukelmann
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo ndash Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK 32
Strafprozessrecht
Samuel Hahn
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen 40
Rezensionen
Tino Haupt Familienrecht 48 Stefan Schick Einfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauch 50
Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 IV
Vorwort der Chefredaktion
Liebe Leserinnen und Leser
Recht ist nie stetig sondern stets im Wandel Sichtbar wird dies immer wieder dann wenn
Gesetze oder rechtlich bedeutende Handlungen auf gesellschaftliche Kritik stoszligen und
Kontroversen ausloumlsen Eine solche Entwicklung lieszlig und laumlsst sich in der letzten Zeit etwa in
Israel und ganz besonders in der Europaumlischen Union feststellen
So moumlchten wir in dieser Ausgabe den ein oder anderen Aspekt juumlngerer Entwicklungen im
Recht oder in seiner Anwendung beleuchten
Zunaumlchst koumlnnen Sie dazu einen Artikel zum bdquoMenschenwuumlrdeverstaumlndnis Israels und dessen
Entwicklung auf das israelische Rechtldquo lesen Sodann wird der politisch brisante Aspekt der
bdquoAnerkennung Jerusalems und der Verlegung der US-Botschaft im Rahmen des Voumllkerrechtsldquo
vorgestellt
Dem schlieszligen sich zu europarechtlichen Fragestellungen ein Artikel zur bdquoProblematik der
europaumlischen Demokratie und der rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGHldquo sowie ein Artikel zu
bdquoConditional consent as a valid legal ground for data processingldquo innerhalb der DSGVO an
Ebenfalls an das Europarecht angelehnt erscheint die Fallbesprechung der Causa Magnus
Gaumlfgens die im Rahmen des Rechtsschutzes und der Verfahrensgarantien der EMRK
beleuchtet wird Zum anderen erhalten Sie durch die Abhandlung zum bdquoSchutz des Kernbereichs
der Persoumlnlichkeit im Rahmen strafprozessualer Ermittlungenldquo einen Einblick in bedeutende
Problemfelder des Strafprozessrechts
Abgerundet wird auch diese Ausgabe durch zwei Rezensionen zum einen uumlber das Lehrbuch
bdquoFamilienrechtldquo von Nina Dethloff und zum anderen uumlber die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren
Gebrauchldquo von Alexander Aichele Jakob Meier Joachim Renzikowski und Sebastian Simmert
Wir wuumlnschen Ihnen viel Spaszlig beim Lesen
Ihre Chefredaktion von Freilaw
(Sarah Baukelmann) (Joeumll Stumpp)
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
1
Von der Torah bis zur Knesset ndash Uumlber die Entwicklung des juumldischen
Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses und dessen Einfluss auf das
israelische Recht
-
Till Gawlyta
A Einleitung
Der Artikel beruht auf einer Seminararbeit mit dem Titel bdquoRechtsphilosophische Grundlagen der Menschenwuumlrde-diskussion - Die Menschenwuumlrde in Israel als Ausdruck europaumlischer Rechtsrezeption oder eigener religioumlser Tra-ditionldquo die im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher (Universitaumlt Freiburg) eingereicht wurde Be-handelt werden die Entwicklung der Menschenwuumlrdega-rantie in Israel und ihre Stellung innerhalb der israelischen Rechtsordnung Dazu erfolgt eine Darstellung der Genese des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses sowie wegweisender Urteile des obersten Gerichtshofs seit der Einfuumlhrung des Grundrechts auf Menschenwuumlrde im Jahr 1992 Der Arti-kel beleuchtet dabei einerseits die verbluumlffende Fort-schrittlichkeit des antiken juumldischen Menschenwuumlrdedis-kurses und andererseits das Ringen von religioumlsem und saumlkularem Wuumlrdeverstaumlndnis um die Vorherrschaft in der Gesetzgebung und Rechtsprechung Israels
B Die Entwicklung des juumldischen
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Der heutige Wortlaut fuumlr Menschenwuumlrde im Hebraumlischen
Kvod Harsquoadam ist erst seit der Verbreitung der Menschenwuumlrde
in europaumlischen Rechtsordnungen waumlhrend der zweiten Haumllfte
des 20 Jahrhunderts gelaumlufig den Ausgangspunkt fuumlr die Be-
zeichnung einer Wuumlrde des Menschen bildet im Judentum das
in der Bibel haumlufig vorkommende Wort Kavod das urspruumlnglich
mehrere Bedeutungen hatte zum einen bdquoWuumlrdeldquo und (soziale)
bdquoEhreldquo im Sinne eines gesellschaftlichen Status aumlhnlich der rouml-
mischen Dignitas zum anderen die Gegenwart Gottes1 Da jeder
Mensch nach dem in Genesis angelegten Verstaumlndnis ein Eben-
bild Gottes im Hebraumlischen Tzelem Elohim ist und durch jeden
Menschen Gott gegenwaumlrtig ist kommt auch jedem Menschen
Kavod zu2 Ein anderer vor allem in klassischen juumldischen
Rechtstexten gelaumlufiger Begriff fuumlr Wuumlrde ist Kvod Habriyot
der sich mit bdquoEhreWuumlrde der Menschenldquo uumlbersetzen laumlsst Die-
ser Begriff kann fuumlr einen dem Menschen innewohnenden Wert
1 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 2 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667f 3 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 4 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 669
stehen ist jedoch auch mit einer Wuumlrde im Sinne der Dignitas
konnotiert3 Der Begriff Kvod Habriyot ist im Plural formuliert
und beschreibt daher in weiten Teilen die Wuumlrde des Menschen
als integralen Teil eines Kollektivs4
I Das Wuumlrdeverstaumlndnis der Torah
Der erste und bedeutendste Teil der juumldischen Bibel ist die
Torah die aus den fuumlnf Buumlchern Mose besteht und dem Chris-
tentum als das Alte Testament bekannt ist Die Torah ist die aumll-
teste und bedeutendste schriftliche Quelle des Judentums und
stellt den Ausgangs- und Bezugspunkt saumlmtlicher folgender
Schriften des Judentums dar Die Torah enthaumllt Rechtstexte die
Halakhah die den aumlltesten Teil des kanonischen Rechts des Ju-
dentums bilden
1 Ebenbildlichkeit als Demokratisierung der Bindung
zu Gott
Vergleicht man das in Genesis angelegte Verstaumlndnis der Eben-
bildlichkeit Tzelem Elohim der Menschen mit Gott mit der zum
Zeitpunkt der Entstehung der fuumlnf Buumlcher Mose im Nahen Osten
vorherrschenden Vorstellung von der Bindung zwischen Gott-
heiten und Menschen erscheint das juumldische Verstaumlndnis als
sehr fortschrittlich In benachbarten Kulturen wie in Mesopota-
nien und Aumlgypten ging man davon aus dass lediglich der Herr-
scher sowie dessen Nachkommenschaft Ebenbilder und Kinder
des Goumlttlichen sein koumlnnen5 Das juumldische Verstaumlndnis das al-
len Menschen durch ihre Abstammung von Adam und Eva eine
Ebenbildlichkeit mit Gott zuspricht fuumlhrte somit zu einer De-
mokratisierung der Bindung zwischen dem Goumlttlichen und dem
Menschlichen6 Nicht nur die in benachbarten Kulturen den
Herrschern vorbehaltene Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
sondern auch der damit einhergehende Titel bdquoSohn Gottesldquo
wurde im Judentum der gesamten Bevoumllkerung uumlbertragen7
5 Y Lorberbaum Disempowered King ndash Monarchy in Classical Jewish Lit-
erature 2011 S 145f 6 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137 7 A Boumlckler Die Tora nach der Uumlbersetzung von Moses Mendelssohn 2014
Deuteronomium Kap 14 Vers 1
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 2
Auch wenn daraus noch kein normativer Anspruch folgte mar-
kiert der Gedanke des Tzelem Elohim die Geburt des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses im Judentum
Als Folge dieser Demokratisierung der Bindung zwischen
dem Menschen und dem Goumlttlichen konnten Herrschaftsanspruuml-
che in der juumldischen Gesellschaft nicht lediglich auf eine exklu-
sive Bindung der Herrschenden zu Gott gestuumltzt werden son-
dern es bedurfte weiterer Legitimation8 Der Anspruch dass ein
Herrscher daher auch ein gottgefaumllliges Handeln an den Tag le-
gen muss um sich seiner Stellung als wuumlrdig zu erweisen ist an
einem in der Torah formulierten Katalog von koumlniglichen bdquoHerr-
schafts- und Verhaltensregelnldquo9 abzulesen Aus diesen Vor-
schriften ergab sich fuumlr die Bevoumllkerung kein der modernen
Menschenwuumlrde entsprechender Anspruch auf Schutz vor staat-
licher Willkuumlr aber eine erste Beschraumlnkung koumlniglichen Han-
delns
2 Die Todesstrafe als Ausdruck eines extrinsischen
Werts des Menschen
Bevor sich der Talmud im Judentum durchsetzte und den Rege-
lungsgehalt der Torah ergaumlnzte war die Todesstrafe im alten Is-
rael wie auch in allen anderen Kulturen des Nahen Ostens eine
etablierte Praxis10 Als Grundlage des biblischen Strafrechts und
insbesondere der Todesstrafe im Judentum wird die Textstelle
angesehen in der es heiszligt bdquoWer Menschenblut vergieszligt dessen
Blut wird durch Menschen vergossen Denn Als Abbild Gottes
hat er den Menschen gemachtldquo11 Dies ist ein Ausdruck des fruuml-
hen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ndash der einem jeden Men-
schen innewohnenden Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
wurde ein universeller Wert beigemessen Es wurden keine Ab-
stufungen nach gesellschaftlichem Rang vorgenommen son-
dern jede Toumltungshandlung wurde grundsaumltzlich als gleich ver-
werflich angesehen auf die Person des Getoumlteten kam es zu-
naumlchst nicht an Gleichzeitig wurde der Grad der Verwerflich-
keit einer Toumltungshandlung houmlchstmoumlglich angesetzt da nur die
Anwendung der verwerflichen Handlung selbst auf den Taumlter als
adaumlquate Strafe angesehen wurde Die darin liegende Wertschaumlt-
zung der bdquoHeiligkeit des menschlichen Lebensldquo ist Ausdruck ei-
nes Wuumlrdeverstaumlndnisses das den Wert des Menschen durch
sein goumlttliches Element begruumlndet der Wert des Menschen ist
also nicht in- sondern extrinsisch12
3 Gebote und Verbote als Ausdruck des
8 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 9 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 17 Vers 16ff 10 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137f 11 A Boumlckler Die Tora 2014 Genesis Kap 9 Vers 6 12 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 673 13 A Boumlckler Die Tora Exodus Kap 20 Verse 2-17 Deuteronomium Kap
5 Verse 6-21 14 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext ndash Geschichten ndash Erscheinungs-
formen ndash Neuere Entwicklungen 2013 79 81
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Neben der in der Ebenbildlichkeit begruumlndeten Wuumlrde finden
sich in der Torah Gebote und Verbote die auf vergleichbare Art
Ausdruck des Wuumlrdeverstaumlndnisses des Tzelem Elohim wie
auch die modernen Menschenrechte Ausfluss des modernen
Wuumlrdeverstaumlndnisses sind Beispielsweise erfassen die Zehn
Gebote die Unverletzlichkeit von Leben Familie und Eigen-
tum13 Ansaumltze sozialer Rechte finden sich zum Beispiel in den
an benachbarten Kulturen gemessen fortschrittlichen Schutz-
rechten fuumlr Sklaven welche die Sabbatruhe die Freilassung
nach Ablauf von sieben Dienstjahren sowie Schutz vor Koumlrper-
verletzungen garantierten14 Auch die Ausweitung der Naumlchs-
tenliebe auf Fremde die sich aus den eigenen Erfahrungen der
Juden als Minderheit in Aumlgypten speiste wurde vorgeschrie-
ben15 und daraus ein Folterverbot hergeleitet16 Zudem ist ein
Asylrecht fuumlr zu Unrecht Verfolgte in der Torah angelegt17
Auch ein Andauern der Wuumlrde uumlber den Tod hinweg laumlsst sich
durch das eine Entwertung der Ebenbildlichkeit verhindernde
Verbot in Deuteronomium 2122 Gehaumlngte am jeweiligen
Baum zu belassen und nicht unverzuumlglich zu begraben herlei-
ten18
4 Universalitaumlt und Grenzen der Wuumlrde
Mitunter war der Kreis der durch die biblischen Vorschriften ge-
schuumltzten Personen jedoch auch beschraumlnkt Laut der Torah soll
beispielsweise alle sieben Jahre Schuldnern ein Schuldenerlass
gewaumlhrt werden19
und es soll davon abgesehen werden Zinsen
fuumlr verliehenes Geld zu erheben20
Die beiden letztgenannten
Regeln dienen der Verhinderung von extremer Armut und ent-
sprechen somit dem modernen Anspruch der Menschenwuumlrde
dass ein humanitaumlrer Mindeststandard zu wahren ist jedoch gel-
ten sie im Gegensatz zur heutigen Menschenwuumlrde begrenzt
naumlmlich nicht im Umgang mit Auslaumlndern21
Ebenso verhaumllt es
sich mit der Todesstrafe bei Toumltungsdelikten die nur Anwen-
dung finden sollte wenn ein Mitbuumlrger Opfer der Straftat
wurde22
An beiden Beispielen zeigt sich dass Teile des in der
Torah dargelegten Wuumlrdeverstaumlndnisses nur fuumlr Mitglieder der
eigenen Glaubensgemeinschaft gelten sollen
Somit ergeben sich die Fragen wie universell das Wuumlrdever-
staumlndnis der Torah ist und wie stark es mit der modernen Men-
schenwuumlrde vergleichbar ist Nach moderner Lesart sind insbe-
sondere vor dem Hintergrund verschiedener Schutzrechte fuumlr
Minderheiten und Verfolgte alle jene Gebote und Verbote die
niemanden explizit von ihrem Schutz ausschlieszligen universell
15 A Boumlckler Die Tora 2014 Leviticus Kap 19 Vers 33f 16 K Bland The Muslim World Journal 103 (2013) 199 201 17 A Boumlckler Die Tora 2014 Numeri Kap 35 Verse 22-25 18 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667 19 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 1f 20 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 23 Vers 20f 21 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 3 Kap 23 Vers
22 22 A Boumlckler Die Tora 2014 Exodus Kap 21 Vers 14
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 3
guumlltig und somit auch das durch sie transportierte Wuumlrdekon-
zept Fruumlhe juumldische Gelehrte haben diese Position jedoch groumlszlig-
tenteils nicht eingenommen23 Somit fehlt es dem biblischen
Wuumlrdekonzept im Vergleich mit dem modernen Wuumlrdebegriff
trotz des Grundgedankens der universellen Ebenbildlichkeit und
der auf dem Konzept der Naumlchstenliebe basierenden Rechte der
Minderheiten an einem stringenten klar formulierten Gleich-
heitsgedanken der einen normativen Anspruch auf grundsaumltzli-
che Gleichbehandlung begruumlndet Jedoch eroumlffnet die in den
meisten Faumlllen unklare Formulierung des Adressatenkreises der
biblischen Regeln die Moumlglichkeit das biblische Wuumlrdekonzept
nach modernen Standards auszulegen
II Entwicklung des Wuumlrdeverstaumlndnisses im Talmud
Neben der Torah wurde das Judentum umfangreich vom Tal-
mud einer Sammlung von Kommentierungen Analysen und
Dialogen fruumlher Rabbiner die die Themen der Torah behandeln
gepraumlgt bdquoDerldquo Talmud ist kein einheitliches Werk sondern es
bestehen zwei inhaltlich verschiedene Versionen der weitaus
bedeutendere und verbreitetere Babylonische Talmud und der
weniger strenge Jerusalemer bzw Palaumlstinische Talmud Beide
Werke entstanden in der Zeit nach der Zerstoumlrung Jerusalems
durch die Roumlmer ab ca 70 n Chr Wie auch die Torah enthaumllt
der Talmud Halakhah-Abschnitte die Teil des kanonischen
Rechts des Judentums sind Mit der Entwicklung des Talmud
kam es zu einer Losloumlsung vom reinen Wortlaut der Torah Dies
geschah im Zuge vielfaumlltiger Analysen Kommentierungen und
Auslegungen der Torah durch Rabbiner die mitunter auch
Rechtspraxen entwickelten die dem Wortlaut der Torah entge-
genstehen24
1 Priorisierung der Wuumlrde gegenuumlber biblischen
Vorschriften
In der Torah und im Babylonischen Talmud wurde die Befol-
gung biblischer Vorschriften noch konsequent uumlber die Wuumlrde
des Einzelnen gestellt Im Jerusalemer Talmud kam hingegen
erstmals ein anderer Ansatz zum Tragen
Beispielhaft ist die Frage ob das Umfeld einer sich in der
Oumlffentlichkeit befindlichen Person uumlber die sich herausstellt
dass sie ein Gewand das aus einem nach der biblischen Kleider-
ordnung verbotenen Stoff besteht traumlgt diese Person unverzuumlg-
lich zum Ablegen des Gewands bewegen muss Der neue Ansatz
einiger Stimmen des Jerusalemer Talmud bestand darin dass die
Befolgung der biblischen Gebote also das Ablegen des verbo-
tenen Gewandes herausgezoumlgert werden darf bis sich der Trauml-
ger nicht mehr in der Oumlffentlichkeit befindet damit eine oumlffent-
liche Erniedrigung des Traumlgers und somit eine Verletzung seiner
Wuumlrde (Kvod Habriot) und der Gesellschaft vermieden wird
Dieser Schutz der Wuumlrde entgegen den biblischen Vorschriften
23 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1104f 24 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1106f 25 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671f
sollte nicht nur die Vermeidung oumlffentlicher Erniedrigung um-
fassen sondern auch auf die Vermeidung geringerer Beschauml-
mung einer Person ausstrahlen25
Bezeichnend sind auch die in der Gemara dem zweiten Teil
des Talmud dargelegten Uumlberlegungen von Rabinern zur wuumlr-
devollen Vollstreckung der Todesstrafe bei Frauen Eine im ge-
samten Nahen Osten verbreitete Methode die Todesstrafe zu
vollstrecken war die Steinigung Maumlnner wurden grundsaumltzlich
nackt gesteinigt Diese Praxis wurde als wuumlrdevoll angesehen
da Bekleidung die Wurfgeschosse abfedern kann und somit den
mit koumlrperlichem Leiden erfuumlllten Zeitraum bis zum Eintreten
des Todes verlaumlngern kann In Bezug auf Frauen ergab sich den
Rabbinern das Problem dass sich nach ihrem Verstaumlndnis
Frauen im Gegensatz zu Maumlnnern bloszligstellt und erniedrigt fuumlh-
len wenn man sie verpflichtet sich in der Oumlffentlichkeit zu ent-
kleiden eine bekleidet gesteinigte Frau jedoch mehr Schmerzen
erleiden muumlsse Die Loumlsung sah daher vor Frauen in den Koumlrper
bedeckenden aber duumlnnen und daher moumlglichst gering abfe-
dernden Gewaumlndern zu steinigen26
In beiden Beispielen wurden im Zuge einer Abwaumlgung bibli-
sche Vorschriften zugunsten der Wuumlrde des Menschen be-
schraumlnkt im ersten Beispiel durch eine spaumltere Ausfuumlhrung im
zweiten Beispiel durch eine Aumlnderung der Art der Ausfuumlhrung
Somit wurde aumlhnlich dem modernen Menschenwuumlrdebegriff der
Wuumlrde ein normativer Vorrang vor bdquoregulaumlrenldquo Gesetzen einge-
raumlumt Nichtsdestotrotz ist abgrenzend zu bemerken dass der
Vorrang der Vermeidung von Wuumlrdeverletzungen mit dem
Schutz der geistigen Ebenbildlichkeit begruumlndet27 wird und da-
her nicht abgekoppelt vom religioumlsen Verstaumlndnis zu betrachten
ist
2 Schutz der Ebenbildlichkeit durch bdquomakelloseldquo
Todesstrafe
Im Talmud erfuhr die Todesstrafe eine erste Einschraumlnkung in-
dem man sich von Arten der Vollstreckung abwandte die eine
sichtbare Verletzung des Koumlrpers mit sich brachten Das zuvor
herrschende lediglich auf der Torah aufbauende Verstaumlndnis
hatte noch darauf abgezielt dass der Verurteilte nicht nur durch
seinen Tod geistig ausgeloumlscht werden sollte sondern dass
durch ein Zerschmettern des Koumlrpers auch dieser zerstoumlrt wer-
den sollte Mit dem Talmud setzte sich die Idee durch dass zu-
mindest der Koumlrper des zum Tode Verurteilten als physisches
Ebenbild Gottes keinen sichtbaren Schaden nehmen soll Man
nahm an dass Gott beim Toumlten von Suumlndern sein eigenes Eben-
bild nicht verunstalten wuumlrde und daher bdquomakelloseldquo Formen
der Toumltung grundsaumltzlich zu bevorzugen seien28
Die Tatsache dass besonders grausame Arten die Todesstrafe
zu vollstrecken dadurch weitestgehend ausgeschlossen wurden
26 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312f 27 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671 28 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 4
stellt grundsaumltzlich eine Annaumlherung an das moderne europaumli-
sche Menschenwuumlrdeverstaumlndnis dar die Begruumlndung dieses
Paradigmenwechsels bleibt jedoch im goumlttlich zentrierten Ver-
staumlndnis der Wuumlrde verhaftet
3 Abschaffung der Todesstrafe und des Lex talionis
als Ausdruck einer unverlierbaren Wuumlrde
Letztendlich kam es in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n
Chr zu einer praktischen Verdraumlngung der Todesstrafe da an
eine Verurteilung zum Tode eine Reihe von schwer erfuumlllbaren
Anforderungen geknuumlpft wurde29
So wurde zum Beispiel eine
verschaumlrfte Form des Vorsatzes gefordert die darin bestehen
sollte dass der Taumlter kurz vor der Tat noch einmal explizit ge-
warnt worden sein muss dass sein Vorhaben mit dem Tod be-
straft wird und er sein volles Bewusstsein dieser Tatsache be-
zuumlglich der bevorstehenden Toumltung ausdruumlckt und kurz darauf
die Tat begeht Des Weiteren bedurfte es zweier Augenzeugen
deren Aussagen nur verwertet werden sollten sofern sie sich in
keinem Detail widersprachen und eine Verurteilung durch das
zustaumlndige 23-koumlpfige Gericht sollte nur erfolgen koumlnnen wenn
mindestens ein Richter sich gegen einen Schuldspruch aus-
sprach bei Einstimmigkeit der Verurteilung soll diese automa-
tisch in einen Freispruch umgewandelt werden30
Grundlage fuumlr diese faktische Abschaffung der Todesstrafe
war neben dem Bemuumlhen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen
zu vermeiden eine weitere Auslegung des Wuumlrdebegriffs als zu-
vor So wurde die Wuumlrde nun als etwas verstanden das auch
durch das groumlszligte Verbrechen nicht verwirkt werden kann und
daher sollten auch die groumlszligten Suumlnder Ebenbilder Gottes blei-
ben31 Zudem wurde im Talmud angenommen dass bei einer
Beeintraumlchtigung der Ebenbildlichkeit Gottes durch Verletzung
oder Toumltung dieser aufgrund seiner menschlichen Immanenz
ebenso leidet Daher fand auch das Lex talionis eine Abloumlsung
und wurde durch Geldstrafen ersetzt32
Die Losloumlsung von Todesstrafe und Lex talionis in Verbin-
dung mit dem Gedanken dass die Wuumlrde unverlierbar ist fuumlhrt
zu einer groumlszligeren Deckungsgleichheit des juumldischen Wuumlrdever-
staumlndnisses mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken in der Rechtsanwendung Die Begruumlndung dieses
Schritts dass Verletzung und Toumltung von Menschen um das Lei-
den des Goumlttlichen und nicht des Menschen zu vermeiden sind
zeigt hingegen dass die Wuumlrde des Menschen weiterhin extrin-
sisch begruumlndet wurde und nicht der Mensch an sich sondern
Gott der Grund des auf dem Tzelem Elohim aufbauenden As-
pekts des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ist
4 Die Naumlchstenliebe des Talmud als Bestandteil des
29 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f 30 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 309ff 31 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 311f
Naturrechts
Das bereits in der Torah angelegte Konzept der Naumlchstenliebe
erfuhr im Talmud eine noch staumlrkere Ausformung die Rabbiner
Hillel als goldene Regel zusammenfasste ldquoWas Dir nicht lieb
ist tue auch deinem Naumlchsten nicht das ist die gesamte Geset-
zeslehre alles andere ist nur Erlaumluterung geh und lerneldquo Nach
dem Rabbiner Leo Baeck ergibt sich aus der Verbindung der in
Torah und Talmud angelegten Naumlchstenliebe Inklusion des
Fremden und Menschenrechte ein staatlicher Rechtsgedanke
der nur auf den Menschen abstellt und damit als ein Grundbe-
griff des Naturrechts gelten kann33 Torah und Talmud bieten
somit neben dem untrennbar mit Gott verknuumlpften Gedanken der
Ebenbildlichkeit Ansaumltze fuumlr ein Konzept der Menschenwuumlrde
das sich saumlkular auslegen laumlsst und daher eine grundsaumltzliche
Vereinbarkeit mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken aufweist
5 Zwischenfazit
Das in Torah und Talmud angelegte Wuumlrdeverstaumlndnis weist
verschiedene Ansaumltze des modernen europaumlischen Menschen-
wuumlrdegedankens auf Aus dem Konzept der Gottesebenbildlich-
keit entspringt der Gedanke einer unverlierbaren Gleichheit aller
Menschen aus der jedoch kein universeller normativer An-
spruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden kann Des Wei-
teren weisen Torah und Talmud Ansaumltze verschiedener Frei-
heits- und Sozialrechte auf die auch vom heutigen Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis umfasst werden und mit dem im Talmud ver-
staumlrkten Konzept der Naumlchstenliebe ist auch ein Bezugspunkt fuumlr
einen naturrechtlichen Menschenwuumlrdebegriff angelegt Diese
Ansaumltze reichen in Summe jedoch nicht aus um daraus das mo-
derne europaumlische Menschenwuumlrdeverstaumlndnis vollstaumlndig her-
zuleiten Insbesondere die Uumlberlegungen zum Menschen als ver-
nunftfaumlhigem Individuum die im Entwicklungsprozess des eu-
ropaumlischen Menschenwuumlrdegedankens zum Tragen gekommen
sind finden in Torah und Talmud keine klare Ausformung Der
Schutz der Wuumlrde des Menschen zielt im Judentum lediglich auf
den Schutz des goumlttlichen Anteils am Menschen ab Der Vorrang
der Wuumlrde vor den biblischen Gesetzen ist daher kein Vorrang
der Wuumlrde vor staatlichen oder religioumlsen Direktiven sondern
eine innerreligioumlse Priorisierung ebenjener Der Mensch wird im
kanonischen Recht des Judentums vor allem als Teil einer mit
dem Goumlttlichen verbundenen Gemeinschaft angesehen und das
Ausmaszlig des Schutzes seiner Wuumlrde wird mitunter an die Zuge-
houmlrigkeit zur Religion gekoppelt
III Einfluss der Diaspora auf das juumldische
Wuumlrdeverstaumlndnis
Neben religioumlsen und philosophischen Erwaumlgungen werden
ethische Konzepte wie das der Menschenwuumlrde auch immer
durch historische Gegebenheiten beeinflusst Ab der Zerstoumlrung
des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n Chr kam es zu einer
32 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312
33 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext 2013 79 81
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 5
knapp 2000 Jahre anhaltenden Vertreibung und Verfolgung von
Juden der Diaspora34 Im Folgenden werden die Auswirkungen
eines fehlenden juumldischen Staats und die Stellung der Juden als
diskriminierte Minderheit auf das juumldische Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde beleuchtet
1 Auswirkungen anhaltender Diskriminierung auf
das juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde
Die Diskriminierung der Juden nahm im Mittelalter mit dem
Einsetzen der Kreuzzuumlge ein noch staumlrkeres Ausmaszlig an als zu-
vor Dieser Hass der Mitgliedern der juumldischen Glaubensge-
meinschaft entgegengebracht wurde wirkte sich auch auf das
juumldische Recht aus So kam es im Shullan Arukh der bedeu-
tendsten Kodifikation juumldischen Rechts des spaumlten Mittelalters
zu einer Beschneidung der Menschenrechte von Nichtjuden
Exemplarisch sind insbesondere die Beschraumlnkungen die juumldi-
schen Frauen fuumlr die Hilfe bei der Niederkunft nichtjuumldischer
Frauen und juumldischen Aumlrzten bei der Behandlung nichtjuumldischer
Patienten auferlegt wurden Im Kern wurde ihnen das Entgegen-
bringen jeglicher Hilfe gegenuumlber Andersglaumlubigen untersagt
Einzig wenn sie dadurch die Feindseligkeit von Andersglaumlubi-
gen riskierten war es ihnen gestattet von dieser Regelung Ab-
stand zu nehmen35
Die Unterdruumlckung der Juden im Mittelalter fuumlhrte somit zu
einer Einschraumlnkung der Menschenrechte von Andersglaumlubigen
im juumldischen Recht Unter der Annahme dass Menschenrechte
Ausdruck des zugrundeliegenden Wuumlrdeverstaumlndnisses sind
kann daher vermutet werden dass der auf dem biblischen Kon-
zept der Naumlchstenliebe fuszligende Aspekt des juumldischen Wuumlrde-
verstaumlndnisses im Mittelalter eine Einengung auf Juden erfuhr
um der dauerhaften gegenwaumlrtigen Gefahr der die juumldischen
Gemeinden ausgesetzt waren Rechnung zu tragen Dem mit
dem modernen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis verknuumlpfbare natur-
rechtlichen Ansatz der aus der Naumlchstenliebe hergeleitet wer-
den kann wurde damit die Grundlage genommen
2 Ausbleiben einer saumlkularen Weiterentwicklung der
juumldischen Menschenwuumlrde
An dieser Stelle werden drei Vermutungen angestellt wie sich
das Fehlen eines juumldischen Staats im Zeitraum der Diaspora auf
das juumldische Konzept der Menschenwuumlrde ausgewirkt hat
Die erste Uumlberlegung besteht darin dass zur Durchsetzung
von menschenrechtlichen Garantien auf Draumlngen eines Teils der
Bevoumllkerung diese auch der zu veraumlndernden Rechtsordnung
praktisch unterworfen sein muss um sich an der betreffenden
Rechtsordnung stoumlren zu koumlnnen Da Juden in Europa eine un-
terdruumlckte Minderheit darstellten gab es zu keiner Zeit der
Diaspora einen Staat dessen Regierung durch das Judentum an-
stelle des Christentums legitimiert wurde Die juumldischen Gesetze
fanden durch das Fehlen eines juumldischen Staats keine Anwen-
34 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1110
dung durch irgendeinen Staat somit war auch die Erprobung ih-
rer Schwachstellen und Aktualitaumlt begrenzter als die von Rechts-
ordnungen mit tatsaumlchlicher Guumlltigkeit Das juumldische Recht
blieb daher das Beschaumlftigungsfeld der begrenzten Gruppe de-
rer die ohnehin fuumlr ihre Bewahrung und Entwicklung zustaumlndig
waren also die der Rechtsgelehrten Philosophen und Rabbiner
Eine Einforderung von Buumlrgerrechten als Annaumlherung an die
moderne Menschenwuumlrde wie sie sonst in Europa uumlber Jahrhun-
derte mehrfach stattgefunden hat konnte daher in Bezug auf das
juumldische Recht gar nicht geschehen Ein Beitrag zur Entwick-
lung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses durch eine
durch Aufstaumlnde und Revolutionen einem juumldischen Staat abge-
trotzte Reihe von Menschenrechten unterblieb daher infolge des
Fehlens eines juumldischen Staats
Als zweite These wird angenommen dass auch eine Weiter-
entwicklung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses
durch eine breite Beteiligung der Juden an den Bemuumlhungen fuumlr
die Gewaumlhrung von Menschenrechten in den europaumlischen Staa-
ten weitestgehend entfiel da sie flaumlchendeckend diskriminiert
wurden und als Buumlrger zweiter Klasse galten Bevor sie eine
sichtbare Rolle im Kampf der bdquoDurchschnittsbevoumllkerungldquo fuumlr
die Durchsetzung der Menschenwuumlrde spielen konnten mussten
sie erst den rechtlichen Status der christlichen Bevoumllkerung er-
langen Eine stetige Erweiterung des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs aufgrund einer Miturheberschaft an neu erlangten
Freiheits- und Schutzrechten innerhalb europaumlischer Rechtsord-
nungen entfaumlllt folglich ebenfalls
Der dritte Ansatz ist dass eine andere Moumlglichkeit der saumlku-
laren Weiterbildung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis-
ses die Reformierung der juumldischen Rechtsordnung bdquovon obenldquo
gewesen waumlre Dies waumlre durch das Einwirken von Juden die
als hochrangige Beamte in den europaumlischen Staaten Reformen
angestoszligen und begleitet haben denkbar gewesen Ihre Exper-
tise als Staatsmaumlnner koumlnnte dann als Legitimation fuumlr die Wei-
terentwicklung der juumldischen Rechtstheorie gehandelt worden
sein Die Diskriminierung der Juden in Europa machte jedoch
auch eine solche Entwicklung unmoumlglich
Diesen Uumlberlegungen folgend kann man annehmen dass es
im Gegensatz zu den christlich gepraumlgten europaumlischen Konzep-
ten der Menschenwuumlrde keine saumlkularen Ansaumltze Eingang in das
juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde finden konnten Ver-
schiedene Ausformungen des Wuumlrdeverstaumlndnisses die saumlku-
lare Elemente wie das Naturrecht und religioumlse Elemente unter-
schiedlich stark gewichten haben sich daher im Gegensatz zum
europaumlischen Wuumlrdebegriff in Verbindung mit dem juumldischen
Wuumlrdebegriff nicht entwickeln koumlnnen Es bleibt folglich bei ei-
ner rein religioumls begruumlndeten Wuumlrde die nie die Stellung als
oberster Wert einnehmen konnte da sie mit dem Goumlttlichen von
einer noch houmlheren Instanz begruumlndet wird
C Die Entwicklung der Menschenwuumlrde im positiven
35 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32 (2011) 1101 1110ff
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 6
Recht Israels
In diesem Abschnitt werden Rechtsschaffung und Rechtspre-
chung in Israel im Spannungsfeld zwischen dem bisher skizzier-
ten juumldischen und dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde eingeordnet Im Anschluss kommt es zu einer
Auseinandersetzung mit der Frage ob das heutige Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde in Israel im Feld der eigenen religioumlsen
Tradition verortet werden kann oder ob eine europaumlische
Rechtsrezeption vorliegt
I Das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis bis 1992
Der moderne Staat Israel wurde im Jahr 1948 durch die israeli-
sche Unabhaumlngigkeitserklaumlrung proklamiert die Israel als juumldi-
schen Staat definiert36 Der Begriff der Menschenwuumlrde ist in
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung nicht zu finden Bei Gruumlndung
des Staats Israel wurde die bestehende Gesetzeslage des Com-
mon Law aus der Zeit der britischen Mandatsherrschaft die Ele-
mente des osmanischen Rechts enthielt weitestgehend uumlber-
nommen37 Der Oberste Gerichtshof entwickelte daran durch
Auslegung eine Reihe von Menschenrechten die unter anderem
Demonstrationsfreiheit Freizuumlgigkeit Vereinigungsfreiheit
den freien Zugang zu den Gerichten und Meinungsfreiheit um-
fassten38 Eine erste Nennung im positiven Recht erfuhr der Be-
griff der Menschenwuumlrde erst in einer Entscheidung des Obers-
ten Gerichtshofs aus dem Jahr 1980 dem Fall Katalan v Prison
Services39 in dem der Oberste Gerichtshof das Auspumpen der
Maumlgen von Gefaumlngnisinsassen aufgrund des Verdachts auf Dro-
genschmuggel im Koumlrper verbot40
In dieser Anfangsphase des Staats Israel sind klare Ansaumltze
im Recht die die Freiheit und Autonomie des Individuums uumlber
dem Konzept der bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde des Kol-
lektivs und biblischen Vorschriften ansiedeln und dadurch eine
Naumlhe zum europaumlischen Menschenwuumlrdebegriff anzeigen nicht
ersichtlich Die bis ins Jahr 1980 lediglich indirekte und nach-
folgend noch immer geringe Ausformung der Menschenwuumlrde
im positiven Recht Israels scheint mit Blick auf die Definition
Israels als juumldischer Staat daher dem zuvor dargestellten juumldi-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu entsprechen
II Das israelische Grundrecht bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo
Israel verfuumlgt uumlber keine abschlieszligende Verfassung jedoch gibt
es eine Reihe einzelner Grundrechte Seit dem Jahr 1992 hat der
Begriff der Menschenwuumlrde mit dem Grundrecht bdquoMenschen-
wuumlrde und Freiheitldquo auch expliziten Eingang in die israelische
36 Israelische Unabhaumlngigkeitserklaumlrung Abs 12 37 A Weilert Grundlagen und Grenzen des Folterverbots in verschiedenen
Rechtskreisen 2009 240f 38 B Genut Fordham International Law Journal 19 (1996) 2120 2146f 39 HCJ 35579 40 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 41 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 42 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 43 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 44 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 2 3 4 7 45 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 6
Rechtsordnung gefunden Zuvor hatte die Menschenwuumlrde nur
in wenigen Urteilen des Obersten Gerichtshofs Israels Erwaumlh-
nung gefunden41 und Menschenrechte waren bis auf wenige
Ausnahmen als Teil des Common Law ebenfalls nur uumlber die
Rechtsprechung im positiven Recht Israels verankert42
1 Umfang des Grundrechts
Die Menschenwuumlrde ist durch das Grundrecht in Israel sowohl
ein Verfassungsprinzip43 als auch ein subjektives Recht Durch
das Grundrecht sind der Schutz von Leib Leben Wuumlrde Eigen-
tum und Privatsphaumlre garantiert44 Auch wird allen Menschen
freie Ausreise aus Israel und israelischen Staatsbuumlrgern daruumlber
hinaus freie Einreise nach Israel garantiert45 Uumlber weitere
Grundrechte sind die Freiheit der Berufswahl46 das Wahl-
recht47 das Recht fuumlr Aumlmter zu kandidieren48 sowie das Recht
auf Zugang zu den Gerichten49 garantiert
Bezuumlglich der Geltung weiterer auf der Menschenwuumlrde auf-
bauender Menschenrechte hat der Oberste Gerichtshof Israels
sowohl eine enge Auslegung des Rechts auf Menschenwuumlrde
als auch eine weite Auslegung des Grundrechts abgelehnt50
Eine enge Auslegung haumltte lediglich den Schutz vor physischer
und psychischer Verletzung Folter Demuumltigung und Erniedri-
gung umfasst eine weite Auslegung haumltte saumlmtliche in den mo-
dernen Rechtsordnungen vorhandenen Menschenrechte einge-
schlossen51 Stattdessen befand der Oberste Gerichtshof dass
das Recht auf Menschenwuumlrde das Verfassungsprinzip der Men-
schenwuumlrde umfassen soll52 Da im Verstaumlndnis des israelischen
Common Law die Menschenwuumlrde als Quelle aller Menschen-
rechte betrachtet wird fuumlhrt dies jedoch nicht zu einem Aus-
schluss der Rechte die durch die weite Auslegung des Rechts
auf Menschenwuumlrde garantiert worden waumlren53 Durch diese
Entscheidung wurde das Grundrecht auf Menschenwuumlrde zu ei-
nem zusammengesetzten Recht erklaumlrt das aus einem Buumlndel an
Tochterrechten besteht die verschiedene Aspekte des Mutter-
rechts abbilden und dadurch dessen multiple Wirkrichtungen si-
chern54
Folgende Tochterrechte wurden durch Entscheidungen des
Obersten Gerichts bisher anerkannt das Recht auf Gleichbe-
handlung Meinungsfreiheit Religionsfreiheit Freizuumlgigkeit
die Gruumlndung einer Familie freie Berufswahl Bildung ein or-
dentliches Gerichtsverfahren einen humanitaumlren Mindeststan-
dard Schutz vor Rufschaumldigung und ein Persoumlnlichkeitsrecht55
Zudem hat der Oberste Gerichtshof ein Hinausreichen der Men-
schenwuumlrde uumlber den Tod anerkannt56
46 Basic Law Freedom of Occupation 47 Basic Law The Knesset Abs 5 48 Basic Law The Knesset Abs 6 49 Basic Law The Judiciary Abs 3 50 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 47 49f 51 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 805 52 A Barak Human Dignity 2015 287 53 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 39 49f 54 A Barak Human Dignity 2015 287f 55 A Barak Human Dignity 2015 288ff 56 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 55
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 7
2 Geltung des Grundrechts und Stellung innerhalb
der Rechtsordnung
Das Grundrecht auf Menschenwuumlrde ist ein relatives Recht
Aufgrund einer im Grundrecht verankerten Bestimmung sind
Einschraumlnkungen der einzelnen durch das Grundrecht garantier-
ten Menschenrechte durch Notverordnungen moumlglich57 Zudem
unterliegt das Grundrecht nicht wie in Deutschland einer Ewig-
keitsklausel58 sondern kann durch das israelische Parlament die
Knesset veraumlndert werden59 Eine Abschaffung der Grundrechte
ist daher nicht explizit ausgeschlossen Jedoch kann der Oberste
Gerichtshof Aumlnderungen oder Abschaffungen von Grundgeset-
zen die seiner Ansicht nach der Demokratie oder den weiteren
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung innewohnenden Grundwerten
entgegenstehen fuumlr verfassungswidrig erklaumlren60 Somit ist die
Moumlglichkeit einer impliziten Sperre fuumlr die Abschaffung des
Grundrechts gegeben
Die Grundrechte wurden ebenso wie andere Gesetze Israels
von der Knesset mit einer einfachen Mehrheit beschlossen und
stehen daher formell nicht uumlber anderen Gesetzen61 Sie wurden
aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1995 zu
Gesetzen mit Verfassungscharakter erklaumlrt die einen den ande-
ren Gesetzen uumlbergeordneten Status genieszligen62 Sie haben nur
Vorrang vor Gesetzen die juumlnger sind aumlltere Normen werden
vom Grundrecht nicht verdraumlngt und verdraumlngen dieses eben-
falls nicht beide Normen gelten parallel Aumlnderungen und Er-
weiterungen von Gesetzen die bereits vor dem Grundrecht be-
standen genieszligen jedoch nicht diesen Schutz und werden durch
das Grundrecht verdraumlngt63
3 Zwischenfazit
Wie auch in europaumlischen Rechtsordnungen genieszligt die Men-
schenwuumlrde damit grundsaumltzlich Vorrang vor einfachen Geset-
zen Die Position der Menschenwuumlrde innerhalb des israelischen
Rechts ist gemessen an europaumlischen Rechtsordnungen zum
Beispiel der Griechenlands64 oder Deutschlands65 weniger pro-
minent und fest verankert Im israelischen Rechtssystem das
keine Ewigkeitsklauseln kennt und keine abgeschlossene Ver-
fassung hat kommt der Menschenwuumlrde dennoch eine heraus-
ragende Stellung als Gesetz mit Verfassungscharakter und
Quelle aller Menschenrechte zu die jedoch durch die Parallel-
wirkung zu aumllterem Recht und die grundsaumltzliche Einschraumlnk-
barkeit des Grundrechts aufgrund von Notverordnungen ge-
schmaumllert wird
57 Basic Law Human Dignity and Freedom Abs 12 58 Art 79 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 59 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 41 60 A Barak Human Dignity 2015 284f 61 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 796 A Bendor M Sachs
Israel Law Review 44 (2011) 25 41f 62 B Bracha University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 3
(2001) 581 583
III Die bdquokonstitutionelle Revolutionldquo
Mit der Verabschiedung des Grundrechts bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo erfolgte nicht nur eine Verankerung der Menschen-
wuumlrde im israelischen Recht sondern auch eine neue Ausrich-
tung des Menschenwuumlrdebegriffs in Israel Diese Veraumlnderung
der Gesetzeslage wird ruumlckblickend als bdquokonstitutionelle Revo-
lutionldquo bezeichnet66 Die Gesetzgebung der Knesset erfolgt in
der Regel unter Beteiligung eines breiten politischen Spektrums
da zur Bildung von Mehrheiten in Israel oft eine Einbeziehung
von mehr als zwei Parteien notwendig ist Parteien die dem ult-
raorthodoxen Umfeld zuzurechnen sind wirken ihrem An-
spruch entsprechend oft blockierend auf Gesetzesentwuumlrfe ein
die die Vorrangstellung der Religion im Staat eindaumlmmen koumlnn-
ten sie sind um die Beibehaltung des Status quo bemuumlht67 Un-
ter diesen Gesichtspunkten stellt das Grundrecht auf Menschen-
wuumlrde zum einen eine bedeutende Neuerung in der israelischen
Gesetzgebung dar zum anderen ist es Ausdruck eines Kompro-
misses
Das Gesetz definiert Israel woumlrtlich nicht mehr nur als juumldi-
schen sondern auch als demokratischen Staat68 Durch den Na-
men des Gesetzes bdquoHuman Dignity and Libertyldquo erfaumlhrt die
Wuumlrde eine Verknuumlpfung mit dem Autonomiegedanken Somit
wird die Wuumlrde sowohl mit religioumlsen als auch mit saumlkularen
Ansaumltzen des Menschenwuumlrdegedankens verknuumlpft Diese Ge-
wichtung fuumlhrt zu einer Ausbalancierung beider Ansaumltze die je-
doch auch das Potential einer bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des Gesetzes
birgt
IV Auswirkungen des Grundgesetzes auf die
Rechtsprechung
Im Folgenden werden Entscheidungen des Obersten Gerichts-
hofs Israels dargestellt die nach dem Erlass des Grundrechts auf
Menschenwuumlrde gefaumlllt wurden und deren Entscheidung von der
Einnahme der traditionellen juumldischen bzw der modernen euro-
paumlischen Perspektive auf die Menschenwuumlrde abhaumlngig war
1 Sheffer v State of Israel
Im Fall Sheffer v State of Israel69 der im Jahr 1993 entschieden
wurde standen sich das juumldische Konzept der bdquoHeiligkeit des
Lebensldquo das auf der Idee des Tzelem Elohim basiert und die
Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenuumlber Die Mutter ei-
nes zweijaumlhrigen Maumldchens das an einer unheilbaren Erkran-
kung litt und im Wachkoma lag klagte darauf die medizinische
Behandlung der Tochter bis auf die Gabe von Schmerzmitteln
einstellen zu duumlrfen und Wiederbelebungsmaszlignahmen an dem
Maumldchen zu unterlassen Das Gericht hatte somit uumlber das Recht
63 A Barak Human Dignity 2015 305ff 64 Art 2 I Verfassung Griechenlands 65 Art 1 I Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 66 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 799 67 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 41 68 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 69 Israeli Supreme Court CA 50688 Sheffer v State of Israel Israel Law Re-
ports 1992 1 ndash 144
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 8
von Patienten und Eltern minderjaumlhriger Patienten medizini-
sche Behandlungen zu verweigern zu entscheiden Der Oberste
Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Menachem Elon
wies die Klage unter Berufung auf die bdquoHeiligkeit des Lebensldquo
zuruumlck Diese Entscheidung ist daher dem traditionellen juumldi-
schen und nicht dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zuzuordnen jedoch wurde im Jahr 2005 das
Terminal Patient Law erlassen das praumlfinalen Patienten und de-
ren gesetzlichen Vormunden das Recht zugesteht weitere me-
dizinische Behandlung abzulehnen und somit klar dem europaumli-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zuzuordnen ist70
2 Hevra Kadisha v Lional Aria Kestenbaum
Der Streitpunkt des Falls Hevra Kadisha v Lional Aria Kesten-
baum71 aus dem Jahr 1992 war das Verstaumlndnis der postmortalen
Wuumlrde wobei das juumldische Konzept der Kvod Habriyot und das
europaumlische Verstaumlndnis der Wuumlrde des Einzelnen mit einander
kollidierten Die Kadisha-Organisation verwaltet Friedhoumlfe in
Israel wobei die Vorschrift dass Inschriften auf Grabsteinen
einheitlich auf hebraumlisch abgefasst sein muumlssen Teil der Ver-
traumlge der Organisation mit den dort Bestatteten ist Die Familie
des Verstorbenen hatte sich fuumlr eine nicht auf hebraumlisch abge-
fasste Inschrift entschieden wogegen die Organisation klagte
Richter Elon sprach sich im Sinne des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs dafuumlr aus dass die Wuumlrde der bereits auf dem betref-
fenden Friedhof Bestatteten im Sinne der Kvod Habriyot der
Wuumlrde des Einzelnen vorzuziehen sei Jedoch setzten sich die
Richter Meir Shamgar und Aharon Barak durch die zugunsten
eines saumlkular-liberalen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ent-
schieden dass der Wuumlrde des Einzelnen den Vorzug vor kol-
lektiven Werten gewaumlhrt72
3 Lior Horev et al v Minister of Transportation
Im Jahr 1996 musste der Oberste Gerichtshof eine weitere Ent-
scheidung im Spannungsfeld zwischen biblischen Vorschriften
und der Autonomie des Einzelnen faumlllen Im Fall Lior Horev et
al v Minister of Transportation73 wurde auf die Sperrung einer
Straszlige am Sabbath geklagt die durch ultrareligioumlse Bezirke Je-
rusalems fuumlhrt Der Oberste Gerichtshof entschied im Sinne des
europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses unter Herleitung
der Verkehrsfreiheit aus der Menschenwuumlrde gegen eine Sper-
rung der Straszlige Richter Tzvi Tal teilte die Ansicht der anderen
Richter jedoch nicht da er religioumlsen Traditionen und Werten
eine houmlhere Prioritaumlt als der Verkehrsfreiheit einraumlumte74
4 Zwischenfazit
In der Gesamtschau zeigen diese Beispiele dass sich der im
Grundrecht auf Menschenwuumlrde angelegte Dualismus von tra-
ditionellem juumldischem und modernem europaumlischem Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis in den Entscheidungen des Obersten Ge-
70 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 676f 71 Israeli Supreme Court CA 91294 72 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 677f 73 Israeli Supreme Court CA 965016
richtshofs wiederspiegelt was neben der Zweideutigkeit der ge-
setzlichen Grundlage auf die gezielt heterogene Besetzung des
Obersten Gerichtshofs mit religioumlsen und saumlkularen Richtern zu-
ruumlckzufuumlhren ist75
Auch wenn sich eine Verzerrung des Bildes durch die be-
grenzte Auswahl an Beispielen nicht ausschlieszligen laumlsst scheint
sich der moderne europaumlische Begriff der Menschenwuumlrde in
der israelischen Gesetzgebung und Rechtsprechung durchzuset-
zen Zur Annahme dieser These fuumlhrt zum einen der Charakter
des Common Law durch den sich die Rechtsprechung bei neuen
Entscheidungen stark an bereits ergangenen Urteilen orientiert
In den letzteren beiden Faumlllen wurde folglich mit Urteilen im
Sinne des europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses eine
Grundlage fuumlr weitere europaumlisch orientierte Entscheidungen in
Fragen des Verhaumlltnisses von der Wuumlrde des Kollektivs und bib-
lischer Vorschriften zur Autonomie des Individuums geschaf-
fen Ein Ruumlckgriff auf parallel wirkende Gesetze aus der Zeit
vor 1992 die im Einzelfall dem Grundrecht entgegenstehen
scheint aufgrund des Anspruchs der grundrechtskonformen
Auslegung aumllterer Gesetze76 und der Existenz eines neuen bdquoLei-
turteilsldquo unwahrscheinlich Zum anderen wird die Vermutung
durch die im ersten Beispiel erfolgte Staumlrkung des europaumlischen
Ansatzes der Wuumlrde durch den Gesetzgeber gestuumltzt Eine ge-
setzliche Kehrtwende ist aufgrund der bereits erlaumluterten Mehr-
heitsverhaumlltnisse der Knesset unwahrscheinlich
V Die Entstehung der israelischen Menschenwuumlrde
Die Menschenwuumlrde im israelischen Recht bewegt sich im
Spannungsfeld zwischen dem modernen europaumlischen und dem
traditionellen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis Eine klare Zuord-
nung zu einem der beiden Wuumlrdeverstaumlndnisse ist seit der bdquokon-
stitutionellen Revolutionldquo und der darauf aufbauenden Recht-
sprechung nicht mehr moumlglich Die bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des
Grundrechts auf Menschenwuumlrde fuumlhrt zu einem bestaumlndigen
Ringen beider Konzepte um Vorrang im positiven Recht Es
scheint jedoch dass der europaumlische Ansatz leicht die Oberhand
gewonnen hat Eine umfassende Saumlkularisierung des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses erscheint in Israel einem modernen Staat
dessen Existenz sich auf das Judentum stuumltzt hingegen unwahr-
scheinlich
Im Hinblick auf das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis im israeli-
schen Recht bietet es sich daher an nicht mehr von einem mo-
dernen europaumlischen oder einem traditionellen juumldischen son-
dern von einem israelischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu
sprechen Ebenso wie in Europa der moderne saumlkulare Wuumlrde-
begriff auf die Basis christlicher Uumlberzeugungen gestellt werden
kann ohne von diesen abhaumlngig gemacht zu werden ist dies
auch mit juumldischen Erklaumlrungsansaumltzen moumlglich Die Vorausset-
zung fuumlr einen solchen modernen Begriff der Menschenwuumlrde
ist in jedem Fall die Betrachtung der Religion als zusaumltzlichen
74 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 679 75 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 675 76 A Barak Human Dignity 2015 306f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 9
und nicht als einzigen Begruumlndungsansatz der Wuumlrde des Men-
schen
D Fazit
Wie sich gezeigt hat sind der Begriff und das Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zu unterscheiden waumlhrend die Gesetzeslage in
Europa und Israel auf einen vergleichbaren Mindestgehalt des
Begriffs Menschenwuumlrde schlieszligen laumlsst kann das Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde und der daraus folgende Umgang mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde in der Rechtsprechung variieren
Die Darstellung der Grundlagen und Genese des Begriffs im Ju-
dentum ergab dass sich aus der Auseinandersetzung mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde auf religioumlser philosophischer je-
doch nicht auf saumlkularer Ebene in der Tradition des Judentums
ein anderes Verstaumlndnis als in Europa entwickelt hat Das juumldi-
sche Wuumlrdeverstaumlndnis unterscheidet sich vom europaumlischen
Wuumlrdeverstaumlndnis maszliggeblich in der Priorisierung des Goumlttli-
chen die zu einem Vorrang der im Ebenbildlichkeitsgedanken
begruumlndeten bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde der Gemein-
schaft und der biblischen Regeln vor der Autonomie und der
Freiheit des Individuum fuumlhrt Im positiven Recht Israels sind
seit der bdquokonstitutionellen Revolutionldquo beide Verstaumlndnisse ver-
ankert und es zeichnet sich ein Erstarken des saumlkularen europauml-
ischen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ab In dieser Ent-
wicklung kann die Etablierung eines israelischen und nicht
mehr lediglich europaumlischen oder juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis-
ses gesehen werden das in seiner Schwerpunktsetzung saumlkular
ist jedoch religioumls begruumlndet werden kann
Vor diesem Hintergrund kann von einer einsetzenden euro-
paumlischen Rechtsrezeption der Menschenwuumlrde in Israel gespro-
chen werden In Anbetracht des vergleichsweise kurzen Beste-
hens des modernen Staats Israel laumlsst sich die gegenwaumlrtige Ent-
wicklung des Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses im israelischen
Recht jedoch auch als originaumlre Evolution des religioumlsen Wuumlr-
deverstaumlndnisses zu einem in modernen Demokratien praktikab-
len Wuumlrdeverstaumlndnis verstehen deren weiterer Verlauf nicht
auf die vollstaumlndige Angleichung an das europaumlische Modell der
Menschenwuumlrde begrenzt ist
Der Autor studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt und be-findet sich derzeit in der Examensvorbereitung Der Artikel ist Teil einer Seminararbeit die im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher entstanden ist
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
10
Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verle-
gung der US-Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts
-
von Lucie Schultz
A Abstract
Am 6122017 verkuumlndete US-Praumlsident Donald Trump
es sei an der Zeit Jerusalem offiziell als Hauptstadt Isra-
els anzuerkennen Mit der Planung zur Verlegung der US-
Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem solle umgehend
begonnen werden1 Damit stieszlig er international auf heftige
Reaktionen und vielfach auf Kritik Der folgende Beitrag
will untersuchen inwieweit diese begruumlndet sind und ob
Trump durch seine Ankuumlndigungen an die Grenzen des
Voumllkerrechts stoumlszligt oder sie uumlberschreitet
B Staatliche Souveraumlnitaumlt im Konflikt mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Voumllker
Der Zentrale Streitpunkt hierbei ist die Frage nach dem voumllker-
rechtlichen Status Jerusalems welcher wiederrum maszliggeblich
von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen in der Stadt abhaumlngig ist
Staatliche Souveraumlnitaumlt ist die notwendige Bedingung gar
Grundlage des Voumllkerrechts2 Gemeint ist die Faumlhigkeit einer ju-
ristischen oder natuumlrlichen Person zu ausschlieszliglicher rechtli-
cher Selbstbestimmung3 Dabei ist zu unterscheiden zwischen
rechtlicher und faktischer Souveraumlnitaumlt erstere meint den recht-
maumlszligigen Titel letztere tatsaumlchliche Kontrolle und Herrschaft4
Durch den rechtmaumlszligigen Titel wird faktische Kontrolle zur voll
ausgereiften Souveraumlnitaumlt Die faktische Herrschaft ist - insbe-
sondere bei militaumlrischen Konflikten - leichter festzustellen als
die Souveraumlnitaumlt uumlber das betreffende Gebiet5
Sowohl Israel als auch Palaumlstinenser sehen Jerusalem als ihre
jeweilige Hauptstadt Rechtsanspruumlche auf Territorium ergeben
sich zum groszligen Teil aus dem voumllkerrechtlichen Selbstbestim-
mungsrecht6 welches damit die staumlrkste Legitimationsquelle fuumlr
Souveraumlnitaumltsanspruumlche ist7 Gleichzeitig besteht aber auch ein
Spannungsverhaumlltnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht
1 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember 2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-
jerusalem (Stand 24022019) 2 Hillgruber in Der Staat Vol 53 Nr3 2014 475 476 3 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 173 4 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 111 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 321 5 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 181
der Voumllker in seiner offensiven Auspraumlgung (gerichtet auf eine
Aumlnderung des Territorialstatus8) und der Souveraumlnitaumlt der Staa-
ten Da das Selbstbestimmungsrecht im Einklang mit den Best-
immungen der UN-Charta gefoumlrdert werden soll wird es grund-
saumltzlich dem Souveraumlnitaumltsgrundsatz nachgeordnet9 Die UNO
bekraumlftigt gleichwohl das Recht der Palaumlstinenser auf Selbstbe-
stimmung als unabdingbar im Nahostkonflikt10
C Die Anerkennung im Voumllkerrecht
I Bedeutung Rechtsnatur und Arten
Die voumllkerrechtliche Anerkennung bezeichnet die einseitige Er-
klaumlrung eines Voumllkerrechtssubjekts eine bestimmte Sach- oder
Rechtslage fuumlr rechtmaumlszligig zu erachten11 Voraussetzung fuumlr die
Anerkennung eines Staates ist das Bestehen von Staatsgebiet -
volk und -gewalt im Sinne der Drei-Elemente-Lehre12 Fuumlr das
Staatsgebiet ist eine endguumlltige Festsetzung der Auszligengrenzen
nicht erforderlich es bedarf lediglich eines unbestrittenen Kern-
gebiets13 Wenngleich jeder Staat seine Hauptstadt frei waumlhlen
darf und hierfuumlr grundsaumltzlich keine Anerkennung benoumltigt geht
es bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gerade
auch um die territoriale Ausdehnung der effektiven Staatsgewalt
im nicht unbestrittenen Staatsgebiet denn die Anerkennung als
Hauptstadt impliziert die Anerkennung der Ausdehnung des
Staatsgebiets auf dem Territorium der Stadt Eine Anerkennung
betrifft das bilaterale Verhaumlltnis zwischen anerkanntem und an-
erkennendem Staat und ist daher sehr politisch gepraumlgt14 Im po-
litischen Sinne ist die Anerkennung konstitutiv im rechtlichen
Sinne dagegen hat sich die deklaratorische Theorie15 als vor-
zugswuumlrdig durchgesetzt16 Das bedeutet zunaumlchst eine be-
grenzte rechtliche Wirkung von Trumps Anerkennung Jerusa-
lems als Hauptstadt Israels Jerusalem wird nicht dadurch zur
Hauptstadt und zum Staatsgebiet Israels Es ist der Kontext des
6 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 239 7 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 240 8 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 41 9 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 10 ARES6719 11 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 160-1 12 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 13 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 391 14 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 379 394 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5
RN 173 15 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 174 16 Shaw International Law 2017 331
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
11
voumllkerrechtlichen und politischen Konflikts um den Status der
Stadt der der Anerkennung eine hohe Bedeutung verleiht
Es wird bei der Art der Anerkennung zwischen de facto und
de jure Anerkennung unterschieden Erstere beinhaltet keinen
diplomatischen Austausch hat einen politischen Charakter wird
als vorlaumlufig und weniger verbindlich bezeichnet und geht oft-
mals einer Anerkennung de jure voraus17 So erkannten die USA
den Staat Israel zunaumlchst nur de facto an nach vollzogenen
Wahlen auch de jure18
II Das Prinzip der Nichtanerkennung
Durch die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und
die damit verbundene Verlegung der US-Botschaft kann Trump
nur dann gegen Voumllkerrecht verstoszligen wenn eine Pflicht zur
Nichtanerkennung besteht Neben einer politisch motivierten
Nichtanerkennung (etwa die Nichtanerkennung Israels durch die
Arabische Liga) kann die Nichtanerkennung auf der voumllkerge-
wohnheitsrechtlich anerkannten Rechtspflicht zur Nicht-Aner-
kennung von Herrschaftsverbaumlnden die unter Verstoszlig gegen das
Gewaltverbot oder das Selbstbestimmungsrecht der Voumllker ent-
standen sind beruhen19 Das Prinzip dieser Rechtspflicht beruht
auf dem Grundgedanken dass es sich kein Rechtssystem erlau-
ben kann Verstoumlszlige gegen seine eigene Ordnung zu tolerieren20
Ein Wandel von dem fruumlher geltenden Effektivitaumltsgrundsatz ex
factis jus oritur nach dem das Recht seine Guumlltigkeit verliert
wenn kontinuierliche Rechtsbruumlche durch ihre Tolerierung er-
folgreich bleiben21 zeigte sich erstmals in der Stimson-Doktrin
einer US-amerikanischen politischen Absichtserklaumlrung von
1932 Unter Verstoszlig gegen den Kellogg-Pakt zur Aumlchtung des
Krieges oder die Voumllkerbundsatzung zustande gekommenen Zu-
staumlnden wurde hiernach die Anerkennung verweigert22 Seither
fand nach dem baldigen Konsens hinsichtlich des Gewaltverbots
eine Festigung des Legalitaumltsgrundsatzes ex injuria jus non ori-
tur statt Aus diesem Grundsatz ergibt sich dass die Anerken-
nung einer verbotenen Handlung ebenso widerrechtlich ist wie
die verbotene Handlung selbst23
Insbesondere durch die Friendly-Relations-Deklaration von
1970 hat sich der Grundsatz zur Pflicht erhaumlrtet 1986 hat der
IGH die vormals nicht rechtsverbindliche Friendly-Relations-
Deklaration als Voumllkergewohnheitsrecht anerkannt bezog sich
jedoch auf die gesamte Resolution nicht auf einzelne Vorschrif-
17 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 166 Brownlie 91 f Shaw International
Law 2017 341 18 Loudwin Die konkludente Anerkennung im Voumllkerrecht S 33 19 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 20 Patel Recognition in the Law of Nations S 111 21 H Lauterpacht Recognition in International Law S 427 22 Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 434 23 Vgl Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 440 IGH Wall in the Occupied
Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 24 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 12 bezugnehmend auf IGH Military and Paramilitary Ac-
tivities in and against Nicaragua Merits Judgement ICJ Reports 1986 14 25 Talmon in TomuschatThouvenin The Fundamental Rules of the International
Legal Order Jus Cogens and Obligations Erga Omnes 2006 99 102 IGH Wall
in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 26 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 4
ten24 2004 nahm der IGH explizit auf die Pflicht zur Nicht-An-
erkennung Bezug er sieht sie als gewohnheitsrechtlich begruumln-
det an25
3 Die Entwicklung der Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
uumlber Jerusalem und der voumllkerrechtliche Status der
Stadt
Der voumllkerrechtliche Status Jerusalems und damit die Frage ob
eine Anerkennung rechtmaumlszligiger Weise erfolgen kann oder ob e
contrario die Pflicht zur Nicht-Anerkennung besteht haumlngt
maszliggeblich von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen ab Hierzu bie-
tet sich ein Abriss der historischen Entwicklung der Souveraumlni-
taumlt auf dem Territorium Jerusalems an
II Vom Britischen Mandat zum Teilungsplan
Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des
Ersten Weltkriegs erhielt Groszligbritannien ein Mandat des Voumll-
kerbundes zur Administration des Mandatsgebiets Palaumlstina Je-
rusalem war waumlhrend dieser Zeit die Hauptstadt des Mandatsge-
biets26 Das Volk im Mandatsgebiet wurde nicht seiner Souve-
raumlnitaumlt beraubt sondern an seiner Ausuumlbung voruumlbergehend ge-
hindert27 Daher wird die genaue Souveraumlnitaumltslage seit diesem
Zeitpunkt treffend als bdquoVakuumldquo bezeichnet28 Insbesondere
war Palaumlstina inklusive Jerusalem zu diesem Zeitpunkt keine
terra nullius auf dem ein originaumlrer Gebietserwerb durch Ok-
kupation29 moumlglich gewesen waumlre
Nach der Aufloumlsung des Voumllkerbundes uumlbertrug Groszligbritan-
nien die Entscheidungsmacht zur Zukunft Palaumlstinas ndash nicht aber
die Souveraumlnitaumlt ndash an die UNO Der UN-Teilungsplan fuumlr Palaumls-
tina 1947 sah eine Beendigung des britischen Mandats und eine
Aufteilung in arabische und juumldische Gebiete vor ndash Jerusalem
sollte als corpus seperatum unter internationale Kontrolle ge-
stellt werden30 Der Teilungsplan verhinderte die Aufgabe der
Souveraumlnitaumlt im Sinne einer Dereliktion welche Palaumlstina zur
terra nullius gemacht haumltte31 Der Treuhandrat der UNO wurde
mit der Administration Jerusalems betraut Auch diese Admi-
nistration bedeutete lediglich die bdquobesitzendeldquo Gebietshoheit
keine rechtliche Souveraumlnitaumlt32 Dem Teilungsplan kam keine
Legislativwirkung zu33
27 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 6 28 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 13 Draper in Koumlchler The
Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 Hirsch in Israel Law Review Volume 38 Issue 1-2 2005
298 300 29 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 36 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumll-
kerrecht S 331 30 UN ARES181 (II) 31 Draper in Koumlchler The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 32 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 8 33 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 274 Fn 8 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy
Places S 16
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
12
Die Jewish Agency eine Art Vorlaumluferregierung Israels war
mit dem Teilungsplan einverstanden die arabische Seite auf-
grund der Unproportionalitaumlt gemessen an der Bevoumllkerungs-
zahl dagegen nicht34
II Erster Arabisch-Israelischer Krieg
In der Folge des nach der Proklamation des Staates Israels am
14051948 (dem Tag des Mandatsendes) ausbrechenden Kriegs
zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde das haupt-
saumlchlich juumldisch bevoumllkerte West-Jerusalem von Israel und Ost-
Jerusalem wo uumlberwiegend Araber lebten von Jordanien mili-
taumlrisch besetzt35 Die Besetzungen werden teils schon als fakti-
sche Annexionen beider Seiten36 und als stillschweigend von der
UNO akzeptiert angesehen37 Als Annexion wird der einseitige
Akt eines Staates bezeichnet durch den dieser gegen den Willen
eines fremden Staates dessen Staatsgebiet zu seinem eigenen
macht38 Selbst wenn das Schweigen der UNO als Duldung in-
terpretiert wird kann sich diese nur auf das Vorliegen der de
facto Autoritaumlt beziehen und nicht die Anerkennung voll ausge-
reifter Souveraumlnitaumlt begruumlnden39 Die Aufteilung in West- und
Ostjerusalem wurde Teil des Waffenstillstandsabkommens vom
441949 zwischen Israel und Jordanien und als sog bdquogruumlne Li-
nieldquo bekannt40 Sie ist die Grundlage anerkannter politischer
faktischer Souveraumlnitaumlt41 Am 23011950 erklaumlrte Israel Jerusa-
lem zu seiner Hauptstadt und siedelte seine Regierung in West-
jerusalem an42 Damit schafft Israel vollendete Tatsachen mit
der Absicht der Dauerhaftigkeit (fait accompli) was einer de-
facto Annexion gleichkommt43
III Sechstagekrieg
Bei diesem Status der Teilung zwischen Ost- und Westjerusalem
blieb es bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 bei dem Israel
nach einem Uumlberraschungsschlag Ostjerusalem eroberte in
seine Verwaltung eingliederte44 Ob Israel oder seine Gegner
letztlich Aggressor des Sechstagekriegs waren ist bis heute um-
stritten45 Jedoch betont der Sicherheitsrat die Unzulaumlssigkeit
des Gebietserwerbs durch Krieg ohne bei der Formulierung auf
Aggression abzustellen46 Somit spielt es keine Rolle wer letzt-
lich Aggressor war denn klar ist dass die Besetzung Ostjerusa-
lems durch Waffengewalt erreicht wurde47
34 Saperia in Journal of East Asia and International Law Vol 3 Nr 1 2010
175 177 35 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 279 Cattan Palestine and International Law The Le-
gal Aspects of the Arab-Israeli Conflict S 23 f Korman The Right to Con-
quest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 36 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 25 37 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 23 38 HailbronnerKau in Vitzthum Voumllkerrecht 2010 RN 137 39 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 281 40 42 UNTS 303 No 656 41 Korman The Right to Conquest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 42 UN DPI2276 Chapter 12 S 4 43 vgl IGH Wall in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 121 44 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 Cassese The Human Dimension of International Law Sel-ected Papers of Antonio Cassese 2008 272 284
Der UN Sicherheitsrat forderte zur sofortigen Beendigung
aller kriegerischen Aktivitaumlten und zum Ruumlckzug der israeli-
schen Streitkraumlfte aus (den) im juumlngsten Konflikt eroberten Ge-
bieten48 auf Dass auf zuvor besetzte Gebiete kein Bezug ge-
nommen wird wird als de facto Anerkennung der Souveraumlnitaumlt
innerhalb der vor dem Sechstagekrieg bestehenden faktischen
Grenzen gewertet49
IV Die Annexion Ostjerusalems durch Israel
Die de-jure Annexion folgt mit dem sog Jerusalemgesetz50
1980 welches rechtliche Anspruumlche auf die ganze Stadt als
ewige und unteilbare Hauptstadt Israels erhob51 Israel verstoumlszligt
damit gegen das in Art 2 (4) der UN-Charta festgelegte Gewalt-
verbot und gegen die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung52
Der Sicherheitsrat forderte Israel auf vom Festhalten an einer
Politik und an Maszlignahmen abzusehen die sich auf den Status
Jerusalems auswirken53 Als Israel dem nicht Folge leistete er-
klaumlrte der Sicherheitsrat das Jerusalemgesetz fuumlr null und nichtig
und forderte alle Mitgliedstaaten auf bestehende diplomatische
Vertretungen aus der heiligen Stadt abzuziehen54 Die rechtlich
bindende Resolution des Sicherheitsrates verurteilt eindeutig
das Vorgehen Israels als voumllkerrechtswidrig Es bestehen keine
Souveraumlnitaumltsrechte Israels auf Ostjerusalem
V Souveraumlnitaumltsanspruumlche der Palaumlstinenser
Auf der anderen Seite begruumlndeten die Palaumlstinenser ihren An-
spruch auf Jerusalem als Hauptstadt eines zukuumlnftigen unabhaumln-
gigen Staates vor allem damit dass vor der massenhaften Aus-
wanderung vieler Juden aus allen Laumlndern Europas waumlhrend des
Holocaust nach Israel Muslime die groumlszligte Bevoumllkerungsgruppe
im Gebiet des historischen Palaumlstina waren Koumlnig Hussein von
Jordanien erklaumlrte im Juli 1998 den Verzicht Jordaniens auf
Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Jerusalem und das Westjordanland
zugunsten der 1964 gegruumlndeten Palaumlstinensischen Befreiungs-
organisation PLO55 Diese wird seit 1974 von der Generalver-
sammlung als legitime Repraumlsentation des Volkes anerkannt56
45 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 46 SRES233 47 Wright in The Americal Journal of Internatinal Law Vol 64 Nr 2 1970
270 270 48 SRES242 engl from territories frnz des territoires 49 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 252 50 Basic Law Jerusalem Capital of Israel Sefer Ha-Chukkim No 980 of the
23th Av 5740 (5 August 1980) S 186 Englische Fassung unter httpswwwknessetgovillawsspecialengbasic10_enghtm (Stand
24022019) 51 Dawidowitz in Crawford ua The Law of International Responsibility Ox-ford Commentaries on International Law 2010 677 681 52 Randelzhofer in Simma The Charter of the United Nations A Commentary
Art 2 S 74 RN 14 53 SRES476 54 SRES478 55 Paech in Das Argument 321 59 Jahrgang Heft 12017 91 100 56 Shaw International Law 2017 196 ARES3236 (XXIX) APV2282
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
13
Am 15111988 rief die PLO in Algier den Staat Palaumlstina aus57
Die Staatsqualitaumlt Palaumlstinas ist jedoch umstritten Zum einen ist
trotz des jordanischen Verzichts die genaue Territorialhoheit zu
unbestimmt zum anderen ist das Ausuumlben einer effektiven
Staatsgewalt zweifelhaft58 Seit Ende 2012 erkennt die UNO Ge-
neralversammlung Palaumlstina als non-member observer state an
was als Vorstufe zur Vollmitgliedschaft gilt59 In der entspre-
chenden Resolution wird Jerusalem als Hauptstadt zweier Staa-
ten bezeichnet Die Weltgemeinschaft haumllt also am Streben nach
einer Zwei-Staaten-Loumlsung fest Eine Vollmitgliedschaft in der
UNO scheiterte bisher trotz der begruumlszligenden Haltung der Gene-
ralversammlung60 am Veto der USA im Sicherheitsrat61
VI Zwischenfazit
Die Darstellung zeigt dass der Status der Stadt nicht nur um-
stritten sondern noch ungeklaumlrt ist Eine verbindliche einver-
nehmliche Regelung gab es nicht Die exakten Souveraumlnitaumltsver-
haumlltnisse in Jerusalem befinden sich nach wie vor im Schwebe-
zustand Trotzdem ist Jerusalem die de facto Hauptstadt Israels
Israels Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Westjerusalem sind weniger
umstritten als diejenigen auf Ostjerusalem Durch die rechtliche
Anerkennung der Veraumlnderung des Status Ostjerusalems durch
die uumlberwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft oder durch
Organe der UN mit entsprechen Kompetenzen koumlnnte die zu-
naumlchst illegitime Autoritaumlt Souveraumln werden62 Dies meint nicht
die Genese von Staatlichkeit im Sinne der konstitutiven Theorie
sondern die Entstehung von Voumllkergewohnheitsrecht
E Trumps Politik und ihre voumllkerrechtlichen Grenzen
I Hintergruumlnde das Verhaumlltnis der USA und Israel
Die Ambiguitaumlt zwischen dem bisherigen Abstimmverhalten der
USA in der UNO und dem ploumltzlichen Umschwenken durch
Trump hat ihren Ursprung in der Gewaltenteilung63 Waumlhrend
die Exekutive oftmals im Einklang mit Haltung der Staatenge-
meinschaft handelte unternahm die nationale Legislative Ver-
suche sie hieran zu hindern64 Die Anerkennung der Rechtmauml-
szligigkeit des Status quo ist in der US-Politik kein Novum inner-
halb der Exekutive und auf auszligenpolitischer Ebene dagegen ist
Trumps sympathisierende Haltung eine Kehrtwende
Die US-amerikanische auszligenpolitische Haltung laumlsst sich
dahingehend zusammenfassen dass keine entschiedene Position
57 Unabhaumlngigkeitserklaumlrung des Staates Palaumlstina in Algier 15111988 Deut-
sche Fassung abrufbar unter der Webpraumlsenz der diplomatischen Mission Palaumls-
tinas in Deutschland httppalaestinaorguploadsmediaunabhaengigkeitser-klaerungpdf (Stand24022019) 58 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 138 59 ARES6719 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und
Voumllkerrecht Band 30 2016 173 190 60 ARES6719 61 A66371 S2011592 23 62 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 286 63 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 64 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 65 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 2 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
bezuumlglich des Status Jerusalems bezogen wurde denn dieser
solle in kuumlnftigen Verhandlungen der beteiligten Parteien fest-
gelegt werden Die Anerkennung Israels durch US-Praumlsident
Truman begruumlnde keine Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt
uumlber Jerusalem65 Eine Anerkennung Israelischer Souveraumlnitaumlt
unterblieb sogar bezuumlglich West-Jerusalems aufgrund von
Zweifeln an der Faumlhigkeit zur tatsaumlchlichen Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung66 wenngleich die USA Jerusalem als de facto Hauptstadt
Israels anerkannten67
Eine klarere Position vertrat der legislative Zweig Im Kon-
gress herrschte die Auffassung Jerusalem sei die rechtmaumlszligige
Hauptstadt Israels68 was zudem der uumlberwiegenden Auffassung
der US-amerikanischen Bevoumllkerung entspricht69 Diese Sicht-
weise versuchte der Kongress der Exekutive durch eine Reihe
von Gesetzesinitiativen aufzudraumlngen70 Der Jerusalem Em-
bassy Act of 1995 sieht die Verlegung der US-Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem vor71 Jedoch liegt die verfassungsmaumlszligige
Entscheidungshoheit uumlber die Anerkennung beim Praumlsidenten
da nur die Exekutive Zugriff auf alle entscheidungsrelevanten
Informationen hat72 Daher musste der Act mit einer Klausel er-
lassen werden welche die Moumlglichkeit eines Aufschubs durch
den Praumlsidenten zur Wahrung der nationalen Sicherheit um je-
weils sechs Monate vorsieht73 Von diesem Vollstreckungshin-
dernis machten die US-Praumlsidenten seit 1995 Gebrauch Die
Botschaftsverlegung und Anerkennung der Hauptstadt ist eine
politische Entscheidung keine diplomatische Trump beugt sich
dem Druck der Legislative und erfuumlllt ein Wahlkampfverspre-
chen
II Die Vereinbarkeit von Trumps Vorgehen mit dem voumllkerrechtlichen Status Jerusalems
Die Frage nach der voumllkerrechtlichen Vereinbarkeit muss be-
zuumlglich der Anerkennung als Hauptstadt und der Verlegung der
Botschaft getrennt beantwortet werden
1 Die Anerkennung als Hauptstadt
a) Gesamtjerusalem als Gegenstand der Anerkennung
66 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 340 67 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 838 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 68 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839-40 69 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 70 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 71 Jerusalem Embassy Act of 1995 Sec 3a (3) 3b httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 72 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 10 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 73 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 6 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
14
Die Anerkennung von Israels Wahl seiner Hauptstadt ist nicht
gaumlnzlich neu Bereits am 6042017 erklaumlrte Russland Westje-
rusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen Gleichzeitig
wurde das Bestreben bekraumlftig Ostjerusalem solle die Haupt-
stadt eines kuumlnftigen Palaumlstinensischen Staates werden74 Trump
signalisierte ebenfalls seine weiterhin bestehende Unterstuumltzung
der Zwei-Staaten-Loumlsung und betonte keine Position zum fina-
len Status zu beziehen insbesondere nicht bezuumlglich der spezi-
fischen Grenzen israelischer Souveraumlnitaumlt75 Das erscheint je-
doch widerspruumlchlich da er gleichzeitig nicht zwischen Ost-
und Westjerusalem unterscheidet Wenngleich er sich nicht di-
rekt auf das Jerusalem in der israelischen Sichtweise bezieht
handelt er in Ausfuumlhrung des Jerusalem Embassy Act welcher
Jerusalem als bdquowiedervereintldquo durch die Folgen des Sechstage-
krieges bezeichnet76 Ferner bezieht er sich auf die tatsaumlchlich
bestehende Herrschaft Israels welche sich ebenfalls auf die ge-
samte Stadt erstreckt Im Wortlaut seiner Erklaumlrung vom
6122017 findet sich keine Unterscheidung zwischen Ost und
West und schon im Wahlkampf hatte er eine Anerkennung der
ungeteilten Stadt angekuumlndigt77
b) Anerkennung faktischer Souveraumlnitaumlt
Trump betont ndash ebenso wie die Botschafterin der USA bei der
UNO Nikki Haley ndash uumlber den finalen Status der Stadt also auch
uumlber die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse kein Urteil faumlllen zu wol-
len78 Es stellt sich folglich die Frage ob die Anerkennung oder
Akzeptanz der faktischen Situation von der Anerkennung recht-
licher Souveraumlnitaumlt zu unterscheiden ist Jedoch ist die Wahl der
Hauptstadt Ausdruck des inneren Souveraumlnitaumltsrechts Waumlhrend
de facto Herrschaft ohne rechtliche Souveraumlnitaumlt bestehen kann
ist die Wahl der Hauptstadt Ausdruck von Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung braucht daher einen Rechtsgrund Somit kommt eine An-
erkennung faktischer Souveraumlnitaumlt nicht in Betracht ohne zu-
gleich eine anerkennende Haltung bezuumlglich voll ausgereifter
Souveraumlnitaumltsrechte zu treffen
c) Anerkennung rechtlicher Souveraumlnitaumlt
Anknuumlpfend an das Abstellen auf tatsaumlchlich bestehende Herr-
schaftsverhaumlltnisse koumlnnte die Argumentation zur Rechtmaumlszligig-
keit der Anerkennung mit dem aus dem roumlmischen Recht stam-
menden Grundsatz uti possidetis ita possidetis (wie ihr besitzt
so sollt ihr besitzen)79 begruumlndet werden Das Prinzip baut auf
das Vorliegen rechtlicher Eingestaumlndnisse des vormaligen Sou-
74 Foreign Ministry statement regarding Palestinian-Israeli settlement
6 April 2017 httpwwwmidruenforeign_policynews-asset_pub-lishercKNonkJE02Bwcontentid2717182p_p_id=101_INSTANCE_cKNon-
kJE02Bwamp_101_INSTANCE_cKNonkJE02Bw_languageId=en_GB (Stand
24022019) 75 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember
2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-jerusalem (Stand 24022019) 76 Jerusalem Embassy Act Sec 2 (6) httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 77 Dpa Trump wuumlrde ganz Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen Suumld-
deutsche Zeitung Meldung vom 25 September 2016 2207
httpwwwsueddeutschedenewspolitikwahlen-trump-wuerde-ganz-jerusa-lem-als-hauptstadt-israels-anerkennen-dpaurn-newsml-dpa-com-20090101-
160925-99-587350 (Stand 24022019) 78 SC13125 79 Torres Bernaacuterdez FS-Zemanek 1994 417 421
veraumlns zu einem bestimmten entscheidungserheblichen Zeit-
punkt auf80 Im Fall israelischer Gebietsanspruumlche uumlber Ostjeru-
salem fehlt es an diesen beiden Faktoren Bezuumlglich auf Westje-
rusalem begrenzte Souveraumlnitaumltsanspruumlche koumlnnte das Waffen-
stillstandsabkommen von 1949 herangezogen werden81 Die
bdquogruumlne Linieldquo koumlnnte dabei das territoriale Eingestaumlndnis sein
Jedoch wird der uti possidetis Grundsatz von konkreten voumllker-
rechtlichen Vereinbarungen verdraumlngt82 Eine solche besteht fuumlr
Jerusalem durch das Waffenstillstandsabkommen von 194983
Somit schlaumlgt auch die Anwendung des uti possidetis Prinzips
unter Hinzuziehung des Effektivitaumltsgrundsatzes fehl
Waumlhrend Mitte des 20 Jahrhunderts der gewohnheitsrecht-
liche Standard anerkannt war gewaltsame Gebietsaumlnderungen
fuumlr rechtmaumlszligig anzuerkennen laumlsst sich dies heute nicht mit der
Pflicht zur Nichtanerkennung unrechtmaumlszligiger Situationen ver-
einbaren84 Insbesondere bei der Bildung von Voumllkergewohn-
heitsrecht hat das Faktische eine normative Kraft es schafft je-
doch kein Recht85 Dies wird von Trump grundlegend verkannt
Auf die Abkehr von dem Prinzip ex factis ius oritur wurde be-
reits eingegangen86 Rechtliche Wirkung entfalten allein voumllker-
rechtliche Normen Die vorangegangenen Ausfuumlhrungen und
die Untersuchung des voumllkerrechtlichen Status Jerusalems zei-
gen dass es keine entsprechende voumllkerrechtliche Fundierung
fuumlr die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gibt das
Voumllkerrecht dem sogar klar entgegensteht
Es wird diskutiert ob die Pflicht zur Nicht-Anerkennung un-
mittelbar anwendbar ist sobald die ausloumlsenden Tatbestandsvo-
raussetzungen vorliegen oder ob es eines entsprechenden Hin-
weises einer unparteiischen Autoritaumlt bedarf um zu verhindern
dass sich einzelne Staaten als Schiedsrichter aufspielen87 Die
Frage eruumlbrigt sich da entsprechende Resolutionen der UNO
vorliegen Es spielt keine Rolle dass die unrechtmaumlszligige Anne-
xion bereits fast 40 Jahre zuruumlck liegt denn die Pflicht zur
Nichtanerkennung ist in ihrer Dauer unbegrenzt88
Somit konnte zeigt sich im Ergebnis die Unvereinbarkeit ei-
ner Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt uumlber Gesamtjerusa-
lem mit dem Voumllkerrecht
2 Die Verlegung der Botschaft
Davon getrennt ist abschlieszligend noch die Frage zu klaumlren ob
auch die Botschaftsverlegung gegen das Voumllkerrecht verstoumlszligt
Die Nichtigkeitserklaumlrung des Jerusalemgesetzes beinhaltete
80 Nesi in Max Planck Encyclopedia of International Public Law 2011 Uti Pos-
sidetis Doctrine RN 10 81 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumll-
kerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht
Band 30 2016 173 181 82 Blumenwitz FS Wuumlrzburg 2002 377 381 83 42 UNTS 303 No 656 84 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues and uncertainties S 7 85 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumllkerrecht S 69 bezugnehmend auf
Jellineks allgemeine Staatslehre 86 Vgl oben (Fn22) H Lauterpacht Recognition in International Law S 426 87 Vgl Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger
Gebietsaumlnderungen S 146 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contempo-rary international law issues and uncertainties S 12 f 88 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 18
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
15
auch die Aufforderung des Sicherheitsrates an alle Nationen die
diplomatische Missionen in Jerusalem aufgebaut hatten diese
aus der heiligen Stadt abzuziehen89 Daraufhin verlegten alle 13
in Jerusalem diplomatisch vertretenen Nationen ihre Botschaf-
ten nach Tel Aviv90 Jedoch trifft die entsprechende Resolution
keine Aussage uumlber die Dauerhaftigkeit des Ruumlckzugs Somit ist
zu fragen ob es daher grundsaumltzlich ausgeschlossen ist wieder
Botschaften nach Jerusalem zu verlegen Die Pflicht zur Nicht-
Anerkennung umfasst auch die Pflicht Handlungen zu unterlas-
sen die eine Anerkennung implizieren koumlnnten91 In Jerusalem
befinden sich unter anderem Generalkonsulate von Italien Grie-
chenland Groszligbritannien Frankreich und den USA92 Jedoch
geht im Gegensatz zu einer konsularischen Mission von einer
Botschaft eine hohe symbolische Wirkung aus93 Dem konklu-
denten Inhalt dieser Symbolkraft muumlsste explizit widersprochen
werden anderenfalls muumlsste die Verlegung der Botschaft als
konkludente Anerkennungserklaumlrung von Israelischer Souverauml-
nitaumlt uumlber das Gebiet des Botschaftsstandorts verstanden wer-
den94 Wenngleich die meisten diplomatischen Missionen in den
Hauptstaumldten aufgebaut werden enthaumllt die Wahl des Bot-
schaftsstandorts fuumlr sich genommen auch keine Aussage uumlber
den Status einer Stadt als Hauptstadt auch die USA unterhalten
in einigen Laumlndern Botschaften auszligerhalb der anerkannten
Hauptstadt95 Es bestuumlnde die Moumlglichkeit die Botschaft nach
Westjerusalem zu verlegen wo die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
weniger umstritten sind96 Angekuumlndigt ist der Umzug in das be-
reits bestehende Konsulat in Arnona97 Das Viertel wird von der
Grenze zwischen Ost und Westjerusalem durchzogen Das US-
Konsulat befindet sich auf der Waffenstillstandslinie von 1949
Somit wuumlrde nicht inhaumlrent eine Anerkennung uumlber Souveraumlni-
taumltsverhaumlltnisse erfolgen
Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Verlegung der
Botschaft vor allem deshalb so hohe Bedeutung beigemessen
wird weil sie im selben Atemzug angekuumlndigt wird wie die An-
erkennung Gesamtjerusalems als Hauptstadt Israels und diese
somit symbolisch bekraumlftigt Fuumlr sich betrachtet waumlre ein Um-
zug moumlglich ohne die Grenzen des Voumllkerrechts zu uumlberschrei-
ten Dann muumlsste zugleich bekraumlftigt werden dass eine Aner-
kennung der Annexion von 1980 unterbleibt Der von Trump
gewaumlhlte Rahmen der Anordnung der Botschaftsverlegung ent-
haumllt jedoch eine konkludente Anerkennung Israelischer Souve-
raumlnitaumlt und verstoumlszligt damit gegen das Voumllkerrecht
III Internationale Bewertungen und Reaktionen
Als Reaktion auf Trumps Entscheidung sah ein von Aumlgypten
eingebrachter Resolutionsentwurf des Sicherheitsrates vor alle
89 SRES 478 90 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 53 91 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 15 92 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-saumlnderungen S 53 93 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 31 94 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 165 95 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839 Fn 11 96 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The Future of Jerusalem A Symposium 837 839 840
Nationen aufzufordern keine diplomatischen Missionen in Je-
rusalem aufzubauen die Abhaumlngigkeit des finalen Status Jeru-
salems von zukuumlnftigen Verhandlungen zwischen Israelis und
Palaumlstinensern zu betonen und juumlngste Entscheidungen die dem
entgegenstuumlnden zu verurteilen Auszligerdem sollten Trends die
die Zwei-Staaten-Loumlsung gefaumlhrden reversiert werden98 Der
Entwurf scheiterte am 18122017 durch das Veto der USA mit
einer 14-1 Abstimmung
Einen Tag spaumlter verabschiedete die Generalversammlung
mit 128 Ja-Stimmen 9 Nein-Stimmen und 35 Enthaltungen eine
Resolution mit aumlhnlichem Tenor Unter anderem rief sie alle
Mitgliedstaaten dazu auf den Aufbau diplomatischer Missionen
in Jerusalem zu unterlassen99 Eine direkte Erwaumlhnung und Ver-
urteilung der von Trump eingeleiteten Schritte erfolgte gleich-
wohl nicht Die Resolution ist rechtlich nicht bindend hat aber
Symbolcharakter Die Haltung der Staatengemeinschaft laumlsst
sich als Verurteilung des Nichtnachkommens der voumllkerrechtli-
chen Pflicht die Annexion Ostjerusalems von 1980 nicht anzu-
erkennen qualifizieren
Die Reaktionen zeigen zudem dass die internationale Staa-
tengemeinschaft Trumps Entscheidungen fuumlr die weitere Ent-
wicklung des Nahostkonflikts fuumlr nicht friedensfoumlrderlich haumllt
was zumindest zunaumlchst durch die weitere Entwicklung bestaumltigt
wurde In den Tagen nach Trumps Verkuumlndung kam es in Jeru-
salem vermehrt zu Gewalt Palaumlstinensische Extremisten kuumln-
digten bdquoTage des Zornsldquo an100 Am Tag der Botschaftsverlegung
am 15052018 kam es zu Ausschreitungen mit Duzenden Toten
F Fazit
Jerusalems Sonderrolle als heilige Stadt dreier Weltreligionen
bringt eine emotionale Aufladung des Konflikts mit sich und er-
schwert den Friedensprozess da scheinbar wichtigere Werte das
Ziel in den Schatten stellen101 Fuumlr eine Internationalisierung
konnten sich beide Seiten nicht begeistern102 Ein beidseitiger
Verzicht auf Jerusalem als politische Hauptstadt koumlnnte der Son-
derrolle der Stadt als religioumlse Staumltte am besten gerecht werden
den Konflikt durch Vermeidung von Provokationen emotional
entladen und so den Friedensprozess foumlrdern
Die Autorin studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaf-ten an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg mit dem Schwerpunkt bdquoDeutsches Europaumlisches und Internationales Oumlffentliches Rechtldquo Der Beitrag beruht auf einer Studienarbeit im Rahmen des Seminars bdquoGrundlagen und Grenzen staatlicher Souveraumlnitaumlt ndash aktuelle Prob-leme und voumllkerrechtliche Loumlsungenldquo bei Frau Prof Dr Voumlneky im Sommersemester 2018
97 Nauert Heather Press Statement Opening of US Embassy in Jerusalem
23 Februar 2018 httpswwwstategovrpaprsps201802278825htm
(Stand 24022019) 98 S20171060 99 AES-10L22 100 Reuters Israeli minister sees Trump sbquohintlsquo at Jerusalem Partition with Pales-tinians 8 Dezember 2017 httpswwwreuterscomarticleus-usa-trump-is-
rael-partitionisraeli-minister-sees-trump-hint-at-jerusalem-partition-with-pa-
lestinians-idUSKBN1E21OL (Stand 24022019) 101 Wilson in Middle East Journal Vol 23 No 1 1969 1 1 StoverMankaryous
in International Journal on World Peace Vol 25 Nr 4 Dezember 2008 115
129 102 Ben-DrorZiedler in Diplomacy amp Statecraft Volume 26 2015 636 639
Praktikanten Referendare Wissenschaftliche Mitarbeiter (mw)
Eins drauflegenWas gute Juristen noch besser macht
Besondere Talente verdienen besondere Foumlrderung Fuumlr diesen Anspruch steht unsere ReferendarAcademy Als eine der weltweit fuumlhrenden Anwaltssozietaumlten sind wir immer auf der Suche nach hochqualifizierten Nachwuchskraumlften (mw) fuumlr unsere Buumlros in Duumlsseldorf Frankfurt am Main und Muumlnchen Ausgezeichnete Examina und exzellentes Englisch setzen wir dabei voraus Im Rahmen unserer ReferendarAcademy bieten wir Ihnen als Referendar u a in Zusammenarbeit mit dem Repetitorium KAISERSEMINARE Intensivkurse zur Vorbereitung auf das Assessorexamen einen Uumlber blick uumlber unsere Rechts be reiche und eine Einfuumlh rung in relevante Business Skills Fuumlr die stetige Weiter bildung un-serer Anwaumllte sorgt die Clifford Chance Academy
Erfahrene externe und interne Referenten informieren uumlber aktuelle juristische Entwick lungen und ver mitteln Faumlhigkeiten und Kenntnisse die fuumlr eine Berater per-soumln lichkeit entscheidend sind Haben wir Ihr Inter esse ge weckt Wir freuen uns uumlber Ihre Bewerbung per E-Mail an karrierecliffordchancecom Ihre Ansprech partnerin Nicola von Tschirnhaus 069 7199-4477
Career starts with CInformationen zu uns und der ReferendarAcademy wwwclif fordchancecomkarriere
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 17
Die Problematik der europaumlischen Demokratie und
die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGHs
-
von Soma Hegedős
Abstract
Eine Kardinalskritik in Bezug auf die Funktionsweise der
EU ist dass die EU eine bdquoantidemokratischerdquo Institution sei
sowie dass die Buumlrgerschaft der Mitgliedsstaaten ihre
Entscheidungen kaum beeinflussen kann Von diesem kri-
tischen Aspekt ausgehend wird die Beziehung zwischen
Demokratie und der EU unten ndash umfassend - untersucht
Ein zentraler Aspekt dieser Untersuchung ist die genaue
Betrachtung des Status und der Kompetenzen des EuGH
und zwar vor allem aus zweierlei Gruumlnden Zum einen ist
ein entscheidender Punkt der Kritiken die rechtsschoumlp-
fende Taumltigkeit des EuGH seit den Sechzigern bis heute
ohne ausreichende (demokratische) Legitimation Zum
anderen kann man mit der Pruumlfung seiner rechtsfortbilden-
den Taumltigkeit und seinen zur Rechtsschoumlpfung fuumlhrenden
Urteilsfeststellungen auch die Problematik der Demokratie
und der EU im Zeitalter der Globalisierung besser begrei-
fen
A Einleitung
Zahlreiche moderne Theoretiker - beispielsweise der ungarische
Gyula Mooacuter1 - sehen die Demokratie nicht nur als einen bloszligen
politikwissenschaftlichen Begriff oder eine Organisationsme-
thode von Gewalt an sondern als einen komplexeren Ausdruck
der auch die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen erklaumlren
kann Die Theorien die sich auf den pluralistischen Charakter
der Gesellschaften und des politischen Spektrums bzw auf die
Elitebildung fokussieren haben auf viele kritische Punkte hin-
gewiesen und in vielen Faumlllen die Durchfuumlhrbarkeit der Demo-
kratie infrage gestellt Nach ihren Thesen werden gewisse enge
Elitegruppierungen ndash fruumlher oder spaumlter ndash unmittelbaren Ein-
fluss auf die politischen Entscheidungen haben Hier ist die De-
mokratie-Vorstellung von Joseph Schumpeter zu erwaumlhnen in
deren Mittelpunkt der Konkurrenzkampf und der marktwirt-
schaftliche Wettbewerb stehen Schumpeter sieht das von den
Elitetheorien beleuchtete Problem darin so aufgeloumlst dass die
um die politische Macht kaumlmpfenden Eliten auch fuumlr die Voten
der Einzelnen kaumlmpfen muumlssen Und die Individuen koumlnnen
1 Vgl Gyula Mooacuter A demokraacutecia oumlrveacutenyei In Erdei-Fischer-Horvaacuteth
A demokraacutecia Egyetemi Nyomda Budapest 1945 s 96 ff 2 Vgl Schumpeter Joseph A Kapitalismus Sozialismus und Demokra-
tie A Francke Verlag Tuumlbingen 2018 S 365 ff 3 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie In Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 S 237
eben durch diesen um ihre Voten durchgefuumlhrten Wettbewerb
(bdquoKonkurrenzkampfldquo) Einfluss auf das oumlffentlichen Leben er-
werben2 Hans Kelsen hat es so gehalten dass diese Konfronta-
tion der Gerichte sowohl gegenuumlber der Gesetzgebung als auch
gegenuumlber der Regierung nicht stichhaltig sei Die strenge Tren-
nung der Gewalten schraumlnkt eben die Erfuumlllbarkeit des Volks-
willens ein3 Laut Giovanni Sartori sollte die Volksherrschaft
nach wie vor im Fokus einer demokratischen Staatsorganisation
stehen D h man muss auf solche Fragen eine sinnvolle Ant-
wort geben wie Was ist ein Volk uumlberhaupt und wie kann das
Volk den entscheidenden Einfluss auf die Herrschaft behalten4
In der Auffassung von Juumlrgen Habermas kann die Loumlsung dieser
Probleme durch die Institution eines Parlaments verwirklicht
werden5 In der Demokratie-Interpretation von Habermas ist we-
sentlich dass die zivile Gesellschaft eine tatsaumlchliche Kontrolle
uumlber die politische Sphaumlre und Verwaltung ausuumlbt und das Par-
lament ndash als Teil der Zivilgesellschaft - eine zentrale Rolle in
diesem Kontrollmechanismus spielt
Diese oben genannten Beispiele zeigen dass ein lebhafter
Diskurs uumlber die Interpretationsmoumlglichkeit und die Durchfuumlhr-
barkeit von Demokratie stattgefunden hat Das bdquoSortimentrdquo der
Vorstellungen uumlber die institutionelle Realisation der Demokra-
tie bdquoreicht von rousseauistischen uumlber elitenbezogene und plura-
listische sowie partizipationsorientierte Demokratiemodelle bis
hin zu den Spielarten marxistischer Staatstheorierdquo allerdings
darf das Erfordernis der Demokratie nicht ins bdquostaatstheoreti-
sche Ungewisse fuumlhrenrdquo ndash stellt Winfried Veil fest6 Daraus folgt
die Frage was jene festen Gedankengrundlagen sind aus denen
ein demokratisches Institutionsgefuumlge auch auf der europaumli-
schen ndash bzw transnationalen - Ebene konfiguriert werden kann
das zugleich auch uumlber rechtliche Bindekraft verfuumlgt
4 Vgl Sartori Giovanni DemokratietheorieWissenschaftliche Buchg
Darmstadt 1992 16 ff 5 Vgl Juumlrgen Habermas Faktizitaumlt und Geltung Frankfurt am Main
Suhrkamp 1992 S 430 ff 6 Veil Winfried Volkssouveraumlnitaumlt und Voumllkersouveraumlnitaumlt in der EU
Nomos Baden-Baden 2007 43
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 18
B Demokratiedilemma auf der Ebene der EU
I Das Europaumlische Parlament und die europaumlischen
Voumllker
Veil ndash die Situation vor dem in Kraft treten der Lissabon-Ver-
traumlge pruumlfend ndash sieht das so dass die Realisierung der Demokra-
tie auf EU-Ebene unter den heutigen gesellschaftlichen und po-
litischen Umstaumlnden keineswegs moumlglich sei Genauer gesagt
zweifelt er daran ob uumlberhaupt die Moumlglichkeit eines richtigen
europaumlischen repraumlsentativen Systems vorliegen koumlnne bdquo(hellip)
findet demokratische Repraumlsentation durch das Europaumlische
Parlament nicht statt Repraumlsentation erfordert naumlmlich mehr als
die bloszlige Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregelnrdquo7
Das Problem besteht einerseits im Mangel an einem europaumli-
schen bdquoDemosrdquo anderseits ist auch das Europaumlische Parlament
nicht dazu geeignet das Demos zu repraumlsentieren Die europaumli-
schen Voumllker sind nicht einheitlich weder kulturell noch
sprachlich noch politisch so kann der Diskurs der zum Funkti-
onieren der Demokratie unabdingbar notwendig ist nicht statt-
finden Es fehlt im Wesentlichen an der zur demokratischen
Meinungsbildung wichtigen bdquoBuumlhnerdquo zur Diskussion der Ange-
legenheiten auf Unionsebene Die Spannung zwischen dem Eu-
ropaumlischen Parlament und der Demokratie entsteht dadurch
dass die Kompetenzen des Europaumlischen Parlaments sehr be-
grenzt innerhalb der EU sind Aus diesem Grund kann das EP
den vom Demos durch die Wahlen ausgedruumlckten Volkswillen
nur eingeschraumlnkt zur Geltung bringen
Das andere grundlegende Problem ist der Verlauf der Euro-
pawahlen Das Ergebnis der Stimmabgabe spiegelt mehr die in-
neren Beziehungen der einzelnen Staaten den Zustand bdquoRegie-
rung-Oppositionrdquo ndash wieder als das Ergebnis jener gesellschaft-
lichen-politischen Dispute die uumlber die gemeinsamen bdquoeuropaumli-
schenrdquo Themen stattgefunden haumltten ndash eroumlrtert Veil8 Ein wei-
teres Dilemma ist die demokratische Legitimation der Instituti-
onen und Handlungen der EU genauer gesagt deren Mangels an
Legitimation Da die Subjekte des Voumllkerrechtes in erster Linie
die Staaten sind und die demokratische Legitimation von den
von Voumllkern begruumlndeten Staaten abgeleitet werden kann soll
die EU als spezieller sui generis Staatenverbund eine Parallelitaumlt
zwischen ihren Handlungen und dem Volkswillen aufweisen
Allerdings kann diese Parallelitaumlt in Bezug auf alle Hauptorgane
der EU nur schwach oder gar nicht nachgewiesen werden meint
Veil Zwar stellt dieser fest dass die demokratische Legitima-
tion nicht eine bdquoAlles oder Nichtsrdquo Frage sei vielmehr eine
bdquomehr oder wenigerrdquo Relation trotzdem bestreitet er ob uumlber-
haupt der akzeptable Mindestgrad der Legitimation jeglicher
EU-Organe noch vorhanden sei9 Umsonst kann man die insti-
tutionellen Grundlagen der EU mit voumllkerrechtlichen Vertraumlgen
sowie Volksabstimmungen legitimieren wenn die vertraglichen
Fundamente nicht mehr mit dem tatsaumlchlichen politischen Be-
trieb der EU vereinbart werden koumlnnen bdquoDas von den Gemein-
7 Veil aao S 157 8 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 9 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 10 Veil aaO S 273
schaftsvertraumlgen errichtete politische System deckt aber die lau-
fende Willensbildung der Gemeinschaftsorgane in legitimatori-
scher Hinsicht nicht mehr abrdquo ndash schreibt Veil10
II Demokratieverflechtung
Das sogenannte Lissabon-Urteil des deutschen BVerfG hat ver-
sucht auf diese Frage eine Antwort zu geben Ein Bundestagab-
geordneter hat 2008 eine Verfassungsbeschwerde gegen den
von Deutschland ratifizierten Vertrag von Lissabon bzw das
Bundesgesetz zum Vertrag von Lissabon eingereicht Nach der
Verfassungsbeschwerde wird der staatliche Charakter Deutsch-
lands mit dem Vertrag von Lissabon gefaumlhrdet zudem wurde
die Verletzung des Demokratiegebotes und das eigentliche Feh-
len der demokratischen Legitimation der EU moniert Das
BVerfG hat in seiner besonders detaillierten Begruumlndung darge-
legt dass auch der Vertrag von Lissabon das Problem des De-
mokratiedefizites nicht loumlsen koumlnne Paradoxerweise wurde zu-
gleich gesagt dass die EU keine bdquoDemokratiefaumlhigkeitrdquo besitze
und daruumlber hinaus darf sie keinen houmlheren Grad der Demokra-
tie disponieren als ihre Mitgliedstaaten Nach Marcus Houmlreth
wird als eine Folgerung des Urteiles die Problematik der sog
Demokratieverflechtung genannt Er begruumlndet dass die Sub-
jekte der demokratischen Legitimation weiterhin die Voumllker der
Mitgliedstaaten bleiben Die EU kann von der Legitimation
durch die mitgliedstaatlichen parlamentarischen Demokratien
nicht abruumlcken Aus diesem Grund ndash und aus der Gebundenheit
an das deutsche Verfassungsrecht ndash folgt dass der Wirkungs-
kreis der mitgliedstaatlichen Parlamente auf keinen Fall voll-
staumlndig ausgehoumlhlt werden darf Nach der Auffassung des deut-
schen BVerfG ist Demokratie ein Staatssystem in dem der
Mehrheitswille von den Parlamenten die durch die auf den glei-
chen Stimmrechten beruhenden Wahlen gewaumlhlt werden in
Form der Gesetzgebung und der Regierungsbildung kontinuier-
lich zur Geltung kommt Der Rahmen dieses Gefuumlges wird
dadurch gegeben dass es vor allem ein bdquoVolkrdquo gibt sowie eine
oumlffentliche Publizitaumlt die fuumlr das Volk die Diskussionen und den
Wettbewerb zwischen der Regierung und der Opposition trans-
parent abbilden kann Das Parlament kommt durch die mehr-
heitliche Entscheidung waumlhrend der Wahlen zustande was vor
allem den Wahlwillen der Bevoumllkerung abbildet und die Kapa-
zitaumlt hat den Volkswillen zu offenbaren Das deutsche BVerfG
hat sich in seiner Demokratieauffassung auf die parlamentari-
sche Souveraumlnitaumlt fokussiert und ausgesagt dass das Instituti-
onssystem der EU diesen Anforderungen nicht entspreche weil
die bdquoauszligerrechtlichen Voraussetzungenrdquo allzu unterentwickelt
sind Aus diesem Grund kann man die Demokratie auf EU-
Ebene nicht mit der nationalstaatlichen Stufe gleichsetzen ndash
fuumlhrt Houmlreth aus11
11 Marcus Houmlreth Die Demokratieverflechtungsfalle ndash Warum die EU
nach dem Lissabon-Urteil demokratisch defizitaumlr bleiben muss In
Lhotta ndash Ketelhut ndash Schoumlne Das Lissabon-Urteil Springer Fach-medien Wiesbaden 2013 S 48 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 19
III Wirtschaftliche Globalisierung und Demokratie
Auch die Machtstrukturen veraumlndern sich mit der Europaumlisie-
rung der Wirtschaft und der Gesellschaften wo Machtausuumlbung
zum bdquoRegierenrdquo wird das Regieren entterritorialisiert wird so
Richard Muumlnch Die Durchfuumlhrbarkeit der Demokratie er-
schwert sich mit der Relativierung der Machtausuumlbung uumlber
konkretes Gebiet und konkretes Volk Es gibt im Zentrum der
Politik nicht mehr den demokratischen Willen der sich durch
die politischen Dispute ausformt sondern die Entscheidungen
werden vom Wettbewerb determiniert Dementsprechend ndash
nach Muumlnch ndash vollzieht der EuGH das Programm der europaumli-
schen Liberalisierung und Individualisierung d h der Integra-
tion deren zentraler Handlungsbeauftragter er ist12 bdquoDie Insti-
tutionalisierung des transnationalen europaumlischen Rechtsraumes
ist in erheblichem Umfang das Werk des Europaumlischen Ge-
richtshofesldquo ndash meint Muumlnch13
Wegen der steigenden Bedeutung von der EU aumlhnlichen in-
ternationalen wirtschaftlichen Kooperationen beschaumlftigen sich
Wissenschaftler immer mehr mit Moumlglichkeiten der Durchsetz-
barkeit der Demokratie auf internationaler Ebene bdquojenseits des
Staatesldquo Drei wichtige Aspekte sind hier von groszliger Bedeu-
tung Der Mangel einer zentralen Macht (Regierung) und des
Parlamentes und die transnationale Transformation des oumlffentli-
chen Diskurses Diese drei Eckpunkte scheinen auch in Bezug
auf die demokratische Qualitaumlt der EU entscheidend zu sein die
unter den wichtigsten internationalen Zusammenschluumlssen ndash
wegen ihrer breiten Aufgabenbereiche und politischen Einfluumlsse
ndash den groumlszligten Demokratiebedarf hat14
C Richterrecht Juristokratie
Weltkonstitutionalisierung
I Richterrecht der politische Aktivismus des
Richters
Die Problematik des Richterrechts ist eine Achillesferse fuumlr die
demokratische Handlungsweise der unterschiedlichen richterli-
chen Foren (siehe z B bei Dworkin) Die Taumltigkeit der Verfas-
sungsgerichte sowie der internationalen Gerichtshoumlfe wurde
durch die richterliche bdquoRechtsschoumlpfungrdquo nunmehr so wesent-
lich dass man uumlber ein spezielles Phaumlnomen der sog bdquojuristo-
kratischenrdquo Tendenzen sprechen kann
Das Richterrecht ist ein altes Problem fuumlr die Rechts - und
Staatstheorie Fuumlr Friedrich Carl von Savigny der eine wichtige
Rolle in der Deutung des Richterrechtes gespielt hatte wurzelt
das Recht im bdquoVolksgeistrdquo als das Ergebnis einer geschichtli-
chen Entwicklung Der politische Aktivismus richtet sich nach
12 Vgl Muumlnch Richard Die Konstruktion der europaumlischen Gesellschaft
Zur Dialekt von transnationaler Integration und nationaler Desintegra-tion Campus Verlag FrankfurtNew York 2008 S 372 ff
13 Vgl Muumlnch aaO S 108 14 Vgl Dingwerth Klaus - Blauberger Michael - Schneider Christian
Postnationale Demokratie VS Verlag fuumlr Sozialwissenschaften Sprin-
ger Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden 2011 S 23 ff und
204 ff 15 Vgl Ruumlthers Bernd Die unbegrenzte Auslegung Mohr Siebeck
Auffassung von Philipp Heck letztendlich auf die Beeinflussung
der Gesetzgebung Wenn die Rechtsbildung durch die richterli-
che Rechtsprechung geschieht wird dem Richter also quasi eine
bdquopolitische Funktionrdquo verliehen Dies kann fuumlr die modernen
Demokratien wichtige Grundprinzipien verletzen das sind die
Konzeptionen uumlber die RechtssicherheitRechtstaatlichkeit und
das mit der Rechtsstaatsidee verbundene bdquogeschriebene Rechtrdquo
bzw bdquokodifizierte Rechtrdquo und die Idee der Gewaltenteilung Ob-
wohl die Ursachen der Abweichungen grundsaumltzlich historisch
sind kann der wesentliche bdquounuumlberwindbareldquo Unterschied zwi-
schen den Rechtskreisen common lawldquo und bdquocivil lawldquo immer
Sache von theoretischen Disputen sein15 bdquo(hellip) evolution of both
a codified and a judge made system of law is characterized by a
constant interplay between legislative and judicial actionrdquo ndash
schreibt Sauveplanne16 der meint ldquoa system of law must be cre-
ated and developed by the interaction between legislature and
judiciaryrdquo17
Es gibt unterschiedliche Ansichten die Substanz des Richter-
rechtes zu bestimmen Der Richter interpretiert das Recht nach
eigenen Anschauungen oder um es mit den Worten Bernd
Ruumlthers zu sagen bdquoder Richter stellt sich in einen Gegensatz zu
gesetzlichen Wertungenrdquo Die verbreitete Ansicht allerdings ist
dass das Richterrecht nichts anderes ist als Rechtsfortbildung in
einer bdquorechtsleerenrdquo Domaumlne sozusagen bdquounentdeckte Raumlumerdquo
die vom Gesetz noch nicht geregelt wurden Eine dritte bdquoweiter-
entwickelterdquo Auffassung uumlber das Richterrecht ist dass der
Richter die Luumlcken mit Wertungen ausfuumlllen soll wie zB im
Fall von Generalklauseln Mit dieser Ansicht verwandt ist der
vierte Typ ein Begriff der unterschiedliche Bedeutungen (In-
halt) haben koumlnnte und daher vom Richter konkretisiert wird18
II Richterrechttypologie und Luumlckenproblematik
Das Richterrecht bildet sich in allen Rechtsordnungen anders
heraus und ist von anderer Bedeutung In den zwei fuumlr die EU
so wichtigen Rechtsordnungen in der franzoumlsischen und deut-
schen gibt es Diskrepanzen im Vergleich in Bezug auf das
Richterrecht Man kann begrifflich das bdquoInterpretierenrdquo von der
bdquoRechtsfortbildungrdquo (Rechtsschoumlpfung) in der deutschen
Rechtstheorie abtrennen Der grundsaumltzliche Unterschied ist der
bdquoSchoumlpfercharakterrdquo der Rechtsfortbildung D h der Richter
uumlbertritt mit der Rechtsfortbildung die Textrahmen der Rechts-
norm waumlhrend er im Fall des Interpretierens nur den Textinhalt
erkennt Die Problematik der Rechtsluumlcke (siehe dazu mehr un-
ter II A) steht im Zentrum der Rechtsfortbildung d h eine Luuml-
cke die nicht vom Text des geschriebenen Rechts gedeckt ist
Diese Luumlcken koumlnnen verschiedenen Typs sein Einige Luumlcken
sind die Ergebnisse einer bewussten Entscheidung des Gesetz-
gebers der das Ausfuumlllen der Rechtsluumlcken der richterlichen
Rechtsprechung der Judikative uumlberlaumlsst In anderen Faumlllen ist
Tuumlbingen 2017 S 1 ff und 457 ff und JG Sauveplanne Codified
and judge made law The Role of Courts and Legislators in Civil and Common Law Systems North-Holland Publishing Company Amster-
dam Oxford New York 1982 16 Sauveplanne aaO S 25 17 Sauveplanne aaO S 28 18 Vgl Ruumlthers dazu aaO S 458 f und vgl Walter Kondrad Rechts-
fortbildung durch den EuGH Duncker amp Humblot Berlin 2009 S
41 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 20
die Luumlckenhaftigkeit der Regelung uumlberhaupt nicht absichtlich
Der Richter kann die Luumlcken mit seinen Beschluumlssen sozusagen
praeter legem (oder pactum) ausfuumlllen in diesem Fall wird die
Regelung im Endeffekt vom Richter ergaumlnzt Die Entscheidung
des Richters steht nicht gegen den moumlglichen Inhalt des Textes
obwohl sie nicht darauf basiert Der Beschluss geht im Fall der
bdquocontra legem (pactum)rdquo Rechtsfortbildung uumlber den Wortlaut
des Gesetzes (oder des Vertrages) hinaus oder steht im konkre-
ten Fall dem Gesetz diametral gegenuumlber Sowohl die Rechts-
fortbildung als auch die bdquoInterpretationrdquo kann in der franzoumlsi-
schen Rechtsordnung im Rahmen der sog bdquoInterpreacutetationrdquo statt-
finden Zudem ist das ein wesentlicher Unterschied im Ver-
gleich zum deutschen System dass also auch die Interpretation
zur Rechtsschoumlpfung fuumlhren kann Die Praxis des EuGHs fokus-
siert sich auf die bdquoInterpreacutetationldquo-Auffassung er macht also kei-
nen terminologischen Unterschied zum franzoumlsischen Recht
Allerdings ist eine inhaltliche Distinktion moumlglich Die Trennli-
nie befindet sich zwischen der Auslegung und Rechtsfortbil-
dung sodass die Auslegung innerhalb des Rahmens eines moumlg-
lichen Wortsinnes noch zumindest mit einer Sprachfassung bdquoab-
gedecktldquo werden kann Dagegen entspricht die Rechtsfortbil-
dung semantisch nicht mehr dem Wortsinn entweder ergaumlnzt sie
die vertraglichen Vorschriften oder die richterliche rechts-
schoumlpfende Taumltigkeit kann nicht mehr mit dem Vertragszweck
parallelisiert werden Ernsthafte Kritiken richten sich konkreter
auch gegen die richterliche Rechtsetzung des EuGHs teilweise
auch von diesem Gesichtspunkt Nach einigen Stellungnahmen
sollten die Grenzen seiner rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit bzw
seiner speziellen Befugnisse ausdruumlcklich in den Vertraumlgen be-
stimmt werden Man darf daher das bdquoVertragswerkldquo des Unions-
rechtes nur als unvollstaumlndig betrachten und die Rolle des
EuGHs als bdquoLegislativorganldquo nur beschraumlnkt akzeptieren19
III Vom Richterrecht zur Juristokratie
Das Problem ist dass die Rechtsauslegungsbefugnisse der Ver-
fassungsgerichte und der internationalen Gerichte immer staumlrker
mit Skepsis betrachtet werden Das Richterrecht das als Ergeb-
nis der richterlichen Rechtsauslegung entsteht erlangt nach ei-
nigen kritischen Betrachtungen nahezu so groszlige Bedeutung
dass man schon uumlber systemumfassende Veraumlnderungen dh
uumlber den Uumlbergang von Demokratie zur Juristokratie von der
Rechtsstaatlichkeit zur sog juristokratischen Regierungsform
sprechen kann Beacutela Pokol ungarischer Verfassungsrichter hat
diese Tendenz vor allem auf der Ebene der Taumltigkeit des Verfas-
sungsgerichtes nachgewiesen Diese Tendenz hat nach Pokol
politische und rechtstheoretische Gruumlnde Rechtstheoretischer
Grund sei zum Beispiel die Ruumlckkehr des weltlichen Natur-
rechts sowie die Staumlrkung der Auffassung uumlber die auf moral-
philosopischer Argumentation basierenden Menschenrechte ndash
19 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff (45-111) und Mittmann Patrick Die
Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europaumlischen Gemein-
schaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europaumlischen Union Peter Lang GmbH Frankfurt am Main 2000 S 235-244 und
S 269 20 Vgl Beacutela Pokol Der juristokratische Staat die Zerlegung seiner As-
pekte Nemzeti Koumlzszolgaacutelati Egyetem Working papers on state Gov-
ernance and Administration 201611 httparchivuni-nkehuup-
loadsmedia_itemsbela-pokol-der-juristokratische-staat-die-zerlegung-
schreibt Pokol20 Man kann unter anderem auch die Ausbreitung
der Rechtsauslegungsmoumlglichkeiten von den Gerichten her klas-
sifizieren die die starke Bindung der Rechtsprechung an den
Gesetzestext gelockert haben Die Grundlage dieser Wandlung
ist dass die Richter im Laufe der Interpretation nicht mehr das
gesucht haben was die subjektive Absicht der Gesetzgebung ge-
wesen ist sondern das was aufgrund der bdquoobjektiven Rationali-
taumltrdquo Ziel gewesen sein koumlnnte Eine dritte Seite dieser Veraumlnde-
rung ist die strukturelle Staumlrkung der Verfassungsgerichte ge-
genuumlber den Parlamenten Die Verfassungsgerichte konnten mit
actio popularis d h mit den gegen die Parlamente anwendbaren
einem dem Vetorecht aumlhnlichen Mittel Entscheidungen der Par-
lamente revidieren
bdquoAuf diese Weise verwandelt sich die Triple-Struktur der Poli-
tikStaatsverwaltungJustiz in die doppelte Struktur der durchpolitisier-
ten Justiz (mit dem Verfassungsgericht an der Spitze) und der unterwor-
fenen oumlffentlichen Verwaltung Die demokratischen Wahlen und die
durch sie entstehende legislative Mehrheit funktionieren nur als legiti-
mierender Schleier uumlber die tatsaumlchliche Machtausuumlbungrdquo
ndashPokol21
IV Juristokratische Tendenzen auf der
internationalen Buumlhne
Man kann die besondere Bedeutung und die immer staumlrker wer-
dende Tendenz der richterlichen Rechtsschoumlpfung auch auf in-
ternationaler Ebene wahrnehmen Von Bogdandy und Venzke
vertreten den Standpunkt dass die Arbeit der internationalen
Gerichte von bdquointernationaler Gerichtsbarkeitrdquo in einfache
Streitbeilegungsverfahren umbenannt werden sollte22 Der
Grund dafuumlr ist dass diese internationalen richterlichen Foren
wirklich mehr Funktionen erfuumlllen als nur das Schlichten diver-
ser Streitigkeiten zwischen Staaten Diese Funktion besteht zum
einen darin dass das Rechtsgefuumlhl d h die normative Kalkula-
tion und das Rechtsbewusstsein der Staaten und der internatio-
nalen Organisationen staumlrker wird Zu diesem Thema gehoumlrt
gleichermaszligen dass die staatlichen Akte aufgrund der Recht-
sprechung der internationalen Gerichte nach einem voumllkerrecht-
lichen Maszligstab uumlberpruumlft werden und wenn sie dieser Uumlberpruuml-
fung standhalten zugleich legitimiert werden koumlnnen beispiels-
weise dadurch dass sie den internationalen Standards entspre-
chen Dies entspricht der bdquoKontroll und Legitimationrdquo-Funktion
von Von Bogdandy Die wichtigste Rolle der internationalen
Gerichtshoumlfe ist die Rechtsschoumlpfung die mit den zwei anderen
oben genannten Funktionen in einem engen Zusammenhang
steht Zwei Typen der Rechtsschoumlpfung werden von von
Bogdandy unterschieden Der erste Typ ist die richterliche
Rechtsschoumlpfung in konkreten Streitfaumlllen Eine solche ist zum
seiner-aspekte-von-bela-pokoloriginalpdf S 18 Ff (2018 oktoacuteber
12) 21 Pokol aaO S 3 22 Von Bogdandy Armin ndash Venzke Ingo bdquoInternationale Streitbeteili-
gungldquo oder bdquointernationale Gerichtsbarkeitldquo In Arbeitspapiere Goe-
the Universitaumlt Frankfurt am Main 20164 httppublikatio-nenubuni-frankfurtdefrontdoorindexindexdocId39019 (2018 ok-
toacuteber 15)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 21
Beispiel die breitere Interpretation des Verbotes der Gewaltan-
wendung nach Artikel 2 der UNO-Charta im sog Nicaragua-
Urteil des Internationalen Gerichtshofs Der andere Typ der
Rechtsschoumlpfung ist die systemweite und bewusste Taumltigkeit
solcher internationalen meistens bdquoregional taumltigenrdquo sowie spe-
zialisierten Gerichte die das Rechtssystem in der mit Ihnen ver-
bundenen Sphaumlre mit Prospektivitaumlt bestimmen wollen Bei-
spiele dafuumlr sind gewisse Verfahrensregelungen seitens des Eu-
ropaumlischen Gerichtshofes fuumlr Menschenrechte ndash schreibt Von
Bogdandy
Tamara Ehs meint dass diese auf supranationalischer Ebene
erscheinenden juristokratischen Tendenzen auch mit der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH verbunden sind Nach Ehs hat
zwar der EuGH gegen die Politik das Recht bdquodes letzten Wor-
tesldquo aber dem EuGH fehlt das demokratische Moment23 Ehs
stellt fest dass der EuGH zum einen ndash innerhalb der EU ndash ein
europaumlisches Verfassungsrecht schaffen will zum anderen auch
politischen Aktivismus aufzeigt Die wichtigen Mittel dieses po-
litischen Aktivismus sind die Resolutionen in Vorabentschei-
dungsverfahren mit denen der EuGH tief hinter die mitglied-
staatlichen Grenzen reichen kann Allerdings sollte die Rolle des
EuGH auch in den weiteren internationalen Relationen gepruumlft
werden da das nach Ehs kein alleiniger Darsteller einer welt-
weiten Verfassungsordnung ist Solche weiteren bdquoElementeldquo
sind beispielsweise noch das WTO und IMF Im Zentrum dieser
Weltkonstitutionalisierung steht die Errichtung eines Systems
das auf den modernen neoliberalen Grundlagen der Weltwirt-
schaft beruht und das gegen die Ordnung der volksstaatlichen
Nationalwirtschaften gerichtet ist Daruumlber hinaus entspricht es
nicht den Prinzipien der demokratischen Repraumlsentation
D Die Rechtfertigungsversuche der
rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH
I Das Kompetenzdilemma des EuGH bdquoeffet utileldquo
und die Ultra-vires-Handeln
Eines der groumlszligten Dilemmas in Bezug auf den Kompetenzkreis
des EuGH sowie das von ihm geschaffene Richterrecht ist die
Dualitaumlt der Grenzen und des Zwanges der auf Rechtsschoumlp-
fung gerichteten Taumltigkeit des EuGH bdquoDer EuGH balanciert
stets bei seiner Rechtsprechung zwischen Kompetenzgrenze
und Kompetenzpflicht (hellip) Einerseits darf er kompetenzrecht-
lich nur gewisses Richterrecht schaffen anderseits ist er aber
genau berufen das Notwendige und Moumlgliche zu entwickelnrdquo
ndash schreibt Michel daruumlber24 Diese Spannung haumlngt eng mit der
Luumlckenproblematik des Gemeinschaftsrechts zusammen In ers-
ter Linie stellte sich die Frage der Kompetenzen der souveraumlnen
Mitgliedstaaten ob die Luumlckenhaftigkeit der neuen europaumli-
schen Rechtsordnung nicht absichtlich ist Die Antwort des
EuGH auf diese Frage war ua im seinen CostaENEL- und van
23 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 233-247 httpswwwmomentum-quarterlyorgojs2in-
dexphpmomentumarticleview16691333 234 (2018 oktoacuteber 15) 24 Michel Morten Alexander Die Kompetenzentwicklung des Europaumli-
schen Gerichtshofes in seiner juumlngeren Rechtsprechung und ihre Integ-
rationseffekte in den Mitgliedstaaten Shaker Verlag Aachen 2002
159
Gend amp Loos ndash Rechtsspruumlchen angelegt Sein bdquoneinldquo bedeutete
dass das Unionsrecht ein neues komplettes Rechtssystem sogar
bdquoeine neue Voumllkerrechtsordnungldquo ausmachen solle Zwar ist die
Rolle des Integrationsgebotes und seine Auslegunsmittel die
sog bdquoeffet utileldquo-Formel in der Arbeit des EuGH ziemlich um-
stritten sie kann aber ihre Grundkonzeption der Rechtferti-
gungslogik der richterlichen Rechtsschoumlpfung gut darstellen
Mit der Anwendung ndash unter anderem ndash des effet utile-Grund-
satzes hat der EuGH nach dem Muster des franzoumlsischen
Conseil dlsquoEtat versucht die maximal bdquonuumltzliche Wirkungldquo zu
erreichen um diese selbstaumlndige Rechtsordnung ausgestalten zu
koumlnnen bdquoMoreover the fact that within the bdquoschematic effet
utilerdquo orientation of the ECJ the national law surroundings of
EC law are not considered may ultimately lead to the paradoxi-
cal result that the combined application of EC and national law
in a given specific case does not promote the effet utile of the
applicable European legislationrdquo ndash schreibt Schmid uumlber die an-
dere Seite dieser Problematik25 Der Zwang zur Rechtsentwick-
lung des EuGH folgt vor allem aus der Aufgabe der Rechtsaus-
legung und Rechtsanwendung die ihm von den Gruumlndungsver-
traumlgen als Verpflichtungen vorgeschrieben sind D h die
Schaffung des Richterrechtes ist in gewissen Faumlllen ausdruumlck-
lich notwendig Allerdings sollte es wichtige Grenzen geben die
die Grenzen der Verbands- bzw Organkompetenz des EuGH
markieren Ihre Uumlberschreitung bedeutet einen sog Ultra-Vires-
Akt Die richterliche Rechtsfortbildung darf keine sog bdquoKom-
petenz-Kompetenzrdquo-Befugnis bedeuten da die begrenzte Ein-
zelermaumlchtigung sich als ndash wiewohl nicht allgemeine aber ndash
wichtige Gebundenheit meldet D h der EuGH darf solche
Kompetenzen die in den Vertraumlgen nicht festgelegt sind weder
vorschreiben noch entziehen und muss die sog bdquoVerfassungsi-
dentitaumltldquo der Mitgliedstaaten respektieren26 Trotzdem wurden
zahlreiche solche richterlichen Entscheidungen seit den 1960zi-
gern getroffen bei denen die richtige Wahrung dieser Schranken
streitig geworden ist Die Entscheidungen (Franchovich- Bras-
serie du pecheur-Urteile)27 uumlber die Errichtung der sog europauml-
ischen Staatshaftung dienen als gute Beispiele Die Essenz die-
ser EU-Beschluumlsse besteht darin dass die einzelnen Mitglied-
staaten gegenuumlber ihren Staatsbuumlrgern mit der Ermoumlglichung
des Anspruchs auf Schadenersatz bezuumlglich der angemessenen
Uumlbernahme und Anwendung des Unionsrechtes verantwortlich
gemacht wurden Die Errichtung der Institution der Staatshaf-
tung ist wieder ein ernsthafter Schritt in die Richtung der In-
tegration gewesen und die zugleich auch Streit hervorgerufen
hat ob der EuGH uumlberhaupt uumlber angemessene Kompetenzen zu
einem solchen Schritt verfuumlgt Zu einer vollstaumlndigen Pruumlfung
der Kompetenzen des EuGH gehoumlrt die Aufdeckung zahlreicher
weiterer Teilbereiche (Subsidiaritaumlt effet utile usw) jedoch
muumlssen wir uns auf die folgenden Bemerkungen einschraumlnken
Die Schaffung eines solchen Richterrechtes das die der Staats-
haftung aumlhnlichen Rechtsfortbildung folgt kann nach Michel
25 Christoph U Schmid The ECJ as a Constitutional and a Private Law Court Bremen ZERP an der Univ Bremen Bremen 2006 S 24
26 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff und 320 ff und Streinz
EUVAEUV 3 Aufl CHBeck Muumlnchen 2018 S 210 Rn 14-16 und dazu auch Schmid aaO S 22-28
27 (Rechtssachen C-690 und C-990 1991 sowie C-4693 und C-4893
1996)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 22
nur in jenen Faumlllen akzeptiert werden wo sie solchen Zielen
dient die nicht im Gegensatz zu den in den Gruumlndungsvertraumlgen
offenbarten Willen der Mitgliedstaaten stehen Auszligerdem brin-
gen sie die Rechtsstaatlichkeit und die Wirksamkeit des Euro-
parechtes voran Michel sieht das Problem darin dass solche Ur-
teile nur ausnahmsweise vorkommen sollten dagegen ist der
EuGH einerseits ndash mit den Worten von Michel ndash der bdquoWegbre-
cher der Integrationrdquo andererseits bdquoder Notgesetzgeberrdquo der EU
Der EuGH hat nunmehr ein gewisse bdquoquasi Kompetenzldquo die
dadurch legitimiert wird dass die Mitgliedstaaten solche Ent-
scheidungen des EuGH einfach stillschweigend akzeptieren28
bdquoDennoch muss man aus rechtstaatlicher Sicht wie aus Rechts-
sicherheitsgruumlnden die Akzeptanzkompetenz als echte Organ-
kompetenz des EuGH ablehnenrdquo ndash schreibt Michel29
II Die rechtliche Grundlage die bdquoWahrung des
Rechts zu sichernldquo
Die Grundlage des Richterrechtes das im Rahmen der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH geschaffen wird wird von ei-
ner permissiven Interpretation der Wendung bdquosichert die Wah-
rung des Rechtsrdquo in der Fachliteratur gegeben30 und sie umfaumlngt
nach dieser Interpretation auch die richterliche Rechtsfortbil-
dung des Unionsrechtes Diese breite Interpretation wird damit
begruumlndet dass der Richter nicht nur im sog bdquocommon lawldquo
Rechtskreis sondern auch in der europaumlischen Rechtstradition
mehr als bloszlig bdquoder Mund des Gesetzesldquo war Auch das BVerfG
hat sich mit dieser Frage in seinem UStRiL-Urteil beschaumlftigt
und sich auf die Uumlberlieferungen des Gemeinen Rechts des Rouml-
mischen Rechts bzw des englischen common law berufen Es
hat das festgestellt dass die Gruumlndungsvertraumlge auch aus der
Perspektive der europaumlischen rechtsgeschichtlichen Traditionen
interpretiert werden sollen Ein weiteres Auslegungsargument
ist dass die EU vor allem eine bdquoRechtsgemeinschaftldquo ist und
als solche braucht es die aktive integrierende Taumltigkeit des
EuGH damit das die Harmonie des Gemeinschaftsrecht verbuumlr-
gen kann bdquo(hellip) Der EuGH (muss) in gewissen Grenzen zur Ver-
wirklichung des Rechts Normen schaffen duumlrfen um das Recht
zu sichern wenn diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht
zu erreichen ist ndash schreibt Walter31
E Der Versuch der demokratischen Legitimierung
der Taumltigkeit von EuGH
I Die Unabhaumlngigkeit und die juumlngsten Urteile des
EuGH
Die herausragende Bedeutung des EuGH innerhalb der EU
kommt aus seinem umfangreichen Wirkungsbereich sowie aus
sonstigen organisatorischen Umstaumlnden Solch ein bdquoorganisato-
rischer Umstandrdquo ist dass mehrere Mitglieder des Organismus
EU einander in den unterschiedlichen Verfahren ergaumlnzen und
28 Vgl dazu Michel aaO S 157 ff und 162 ff 29 Michel aaO S 170 30 Vgl dazu Michel aa O S 24 ff und Calliess-Ruffert-Blanke EUV-
AEUV das Verfassungsrecht der Europaumlischen Union mit Europaumli-
scher Grundrechtecharta Kommentar 5 Aufl CH Beck Muumlnchen
2016 S 311 ff Rn 12-18 und dazu auch Streinz aaO S 209 f
RN 12-16
kontrollieren ihre Arbeit sich in einer speziellen Wechselwir-
kung verwirklicht Daraus folgt dass die klassische These der
Gewaltenteilung sich in diesem Bezug nicht durchsetzt Der
EuGH verfuumlgt uumlber eine ziemlich groszlige Unabhaumlngigkeit Dazu
wesentliches Kompetenzpotenzial konzentriert sich in seiner
Hand Aus Hinsicht der Mitgliedstaaten ist die Position des
EuGH noch staumlrker Die Judikatur des EuGH schraumlnkt sowohl
die nationalen Parlamente sowie die Verfassungsgerichte als
auch die nationalen Gerichte stark ein Die nationalen (Verfas-
sungs-) Gerichte muumlssen auf das Unionsrecht sowie auf die Ur-
teile des EuGH Ruumlcksicht nehmen und daruumlber hinaus sogar an-
wenden wenn die gerichtliche Rechtsauslegung dem Unions-
recht entsprechen soll Aus diesem Grund verlagert sich das
Machtpotenzial von den Mitgliedstaaten hin zum EuGH Die de-
mokratische Legitimation dieses Machtpotentials wird sowohl
in der organisatorischen Struktur der EU als auch aus Richtung
der Mitgliedstaaten beansprucht
bdquoInsbesondere im Hinblick auf die enorme Bedeutung und Autoritaumlt
des EuGH und EuG im institutionellen Gefuumlge der EU scheint die Frage
nach deren demokratischer Legitimation unausweichlich und von
grundsaumltzlicher Bedeutung zu sein (hellip) Diese beiden Fundamentalprin-
zipien beeinflussen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander
verbunden und bauen ein Spannungsverhaumlltnis zueinander aufrdquo
ndash Kathrin F Baltes32
Die Kritiker des EuGH lassen nach Baltes ein sehr wichtiges
Postulat auszliger Acht die richterliche Unabhaumlngigkeit Die An-
forderung der Unabhaumlngigkeit zieht eine Grenzlinie fuumlr die Er-
weiterung der demokratischen Legitimation des EuGH Das Er-
fordernis der Unabhaumlngigkeit wurde auch in den juumlngsten Urtei-
len33 des EuGH bekraumlftigt Nach der Rechtsprechung des EuGH
ist die richterliche Unabhaumlngigkeit bdquovon grundlegender Bedeu-
tungldquo und ein wichtiger Eckpfeiler der modernen rechtsstaatli-
chen Demokratie und im Vergleich zu den zwei anderen Staats-
gewalten schreibt sie der Judikative spezielle Anforderungen
vor Der Richter der im gegebenen Fall Entscheidungen treffen
soll sollte vollstaumlndig unabhaumlngig von anderen Organisationen
und politischen und sonstigen Einfluumlssen sein Der Richter soll
auf die Gesetze Ruumlcksicht nehmen und darf bei der Ausuumlbung
seines Amtes von niemandem angewiesen werden und seine
Entscheidungen duumlrfen nicht von anderen (nicht gerichtlichen)
Organen uumlberpruumlft werden Der EuGH hat vor kurzem in seinem
Urteil ausgesprochen dass die unabhaumlngige Einrichtung des Ge-
richtes sowohl auf der Ebene der Union als auch auf der mit-
gliedstaatlichen Ebene unerlaumlsslich ist Sehr wichtig ist dass der
EuGH auch den ndash auf der Charta basierenden ndash Grundrecht-
schutz fest mit der richterlichen Unabhaumlngigkeit zusammenge-
bunden hat und zugleich als Bedingung einer bdquoreibungslosenldquo
justiziellen Kooperation bestimmt hat Zu der richterlichen Un-
abhaumlngigkeit gehoumlrt die bdquovoumlllige Autonomieldquo ndash hat der EuGH
31 Walter aaO S 145 32 Baltes Kathrin F Die demokratische Legitimation und die Unabhaumln-
gigkeit des EuGH und des EuG Peter Lang Frankfurt am Main 2011 S 3
33 (Rechtssachen C-6416 EUC2018117 und C-21618 PPU
EUC2018586)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 23
betont Ein entscheidendes Moment ist also die Unabhaumlngigkeit
gegenuumlber nationalstaatlichen Einfluumlssen
II bdquoZeitgemaumlszligeldquo Legitimationsmodelle
Man muss zur umsichtigen Festsetzung der Position des EuGH
die Legitimationsart der EU untersuchen Die Errichtung der mit
den Nationalstaaten analog einhergehenden demokratischen Le-
gitimation ist ndash ohne Zweifel ndash problematisch in Bezug auf die
EU Allerdings betont Baltes gebe es zwar kein einheitliches
bdquoeuropaumlisches Demosrdquo aber das bdquoVolkrdquo ndash im Einklang mit den
europaumlischen gesellschaftlichen Tendenzen - ist nicht monis-
tisch kollektiv sondern soll pluralistisch individuell interpre-
tiert werden34 Dies ist ein entscheidender Punkt weil die EU
auf einer sog dualistischen Legitimationsbasis beruht Der si-
multane Status der mitgliedstaatlichen und europaumlischen Staats-
buumlrgerschaft ermoumlglicht die demokratische Legitimation sowohl
auf EU-Ebene die von der Institution des Europaumlischen Parla-
ments praumlsentiert wird als auch auf der Ebene der Mitgliedstaa-
ten die ndash auszligerhalb des EP ndash vom Ministerrat und dem Europauml-
ischem Rat realisiert wird Waumlhrend nach einigen die mitglied-
staatliche Legitimationsbasis Vorrang hat hat nach anderen die
bdquoeuropaumlischerdquo Legitimationsbasis Der EuGH hat sich schon in
seinen fruumlheren Urteilen (zB 13879 Roquette Freacuteres vs Rat)
eher fuumlr die letztere Variante ausgesprochen mit der Begruumln-
dung dass das EP bdquo(altough limited) it reflects at Community
level the fundamental democratic principle that the people
should take part in the exercise of power through the intermedi-
ary of a representative assemblyldquo Baltes unterstreicht ihre
Gleichwertigkeit als die Entwicklung der EU von Baltes als ein
solcher bdquodynamischer Prozessrdquo bezeichnet wird bdquoder nicht auf
ein konkretes starres und ausnahmsloses Prinzip beschraumlnkt
werden kannrdquo35
Laut der Klassifikation von Baltes kann die demokratische
Relation zwischen der EU und den Staatsbuumlrgern grundsaumltzlich
durch zwei unterschiedlich logische Mechanismen ferner durch
die Kombination derselben geschaffen werden Der erste Me-
chanismus ist die sog bdquoLegitimationsruumlckkopplungrdquo die darauf
fokussiert ob die Machtausuumlbung auf den buumlrgerlichen Willen
bzw auf dessen Initiative zuruumlckgefuumlhrt werden kann Unter-
schiedliche Schemata wurden als Methoden der Ruumlckkopplung
bearbeitet zB die Schemata der bdquoLegitimationskettenrdquo oder
des bdquoKontrollmodellsrdquo Im Fokus der Legitimationsketten steht
das Volk als die staumlndige und kontinuierliche Quelle der Staats-
gewalt Zwar gibt es Abweichungen zwischen den einzelnen un-
terschiedlichen praktischen Formen (institutionelle formelle
persoumlnliche inhaltliche Legitimation usw) aber ndash nach der all-
gemeinen Form des Schemas ndash das Volk soll das Parlament
waumlhlen und dem im Wesentlichen alle anderen oumlffentlich-recht-
lichen Anstalten unterordnen Die Regierungsmacht ist durch
ihre parlamentarische Verantwortlichkeit und auch durch kon-
kretes Weisungsrecht sowie durch Rechtsvorschriften die vom
34 Baltes aaO S 65 35 AaO S 83
Parlament als Legislative konstituiert werden begrenzt Die Le-
gitimationskette beruht auf dieser Dependenz Es ist sichtbar
dass die Jurisdiktion schwerer in die Legitimationskette einge-
fuumlgt werden kann und sie ist daher auch schwerer auf den Volks-
willen zuruumlckzufuumlhren Die Spannung kann schlieszliglich nur in
der Ausgestaltung der strengen Gesetzesbindung von richterli-
chen Amtsbefugnissen in diesem Legitimationsverstaumlndnis auf-
geloumlst werden Diese Verkettung ist deshalb leicht angreifbar
und daruumlber hinaus entsteht ein weiteres Problem die Legitima-
tionskette auf der Ebene der EU kann ungeachtet der Dualitaumlt
der nationalen sowie Unionsstaatsbuumlrgerschaft nur bdquoschwer-
lichrdquo aufgezogen werden Aus dem Loumlsungsversuch dieses Di-
lemmas sind die weiteren Modelle die mehr oder weniger als
Ergaumlnzungen des Schemas der Legitimationskette dienen ent-
standen Die sog personale Legitimation ist daher wichtig in
diesem Themenbereich weil ihre Vertreter meinen dass die Le-
gitimationskette allein eben darum nicht maszliggeblich ist weil
der Bewegungsraum der Richter nie vollstaumlndig eingeschraumlnkt
werden darf zum Beispiel wegen der Notwendigkeit der Ent-
wicklung bzw Interpretation des Unionsrechts Daraus folgt die
Forderung dass die Auswahl der Richter bdquodemokratischrdquo so
zum Beispiel durch Parlamentsausschuumlsse stattfinden sollte
Man muss ndash nach einer anderen bdquoLegitimationsergaumlnzungrdquo ndash
mit fachlichen Vorschriften bzw Standards die Legitimations-
kette verstaumlrken (zB Amtshaftung die Publizitaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens bzw der gerichtlichen Beschluumlsse) Das Kon-
trollmodell basiert ebenfalls auf der derivativen Partizipation
sowie auf der Ruumlckkopplung des Volkswillens aber weicht in-
haltlich von der Auffassung des Legitimationsmodelles ab Der
Entwickler dieses Modelles Axel Tschentscher betont die fach-
lichen und auch persoumlnlichen Faktoren Der entscheidende
Punkt in diesem Modell ist die unabhaumlngige Position des Rich-
ters von anderen Institutionen abzusichern In Tschentschers
Auffassung ist die richterliche Rechtsschoumlpfung bzw die An-
wendung des Richterrechts in einer demokratischen Ordnung
daher nicht problematisch weil die Legislative ein bdquopraktischesrdquo
Revisionsrecht hat Falls das Parlament anders beschlieszligt kann
es eine von der richterlichen Entscheidung abweichende Rechts-
norm schaffen ndash legt Baltes das theoretische System von Tsch-
entscher dar36
F Fazit
Wie man das auch basierend auf dem oben dargestellten
wahrnehmen kann koumlnnenmuumlssen wir den Demokratieldquoindexldquo
der europaumlischen Organisationsstruktur nunmehr auf mehreren
Ebenen analysieren und ndash zu einem authentischen angemesse-
nen Ergebnis ndash die Problematik der WTO-Struktur und der sog
bdquoJuristokratieldquo bzw bdquoWeltkonstitutionalisierungldquo (siehe oben
bei Ehs) das Dilemma des Parlamentarismus (siehe oben bei
Veil) und auch der Mitgliedstaaten (siehe oben z B bei den
Ultra-Vires Handlungen) etc zusammen betrachten und pruumlfen
Es bedarf daher noch weiterer Pruumlfungsschritte Daraus ergibt
sich dass wir uns auf die folgenden Feststellungen beschraumlnken
muumlssen
36 AaO S 86 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 24
Ein wichtiger Punkt ist dass bedeutende Theoretiker das un-
verzichtbare Element der Demokratie im Parlamentarismus
wahrnehmen Das Fehlen eines tatsaumlchlich funktionierenden
Parlamentes kann auf der Ebene der EU festgestellt werden weil
wichtige gesellschaftliche und politische Bedingungen dazu
nicht oder nur mangelhaft vorhanden sind Es ist zu betonen
dass der Mangel an Parlamentarismus daher problematisch ist
weil die europapolitischen richtunggebenden Entscheidungen
nicht vom Volk bzw nicht von den europaumlischen Buumlrgern be-
stimmt werden koumlnnen Wie im zweiten Teil dargestellt wurde
hat der EuGH ndash nach zB Michel - seit den Sechzigern diese
quasi (bdquoersatz- oder not-bdquo) gesetz- und richtunggebende Rolle
des Parlamentes teilweise uumlbergenommen Baltes weist ndash siehe
den dritten Teil der Untersuchung ndash auf die besondere Bedeu-
tung der institutionellen Unabhaumlngigkeit des EuGHs hin aller-
dings unterscheiden sich seine Legitimationskonzepte grund-
saumltzlich von den bdquotraditionellenldquo nationalstaatlichen Demokra-
tievorstellungen d h von der auf der Volkssouveraumlnitaumlt basie-
renden parlamentarischen Demokratie Falls die Befugnisse des
EuGH weiterhin so weitreichend bleiben kann man schwierig
das institutionelle Gefuumlge der EU nicht als juristokratische
Machtstruktur definieren In diesem Bezug scheint Hans Kel-
senrsquos Stellungnahme uumlber die Notwendigkeit der Einheit der
staatlichen Gewalten aus der Hinsicht der Demokratie voraus-
schauend und bemerkenswert zu sein Das Erfordernis der rich-
terlichen Unabhaumlngigkeit und das sehr groszlige Kompetenzpoten-
zial ohne wirklich funktionierende parlamentarische Gegenkon-
trolle bedeuten zusammen auf der Ebene eines sich noch immer
entwickelnden Staatenverbundes eine bedeutsame Machtkon-
zentration in der Hand des EuGH Also was unsere Grundfrage
angeht d h ob die europaumlischen Buumlrger wirklich einen demo-
kratischen effektiven Einfluss auf die Entscheidungen der EU
ausuumlben koumlnnen kann man nicht eindeutig mit bdquojaldquo oder bdquonein
beantwortet werden Muumlnch und auch Baltes schreiben uumlber eine
bdquozeitgemaumlszligeldquo Demokratievorstellung die die Gesellschaft plu-
ralistisch und individualistisch betrachtet Die sog bdquoOutputldquo-
oder Ergebnislegitimationsmodelle koumlnnen sich zwar als sehr
wichtige Bestandteile eines demokratischen Gefuumlges des EuGH
bzw der EU erweisen allerdings ersetzen sie nicht die demo-
kratische Funktion des zur Zivilgesellschaft gehoumlrenden (siehe
oben bei Habermas) Parlamentes Daruumlber hinaus liegt auch ein
weiteres Problem mit der Ergebnislegitimation vor Wie schon
im ersten Kapitel dargestellt wurde bedeutet die sog Elitebil-
dung immer eine ernsthafte Gefahr fuumlr die Demokratie Sofern
die Einzelnen als bdquoVolkldquo ihren Willen durch das Parlament nicht
zu validieren vermoumlgen und so auch Schumpeterrsquos Wettbe-
werbsmodell uumlber die bdquoHerrschaft der Politikerldquo marginalisiert
wird wird das Risiko der Herausbildung von Elitegruppierun-
gen noch beachtlicher Eine Demokratie muss den Rahmen des
politischen Kampfes (bdquoWettbewerbesldquo) der Mehrheits- und
Minderheitsansichten immer gewaumlhrleisten ferner das eine
Minderheitsmeinung zu einer Mehrheitsmeinung werden kann
Daraus folgt dass man unbedingt pruumlfen muss wie die Effizienz
des Parlamentarismus auch auf der Ebene der EU aussieht wie
die europapolitischen Auseinandersetzungen fuumlr die mitglied-
staatlichen Buumlrger wirksamer verdeutlicht werden koumlnnen und ndash
vor allem ndash wie die Kompetenzverteilung zwischen dem EP und
dem EuGH noch effektiver zugunsten der Prinzipien des Parla-
mentarismus ausgestaltet werden kann
Die Autorin hat bereits das erste juristische Staatsexa-men abgelegt und befindet sich derzeit im Masterstu-dium an der Universitaumlt zu Koumlln (Staatsrecht mit Bezuuml-gen zum Europa- und Voumllkerrecht)
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 25
Conditional consent as a valid legal ground for data processing
- a misbelief
-
Sonja Buumlhler
A Introduction
An inflationary use of personal data due to internet-con-
nected devices such as smart-TVs smartwatches fitbits
or smartphones and online services such as Spotify or
Netflix is taking place forming a valuable economic asset1
To counter this development there is a need to effectively
protect personal data of users Consumers often find
themselves in situations where they have no choice but to
agree to the processing of personal data if they want to
use a certain device or service
This article examines whether a term of use clause mak-
ing use of a device or service conditional on consenting to
data collection through the device is compatible with Arti-
cle 7(4) GDPR (II)2 Therefore it recalls the principle of
consent as a legal ground for processing (II1) and con-
siders under which conditions conditional consent is
freely given (II2) Thereby the article takes into account
the question whether a real choice of the user is denied
due to an imbalance of power I will argue that the imbal-
ance of power arises due to the form of the contract which
gives no opportunity for renegotiation (II21) I argue that
positive incentives to give consent cannot be considered
inadmissible force (II22) whereas factual dependency
and a lack of alternatives prevent free consent (II23)
Further I argue that withdrawing consent will most likely
lead to detriment and thus consent is invalid (II24) This
article will also show that data processing often is not nec-
essary for the contract and thus consent is very likely to
be invalid (II25) I will conclude that in many situations
conditional consent is not freely given under Art 7(4)
(II3)
In a second step I will discuss other safeguards of the
GDPR applying in this scenario (III) Those are especially
the principles of data processing namely the principle of
1 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regulation
(GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 2 All articles cited in the following are articles of the GDPR if not indicated
otherwise 3 Art 6(1) GDPR 4 Art 6(1)(a) GDPR For general information about consent as a justifica-
tion see D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford and Portland Oregon (2007) p 61 ff
purpose limitation (III1) data minimisation (III2) and ac-
countability (III3) I will conclude that consumers are not
always sufficiently protected by those safeguards from a
situation where they might be ldquoselling their soul for Netflixrdquo
(III4)
Hence the article considers other regulatory constraints
such as strengthening the rights of the user through con-
sumer protection law that are necessary in order to protect
users (IV)
After all I will find most of the conditional consents are
probably invalid and thus do not constitute a legal ground
for processing Currently the situation of the data subjects
in practice is not enhanced by the invalidity but the legal
situation has to be improved (V)
B Consent - when can conditional consent be
considered freely given
I Principle of consent as a legal ground for
processing data
Following the rule and exception doctrine of the GDPR pro-
cessing data is always considered unlawful except if one of the
legal grounds of Art 6 applies3 The legal ground considered in
this article is consent Data processing is lawful when the data
subject gave consent to it4 Very often consent will be given by
accepting privacy policies5 It is questionable if and under
which circumstances processing of personal data can be based
on consent in the special situation when consent is a condition
for using a device or service such as smart TVs Fitbits or Net-
flix
To illustrate the findings of this article I will use the online
service Netflix as an example Nevertheless the general find-
ings made in this article can be applied to any other kind of in-
ternet-connected device or online service if its use is conditional
on giving consent6
5 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 They state
The controller can achieve this either by way of contractual means (by
stating in the contract that it will only be performed if consent for certain processing is provided) or through technical means (eg through an app
which does not install or function if consent is not provided) 6 The problem of conditional consent arises also in context with tracking
walls when consent has to be given in order to be able to get access to a
website See therefore F J Zuiderveen Borgesius S Kruikemeier S C
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 26
II Freely given conditional consent - nearly
impossible due to imbalance of power
Consent is any freely given specific informed and unambigu-
ous indication of the data subjectrsquos wishes by which he or she
by a statement or by a clear affirmative action signifies agree-
ment to the processing of personal data relating to him or her7
This definition confirms that giving consent is an expression of
self-determination8 Out of those requirements for valid consent
the words freely given are of special interest in cases where
consent is conditional for the performance of a contract or for
providing a service
In those constellations the user is in an especially vulnerable
position and extremely likely to give consent to the use of per-
sonal data Whether consent that is conditional for the perfor-
mance of a contract or providing the service is really given
freely has to be considered carefully with special relevance9
As Recital 43 lines out consent should not provide a valid legal
ground for the processing of personal data in a specific case
where there is a clear imbalance between the data subject and
the controller10 The purpose of Art 7(4) is to ensure that con-
sent to the processing of personal data which is necessary for
conducting the contract or service is not bundled with consent
to data processing which is not necessary for the contract11
Nevertheless it does not contain an absolute ban that condi-
tional consent can be given freely but it has to be considered
with the utmost scrutiny for each case depending on the con-
text and circumstances
So to come back to our case the question arises whether
there is an imbalance of power between the user and the control-
ler (eg Netflix) that could preclude free consent A clear imbal-
ance is assumed in relation with public authorities and employ-
ers12 In this case the imbalance of power due to subordination
is apparent The question is whether the same degree of imbal-
ance can be established between the producers of smart devices
or providers of online services and their users
1 Imbalance expressed by form contract
First of all it has to be considered that the terms of contract usu-
ally cannot be renegotiated as they are part of a form contract
The two contracting parties are not at eye level but the user is
Boerman N Helberger Tracking Walls Take-It- Or-Leave-It Choices the GDPR and the ePrivacy Regulation (2017) European Data Protec-
tion Law Review pp 353-368 7 GDPR Art 4(11) Relevant Recitals of the GDPR are Recital 32 and 33 8 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 169 9 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 218 10 Recital 43 GDPR 11 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 B Kostić E Vargas Penagos The freely given
consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computer-
recht p 218 12 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 7 Recital 43 S 1 GDPR 13 See for this opinion also M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data
Protection through Consumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Re-
view Vol 5 Issue 1
in a weaker bargaining position and does in fact not have the
possibility to introduce his own interests into the contract The
user only has the possibility to accept the terms or not to con-
clude the contract13 This so called structural power of the con-
troller limits the private autonomy of the user14 Thus it appears
that the form of the contract and the way by with the contract is
concluded (namely without any possibility to negotiate or adjust
it) already implies an imbalance of power15
2 Imbalance due to lack of real choice - Impact of
negative and positive forces
Secondly an imbalance exists when the user has no real choice
whether or not to give consent Only if such a real choice exists
the consent is valid
For having a genuine and free choice consent has to be given
without external force Force can be negative in the form of
threat making a consent invalid but there is also positive force
which is an act of force that intends to influence the individual
in a positive way such as an inducement16 Positive force does
not itself make consent invalid and can be considered a weaker
kind of force Those influences can eg be of financial emo-
tional or practical nature17 Consent is still freely given even
when a small degree of positive pressure is exercised on the in-
dividual18 This is rather a resistible offer than an actual
threat19 An example is a shopping discount in return to using a
bonus card collecting user information It can be hard to draw a
line between a simple incentive and a real influence on the free-
dom of choice of the data subject20
But in the case of smart devices or online services the pres-
sure exerted on users to consent is not negative force but rather
positive force as the consent establishes the possibility to gain
access to a service or use a special device It expands the free-
dom of action of each user by giving the opportunity to use the
device or service There is an incentive to give consent in order
to use the device which is making life easier but that could also
be resisted This positive force as such does in my opinion not
amount to a limitation of the freedom of will and does not estab-
lish an imbalance of power
3 Imbalance due to lack of choice - Impact of factual
14 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
3 15 The article comes back to this issue and gives an answer how this prob-
lem could be tackled through consumer law See below at V 16 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 172 On unforced choice see also D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford
and Portland Oregon (2007) pp 131 f 17 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14 18 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 173 19 R R Faden T L A Beauchamp A History and Theory of Informed Con-
sent (1986) p 340 20 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 27
dependency and lack of alternatives
But even without negative force consent can still be unfree if
there is a factual dependency on the device or service and a lack
of alternatives If the service or device it is indispensable it is
likely that there is a relationship of dependency between the
controller and the data subject and thus there is no balance of
power21 This is even more likely if a controller does have a
monopoly22
Users clearly always have the choice not to use the device or
service at all Many modern electronic devices such as smart
watches Fitbits or smart TVs can (still) be replaced by devices
not connected to the internet and thus not requiring personal data
(like traditional watches TVs DVDs) In the current status of
the society people are not completely relying on internet-con-
nected devices So if there is an alternative on the market that
does not require personal data a free choice might be given23
Maybe this changes within the next centuries but right now
there is no dependency on smart devices or online services com-
parable to the dependency to your employee or public authori-
ties So from this point of view the data subject has a free
choice whether or not to give consent
But the question is how realistic it is that this choice can be
made against the use of smart devices or services It has to be
seen that in our modern society users are largely depending on
the use of electronic devices and services (such as laptops
smartphones or tablets) for example for school university and
work but also for their social and private life Choosing not to
use certain devices or services means excluding oneself from
many advantages benefits and possibilities The everyday use
of data processing devices will even increase in the future24
However the Article 29 Working Party in contrast takes a
different starting point It asks for a data-processing-free
choice within one controller and not a choice between different
market players25 The performance or conduct of a contract must
not depend on consent to data processing even if the user could
have access to an equivalent and reasonable service somewhere
else at the market where the user does not need to give consent
to data processing26 This seems convincing as otherwise the
freedom of choice would depend on the existence of equivalent
services or devices by other market players which is outside the
area of influence of the controller27 The choice is not between
21 A Golland Das Kopplungsverbot in der Datenschutz-Grundverordnung
Anwendungsbereich oumlkonomische Auswirkungen auf Web 20-Dienste
und Loumlsungsvorschlag (2018) Multimedia und Recht p 132 22 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 43 23 See for this view the example 31 on External choice in B Kostić E
Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision
under the GDPR (2017) Computerrecht p 222 24 See for more information and examples C Storr P Storr New Technol-
ogy Big Data and the Law The internet of things Right to Data from a
European Perspective (2017) pp 65 - 96 25 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9 f 26 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 45 27 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9
use or not use the device or service but between use one and
the same device or service with or without data processing28
This more user-friendly approach would require each control-
ler to offer an alternative to the conditional use of data So if
two versions of a product or service are offered eg a more ex-
pensive version where you do not have to give consent to data
processing the data subject has a real choice whether he or she
wants to pay with their data or not29
This approach can be criticized as consent in those cases
would technically speaking not be conditional anymore as the
service or device can also be used without the consent30 Offer-
ing two options would make conditional consent obsolete But
in my opinion this criticism mistakes that each of the two pos-
sible choices (pay more without data processing or pay less with
data processing) has to be considered separately When the user
decides not to pay money for the use of a service but to give
consent to the use of its data the consent in this particular situ-
ation is conditional But the user has a free and genuine choice
to get the same service without giving consent to data pro-
cessing
I conclude that in many cases a real choice has to be doubted
There might in some cases be a factual dependency on the de-
vice or service But even if there is no factual dependency there
is often a lack of real choice if the controller does not an offer
data-processing-free alternative
4 No free will due to detriment when withdrawing the
consent
Furthermore consent is only valid if it can be refused or with-
drawn without detriment31 Vice versa it is unfree if the user is
penalised or suffers detriment when withdrawing consent Pos-
sible detriment can be deception intimidation coercion or sig-
nificant negative consequences32
For better clarity Art 29 Working Party gives an example
constituting detriment33 In this example a lifestyle phone app
wants to get information about the movements of its users using
the accelerometer of the phone This data is not necessary for
the app to work Once the consent to use the accelerometer is
withdrawn the app only works to a limited extend This amounts
to detriment under Recital 42 GDPR and thus consent was not
valid
28 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 with further references 29 This opinion is also shared by L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU Gen-
eral Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 30 See for this criticims L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General Data
Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 31 Recital 42 last sentence 32 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 10 already Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition of Consent p 12 regarding consent
under Art 2 h DPD Art 2 lit h DPD stated Consent can only be valid if
the data subject is able to exercise a real choice and there is no risk of de-ception intimidation coercion or significant negative consequences if
heshe does not consent 33 See Example 8 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p 11
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 28
So in the case of smart devices and services their restriction
in use after withdrawing consent amounts to detriment If a user
does not give consent to data processing by his or her internet-
connected TV the TV cannot be used in the first place This
means the owner cannot use his or her property thoroughly And
if the consent is withdrawn later the TV can most probably not
be used anymore It is thus very likely that in most cases of con-
ditional consent detriment (eg regarding the usage of their
property) will happen meaning that the consent is not freely
given
5 Is consent not freely given when data processing
(or consent) is not necessary for performing the
contract
Art 7(4) states that for considering whether consent has been
given freely ldquoutmost account shall be taken of whether (hellip) the
performance of a contract (hellip) is conditional on consent to the
processing of personal data that is not necessary for the perfor-
mance of the contract Additionally Recital 43 S 2 GDPR pre-
sumes that consent is not given freely when consent is not nec-
essary for the performance34 The burden of proof to disprove
this assumption lies with the controller35
Considering the wording of Art 7(4) it is somewhat unclear
whether the words ldquothat is not necessaryrdquo relate to ldquoconsentrdquo or
to ldquothe processing of personal datardquo Comparing the English and
the German versions of the GDPR it catches the readerrsquos eye
that the German version quite explicitly relates the necessity-
requirement to the processing of personal data that is not nec-
essary for the performance of the contract (the translation would
literally be whether ldquoit is conditional on consent to the pro-
cessing of various36 personal data that are not necessary for the
performance of the contractrdquo)37 This difference in the German
version is regarded as being a translation error by some authors
claiming that the validity of consent should be considered de-
pending on whether consent is necessary for the performance of
the contract38 This finding also seems to be supported by Re-
cital 43 S 2 Recital 43 S 2 assumes that consent is not freely
34 Recital 43 sentence 2 GDPR Consent is presumed not to be freely given
() if the performance of a contract including the provision of a service
is dependent on the consent despite such consent not being necessary for
such performance 35 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 219 f 36 various was added by the author to clarify that personal data is in the
form of plural in the German text 37 Art 7(4) DSGVO bdquoBei der Beurteilung ob die Einwilligung freiwillig
erteilt wurde muss dem Umstand in groumlszligtmoumlglichem Umfang Rechnung getragen werden ob unter anderem die Erfuumlllung eines Vertrags ein-
schlieszliglich der Erbringung einer Dienstleistung von der Einwilligung zu
einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhaumlngig ist die fuumlr die Erfuumlllung des Vertrags nicht erforderlich sindldquo
38 This opinion is taken in L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General
Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 39 This is also the leading opinion in literature see eg P Voigt A von dem
Bussche The EU General Data Protection Regulation (GDPR) A Practi-
cal Guide (2017) p 96 40 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 41 This conclusion is also in line with the interpretation of Art 29 Data Pro-
tection Working Party Guidelines on Consent under Regulation 2016679
p 9
given if the performance of a contract including the provision
of a service is dependent on the consent despite such consent
not being necessary for such performance
However to base an interpretation on an alleged translation
error is not convincing Following a teleological approach in-
stead it is more likely that it plays a role whether data pro-
cessing is necessary and not whether consent is necessary39 The
purpose of Art 7(4) is to ensure that personal data processing is
not disguised nor bundled with the provision of a contract of a
service for which these personal data are not necessary40 Vice
versa if data processing is indeed necessary to perform the con-
tract or service Art 6(1)(b) will already be a legal ground for
processing So Art 7(4) in fact only applies to data processing
that is not necessary for the contract or service41
It is thus decisive whether the data processing is necessary
for the performance of the contract42
The meaning of necessary in Art 7(4) could be the same as
in Art 6(1)(b)43 Thereby a strict interpretation should be ap-
plied excluding everything that is ldquonot genuinely necessary for
the performance of a contract but rather unilaterally imposed on
the data subject by the controllerrdquo44 There needs to be a direct
and objective link between the processing itself and the purposes
of the contractual performance expected from the data45 So in
order to assess what is necessary the scope of the substance
and fundamental objective of the contract has to be consid-
ered46 This does not mean that processing is necessary for the
contract just because it is mentioned in the contract47 But pro-
cessing is necessary if it is a targeted and proportionate way of
achieving the purpose of the contract and it is not necessary if
the controller can reasonably achieve the purpose by some
other less intrusive means48 An example for necessary data
processing eg is the processing of credit card details in order to
conduct payments49
But let us take a closer look to the example of Netflix50 Net-
flix uses a lot of information such as demographics location
42 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7 subparagraph 41
43 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 44 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 45 Art 29 Data Protection Working Party Opinion on recent developments
on the Internet of Things p 15 46 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 47 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 48 ICO Guide to the General Data Protection Regulation (GDPR) Lawful
basis for processing August 2018 p 5 49 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 50 The information used here is taken from Netflix Privacy Policy available
at httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policy last access on
141218
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 29
language movie queues made by users ratings but also inter-
actions of the users such as scrolls mouse-overs clicks or the
time spent on a given page51 All this data is used to optimize
the user experience and give custom-fit recommendations in or-
der to make the user spend more time on Netflix The recom-
mendation system Netflix has is one of its main business driv-
ers52 But data is also shared with processing partners for adver-
tisement purposes53 It can be argued that the recommendation
of movies is also part of the contract between the user and Net-
flix This would be the case if the user and Netflix agree that
the recommendation is part of the service offered by Netflix In-
deed many users might appreciate the recommendations If this
is the case then the right legal ground for data processing would
not be consent but contract54
Following Art 29 Working Party building a profile of the
users tastes (hellip) based on his clickstream on a website is not
covered by the contract on delivering a certain good or service55
The purpose of the service (Netflix) is to offer access to movies
and series in return for a monthly payment Netflix can also offer
videos without knowing the personal preferences viewing hab-
its or location of the user All additional data that is eg used for
advertisement purposes is not needed for the contractual obli-
gations Thus a lot of data that Netflix processes is not neces-
sary and thus consent is presumed to be not freely given and thus
invalid56
III Conclusion
It has been shown that conditional consent has to overcome
many obstacles in order to be valid It is very likely that condi-
tional consent under Art 7(4) is not valid due to an imbalance
of power due to the form of the contract and the lack of a real
choice This is not only the case when a user depends on the
devices or services A lack of choice also exists if within one
market player there is no data-processing-free option Addi-
tionally when the withdrawal of consent for data processing that
is not necessary for the contract leads to a restriction of the use
of the device or the service consent is not freely given
In the end there is the presumption that conditional consent
to processing that is not necessary for the contract is unfree The
processing consented to is most of the time not necessary for the
contract Then consent is invalid meaning the processing bears
a legal ground and thus is illegal
51 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p4 52 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p2 53 see Netflix Privacy Policies available at httpswwwwhats-on-net-
flixcomprivacy-policygdpr-information last access on 141218 54 Art 6(1)(b) GDPR 55 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 56 Recital 43 S2 GDPR 57 Art 5 GDPR 58 Art 5(1)(b) GDPR
C Other safeguards of the GDPR
Nevertheless if data is processed by the controller there are still
other safeguards protecting personal data namely the principles
for data processing57 Those are the principles of lawfulness
fairness and transparency purpose limitation data minimisa-
tion accuracy storage limitation integrity and confidentiality
and accountability Of special interest regarding conditional
consent are the principles of purpose limitation data minimisa-
tion and accountability
I The principle of purpose limitation
The principle of purpose limitation stipulates that data can only
be collected for specified explicit and legitimate purposes and
shall not be further processed in a manner that is incompatible
with those purposes58 The aim of this principle is that the us-
ers know what the data is used for Only than they can make an
informed decision whether to give consent to data processing59
There is a close connection to the necessity requirement of Art
7(4) because there the purpose of the contract has to be consid-
ered as well60
The purpose of data processing has to be specified whereby
the level of detail should be considered on a case-to-case basis
in order to tell the user why the data is processed and what is
intended to be done with it61
As a result of the purpose limitation principle many services
have published their purposes in their privacy policies It has to
be examined critically whether the outlines purposes are de-
tailed enough Controllers will tend do give as little detail as
possible Eg in the case of Netflix you will find some cryptic
purposes like to enhance costumer experience and to fulfil an
obligation under law or contract62 So in theory purpose limita-
tion seems to be a good safeguard which in practice might easily
fail
Further purpose limitation might not be enough of protec-
tion as it is limited itself If data shall be reused then the con-
troller shall take into account various factors eg the terms of
contract (Art 6(4)(b)) But shall is not giving the same level
of protection as if the controller must take those into ac-
count63
II The principle of Data minimisation and right to be
forgotten
The principle of data minimisation64 means that the amount of
collected personal data must be adequate relevant and limited
59 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 032013 on purpose limi-
tation p 46 at the end 60 Art 29 Working Party 2014 Opinion 062014 on the notion of legitimate
interests of the data controller under Art 7 of Directive 9546EC p 17 61 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 89 62 Netflix Privacy Policy How we use your personal data availabe at
httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policygdpr-processing last accessed 141218
63 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review p 5 64 Art 5(1)(c) GDPR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 30
to what is necessary in relation to the purpose for which they are
processed65 Personal data should be processed only if the pur-
pose of the processing could not reasonably be fulfilled by other
means66 What is adequate and relevant depends on the specific
purpose for processing so this principle is linked to the principle
of purpose limitation
Consent for processing that is not necessary for the perfor-
mance of the contract has to be scrutinized67 Whether pro-
cessing is necessary depends on whether it is adequate relevant
and limited to what is needed to achieve the determined purpose
Art 7(4) thus enforces the principle of data minimisation by its
necessity-requirement
Additionally data processing that cannot be consented to due
to Art 7(4) and thus has no legal ground The data subject
whose data have been processed without a valid legal ground as
a consequence of has the right to be forgotten68 which means
that the data has to be deleted
The principle of data minimisation thus is already inherent in
Art 7(4) As an infringement of this principle in context with
Art 7(4) will probably make the legal ground of consent invalid
controllers are well advised to be in compliance with this prin-
ciple
III Principle of accountability
The principle of accountability means that the controller is
responsible for compliance with data processing under the
GDPR69 It also includes a material obligation to demonstrate
compliance70 One expression of this obligation is that the bur-
den of proof whether free consent has been given lies with the
controller71
In the case of conditional consent consent is presumed not to
be freely given if it is not necessary for the performance of the
contract72 This means that the burden of proof in cases of con-
ditional consent is on the controller It has to proof that consent
was freely given and is thus valid The controller will only be
able to proof this that consent is valid if the consent is neces-
sary for the contract
IV Conclusion - are consumers sufficiently
protected from a situation where they might be
ldquoselling their soul for Netflixrdquo
This article has discussed the different scenarios in which con-
ditional consent is not valid due to Art 7(4) The data processing
65 Art 5 (1)(c) GDPR and also Recital 39 GDPR ICO Guide to the General
Data Protection Regulation (GDPR) Principle Data minimisation availa-ble at httpsicoorgukfor-organisationsguide-to-the-general-data-protec-
tion-regulation-gdprprinciplesdata-minimisation last access on
141218 66 Recital 39 GDPR 67 Art7(4) GDPR 68 Developed by ECJ ruling of 13 May 2014 Google Spain C-13112 Now
also in Art 17 Sec 1 lit a-f GDPR 69 Art 5(2) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010
on the principle of accountability p4 70 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010 on the principle of
accountability at Nr 41
principles shall give additional protection As Art 7(4) already
includes a lot of those principles indirectly I conclude that they
hardly add a higher level of protection
Even though the consent is invalid in many cases of condi-
tional consent and controllers thus have no legal ground for pro-
cessing this does not stop controllers from using consent as a
legal basis for a lot of data processing Due to the overwhelming
power of large companies acting as controllers users do not
have a choice and often feel like they have to give their consent
even though the consent is invalid Eg it has been shown that
from the perspective of the majority of people in Europe there
is no alternative than to provide personal information if you
want to obtain products or services73 Users will probably not
even be aware that their consent is invalid The asymmetry in
power of the user and the controllers hinders an uproar of the
users against this practice Also it is in the interest of the users
to have access to the service or use the device It does not serve
their interests that the law just declares the consent invalid with-
out any further actions following
D Lack of consumer protection - what other
regulatory safeguards should be considered
But how could this lack of consumer protection be tackled One
could argue that market forces themselves will develop a higher
level of protection of personal data meaning that users would
prefer services that use less data But this is a very unlikely sce-
nario as many different factors come into play when a user
chooses a certain device (such as prize availability personal
preferences)74 Also reality has shown that the market fails to
protect privacy So there is an urgent need for the legislator to
increase consumer protection
A possible regulatory constraint could be that controllers are
obliged to offer two versions of a service or device of which
one does not process unnecessary data but charging a fee75 But
a legal obligation to offer two versions would be an interfer-
ence with the principle of party autonomy and freedom of con-
tract of the controller and thus would has to be justified76
A different legal constraint could be to combine EU con-
sumer protection and data protection law forming a data con-
71 Art 7(4) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p9 72 Recital 43 GDPR 73 Special Eurobarometer 431 Data Protection June 2015 p 30 available
at eceuropaeucommfrontofficepublicopinionar-chivesebsebs_431_enpdf last access 141218
74 J Rauhofer Judith ldquoOne Step Forward Two Steps Back Critical observa-
tions on the proposed reform of the EU data protection frameworkldquo Jour-nal of Law and Economic Regulation (2013) Vol 6 No 1 2013 p 69
75 W Kerber Digital markets data and privacy competition law consumer
law and data protection (2016) Journal of Intellectual Property Law amp Practice p 862
76 Art 8 ECHR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 31
sumer law which could be beneficial especially as the con-
sumer market is more and more data driven77 Data protection
law deals with fair processing and protection of fundamental
rights and consumer protection law shall empower consumers
in situations where they have low bargaining power78 The lack
of power is the reasons why the users rights are not sufficient
to protect their privacy in practice A stronger interplay of data
protection and consumer law could strengthen the autonomy of
the users
As noted above it is not very helpful for the user if the data
processing is unlawful but no consequences follow This would
be different if the unlawfulness would result in concrete rights
for the user If a Smart-TV unlawfully processes data (eg be-
cause the consent is invalid) or cannot be used because the user
refuses to give consent an effective solution for the user would
be to have the right to return the TV79 Consumer law could in-
crease the options of users by offering remedies and strengthen
their market power80
Consumer law could further be used to assess the fairness of
terms and conditions on personal data and limit the possibility
of the controller to impose terms on the users81 This would be
possible as processing data is not considered the main subject
matter of the contract82 The conditions of the contract could be
assessed and conditional consent is probably likely to lead to
an unfair situation as the lack of real choice would be against
good faith83 As a consequence controllers cannot impose un-
fair terms on their users
E Conclusion and Prospect
I conclude that in the case of smart devices or online services
where consent is conditional to use them the consent is likely to
be invalid for various reasons It has been shown that the user
has no real choice due to an imbalance of power between him or
her and the controller This imbalance arises from the lack of the
possibility to renegotiate terms and conditions and from the lack
of data-processing-free alternatives Further consent is not free
as withdrawing will lead to detriment And consent is presumed
not to be valid in the many cases where data processing is not
necessary for the contract Other safeguards namely the data
processing principles of purpose limitation data minimisation
and accountability fail to add any additional protection as they
are already included in Art7(4) I also conclude that the effect
of invalidating the consent is of very little help for the data sub-
ject
77 This is eg suggested by N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1428 78 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-
tion law (2017) Common Market Law Review p 1436 79 See for this example N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-
sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1440 80 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
It is therefore essential having in mind the importance of data
protection as a fundamental right84 and the exploding amount of
data processed to consider other legal constraints for the future
The weak point of data protection and the GDPR in my view is
the lack of remedies that are really useful for the data subject
A combination with consumer law could help to protect the data
subjects rights more efficiently The article has exemplified two
points Consumer law could be used to apply its fairness test to
the contract involving data processing between the data subject
and the controller limiting the possibilities of the controller and
thus balancing the difference in power And it could be used to
create remedies such as a right to return a device that cannot be
used without illegal data processing
Overall Art 7(4) has the best intentions to protect data sub-
jects but further steps need to be taken to transfer those good
intentions into the reality of data subjects
Die Autorin hat im Fruumlhjahr 2018 die erste juristische Staatspruumlfung an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau abgelegt Derzeit absolviert sie ein LLM-Studium in Intellectual Property Law an der University of Edinburgh Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Seminares Data Protection and Information Privacy auf Grundlage einer dort gestellten Essay-Frage entstanden
7 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1449
81 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1451 Monopolkom-
mission Competition Policy The challenge of digital markets Special Re-
port No 56 at para 341 82 This is at least the case in the Digital Content Directive 83 Art 3(1) of the Unfair Contract Terms Directive 84 Art 7 Charter of Fundamental Rights
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 32
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo
-Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK-
-
Sarah Baukelmann
Abstract
Der Fall Gaumlfgen hat die deutsche sowie die europaumlische
Rechtsprechung vor eine Herausforderung gestellt Die
abweichenden Meinungen der einzelnen RichterInnen1 in
den zwei ergangenen Urteilen zeigt das Dilemma mit dem
sich die fuumlnfte Kammer und die Groszlige Kammer des
EGMR konfrontiert sahen In diesem Fall wurde der Taumlter
zum Opfer der polizeilichen Vernehmungsmethode Frag-
lich ist unter welchen Voraussetzungen ein Straftaumlter sich
selbst als Opfer der Justiz bezichtigen kann Und wie geht
der Gerichtshof mit diesem Fall um der methodologisch
normativ und moralisch an die Grenzen des Rechts und
der bisherigen Rechtsprechung stoumlszligt Vorweg sei gesagt
nicht einheitlich
Diese Arbeit hat zum Ziel den Umgang die Methodik und
das Ergebnis zu beleuchten
A Einleitung I Fakten
Gefasst wurde der 27-jaumlhrige Student der Rechtswissenschaften
Magnus Gaumlfgen am Nachmittag des 30 Septembers als er ei-
nen mit Loumlsegeld bezahlten gemieteten Mercedes abholen
wollte2 Die Polizeibeamten die unter der irrtuumlmlichen An-
nahme standen dass das Entfuumlhrungsopfer Jakob noch am Le-
ben sei befragten den mutmaszliglichen Taumlter bis 1Uhr nachts
Am Morgen des 01Oktobers 2002 bevor der leitendende
Hauptkommissar seinen Dienst antrat fuumlhrte der Kriminal-
hauptkommissar Ennigkeit das Verhoumlr Zu diesem Zeitpunkt
wurde der Elfjaumlhrige schon seit vier Tagen vermisst Er drohte
Gaumlfgen auf Anordnung des Vizepraumlsidenten der Frankfurter Po-
lizei Daschner mit der Zufuumlgung von massiven Schmerzen von
1 In dieser Arbeit wird wenn es sich um Maumlnner und Frauen handelt die ver-
kuumlrzte Form der Beidnennung verwendet um geschlechtersensibler und in-klusiver Sprache gerecht zu werden
2 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 82 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 3 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 96 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018)
einer speziell fuumlr diese Zwecke ausgebildeten Person wenn er
den Aufenthaltsort des Kindes nicht preisgebe3 Von Angst mo-
tiviert nannte der Beschuldigte nach etwa zehn Minuten die
Fundstelle der Leiche
Magnus Gaumlfgen wurde am 28072003 wegen Mordes in Tat-
einheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und
wegen falscher Verdaumlchtigung in Tateinheit mit Freiheitsberau-
bung in zwei Faumlllen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamt-
strafe verurteilt Zudem wurde die besondere Schwere der
Schuld festgestellt4
Die Polizeibeamten wurden wegen Noumltigung im Amt und
wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Noumltigung im
Amt fuumlr schuldig befunden und gegen beide Angeklagte eine
Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen Geldstrafen von
60 bzw 90 Tagessaumltzen zu je 60 Euro fuumlr Ennigkeit und 120
Euro fuumlr Daschner wurden hinsichtlich der Verurteilung ver-
haumlngt5
II Was und Warum
Die folgenden gerichtlichen Verfahren stellen in nur mehr als
einer Hinsicht bdquoGrenzfaumllleldquo sowohl fuumlr die deutsche als auch
die europaumlische Justiz dar die Exekutive uumlberschreitet ihre
rechtlichen Grenzen die Strafprozesspflege stoumlszligt an die Gren-
zen des Beweisverwertungsverbots und dessen Fernwirkung
der europaumlische Gerichtshof fuumlr Menschenrechte sieht sich mit
der Grenze des Grundrechtsschutzes insbesondere dem Verbot
der Folter und der Verfahrensgarantie des fairen Verfahrens
konfrontiert Kontrovers wird die Causa Gaumlfgen nicht nur in den
allgemeinen Medien diskutiert sondern ebenso im rechtswis-
senschaftlichen Diskurs6 Besonders deutlich wird dies anhand
der abweichenden Meinungen in den Urteilen des EGMR
III Wie
Die Disparitaumlt der Urteile sowie die -herrschenden und abwei-
chenden- Meinungen bezuumlglich der Rechtsfrage um den Entfall
4 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Tenor abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 5 LG FrankfurtM Urt v 20122004 ndash 527 KLs 7570 Js 20381403 (404) in
NJW 2005 S 692 (693) 6 Vgl aus dem umfangr Schrifttum zit nach Heinrich Goumltz Das Urteil gegen
Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes in NJW 2005
S 953 (953)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 33
der Opfereigenschaft und der Fairness des Verfahrens gilt es in
der Ausarbeitung dazustellen Zur Erreichung dessen ist es not-
wendig die Hintergruumlnde zu beleuchten und den Ablauf der
Verfahren auf deutscher Seite wiederzugeben
Daruumlber hinaus ist im anschlieszligenden Vergleich unter Her-
anziehung vergangener Rechtsprechung des EGMR der Ver-
fahrensgang nach Straszligburg zu beleuchten und zu erlaumlutern
Durch eine tripartitaumlre Darstellung (bisherige Rspr-EGMR I-
EGMR II) laumlsst sich das Urteil der Groszligen Kammer besser ta-
xieren und ein Gesamtergebnis zusammenfassen
B Hauptteil
I Deutscher Verfahrensgang 1 Urteil des LG Frankfurt
Anfaumlnglich erklaumlrte Gaumlfgen den Tod Jakobs nicht geplant zu
haben Nach eingehender Belehrung uumlber die Konsequenzen ei-
ner Aussage hat Gaumlfgen sich in der Hauptverhandlung aus freien
Stuumlcken erneut umfaumlnglich eingelassen und raumlumte letztlich je-
doch ein dass er bereits von Anfang an geplant hatte das Kind
zu toumlten und in dieser Absicht gehandelt habe Er umschrieb
sein Gestaumlndnis dann als den einzigen Weg seine schwere
Schuld zu akzeptieren und als die groumlszligtmoumlgliche Entschuldi-
gung fuumlr den Mord an dem Kind
Das Gericht stellte fest dass sich Gaumlfgen des Mordes schul-
dig gemacht hat und dabei mit direktem Vorsatz gehandelt hat
Ferner folgte die Feststellung von drei Mordmerkmalen Heim-
tuumlcke Habgier und Verdeckungsabsicht Der Taumlter wollte sich
die Maske seines luxurioumlsen Lebens aufrechterhalten Seine Op-
ferauswahl basierte auf der Vermoumlgenslage der Eltern sodass
eine hohe Loumlsegeldforderung realistisch blieb Hauptmotiv war
damit ein Gewinnstreben mit dem der Angeklagte ruumlcksichtslos
die Existenz eines Menschen opferte welches nur als abstoszligend
gewertet werden kann Auch ging es Gaumlfgen darum zu verde-
cken dass er sich des erpresserischen Menschenraubs strafbar
gemacht hat Daher toumltete er den einzigen Zeugen und Opfer die-
ser Straftat Das Fehlverhalten der Exekutive also der Polizei-
beamten koumlnne die rechtsprechende Gewalt nicht daran hin-
dern die Tatsachenfeststellungen nach Recht und Gesetz zu be-
werten und zu beurteilen
Die Kammer hat die Schwere der Schuld aufgrund einer zu-
sammenfassenden Wuumlrdigung von Tat und Taumlterpersoumlnlichkeit
unter Abwaumlgung der fuumlr und gegen den Angeklagten sprechen-
den Gesichtspunkte bejaht Als Gesamtstrafe ist eine lebens-
lange Freiheitsstrafe anzuerkennen
7 BGH Urt v 21052004 ndash 2 StR 3504 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrr2042-35-04php (Abrufdatum 09082018) 8 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (656) 9 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 10 Vgl BVerfG Beschl v 2742000 ndash 2 BvR 7594 in NJW 2000 S 3557
2 Verfahren Bundesgerichtshof
Gaumlfgen legte daraufhin Revision beim BGH in Karlsruhe ein
der diese jedoch mit der Begruumlndung dass die Nachpruumlfung kei-
nen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe7
als unbegruumlndet ablehnte
3 Verfahren Bundesverfassungsgericht
Es folgte eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen die Ent-
scheidungen des LG und des BGH wandte in der Gaumlfgen die
Verletzung von Art 1 I GG sowie Art 104 I 2 GG ruumlgte da die
Behandlung der Polizei in Anbetracht seiner damaligen psychi-
schen und physischen Verfassung sowie des planmaumlszligigen
durch die Polizeihierarchie abgesicherten und von dem ernsthaf-
ten Willen zur (spurenlosen) Umsetzung getragenen Vorgehens
Folter iS des Art 3 EMRK gewesen sei8
Das BVerfG entschied dass die Begruumlndung nicht den An-
forderungen des Vorbringens gem sectsect 23I 2 92 BVerfGG ent-
spreche da es zum einen an der Darlegung der Grundrechtsver-
letzung durch die angegriffenen Maszlignahmen mangele und dass
die geltend gemachten Folge verfassungsrechtlich zwingend
sei9 Inwiefern die Ablehnung eines Verfahrenshindernisses die
verfassungsrechtlich verbuumlrgten Rechte des Beschwerdefuumlhrers
verletze10 hielt das BVerfG nicht fuumlr ausreichend dargestellt da
sich der Beschwerdefuumlhrer ausschlieszliglich gegen seine Verurtei-
lung durch das LG und auf die Verwerfung seiner Revision
durch den BGH11 beschraumlnke Die Verwertbarkeit der Beweis-
mittel betreffend wurde von beiden Gerichten das Beweisver-
wertungsverbot hinsichtlich der Aussagen gem sect 136a StPO an-
erkannt bzw die Fernwirkung desselbigen bzgl der Beweismit-
tel abgelehnt Die Verfassungsbeschwerde wurde mangels Zu-
laumlssigkeit abgelehnt
4 Amtshaftungsklage
Mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg lehnte das LG
Frankfurt den Anspruch auf Schadensersatz gegen das Land
Hessen ab Das OLG Frankfurt hat mit einem Beschluss v
2822007 die Ablehnung der Prozesskostenhilfe bestaumltigt12
II Europaumlische Rechtsprechung
Gaumlfgen als Beschwerdefuumlhrer hat sich an den EGMR gem Art
34 S 1 EMRK13 gewandt und behauptet dass er bei seiner poli-
zeilichen Vernehmung unter Verstoszlig gegen Art 3 gefoltert wor-
den sei Auszligerdem sei er in seinem durch Art 6 I garantierten
Recht auf ein faires Verfahren das ein Recht sich nicht selbst
zu bezichtigen einschlieszlige verletzt worden14 Sein Recht auf
Verteidigung sei ihm durch die Verwertung der Beweismittel
und des Gestaumlndnisses entzogen worden
11 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 12 OLG FrankfurtM Beschl v 2822007 ndash 1 W 4706 in NJW 2007 S 2494 13 Folgende Artikel ohne Kennzeichnung sind solche der EMRK 14 EGMR (V Sektion) Entschv 10042007 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland)
in NJW 2007 S 2461 (2462)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 34
1 Zulaumlssigkeit
Die Beschwerde ergibt fuumlr den Gerichtshof mit Hinblick auf
seine bisher erarbeiteten Rechtsprechungskriterien dass diese
Ruumlge nicht offensichtlich unbegruumlndet iS von Art 35 III ist
2 Verletzung von Art 3
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Schutz von Art 3 ist einer der wichtigsten und grundle-
gendsten Werte unserer demokratischen Gesellschaft15 Art 3
ist nicht einschraumlnkbar und gehoumlrt zu den Bestimmungen von
denen auch im Notstandsfall nicht abgewichen werden darf16
Auch wenn immer mal wieder die Frage der Abwaumlgung zwi-
schen den Risiken fuumlr die betroffene Person und der nationalen
Sicherheit auftauchte lehnte der Gerichtshof eine implizite Be-
grenzung strikt ab17 Selbst in den schwierigsten Umstaumlnden
wie im Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen
verbietet die Konvention Folter und unmenschliche oder ernied-
rigende Behandlung oder Bestrafung absolut ohne jede Aus-
nahme18 Daher hat es fuumlr Art 3 keine Bedeutung welche Straf-
tat dem Betroffenen vorgeworfen wird19
Um von Art 3 erfasst zu werden muss eine Misshandlung ein
Mindestmaszlig an Schwere erreichen Die Beurteilung dieses Min-
destmaszliges ist der Natur der Dinge nach relativ es ist abhaumlngig
von saumlmtlichen Umstaumlnden des Einzelfalls20 Der Zweck sowie
die Absicht und die Beweggruumlnde bilden Faktoren fuumlr die Ein-
ordnung der Behandlung21 So zum Beispiel die Erlangung eines
Gestaumlndnisses22 und der Kontext der fraglichen Behandlung23
Der Gerichtshof hat eine Behandlung als erniedrigend erach-
tet wenn sie dazu angetan ist bei den Opfern Gefuumlhle der Angst
Beklemmung und Unterlegenheit hervorzurufen die geeignet
sind sie zu demuumltigen zu entwuumlrdigen und moumlglicherweise ih-
ren koumlrperlichen oder geistigen Widerstand zu brechen24 Bei
der Beurteilung ob eine Bestrafung oder eine Behandlung er-
niedrigend iS des Art 3 ist wird das Gericht auch pruumlfen ob es
dem Zweck dient die betreffende Person zu erniedrigen und zu
benachteiligen und ob sie in Bezug auf die Folgen ihre Persoumln-
lichkeit in einer Weise beeintraumlchtigt die mit Art 3 unvereinbar
ist mit einer Behandlung die Gefuumlhle von Angst Angst und
Minderwertigkeit hervorruft die geeignet sind das Opfer zu er-
niedrigen oder zu entwerten und moumlglicherweise seinen physi-
schen oder moralischen Widerstand zu brechen oder das Opfer
15 EGMR Urtv 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 119 abrufbar unter
httphudocechrcoeintengi=001-58559 (Abrufdatum 2882018) 16 EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ 1997 S
1078 17 Vgl EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ
1997 S 1078 18 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 wwwhu-
docechrcoeintengitemid[001-58559] (Abrufdatum 15082018) 19 EGMR Urtv 2822008 - 3720106 (SaadiItalien) Rn 139-140 in NVwZ
2008 S 1330 20 EGMR Urt v 1811978 Rn 162 in EuGRZ 1979 Seite 149 21 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 88 (Abrufdatum 21082018)
22 EGMR Urtv 8121996 - 2198793(AksoyTuumlrkei) Rd 64 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-58003 (Abrufdatum 28082018) 23 EGMR Urtv 20122000 - 3087396 (EgmezZypern) Rd 78 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59100 (Abrufdatum 28082018)
zu veranlassen gegen seinen Willen oder Gewissen zu han-
deln25 Art 1 UN-Antifolterkonvention postuliert dass bdquowenn
eine Behandlung erfolgt um () ein Gestaumlndnis zu erlangen oder
um zu bestrafen einzuschuumlchtern oder zu noumltigenldquo es sich um
Folter handelt Die bloszlige Bedrohung mit einem durch Art 3 ver-
botenen Verhalten kann mit dieser Bestimmung in Konflikt ge-
raten Die Bedrohung eines Menschen mit Folter koumlnnte demge-
maumlszlig unter bestimmten Umstaumlnden zumindest eine bdquounmensch-
liche Behandlungldquo darstellen26 Hat jedoch ein innerstaatliches
Verfahren stattgefunden so ist es nicht Aufgabe des Gerichts-
hofs anstelle der innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt zu
wuumlrdigen und es obliegt in der Regel diesen Gerichten die
ihnen vorliegenden Beweise zu wuumlrdigen27
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die angedrohte Bedrohung
wenn sie erfolgt waumlre als Folter anzusehen waumlre und ist vor die-
sem Hintergrund der Auffassung dass der Bf waumlhrend der Be-
fragung am 1102002 einer nach der Konvention verbotenen
unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war28
c) EGMR II
Unter Beruumlcksichtigung der fuumlr die Beurteilung wesentlichen
Gesichtspunkte haben die gegen den Bf ausgesprochenen realen
und direkten Drohungen das Mindestmaszlig an Schwere erreicht
um das umstrittene Verhalten der Polizeibeamten in den Anwen-
dungsbereich von Art 3 zu bringen Das durch die Androhung
ausgeloumlste psychische Leiden dem der Bf ausgesetzt war ist
schwerwiegend genug um als eine nach Art 3 verbotene und
unmenschliche Behandlung gewertet zu werden aber nicht das
Niveau der Grausamkeit erreicht um sie als Folter zu bezeich-
nen29
d) Fazit
Die Verletzung von Art 3 wurde bereits von den innerstaatli-
chen Gerichten und der Kammer anerkannt Die Anwendbarkeit
von Art 3 insgesamt mithin das Vorliegen einer Behandlung
die dessen Tatbestand erfuumlllt begruumlndet die Groszlige Kammer aus-
fuumlhrlich und eng an den Kriterien der bisherigen Rspr ange-
lehnt30 Die Groszlige Kammer weicht mit dieser Einschaumltzung
nicht von ihrem vorherigen Rechtskurs ab31
24 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 abrufbar unter wwwhudocechrcoeintengitemid[001-58559 (Abrufdatum
15082018) 25 EGMR 342001 - 2722995 (KeenanUK) Rd 110 abrufbar unter wwwhu-
docechrcoeintengi=001-59365 (Abrufdatum 28082018) 26 EGMR Urtv 2521982 - 751176 (Campbell CosansUK) Rd 23 abrufbar
unter httphudocechrcoeintengi=001-57455 (Abrufdatum 28082018)
27 EGMR Urtv 2291993 - 1547389 (KlaasDeutschland) Rd 29 Serie A Bd
269 28 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 69 ff 29 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3146) 30 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 31 Fuumlr Beispiele als Einordnung von Folter siehe Christoph Grabenwarter Ka-
tharina Pabel Europaumlische Menschenrechtskonvention ein Studienbuch
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 35
3 Opfereigenschaft
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Gerichtshof verlangt fuumlr den Fortfall der Opfereigenschaft
1 dass der beklagte Staat den Eingriff aufhebt und anerkennt
dass eine Konventionsverletzung vorgelegen hat und 2 dass er
die Konventionsverletzung angemessen wiedergutmacht32 Eine
angemessene Wiedergutmachung der Konventionsverletzung
kann durch unterschiedliche Rechtsbehelfe bewirkt werden33
Im Zuge dessen hat der Gerichtshof festgestellt dass es nicht um
die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten
sondern um die voumllkerrechtliche Verantwortung des Staates
ginge34 Die Zustaumlndigkeit des Gerichtshofs beschraumlnkt sich auf
Letztere In sbquovergleichbarenlsquo Faumlllen wurde beanstandet dass
keinerlei disziplinarischen Maszlignahmen gegen die Staatsbe-
dienstete eingeleitet wurden35 sowie das Unterlassen einer Sus-
pendierung oder die Entlassung bei Verurteilung36
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die deutschen Gerichte die Kon-
ventionsverletzung ausdruumlcklich und der Sache nach anerkannt
haben37Zur Wiedergutmachung ist der Schuldspruch vom
20122004 gegen die Polizeibeamten zu nennen Unter Beruumlck-
sichtigung aller Umstaumlnde stellte der Gerichtshof fest dass der
Verstoszlig gegen Art 3 in der Androhung einer Misshandlung be-
steht (im Unterschied zu einer tatsaumlchlichen koumlrperlichen Miss-
handlung die die Schwelle fuumlr die Anwendbarkeit von Art 3
erreicht) Eine Wiedergutmachung fuumlr die Verletzung wurde
durch die wirksame Strafverfolgung und Verurteilung der ver-
antwortlichen Polizeibeamten mit der unzweifelhaft der Un-
rechtsgehalt der Misshandlung festgestellt wurde38 anerkannt
Diese Uumlberlegungen fuumlhren dazu dass der Bf nicht mehr be-
haupten kann Opfer einer Verletzung von Art 3 zu sein da die
innerstaatlichen Gerichte hinreichend Wiedergutmachung fuumlr
die gegen Art 3 verstoszligene Behandlung geleistet haben
c) EGMR II
Die Verletzung von Art 3 wurde durch die innerstaatlichen Ge-
richte ausdruumlcklich anerkannt Jedoch sei die Verurteilung zu
Geldstrafen iHv 60 bzw 120 Euro zu je 60 bzw 90 Tagessaumlt-
zen die auch noch zur Bewaumlhrung auszusetzen sind keine an-
gemessene Reaktion auf einen Verstoszlig gegen Art 3 Eine solche
bdquooffensichtlich unverhaumlltnismaumlszligigeldquo Strafe fuumlr die Verletzung
eines der wesentlichen Grundrechte der Konvention hat nicht
die abschreckende Wirkung die notwendig ist um neuen Ver-
stoumlszligen gegen das Verbot von Misshandlungen in kuumlnftig moumlgli-
6Aufl 2016 sect20 Rn 42 Maureen Spencer und John Spencer Human
Rights in a Nutshell 3 Aufl S89 32 Meyer-LadewigKulick Europaumlische Menschenrechtskonvention Handkom-
mentar 4 Auflage Art 34 Rd 31 33 EGMR Urt v 2932006 ndash 3681397 (ScordinoItalien) Rd 186 in NJW
2007 S1259 34 EGMR Urt v 1042001 - 2612995 (TanliTuumlrkei) Rd 111 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59372 (Abrufdatum 2882018) 35 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 63 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 36 EGMR Urtv 2112004 - 3244696 (AbduumllsametTuumlrkei) Rd 55 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-67228 (Abrufdatum 2882018)
chen schwierigen Situationen vorzubeugen39 Die von den deut-
schen Gerichten ergriffenen Maszlignahmen entsprechen keiner
Widergutmachung die jemand bekommen sollte wenn Art 3
verletzt worden ist Mangels ausreichender Wiedergutmachung
ist der Bf nach wie vor Opfer der Verletzung von Art 3
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die bulgarische Richterin Kalaydjieva konnte sich den Ausfuumlh-
rungen der Mehrheit (mit sechs zu einer Stimme) des Entschlus-
ses der Kammer nicht anschlieszligen Sie begruumlndet ihre Auffas-
sung damit dass die Verletzung von Art 3 bereits festgestellt
worden ist und dass die Opfereigenschaft nicht durch Entschauml-
digung wegfalle Vielmehr wuumlrde dies den Weg ebnen fuumlr die
Legitimierung von Zwang als Methode zur Beschaffung von Be-
weismitteln in Strafverfahren in denen bei wichtigen Faumlllen
die Devise Zahlen und Foltern gelte Danach koumlnnten Ver-
stoumlszlige gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung im Namen der Gerechtigkeit begruumln-
det und beguumlnstigt werden40
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen stimmen mit der Mehrheit der GK uumlberein
weichen jedoch bei der Begruumlndung der Opfereigenschaft ab
Die innerstaatlichen Behoumlrden die uumlber die Erschoumlpfung aller
innerstaatlichen Rechtsbehelfe entscheiden haben die Verlet-
zung von Art 3 anerkannt Die GK hat bereits festgestellt dass
eine Widergutmachung nicht stattgefunden hat da die Wirkung
der Strafen keine ausreichende abschreckende Wirkung hatte
Fraglich ist allerdings ob die Waffe der Bestrafung als Abschre-
ckungswirkung der einzige Weg der Wiedergutmachung gewe-
sen waumlre Nach Auffassungen der drei RichterInnen unter Be-
ruumlcksichtigung der Gesamtumstaumlnde des Falls waumlre fuumlr die
festgestellte und anerkannte Verletzung von Art 3 ein Verwer-
tungsverbot fuumlr die konventionswidrig erlangten Beweise eine
angemessene und hinreichende Widergutmachung gewesen41
cc) Richter Casadevall ua
Die abweichende Meinung von Richter Casadevall der sich die
Richter Kovler Mijović Jaeger Jočiene und Loacutepez Guerra an-
geschlossen haben negiert die Opfereigenschaft des Bf sowie
die Feststellung der Verletzung von Art 3 Der andorranische
Richter schlieszligt sich der Rspr der Kammer an dass die Andro-
hung von Gewalt eine unmenschliche Behandlung darstellt
Dies wurde jedoch bereits von den deutschen Gerichten foumlrm-
lich anerkannt Die Begruumlndung des Gerichtshofs die Opferei-
Vgl Conclusions and Recommendations of the United Nations Committee
against Torture Turkey 27 May 2003 CATCCR305 37 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 77 38 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 80 39 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3147) 40 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 118-119 (Abrufdatum
16082018) 41 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 7 der abw Meinung (Ab-
rufdatum 17082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 36
genschaft nicht abzuerkennen war die milde Bestrafung der Po-
lizeibeamten obwohl es nicht seine Aufgabe ist uumlber die
Schwere der Schuld des Einzelnen zu entscheiden denn es han-
delt sich hierbei um Angelegenheiten die in die ausschlieszligliche
Zustaumlndigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte fallen42 Die
Opfereigenschaft des Bf ist nicht abhaumlngig von der Houmlhe der ge-
gen die Polizeibeamten verhaumlngten Strafen Ebenso ist die Frage
der Houmlhe der Strafen willkuumlrlich denn wird die Houmlhe der Strafe
zum Maszligstab gemacht so kann man sich fragen welches Straf-
maszlig fuumlr die Mehrheit wohl genuumlgt haumltte um die Feststellung
treffen zu koumlnnen dass die Opfereigenschaft des Bf entfalle Der
Richter erhebt Zweifel an dem Erfordernis einer Entschaumldigung
und an der Amtshaftungsklage die nicht einmal eine Entschaumldi-
gung zum Ziel hat sondern ein neues Verfahren und die erst drei
Jahre nach Eintritt des Schadens versucht wurde geltend zu ma-
chen Zweifelhaft ist auch der Tenor des Urteils denn letztlich
bestaumltigt der Gerichtshof das was die innerstaatlichen Behoumlrden
bereits anerkannt haben die Verletzung von Art 3
e) Fazit
Die GK verweist auf die Verfolgung der fuumlr die unmenschliche
Behandlung Verantwortlichen Beamten Die in der Rechtspre-
chung -uumlberwiegend in Urteilen uumlber Beschwerden gegen die
Tuumlrkei und Russland-43 verfestigten Kriterien fuumlr eine gruumlndli-
che und effektive Untersuchung bringt der EGMR auch hier zur
Anwendung Raschheit Verfahrensdauer Ergebnisse der Un-
tersuchung und anschlieszligender Strafverfahren einschlieszliglich
disziplinaumlrer Maszlignahmen44 Dies erscheint auf dem ersten Blick
auch angemessen da mit der Verletzung von Art 3 eine Verlet-
zung des garantierten Rechtsschutzes vorliegt Jedoch weisen
die Urteile vorheriger Faumllle Unterschiede in der Schwere der
Misshandlung auf die bis hin zu Folter und zu einer Verletzung
von Art 2 durch Staatsbedienstete gehen Im vorliegenden Gaumlf-
gen Fall handelt es sich um eine 10-minuumltige unmenschliche Be-
handlung Die Faumllle NiklovaBulgarien TanliTuumlrkei und Ab-
duumllsametTuumlrkei bei denen die Opfer in Polizeigewahrsam auf-
grund von Folter gestorben sind gleichzusetzen mit der Andro-
hung von Gewalt uumlberzeugt nicht Die Grundsaumltze sind in der
bisherigen Rspr entwickelt worden in Faumlllen in denen gegen
die verantwortlichen Polizeibeamten keinerlei disziplinarische
Sanktionen eingeleitet worden sind Die vermeintliche Kritik
dass Daschner und Ennigkeit nicht suspendiert wurden schlaumlgt
ebenfalls fehl da beide bereits waumlhrend der Untersuchungen
und des Strafverfahrens von Positionen entfernt wurden in de-
nen sie in direkter Verbindung mit der Untersuchung von Straf-
taten standen45 Wenn die Beurteilung des Mindestmaszliges fuumlr die
42 Vgl EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 123 (Abrufdatum 17082018)
43 Vgl EGMR Urtv 3092004 ndash 5022299 (Krastanov) Rd 48 EGMR
Urtv1772008 ndash 284330202 (Camdereli) Rd 28 44Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 45 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 46 EGMR Urt v 1811978 - 531071 (IrlandUK) Rn 162 in EuGRZ 1979
S149 47 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129)
Schwere einer Behandlung also relativ ist abhaumlngig von saumlmtli-
chen Umstaumlnden des Einzelfalls wie die Dauer der Behandlung
ihre physischen und psychischen Folgen46so scheint die Frage
die Richter Casadevall aufgeworfen hat wann die Schwere der
Bestrafung ausreichend gewesen waumlre fuumlr einen Entfall der Op-
fereigenschaft unbeantwortet zu bleiben Trotz Erfuumlllung aller
formalistischen Voraussetzungen entscheidet die GK uumlber die
general-praumlventive Eignung der Strafe einen Anspruch des Fol-
teropfers auf eine bestimmte Mindestbestrafung die die Verlet-
zung beseitigt47Dem Gerichtshof obliegt es nicht uumlber inner-
staatliches Recht zu fuumlr die verurteilten Polizeibeamten zu urtei-
len Die Schutzrichtung des Art 3 zielt nach erfolgtem Fehlver-
halten darauf ab das Entstehen einer Gleichguumlltigkeit zu verhin-
dern nicht aber auch entscheiden48 so seine eigene Rspr im Jahr
2007
4 Verletzung Art 6
a) Bisherige Rechtsprechung
Das Recht zu Schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen ist
nicht ausdruumlcklich in Art 6 erwaumlhnt ergibt sich aber aus dem
Grundsatz eines fairen Verfahrens und entspricht allgemein an-
erkannten internationalen Standards49 Wird eine strafrechtliche
Verurteilung ausschlieszliglich auf ein durch Verletzung von Art 3
gewonnenes Beweismittel gestuumltzt kann darin eine Verletzung
von Art 6 liegen50 Wenn es sich um Beweise handelt die nur
indirekt durch den Art3 verletzende Methoden erlangt wurden
ist es in der Regel zwar erforderlich dass diese Beweise in ei-
nem Strafverfahren nicht verwendet werden51 Eine Frage nach
Art6 I kann aufgeworfen werden wenn es sich um Beweise
handelt die unter Verletzung von Art3 erlangt worden sind
selbst wenn die Zulaumlssigkeit solcher Beweise bei der Verurtei-
lung des Beschuldigten nicht ausschlaggebend gewesen ist52
Wird das Recht zu schweigen durch eine Maszlignahme verletzt
die gegen Art3 verstoumlszligt so sind in der Folge dann wenn ein
Fall der Folter vorliegt auch koumlrperliche Beweismittel die auf-
grund der Folterung erlangt werden koumlnnen unverwertbar ohne
dass es auf eine Abwaumlgung ankaumlme53 Die Verwertung rechts-
widrig erlangter Beweise kann zu einer Verletzung des Art 6 I
1 fuumlhren eine solche wird aber selbst bei Verletzung anderer
Konventionsrechte nur nach Umstaumlnden des Falles nicht aber
per seacute anerkannt soweit die Beweise unter Beachtung der Natur
der Verletzung in der adversatorischen Hauptverhandlung unbe-
hindert angefochten werden koumlnnen54
48 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 163 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 49 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 129 50 EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006 S
3117 (3123) 51 Grabenwarter und Pabel Fn 80 sect24 Rn 71 52 EGMR Entschv912003 - 5491900 (Iccediloumlk Tuumlrkei) Rd 3 abrufbar unter
www httphudocechrcoeintengi=001-22982 (Abrufdatum 28082018)
53 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 133 54 Karsten Gaede Fairness als Teilhabe ndash Das Recht auf konkrete und wirksame
Teilhabe durch Verteidigung gemaumlszlig Art 6 EMRK S322
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 37
b) EGMR I
Die wesentliche Grundlage fuumlr das Urteil des LG ist allein das
neue und umfassende Gestaumlndnis das er nach qualifizierter Be-
lehrung in der Hauptverhandlung als erwiesen ansah waumlhrend
alle anderen Beweismittel einschlieszliglich der beanstandeten
sachlichen Beweismittel eine Nebenrolle spielten und nur ver-
wertet wurden um den Wahrheitsgehalt dieses Gestaumlndnisses zu
uumlberpruumlfen55
Folglich kommt das Gericht zu dem Ergebnis dass keine der
beanstandeten Beweismittel bei der Uumlberpruumlfung der Schuld
eine Rolle spielten und dass die Verteidigungsrechte des Bf in-
folge ihrer Zulassung nicht beeintraumlchtigt wurden Im Ergebnis
liegt durch die Verwertung kein Verstoszlig gegen das Gebot des
fairen Verfahrens gem Art 6 I und III vor
c) EGMR II
Der Bf behauptet dass die Verwertung der Beweismittel in dem
gegen ihn gefuumlhrten Strafverfahren eine erhebliche Rolle bei sei-
ner Verurteilung gespielt haumltte
Problematisch ist der Anwendungsbereich der Ausschlussre-
gel von Beweismitteln die durch eine Verletzung von Art 3 ge-
wonnen wurden Bisher besteht keine gaumlngige Rspr weder bei
den Konventionsstaaten noch den Gerichten anderer Staaten o-
der Institutionen die uumlber die Wahrung von Menschenrechten
zu wachen haben
Ein Ausschluss so erlangter Beweismittel wuumlrde die Strafver-
folgung erheblich in ihrer Wirksamkeit beeintraumlchtigen Auf der
anderen Seite stehen die Opfer oder Familienangehoumlrigen der
Opfer die Interesse an der Aufklaumlrung der Straftat haben wie es
im vorliegenden Fall auch der Fall ist Ein von Wesentlichkeit
gepraumlgtes oumlffentliches Interesse an der Integritaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens das die Werte unserer zivilisierten Gesell-
schaft schuumltzt ist vorhanden damit die erarbeiteten Grundsaumltze
nicht an Bodenhaftung verlieren Eine Zulassung der illegal er-
worbenen Beweismittel koumlnnten eine Veranlassung sein das ab-
solute Verbot des Art 3 zu umgehen oder bei wirksamem
Schutz des Einzelnen gegen solche Methoden ein Verbot der
Zulassung
Im vorliegenden Fall ist zu beachten dass die rechtswidrige
Vernehmungsmethode angewandt wurde um das in Art 2 ma-
nifestierte Grundrecht des Kindes auf Leben zu retten Die Kon-
vention verpflichtet die Vertragsstaaten auch das Recht auf Le-
ben zu schuumltzen56 Jedoch kann weder der Schutz menschlichen
Lebens noch eine strafrechtliche Gefaumlhrdung um den Preis einer
Gefaumlhrdung der Garantie des absoluten Rechts von Art 3 aus-
gesetzt werden ohne die Werte zu opfern und die Justiz in Verruf
zu bringen Die Fairness des Verfahrens ist hingegen nur betrof-
fen wenn feststeht dass sich der Verstoszlig gegen Art 3 auf den
Ausgang des Verfahrens gegen den Angeklagten ausgewirkt hat
anders gesagt wenn er die Entscheidung uumlber seine Schuld und
die Strafe beeinflusst hat57
55 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (701) Rd 106 56 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) EGMR Urt v 28101998 - 2345294 (OsmanUK) in Slg
1998-III S3159-3160 Nr 115-116 57 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Fuumlr das LG Frankfurt waren nicht die Beweismittel ein-
schlieszliglich der beanstandeten koumlrperlichen Beweismittel we-
sentliche Grundlage fuumlr das Urteil sondern allein das neue und
umfassende Gestaumlndnis das nach qualifizierter Belehrung in der
Hauptverhandlung abgelegt wurde Die umstrittenen bdquoeinge-
faumlrbtenldquo Beweismittel waren nicht notwendig und haben nicht
dazu gedient die Schuld des Bf zu beweisen oder die Strafe fest-
zustellen
Dass der Bf in der Hauptverhandlung keine andere Wahl ge-
habt haben soll ist der erneuten qualifizierten Belehrung und
dem Hinweis des Gerichts dass seine bisher getaumltigten Gestaumlnd-
nisse nicht gegen ihn verwertet werden koumlnnen entgegenzustel-
len Zumal er zugegeben hat sein Gestaumlndnis aus Reue abzuge-
ben
Die GK ist nicht der Meinung dass die Verletzung von Art
3 im Ermittlungsverfahren Einfluss auf das in der Hauptver-
handlung abgelegte Gestaumlndnis hatte Die Rechte der Verteidi-
gung und das Recht sich selbst zu bezichtigen wurden ebenfalls
beachtet Folglich ist Art 6 I iVm III nicht verletzt
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die Absolutheit von Art 3 ziehe eine Verletzung der Selbstbe-
lastungsfreiheit nach sich und somit einen Verstoszlig gegen Art 6
Der Gerichtshof unterscheide nicht zwischen durch Zwang er-
worbene Aussagen und durch von Zwang erworbene Beweis-
mittel Die Verwertung der Beweismittel im vorliegenden Fall
und der angebliche Verlust der Opfereigenschaft stellt einen ge-
faumlhrlichen Ansatz dar der zu einer illegalen Beschaffung von
Beweismitteln solange das Verhaumlltnis zwischen Nutzen und
Schaden vertretbar ist verleite
Ob die Beweismittel ggf zu einem spaumlteren Zeitpunkt aufge-
funden worden waumlren ist nicht ob dem Gericht daruumlber zu spe-
kulieren Die Frage ist ob das Recht auf die Selbstbelastungs-
freiheit wirksam ausgeuumlbt wurde ohne sich dabei auf illegal er-
langte Beweismittelverwertung zu stuumltzen Angeblich so das in-
nerstaatliche Gericht sei der Umfang der Beweisverwertung nur
auf die Uumlberpruumlfung des Gestaumlndnisses beschraumlnkt Tatsche je-
doch ist dass ohne die Beweismittelverwertung die nach inner-
staatlichem Recht das Gestaumlndnis nicht haumltten uumlberpruumlfen koumln-
nen die Qualifizierung von erpresserischen Menschenraub zu
Mord nicht haumltte stattfinden koumlnnen58
Die Frage der Verfahrenseinstellung ist keine Abwaumlgung
zwischen der Gefahr oder Schwere einer Misshandlung gegen
die Gefaumlhrlichkeit fuumlr die Gemeinschaft denn dies kommt
der Feststellung gleich dass der Schutz der nationalen Sicher-
heit es rechtfertigt die Gefahr einer Misshandlung des Betroffe-
nen eher in Kauf zu nehmen59 Festzustellen ist ob zur Schuld-
feststellung ein Zugriff auf die durch Androhung von Zwang er-
langten Beweismittel hinzugezogen wurden selbst wenn es nur
zur Uumlberpruumlfung eines Gestaumlndnisses galt Durch den Ruumlckgriff
58 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 124 (Abrufdatum 16082018)
59 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 117 (Abrufdatum 16082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 38
auf die illegal erlangten Beweismittel ist die Unschuldsvermu-
tung und damit die Fairness des Verfahrens eingeschraumlnkt
Die einzige Heilung fuumlr den Verstoszlig gegen Art 6 und die Ab-
sprache der Opfereigenschaft sei ein neues Verfahren
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen weichen von der mehrheitlichen Meinung ab
dass keine Verletzung von Art 6 Abs I und III stattgefunden
hat Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ergebe
sich aus der Zulassung der Beweismittel die unmittelbar aus
Art 3 sichergestellt worden sind und unter selbstbelastenden
Umstaumlnden erlangt worden sind Deren Zulassung ist eine fun-
damentale und auszligerordentlich wichtige Grundsatzfrage die die
Fairness iSv Art 6 betrifft Die bisherige Rspr habe Gestaumlnd-
nisse die unter einer Verletzung von Art 3 gewonnen wurden
als immer unzulaumlssig betrachtet Uneindeutig war bisher der
Umfang des Verwertungsverbots fuumlr sachliche Beweismittel
Nach Auffassung der RichterInnen kann ein Strafverfahren in
dem Beweismittel die infolge eines Verstoszliges gegen eine derart
absolute Konventionsvorschrift erlangt wurden zugelassen und
bdquoin welchem Umfang auch immerldquo zur Entscheidung herange-
zogen werden nicht fair sein60 Unfair sei selbst wenn unter an-
gemessenen Verfahrensgarantien erlangt Beweismittel verwer-
tet werden denen auch nur der Makel von Druck oder Zwang
anhaftet Die Diskrepanz zwischen der Zulaumlssigkeit der Aussa-
gen und der Zulaumlssigkeit der Beweismittel gefaumlhrde durch deren
Begruumlndung das absolute Rechte Der angeblichen Unterbre-
chung der Kausalkette koumlnnen sich die RichterInnen nicht an-
schlieszligen Die Trennung die der Gerichtshof vornimmt zwi-
schen der Verurteilung wegen Mordes und dem bdquoeingeschlage-
nen Wegldquo im Rahmen der Beweisverwertung sei unrealistisch
und formalistisch Die in der Ermittlungsphase geschehene Ver-
letzung ziehe seine nachteiligen Folgen in dem sich ergebenden
Verfahren da die Bedeutung der Ermittlungsphase einen Rah-
men bestimmen kann fuumlr den Ansatz eines Gerichts Die nach-
teiligen Folgen haumltten fuumlr eine Wiedergutmachung komplett be-
seitigt werden koumlnnen durch ein Beweisverwertungsverbot und
einer bdquosauberen Durchfuumlhrungldquo des Verfahrens Die StA haumltte
den Bf wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge
anklagen und damit den wirksamen Schutz aufrechterhalten
koumlnnen Fraglich erscheint jedoch die Unterscheidung zwischen
Beweismitteln Zumal sich die Frage stellt warum wenn die
bdquounsauberen Beweismittelldquo nicht zur Verurteilung dienten sie
uumlberhaupt zugelassen werden mussten Nach Einschaumltzung der
teilweise abweichenden Meinung hatten die Beweismittel Ein-
fluss auf den Ausgang des Verfahrens und eine Heilung durch
die Unverwertbarkeit der Gestaumlndnisse des Bf nuumltzte ihm wenn
uumlberhaupt nur wenig Im Gegenteil da die Zulaumlssigkeit derer
60 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 2 der abw Meinung (Ab-rufdatum 17082018)
61 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) 62Vgl EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006
S 3117 (3123) 63 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131)
die Freiheit sich zu verteidigen erheblich oder gar voumlllig ein-
schraumlnkt ist eine Verurteilung nahezu unausweichlich Die
Amtstraumlger handelten zwar in einer schwierigen und sehr ange-
spannten Situation doch gerade in kritischen Zeiten duumlrfen ab-
solute Werte nicht aufs Spiel gesetzt werden Die Umstaumlnde aumln-
dern nichts an der Tatsache dass sie durch einen Verstoszlig gegen
Art 3 sachliche Beweismittel erlangten die spaumlter in dem Straf-
verfahren gegen den Beschwerdefuumlhrer verwertet und zur Be-
gruumlndung herangezogen wurden Da es sich um ein absolutes
Recht handelt sind alle Verstoumlszlige dagegen schwerwiegend und
die wirksamste Moumlglichkeit dieses absolute Verbot durchzuset-
zen ist eine strenge Anwendung des Verwertungsverbots im
Hinblick auf Art 6
e) Fazit
Die GK schlieszligt sich in ihrem Urteil im Wesentlichen dem an
was die Kammer in ihrem Entschluss bewertete Der Bf hatte
die Moumlglichkeit der Bekaumlmpfung der bdquovergiftetenldquo Beweise vor
dem LG deren Ausschluss er auch in seinem Antrag vor der
Hauptverhandlung beantragte Durch die qualifizierte Beleh-
rung uumlber das Schweigerecht und den Umstand dass keine sei-
ner fruumlheren Aussagen als Beweis gegen ihn verwendet werden
duumlrfe wurde der Bf in den Status quo ante versetzt61 Jedoch
stimmt das Argument der bulgarischen Richterin Kalaydjieva
nachdenklich In seiner vorherigen Rspr hat der EGMR keine
Unterscheidung zwischen Aussagen und koumlrperlichen Beweisen
gemacht Im Gegenteil in Urteilen wie Jalloh als einem Dro-
gendealer seine Beute durch die Zufuumlhrung von Brechmitteln
entwendet wurde wurde die Zulassung der illegal erworbenen
Beweismittel als moumlgliche Verletzung von Art 6 I gewertet62
Dem koumlnnte das oumlffentliche Interesse der Verurteilung von Gaumlf-
gen entgegenstehen die es im oben genannten Beispiel nicht
gab63 Man gewinnt den Eindruck dass der EGMR etwas hin-
und hergerissen ist zwischen der Absolutheit des Art3 und dem
bdquoweicherenldquo Fairnessgebot bis er sich zur Abwaumlgung iRv Art6
durchringt64
Einen Ausweg scheint der EGMR in der Schuldbegruumlndung
zu finden Dies erscheint jedenfalls schon beinahe konstruiert
und uumlberzeugt wenig da auf der einen Seite die koumlrperlichen
Beweise keine Rolle spielen und auf der anderen Seite genau
dieselben den Wahrheitsgehalt des Gestaumlndnisses uumlberpruumlfen
sollen Die in Jalloh offen gelassene Frage der indirekten Ver-
wertbarkeit ist nun beantwortet und laumlsst insofern eine bdquoHinter-
tuumlrldquo offen65 indem ein Ausschluss von Beweisen erforderlich
sein koumlnnte aber nur fuumlr den Fall des Einflusses auf das Ge-
staumlndnis oder die Strafe66
65 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 66 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 39
5 Ergebnis
Das endguumlltige Urteil aus Straszligburg uumlberrascht Der Gerichtshof
bleibt sich den Grundsaumltzen des Art 3 treu Umso mehr uumlber-
rascht die Bewertung der innerdeutschen Strafprozesspflege und
die Verhaumlngung der Strafen Um die Absolutheit von Art 3 zu
schuumltzen bestimmt sich der Gerichtshof selbst als Kontrol-
linstanz fuumlr die Schwere von Strafen Aus Angst Art 3 wuumlrde
unterwandert beschlieszligt die GK dass sich Gaumlfgen weiter als
bdquoOpferldquo der Justiz iSv Art 34 I bezeichnen darf Es finden sich
in dem endguumlltigen Urteil Abweichungen der bisherigen Rspr
die sich weniger rechtlich als moralisch erklaumlren lassen Eine
Abwaumlgung fuumlr eine Beweisverwertung ist kritisch zu betrach-
ten67 Die abweichenden Meinungen streuen begruumlndete Zweifel
in die zugebenermaszligen neue Leitlinie des EGMR
III Gesamtfazit
Die moralische und rechtliche Problematik wird deutlich an der
scharfen Meinungsspaltung der Jurisprudenz Die Mehrheit der
5 Kammer und die Minderheit der GK sowie die innerdeut-
schen Gerichte stimmen uumlberein dass die milde Strafe der Poli-
zisten die Verletzung von Art3 kompensiere Vorherzusehen
war es nicht dass der EGMR der Rspr der deutschen Gerichte
zustimmt und Einigkeit herrscht Der absolute Schutz von Art3
bleibt bewahrt und der Umfang des Beweisverbots ist nach wie
vor -wenn auch etwas weniger- ungeklaumlrt
C Ausleitungsteil
Anknuumlpfend an die anfangs aufgestellten Herausforderungen
und die Ausgangsproblematik dieser Arbeit laumlsst sich folgendes
sagen der EGMR hat neues Terrain betreten
Methodologisch bestand die Grenzerfahrung in der Erhaltung
des Rechtsschutzes fuumlr Gaumlfgen als Rechtssubjekt und Grund-
rechtstraumlger Die objektive Bewertung stellt sich bereits als her-
ausfordernd dar
Normativ war zu entscheiden ob die Androhung von Gewalt
unter Folter fiel und ob die Androhung vergleichbar mit brutalen
und gewaltsamen Vernehmungsmethoden war Die Herausfor-
derung bestand darin zu entscheiden ob dies nicht das ganze
Strafverfahren Gaumlfgens gefaumlhrdete und seine Verurteilung
Moralisch ist zu unterscheiden zwischen dem Unrechtsgehalt
der Tat und dem Unrechtsgehalt der Behandlung Strafe sollte
nicht dem Zweck der Vergeltung dienen Fuumlr die begangene Tat
wurde Gaumlfgen zu lebenslanger Haft verurteilt Seine Rechte als
Grundrechtstraumlger stehen ihm ebenso zu wie die Anspruumlche Ver-
letzungen geltend zu machen Die Grundsaumltze unseres Rechts-
staates wurden uumlber Jahrhunderte lang erarbeitet und erkaumlmpft
und sind gerade in Anbetracht unserer Historie unumstoumlszliglich
Der zu behandelnde Fall ist nicht nur von juristischer Schwie-
rig- und Spitzfindigkeit sondern auch von moralischer Unwei-
gerlich stellen wir die Uumlbereinstimmung unseres Rechts und un-
seres Rechtsempfindens in Frage Damit scheinen wir jedoch
nicht alleine zu sein denn auch die RichterInnen in Straszligburg
stehen vor dem Menschenwuumlrdedilemma zwischen Opfer und
67 Naumlher dazu Karsten Gaede Fairness als Teilhabe 2007 S810 ff
Taumlter Die Schwierigkeit in diesem besonderen Fall war es den
Taumlter einer Straftat als Opfer der Polizei und des Rechtsstaates
zu betrachten was auf den ersten Blick schon fast antagonistisch
wirkt Der schuldig gesprochene Gaumlfgen hat alle Rechtsmittel
auf deutscher und europaumlischer Ebene ergriffen Es faumlllt schwer
zuzugeben seine Penetranz und sein Kampf um das Recht auch
als bdquorechtensldquo zu bewerten In Rechtsfragen die der EGMR zum
ersten Mal anders interpretiert hat fragt man sich in diesem Zu-
sammenhang was uumlberhaupt Recht-sprechen bedeutet Somit er-
reicht der Fall nicht nur die Grenze des Strafrechts und des Oumlf-
fentlichen Rechts sondern auch der Rechtsphilosophie in der
die Trennung von Recht und Moral ein zentrales Thema dar-
stellt Es reicht hin bis zu der Frage ob es unrichtiges Recht
gesetzliches Unrecht gebe und was das bdquoRechtldquo uumlberhaupt sei68
bdquoWas rechtens sei (quid sit iuris) das ist was die Gesetze an einem
gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben kann
der Rechtsgelehrte noch wohl angeben aber ob das was sie wollten
auch recht sei und das allgemeine Kriterium woran man uumlberhaupt
Recht sowohl als Unrecht (istum et iniustum) erkennen koumlnne bleibt
(ihm) wohl verborgenhellipldquo
ndash Immanuel Kant
Der Fall Magnus Gaumlfgen bleibt in vielerlei Hinsicht
-juristisch sowie moralisch- grenzwertig
Die Autorin studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau im achten Semester Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus der Seminararbeit die im WS 201819 im Rahmen des trinationalen Eucor-Seminars ge-schrieben und verteidigt wurde Das Seminar wurde angebo-ten von Prof Dr Jestaedt (Freiburg) unter dem Namen bdquoRechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der Eu-ropaumlischen Grundrechtecharta und der Menschenrechtskon-ventionldquo Die Autorin ist seit 2014 Mitglied der Freilaw-Re-daktion und leitet seit 2017 die Chefredaktion Sie befindet sich derzeit in der Examensvorbereitung
68 Christian Fahl Angewandte Rechtsphilosophie ndash bdquoDarf der Staat folternldquo in
JR 2004 S 182 (185)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
40 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Der Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen
-
Samuel Hahn
A Einleitung
Es ist eine dem liberalen Gedankengut des 19 Jahrhun-
derts entstammende Idee dass der Mensch nicht nur Buumlr-
ger ist sondern der Staatsverband lediglich einen Teil der
Persoumlnlichkeit absorbiert Neben der oumlffentlichen Rolle als
Staatsbuumlrger existiert noch eine private Rolle in der sich
der Mensch ganz individuell ausleben kann Diese Privat-
heit sichert ein ungestoumlrtes Zu-sich-selbst-Verhalten der
Person ohne das ein Herausbilden einer authentischen
Identitaumlt unmoumlglich ist1 Nun hat jedoch der Staat haumlufig
ein Interesse daran in den privaten Bereich der Buumlrger
vorzudringen Gerade im Rahmen strafprozessualer Er-
mittlungen ist dies der Fall da Straftaumlter ihre Verfehlungen
selten publik machen sondern diese so weit wie moumlglich
vor der Oumlffentlichkeit verbergen Dem Staat bleibt bei der
Strafverfolgung also nichts anderes uumlbrig als die private
Sphaumlre seiner Buumlrger auszuforschen Waumlhrend dies fruuml-
her mehr oder minder offen in Form von Haus- und Perso-
nendurchsuchungen geschah ermoumlglicht die heutige
Technik heimliche Uumlberwachungsmaszlignahmen die es
dem Buumlrger unmoumlglich machen seine innersten Vorgaumlnge
in einer fuumlr ihn kontrollierbaren Sphaumlre zu bewahren Da
diese innersten Vorgaumlnge fuumlr eine autonome Charakter-
entwicklung unentbehrlich sind gebietet es die Men-
schenwuumlrde dass der Staat dem Buumlrger ein Herzstuumlck der
Privatheit einen Kernbereich der privaten Lebensgestal-
tung ganz selbst uumlberlaumlsst und ihn nicht staatlichen Inte-
ressen unterordnet Die vorliegende Arbeit widmet sich
der Entstehung dieser Rechtsfigur und dem Schutz der
sich aus ihr ergibt
I Terminologie
Das BVerfG an dessen Rechtsprechung sich diese Arbeit orien-
tiert hat hinsichtlich der Benennung des absolut geschuumltzten
Bereichs keine klare Nomenklatur entwickelt Es bezeichnet ihn
uneinheitlich als bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo2 bdquoIntim-
sphaumlreldquo3 bdquounantastbaren Bereich privater Lebensgestaltungldquo
4
bdquoabsolut geschuumltzten Kernbereich privater Lebensgestaltungldquo5
1 Roumlssler Der Wert des Privaten S 275 2 BVerfGE 6 S 55 (81) 3 BVerfGE 32 S 373 (379) 4 BVerfGE 27 S 1 (6) 5 BVerfGE 80 S 137 (153)
und bdquoKernbereich der Persoumlnlichkeitldquo6 Die Terminologie in
dieser Arbeit wird daher ebenso variieren Einzig auf die Ver-
wendung des Terminus der Intimsphaumlre wird verzichtet da es
unklar ist ob das BVerfG diese begriffliche Identitaumlt konsequent
aufrechterhaumllt7
II Untersuchungsgegenstand
Gegenstand dieser Arbeit ist anhand der Rechtsprechung des
BVerfG den Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
strafprozessualen Ermittlungsverfahren zu untersuchen Dabei
wird im Besonderen auf Widerspruumlche in den Entscheidungen
des Gerichts eingegangen und gepruumlft was diese fuumlr den Kern-
bereichsschutz bedeuten Die Untersuchung beschraumlnkt sich da-
bei auf den fuumlr die Strafverfolgung besonders bedeutungsvollen
Schutz vor Informationserhebung aus dem Kernbereich privater
Lebensgestaltung Aufgrund seiner engen Verbindung zur Men-
schenwuumlrdegarantie hat jeder Schutz vor staatlichen Maszlignah-
men eine gewisse Kernbereichsrelevanz Zum Zwecke einer
Analyse des reinen von anderen Grundrechten losgeloumlsten
Kernbereichsschutzes sollen in dieser Arbeit andere Konstella-
tionen mit Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung
wie der Schutz der Kommunikation mit zeugnisverweigerungs-
berechtigten Personen auszligen vor bleiben
III Gang der Untersuchung
Im Folgenden wird zuerst die Entwicklung der Kernbereichs-
rechtsprechung durch das BVerfG dargestellt und analysiert
Anhand der auftretenden Diskrepanzen wird anschlieszligend eine
moumlgliche Relativierung des Kernbereichsschutzes gepruumlft und
schlieszliglich wird die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
anhand seines juumlngsten Urteils neu interpretiert
B Entwicklung des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung durch das BVerfG
Der Gedanke eines Kernbereichs der Persoumlnlichkeit auf den der
Staat nicht zugreifen kann hat in der Rechtsprechung der deut-
schen Verfassungsgerichtsbarkeit lange Tradition8
6 BVerfGE 34 S 238 (245) 7 Dies bejahend Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
S 14 kritisch Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 256 8 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (161) Dammann Der Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung S 23
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 41
Bereits 1957 sprach das BVerfG in der sog Elfes-Entscheidung
erstmals von einer bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo die dem
einzelnen Buumlrger verfassungskraumlftig vorbehalten sei9 Es leitet
dies aus der Menschenwuumlrde ab Der Gesetzgeber darf die buumlr-
gerlichen Freiheitsrechte bei entsprechenden entgegenstehen-
den Interessen zwar einschraumlnken die Menschenwuumlrde aller-
dings ist unantastbar woraus folgt dass bdquoein letzter unantastba-
rer Bereich menschlicher Freiheit besteht der der Einwirkung
der gesamten oumlffentlichen Gewalt entzogen istldquo10
Diesen absolut geschuumltzten Bereich sah das BVerfG lange al-
lein in der nichtkommunikativen Sphaumlre11
Er war gekennzeich-
net durch Gedanken die der Buumlrger allein sich selbst anver-
trauen wollte ein forum internum in dem er bdquosich selbst besitztldquo
und zu dem bdquodie Umwelt keinen Zutritt hatldquo12
Ein Raum in
welchem die innere Daseinsbewaumlltigung die Auseinanderset-
zung mit sich selbst und die Rechenschaftsablegung gegenuumlber
sich selbst stattfinden13
Nach der damaligen Rechtsprechung
war der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung grundsaumltz-
lich nicht beruumlhrt sobald die Handlung einen Sozialbezug auf-
wies also die Persoumlnlichkeitssphaumlre eines anderen Menschen
beruumlhrte14
Damit waren auch intime zwischenmenschliche Be-
ziehungen vom absoluten Schutz der Persoumlnlichkeit ausge-
schlossen15
In seinem Tagebuchurteil16
relativierte das BVerfG dieses
harte Exklusionskriterium dahingehend dass nicht entscheidend
sei ob uumlberhaupt ein Sozialbezug bestehe sondern vielmehr
dessen bdquohoumlchstpersoumlnlicher Charakterldquo und bdquoin welcher Art und
Intensitaumlt aus sich heraus die Sphaumlre anderer und die Belange
der Gemeinschaft beruumlhrtldquo werden bdquoDer Mensch als Person
auch im Kernbereich seiner Persoumlnlichkeit verwirklicht sich
notwendig in sozialen Bezuumlgenldquo17
Zugleich schraumlnkt das Ge-
richt den Umfang des Schutzes dahingehend ein dass bdquoGesprauml-
che die Angaben uumlber begangene Straftaten enthalten [hellip] dem
Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Le-
bensgestaltungldquo zuzuordnen und deshalb auch nicht von dessen
absolutem Schutz erfasst sind18
C Urteil groszliger Lauschangriff
Zwar hatte das BVerfG in den vorangegangenen Entscheidun-
gen seine Rechtsprechung zu einem absolut geschuumltzten Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit stetig fortgefuumlhrt einen staatlichen
Eingriff in denselben jedoch nie bejaht Die Entscheidung fiel
stets auszligerhalb des Kernbereichs naumlmlich im Bereich der Ab-
waumlgung zwischen Individualschutz und Gemeinwohlinteresse
nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes19
Dies aumln-
derte sich im Urteil zum groszligen Lauschangriff20
dem in der
9 BVerfGE 6 S 32 (41) 10 BVerfGE 6 S 32 (41) 11 BVerfGE 27 S 1 (6) BVerfGE 33 S 367 (377) 12 BVerfGE 27 S 1 (6) 13 Warntjen Heimliche Zwangsmaszlignahmen und der Kernbereich S 54 14 BverfGE 6 S 389 (433) 15 Benda Gefaumlhrdungen der Menschenwuumlrde S35 16 BVerfGE 80 S 367 17 BVerfGE 80 S 367 (374) 18 BVerfGE 80 S 367 (374) 19 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (14) Hervorhebung
hier
Entwicklung der Kernbereichsrechtsprechung besondere Be-
deutung zukommt21
Erstmals stellte das Gericht eine Verlet-
zung des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit fest22
Es skizziert
sorgfaumlltig und wesentlich detaillierter als in fruumlheren Entschei-
dungen sein Kernbereichskonzept entwickelt Schutzvorkehrun-
gen und zeigt Konsequenzen eines Eingriffs auf
I Bestimmung des Kernbereichs
Entscheidend fuumlr eine Einbeziehung des Sachverhalts in den
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist das Kriterium der
Houmlchstpersoumlnlichkeit23
Gespraumlche und Aumluszligerungen sind dann
vom Kernbereich erfasst wenn es um bdquoausschlieszliglich innere
Eindruumlcke und Gefuumlhleldquo geht der bdquoBereich des Houmlchstpersoumlnli-
chenldquo betroffen ist und ein bdquoBezug des konkreten Gespraumlchs
zum Persoumlnlichkeitskernldquo nicht fehlt24
Konsequent nimmt das
Gericht eine Kernbereichsverletzung auch bei umfassenden
Uumlberwachungen an deren Ergebnisse bdquozur Grundlage eines Per-
soumlnlichkeitsprofils werden koumlnnenldquo25
Auch hinsichtlich des
Straftatenbezugs lockerte das Gericht seine Exklusionskriterien
Waumlhrend das entscheidungstragende Votum im Tagebuchbe-
schluss bereits einen mittelbaren Straftatenbezug genuumlgen lieszlig
um eine Kernbereichsrelevanz zu verneinen26
scheint sich der
Senat im Urteil zum groszligen Lauschangriff dem abweichenden
Votum des Tagebuchbeschlusses27
anzuschlieszligen28
bdquoAuf-
zeichnungen oder Aumluszligerungen im Zwiegespraumlch die zum Bei-
spiel ausschlieszliglich innere Eindruumlcke und Gefuumlhle wiedergeben
und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten gewinnen
nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug dass sie Ursa-
chen oder Beweggruumlnde eines strafbaren Verhaltens freizulegen
vermoumlgenldquo29
Das heiszligt lediglich Aumluszligerungen mit unmittelbarem Bezug zu
einer geplanten oder begangenen Tat sind nicht vom Kernbe-
reich erfasst30
Nicht beruumlhrt sei der Kernbereich allerdings
wenn der Betroffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssach-
verhalts selbst keinen Wert lege wobei nicht jede Kundgabe an
einen anderen Menschen auf das Fehlen eines Geheimhaltungs-
willen schlieszligen lasse es kaumlme vielmehr auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation an31
II Schutz des Kernbereichs
Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist unantastbar
und jeglichem staatlichen Zugriff entzogen Die inhaltsbezo-
gene Kernbereichsdefinition des BVerfG schafft das Dilemma
dass Strafverfolgungsbehoumlrden vor der Uumlberwachung gar nicht
wissen koumlnnen ob der Kernbereich des Uumlberwachten betroffen
ist Erst durch die Spaumlhmaszlignahme selbst laumlsst sich anhand des
20 BVerfGE 109 S 279 21 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (13) bdquogroszliges Urteilldquo 22 BVerfGE 109 S 279 (311) 23 BVerfGE 109 S 279 (313 320) 24 BVerfGE 109 S 279 (319 320) 25 BVerfGE 109 S 279 (323) 26 BVerfGE 80 S 367 (377) 27 BVerfGE 80 S 367 (381) 28 So auch SK-StPOWolter sect 100c Rn 60 29 BVerfGE 109 S 279 (319) 30 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 43 31 BVerfGE 109 S 279 (319)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
42 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Inhalts der Aumluszligerung oder Aufzeichnung das Vorliegen einer
Kernbereichsrelevanz feststellen Dann aber wurden die houmlchst-
persoumlnlichen Informationen bereits von den Behoumlrden wahrge-
nommen Das BVerfG stellt deswegen folgendes fest bdquoDie
Uumlberwachung muss in Situationen von vornherein unterbleiben
in denen Anhaltspunkte bestehen dass die Menschenwuumlrde
durch die Maszlignahme verletzt wirdldquo32
Damit loumlst das BVerfG das Dilemma dahingehend auf dass
die allein uumlber die Betroffenheit des Kernbereichs Gewissheit
verschaffende dabei aber zugleich denselben potentiell verlet-
zende Maszlignahme bereits dann unterbleiben muss wenn sie
wahrscheinlich den Kernbereich verletzen wuumlrde Zu vermuten
sei dies beispielsweise beim groszligen Lauschangriff auf Privat-
wohnungen oder wenn der Uumlberwachte mit Personen des
houmlchstpersoumlnlichen Vertrauens kommuniziere33
Diese Vermu-
tungswirkung kann jedoch widerlegt werden wenn Indikatoren
dafuumlr vorliegen dass der Kernbereich nicht betroffen ist34
Auch
dann darf lediglich bdquoeine fuumlr die Bewertung des Gespraumlchsin-
halts unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschen-
wuumlrde erforderliche erste Sichtungldquo durchgefuumlhrt werden bei
der groumlszligtmoumlgliche Zuruumlckhaltung geboten ist35
Diese Vorkehrungen koumlnnen letztendlich aber eine Erhebung
kernbereichsrelevanter Daten nicht ausschlieszligen sondern nur
das Risiko minimieren36
Deswegen fuumlhrt das BVerfG weiter
aus bdquoFuumlhrt die akustische Wohnraumuumlberwachung im Uumlbrigen
unerwartet zur Erhebung von absolut geschuumltzten Informatio-
nen muss sie abgebrochen werden und die Aufzeichnungen
muumlssen geloumlscht werden jede Verwendung solcher im Rahmen
der Strafverfolgung erhobener absolut geschuumltzter Daten ist aus-
geschlossenldquo37
Das Verwertungsverbot kernbereichsrelevanter
Daten erstreckt sich damit nicht nur auf die Verwendung als Be-
weismittel im Hauptverfahren sondern auch auf die Verwen-
dung als Spurenansatz fuumlr weitere Ermittlungen38
Dieses zweistufige Schutzkonzept der Vermeidung der Erhe-
bung kernbereichsrelevanter Daten auf der ersten Ebene zusam-
men mit der Loumlschpflicht und des umfassenden Verwertungs-
verbots auf der zweiten Ebene wird vom BVerfG seither in staumln-
diger Rechtsprechung als notwendige Voraussetzung fuumlr den
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aufrecht erhalten39
D Widerspruumlche in der Kernbereichsrechtsprechung
des BVerfG
Umso mehr uumlberrascht es dass das BVerfG seither in mehreren
Urteilen Eingriffe in den Kernbereich faktisch gebilligt hat So
hat es beispielsweise die Telekommunikationsuumlberwachung
32 BVerfGE 109 S 279 (318) 33 BVerfGE 109 S 279 (321) 34 BVerfGE 109 S 279 (332) 35 BVerfGE 109 S 279 (332) 36 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (168) 37 BVerfGE 109 S 279 (318) 38 Ausdruumlcklich BVerfGE 109 S 279 (318) 39 BVerfGE 113 S 348 (391f) BVerfGE 120 S 247 (388f) BVerfGE 129
S 208 (245f) 40 So auch Reiszlig StV 2008 S 539 (542) 41 BVerfG NJW 2012 S 833 (837) 42 BVerfG NJW 2012 S 833 (837)
gem sect 104a StPO fuumlr verfassungsmaumlszligig erklaumlrt obwohl dort
keinerlei Prognose notwendig ist ob in der abzuhoumlrenden Kon-
versation kernbereichsrelevante Aumluszligerungen zu erwarten sind
Dies steht in direktem Widerspruch zum zweistufigen Schutz-
modell des BVerfG das Uumlberwachungsmaszlignahmen nur dann
zulaumlsst wenn eine Kernbereichsverletzung zumindest unwahr-
scheinlich ist40
In Faumlllen in denen es bdquopraktisch unvermeidbarldquo
ist dass Ermittlungsbehoumlrden kernbereichsrelevante Informati-
onen zur Kenntnis nehmen sei es bdquoverfassungsrechtlich nicht
gefordert den Zugriff wegen des Risikos einer Kernbereichs-
verletzung auf der Erhebungsebene von vornherein zu unterlas-
senldquo41
Selbst bei konkreten Anhaltspunkten dass der Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung von einer Maszlignahme beruumlhrt
werden wird hat diese nur bdquogrundsaumltzlichldquo zu unterbleiben42
Mit dieser Rechtsprechung schlieszligt das BVerfG an sein 2008
ergangenes Urteil zur Online-Durchsuchung43
an Feststellend
dass die Datenerhebung bei der Online-Durchsuchung aus tech-
nischen Gruumlnden automatisiert erfolgt und damit eine vorherige
Unterscheidung zwischen Daten mit und ohne Bezug zum Kern-
bereich quasi unmoumlglich ist forderte es bereits dort von den ent-
sprechenden gesetzlichen Ermaumlchtigungen lediglich bdquodarauf
hinzuwirken dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten
soweit wie informationstechnisch und ermittlungstechnisch
moumlglich unterbleibtldquo44
Es genuumlge dann bdquofuumlr hinreichenden Schutz in der Auswer-
tungsphase zu sorgenldquo und bdquodurch geeignete Verfahrensvor-
schriften sicherzustellen dass dann wenn Daten mit Bezug zum
Kernbereich privater Lebensgestaltung erhoben worden sind
die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung und ihre Auswirkun-
gen fuumlr die Persoumlnlichkeit und Entfaltung des Betroffenen so ge-
ring wie moumlglich bleibenldquo45
Damit wandeln sich so die zu-
naumlchst als Ergaumlnzung konzipierten Verfahrensvorschriften der
zweiten Stufe zum einzigen Stuumltzpfeiler des Kernbereichsschut-
zes46
Besonders irritiert dass das BVerfG sich sowohl im Urteil
zur Online-Durchsuchung47
als auch bei der Billigung des sect
100a Abs 448
auf seine Kernbereichsrechtsprechung im Abhoumlr-
Urteil bezieht Waumlhrend es damals aber noch Maszlignahmen fuumlr
unzulaumlssig erklaumlrte die wahrscheinlich in den Kernbereich ein-
dringen49
laumlsst es nun Uumlberwachungen zu obwohl eine Erfas-
sung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unvermeidbar
ist50
Diese Urteile stehen in einem starken Widerspruch sogar
gegenteilig zur fruumlheren Rechtsprechung sodass die Frage be-
rechtigt ist ob das BVerfG nicht laumlngst von dem Konzept eines
absolut geschuumltzten Kernbereichs der Persoumlnlichkeit abgewi-
chen ist
43 BVerfGE 120 S 274 44 BVerfGE 120 S 274 (338) 45 BVerfGE 120 S 274 (338) 46 Schwabenbauer Heimliche Eingriffsmaszlignahmen S 283 mit Verweis auf
BVerfG 113 S 348 (392) bdquoHinzu muumlssen Vorkehrungen kommen die si-
chern dass Kommunikationsinhalte des houmlchstpersoumlnlichen Bereichs nicht
gespeichert und verwertet werden duumlrfenldquo 47 BVerfGE 120 S 274 (338) 48 BVerfGE NJW 2012 S 833 (837) 49 BVerfGE 109 S 279 (318) 50 BVerfGE 120 S 274 (338)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 43
E Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Diesen Schluss ziehen viele Stimmen in der Literatur51
Teil-
weise wird vermutet dass dies eine Reaktion auf den nach der
Entscheidung zum groszligen Lauschangriff erhobenen Vorwurf
der Praxisuntauglichkeit darstellt52
Vor diesem Hintergrund
gibt es auch Unterstuumltzer fuumlr die vermeintliche Entscheidung des
BVerfG den Kernbereich nun doch der Abwaumlgung mit oumlffentli-
chen Interessen zugaumlnglich zu machen53
Im Folgenden soll nun gepruumlft werden ob das BVerfG seinen
vormals absoluten Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
tatsaumlchlich aufgegeben und zugunsten staatlicher Strafverfol-
gungsinteressen relativiert hat
I Prozessuale Relativierung infolge der Disponibilitaumlt
des Verwertungsverbots
Hauck54
meint eine Relativierung des Kernbereichsschutzes
darin zu erkennen dass der BGH es Beschuldigten eroumlffnet auf
das Verwertungsverbot von Beweismitteln mit Kernbereichsre-
levanz zu verzichten und ihnen so zur Zulaumlssigkeit zur verhel-
fen55
Er vertritt dies mit der Begruumlndung dass wenn sich der
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aus der Menschen-
wuumlrde herleite welche unstreitig indisponibel sei somit auch
der Kernbereichsschutz selbst indisponibel sein muumlsse56
Unab-
haumlngig davon ob die Menschenwuumlrde tatsaumlchlich indisponibel
ist57
schuumltzt der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
aber nicht unmittelbar die Menschenwuumlrde selbst sondern eine
sich aus der Menschenwuumlrde ergebende Sphaumlre der Privatheit
die dem Buumlrger auch bei uumlberragenden entgegenstehenden staat-
lichen Interessen zugestanden werden muss Was von diesem
Kern der Privatheit umfasst ist bestimmt sich anhand von zwei
Faktoren der Houmlchstpersoumlnlichkeit und dem Sozialbezug
Wenn mangels Sozialbezug bdquoallein [hellip][die] eigene Sphaumlre tan-
giert istldquo58
kann der Buumlrger Elemente seiner houmlchstpersoumlnli-
chen Sphaumlre beliebig aus dem geschuumltzten Kernbereich der Pri-
vatheit entlassen indem er sie freiwillig der Oumlffentlichkeit zu-
gaumlnglich macht Dieser Ansicht ist auch das BVerfG wenn es
ausfuumlhrt der Kernbereich sei nicht betroffen wenn der Be-
troffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssachverhalts selbst
keinen Wert lege59
Dieses Ergebnis ist auch dahingehend sinn-
voll dass Beweisverwertungsverbote regelmaumlszligig Schutzinteres-
sen des Beschuldigten dienen60
Es waumlre deshalb widerspruumlch-
lich dem Beschuldigten die Einbringung von entlastenden Be-
weisen mit dem Argument zu verwehren sie unterfielen seinem
Kernbereich privater Lebensgestaltung obwohl offensichtlich
kein Geheimhaltungswille besteht Insofern unterscheidet sich
51 Hoffmann-Riem JZ 2008 S 1009 (1021) Dammann Der Kernbereich der
privaten Lebensgestaltung S 51 Schwabenbauer Heimliche Zwangsmaszlig-
nahmen S 283 Sachs JuS 2012 S 374 (375) Baldus JZ 2008 S 218
(224) 52 Volkmann AnwBl 2009 S 118 (123) 53 So bspw Boumlckenfoumlrde JZ 2008 S 925 (932) 54 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 55 BGHSt 51 S 1 (4) bdquoAuch uumlber ein derartiges Verwertungsverbot kann der
Angeklagte disponieren soweit allein seine eigene Sphaumlre tangiert istldquo 56 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 57 So naumlmlich MKS-GGStarck Art 1 Rn 114 58 BGHSt 51 S 1 (4)
das disponible absolute Verwertungsverbot des Kernbereichs-
schutzes von dem indisponiblen absoluten Verwertungsverbot
des sect 163a Abs 3 S 2 welches seinen Grund darin hat dass
Aussagen die unter den dort genannten Umstaumlnden hervorge-
bracht worden sind auch in ihrem Beweiswert zweifelhaft er-
scheinen61
Eine Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung daran festzumachen
dass der BGH das absolute Beweisverwertungsverbot des Kern-
bereichsschutzes zur Disposition gestellt hat ist somit nicht ge-
rechtfertigt
II Materielle Relativierung durch funktionale
Auslegung des Kernbereichsbegriffs
Ein haumlufiger Vorwurf ist auch das BVerfG relativiere den abso-
luten Schutz des Kernbereichs indem es Aumluszligerungen die einen
unmittelbaren Bezug zu konkreten Straftaten haben vom
Schutzbereich ausschlieszligt62
Viele meinen darin zu erkennen
dass das Gericht beim Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlich-
keit entgegen seiner Proklamation63
doch auf Abwaumlgungsuumlber-
legungen zuruumlckgreift ndash nur eben nicht erst bei der tatsaumlchlichen
Anwendung des Kernbereichsschutzes sondern bereits bei der
Bestimmung der Reichweite desselben64
Absolut geschuumltzt
waumlre demnach nur was diesen Abwaumlgungsvorgang mit staatli-
chen Interessen erfolgreich durchlaufen hat65
Dieser Vorwurf
wird damit begruumlndet dass es anders nicht erklaumlrbar sei Aumluszlige-
rungen mit Straftatenbezug vom Schutzbereich auszunehmen
Fraglich ist ob dies zutrifft Das Kriterium das das BVerfG zur
Bestimmung des absolut geschuumltzten Kernbereichs des Privaten
heranzieht ist die Houmlchstpersoumlnlichkeit des Inhalts und in wel-
cher Art und Intensitaumlt er aus sich heraus die Belange der Ge-
meinschaft beruumlhrt66
Dabei ist klar dass bloszlige Erzaumlhlungen o-
der Prahlereien uumlber die Begehung von Straftaten sowie deren
Planung schon mangels Houmlchstpersoumlnlichkeit nicht in den
Schutzbereich fallen Relevant wird das Ausschlusskriterium
des Straftatenbezugs erst bei Aumluszligerungen houmlchstpersoumlnlicher
Art beispielsweise dem vielzitierten Mordgestaumlndnis unter Ehe-
leuten67
Eine Straftat selbst kann weil sie gegen Regeln ver-
stoumlszligt die fuumlr ein gemeinsames Zusammenleben in einer Gesell-
schaft unerlaumlsslich sind niemals ein privater Akt sein68
Da je-
der Buumlrger der Gesellschaft die Einhaltung dieser Normen
schuldet beruumlhren Aussagen bezuumlglich der Nichteinhaltung der
strafrechtlichen Verbote stets die Belange der Gemeinschaft
Somit haben Aussagen mit Straftatenbezug auch immer einen
Sozialbezug und sind damit nie nur houmlchstpersoumlnlich Das
BVerfG schlieszligt jedoch nicht (mehr) alle Aumluszligerung mit sozial-
bezogenem Inhalt kategorisch vom Schutz des Kernbereichs
59 BVerfG 109 S 279 (318) 60 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 492 61 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 491 62 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 51 63 BVerfG 109 S 279 (314) 64 Baldus JZ 2008 S 218 (224) Lindemann JR 2006 S 191 (198) LR-
StPOHauck sect 100a Rn 138 65 Baldus JZ 2008 S 218 (224) 66 BVerfGE 109 S 279 (314) 67 Meyer-GroszlignerSchmidt sect 100c Rn 16 68 Vgl LR-StPOHauck sect 100a Rn 151 auch Rogall FS-Fezer S 61 (67)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
44 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
aus er differenziert nach Art und Intensitaumlt Ebendieser Diffe-
renzierung ist es geschuldet wenn es feststellt dass Aumluszligerun-
gen die bdquoUrsachen und Beweggruumlnde eines strafbaren Verhal-
tens freizulegen vermoumlgenldquo69
trotz Straftatenbezugs vom Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit erfasst sind
Insofern findet tatsaumlchlich eine Abwaumlgung statt jedoch nicht
in der Art dass aufgrund des Strafverfolgungsinteresses Aumluszlige-
rungen die zur Aufklaumlrung von Straftaten fuumlhren koumlnnen vom
absoluten Kernbereich ausgeschlossen sind sondern schlicht
ob eine Aumluszligerung der houmlchstpersoumlnlichen Privatsphaumlre zuzu-
rechnen ist oder nicht Dies bemisst sich auf der einen Seite am
selbstreflektierenden Charakter der Aumluszligerung also in welchem
Maszlig sie bdquosich als individuelle Entfaltung im Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung darstelltldquo70
und auf der anderen Seite bdquoin
welcher Art und Intensitaumlt sie aus sich heraus die Belange der
Gemeinschaft beruumlhrtldquo71
also wie unmittelbar und konkret sie
Bezug auf den oumlffentlichen Akt der Straftatbegehung nimmt
Dass das BVerfG eine Abwaumlgung mit dem Strafverfolgungsin-
teresse nicht vornimmt zeigt sich auch daran dass die Schwere
der konkreten Straftat auf die sich die Aumluszligerung bezieht fuumlr den
Straftatenbezug keine Rolle spielt72
Es liegt in der Natur einer inhaltsbezogenen Kernbereichsde-
finition nicht operationalisierbar zu sein maszliggebend sind im-
mer die Besonderheiten des jeweiligen Falles73
Uumlber den Straf-
tatenbezug gibt das BVerfG den Entscheidungstraumlgern ein star-
kes Indiz fuumlr einen Sozialbezug an die Hand so wie das Selbst-
gespraumlch ein starkes Indiz fuumlr die Houmlchstpersoumlnlichkeit der Aumlu-
szligerungen ist Ob eine Aumluszligerung in den Kernbereich der Persoumln-
lichkeit faumlllt wird sich immer anhand des Zusammenspiels die-
ser beiden Faktoren bestimmen So koumlnnen selbst Aumluszligerungen
die sich unzweifelhaft unmittelbar auf eine Straftat beziehen und
damit Belange der Gemeinschaft betreffen aber in einem
Selbstgespraumlch getaumltigt wurden aufgrund des uumlberragend
houmlchstpersoumlnlichen Charakters des Selbstgespraumlchs unter den
absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
fallen74
In der Regel75
werden solche Aumluszligerungen aber die Be-
lange der Gemeinschaft in einer Art und Intensitaumlt beruumlhren
dass sie nicht dem Kernbereich zugerechnet werden koumlnnen
Hinter dieser Wertung steckt aber keine heimliche Abwaumlgung
mit Strafverfolgungsinteressen sondern lediglich eine konse-
quente Anwendung der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchst-
persoumlnlichkeit von Aumluszligerungen
III Widerspruumlchlichkeit des Gestattens von Eingriffen
in den absolut geschuumltzten Bereich
Es stellt sich also die Frage wie es mit dem absoluten Schutz
des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit zusammenpasst dass das
BVerfG in seinen juumlngeren Entscheidungen Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen auch dann zulieszlig wenn Eingriffe in den Kernbereich
69 BVerfGE 109 S 279 (319) 70 BVerfGE 109 S 279 (314) 71 BVerfGE 109 S 279 (314) 72 Vgl BVerfGE 109 S 279 (319 343) das die Schwere der Tat als nur fuumlr
die Verhaumlltnismaumlszligigkeit relevant betrachtet siehe auch Schwabenbauer
Heimliche Grundrechtseingriffe Fn 470 73 BVerfGE 109 S 279 (314) 74 Vgl BGHSt 50 S 206 (213)
praktisch unvermeidbar waren Zwar werden die Konsequenzen
dieser Eingriffe die kernbereichsrelevanten Daten geloumlscht und
nicht weiter verwertet dies aumlndert jedoch nichts daran bdquodass
stets ein Eingriff in diesen Kernbereich zunaumlchst hingenommen
wirdldquo wie sich bereits in der noch sehr kernbereichsschutz-
freundlichen Entscheidung zum groszligen Lauschangriff die Rich-
terinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt in einer abweichen-
den Meinung aumluszligerten76
Wie kann es also sein dass das
BVerfG in einem Satz den absolut geschuumltzten Kernbereich pri-
vater Lebensgestaltung proklamiert der jedem staatlichen Ein-
griff entzogen ist und im naumlchsten Satz Eingriffe in diesen
Kernbereich ausdruumlcklich zulaumlsst wenn sie nicht vermeidbar
sind
1 Exkurs Demontierung der Unantastbarkeit der
Menschenwuumlrde
Dieser augenscheinliche Widerspruch in der Rechtsprechung
des BVerfG hat mehr Sprengkraft als es auf den ersten Blick
scheint Manche folgern aus den Diskrepanzen dass das
BVerfG offensichtlich nicht willens sei den Kernbereich der
Persoumlnlichkeit tatsaumlchlich absolut zu schuumltzen77
Andere jedoch
gehen noch weiter und argumentieren dass wenn sich der aus
der Menschenwuumlrde herleitende Kernbereich privater Lebens-
gestaltung als abwaumlgungs- und relativierungsoffen erweise
auch der Absolutheitsanspruch der Menschenwuumlrdegarantie aus
Art 1 Abs 1 GG selbst in Zweifel zu ziehen sei78
Das BVerfG
sei bei dem Versuch die Wuumlrdegarantie in konkreten grund-
rechtlichen Problemlagen nutzbar zu machen gescheitert79
Die
Folge daraus sei dass es keine absolut geschuumltzten Rechtsguumlter
geben koumlnne nicht einmal im Bereich der Menschenwuumlrde80
Anhand der Rechtsprechung zum Kernbereichsschutz soll die
Menschenwuumlrdegarantie insgesamt gegenuumlber Abwaumlgungen mit
staatlichen Sicherheits- bzw Strafverfolgungsinteressen geoumlff-
net werden Wenn dies aber zutrifft was bedeutet dies fuumlr die
verbotenen Vernehmungsmethoden aus sect 136a StPO Fuumlr das
Folterverbot Hat das BVerfG tatsaumlchlich klammheimlich diese
Buumlchse der Pandora geoumlffnet
a) Menschenwuumlrde als Achtungsgebot
Den obigen Uumlberlegungen liegt die Vorstellung zugrunde dass
jede staatliche Wahrnehmung von Informationen die dem Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit zuzurechnen sind eine Menschen-
wuumlrdeverletzung darstellt Poscher bietet eine andere Interpre-
tation der Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung Fuumlr ihn wurzeln die oben gezeigten teil-
weise dramatischen Konsequenzen die ein Teil der Literatur aus
der Kernbereichsrechtsprechung zieht in einem tiefer liegenden
Missverstaumlndnis des Menschenwuumlrdeschutzes dass sich auch in
der Verraumlumlichung des Kernbereichsschutzes zeige81
Die
75 BT-Drucksache 154533 S 14 76 BVerfG 109 S 279 (383) 77 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 265 78 So Baldus JZ 2008 S 218 (224) 79 Baldus JZ 2008 S 218 (225) 80 MaunzDuumlrig-GGHerdegen Art 1 Rn 50 Rogall FS-Fezer S 61 (86) 81 Poscher JZ 2009 S 269 (274)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 45
Menschenwuumlrde sei aber kein ideeller Raum der durch einen
Eingriff in den Kernbereich privater Lebensfuumlhrung verletzt
werden koumlnne so wie ein Eindringen in die Wohnung das Recht
aus Art 13 Abs 1 GG verletze Vielmehr sei der Satz aus Art 1
Abs 1 GG woumlrtlich gemeint bdquoDie Wuumlrde des Menschen ist un-
antastbarldquo ist demnach keine Forderung sondern eine Feststel-
lung Der Staat koumlnne die Wuumlrde des Menschen nie verletzen
verletzbar sei lediglich der Achtungsanspruch der sich aus ihr
ergibt82
Dieser Achtungsanspruch wuumlrde aber nicht bereits
dadurch verletzt dass der Staat in bestimmte Freiheitsraumlume
eindringe im Extremfall koumlnne der Staat einen Angreifer sogar
toumlten ohne seine Wuumlrde zu verletzen indem er ihn zumindest
als einen Feind achte83
Der aus der Menschenwuumlrde flieszligende
Achtungsanspruch sei erst dann verletzt wenn in der Rechtsver-
letzung gerade eine Missachtung der Wuumlrde zum Ausdruck
komme so beispielsweise bei der Folter wo die Verletzung der
koumlrperlichen Unversehrtheit gerade darauf gerichtet ist die ver-
nuumlnftige Willensbildung und damit das zu negieren was den
Menschen als Gattung auszeichnet Poscher macht damit die In-
tention des Staates zum wesentlichen Kriterium der Verletzung
der Wuumlrdegarantie aus Art 1 Abs 1 GG Wenn ein Polizist auf
Streife zufaumlllig aufgrund eines geoumlffneten Fensters intime De-
tails wahrnehme liege darin keine Menschenwuumlrdeverletzung
und auch nicht wenn Beamten bei der Durchsuchung der Woh-
nung eines Drogenhaumlndlers in einer Schublade auf intime Pho-
tographien desselben stoszligen84
Eine Verletzung des Achtungs-
anspruchs bestehe erst dann wenn der Staat (gezielt) auf den
Kernbereich zugreift um Daten aus dem Kernbereich fuumlr seine
Zwecke zu nutzen denn damit zeige er dass er alle Bereiche der
Persoumlnlichkeit instrumentalisiert und seinen Zwecken unterord-
net85
Die Achtung der Menschenwuumlrde verlange demnach dass
die nicht-intendierte Erfassung von kernbereichsrelevanten Da-
ten so weit als moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen
erfolgende nicht-intendierte Kenntnisnahmen umgehend unter-
brochen werden anfallende Kernbereichsdaten sofort vernichtet
und besonders in keiner Weise verwendet werden
b) Zwischenergebnis
Mit der Ruumlckbesinnung auf die Menschenwuumlrdegarantie als
Achtungsanspruch laumlsst sich der Widerspruch in der Kernbe-
reichsrechtsprechung des BVerfG zumindest insoweit erklaumlren
als dass er nicht mehr als Beweis fuumlr die offizielle Aufgabe des
Absolutheitsanspruches der Menschenwuumlrdegarantie angefuumlhrt
werden kann Das Konzept des Gerichts beruhe demnach nicht
auf einer relativierenden Abwaumlgung der Menschenwuumlrde gegen
staatliche Sicherheitsinteressen sondern auf einem Urteil uumlber
das was der aus der Menschenwuumlrde folgende Achtungsan-
spruch gegenuumlber nicht-intendierten Folgen staatlichen Han-
delns gebietet86
2 Kernbereich der Persoumlnlichkeit als
82 Poscher JZ 2009 S 269 (274) auch BVerfGE 96 S 375 (399) 83 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 84 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 85 Poscher JZ 2009 S 269 (275)
Achtungsgebot
Den moderateren Vorwuumlrfen das BVerfG halte unabhaumlngig da-
von ob darin eine Relativierung des Absolutheitsanspruches der
Menschenwuumlrdegarantie zu sehen ist oder nicht zumindest sei-
nen absoluten Schutz des Kernbereichs nicht konsequent durch
schafft diese Interpretation jedoch noch keine Abhilfe Poscher
geht indessen noch einen Schritt weiter indem er das Achtungs-
gebot der Menschenwuumlrde auf den Kernbereich der Persoumlnlich-
keit uumlbertraumlgt
bdquoDer aus der Menschenwuumlrdegarantie abgeleitete Kernbe-
reichsschutz gilt nicht der Abdichtung eines physischen oder
ideellen Raums sondern der Achtung vor bestimmten Lebens-
aumluszligerungen von hoher Relevanz fuumlr die psychologische und so-
ziale Integritaumlt eines Grundrechtstraumlgers in welchen Raumlumen
auch immer sie sich ereignenldquo87
Diese Theorie die in der Literatur als Konstruktion kritisiert
wurde88
im Hinterkopf behaltend soll im Folgenden ein Blick
in die aktuellste Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung geworfen werden
F Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016
Am 20 April 2016 entschied das BVerfG89
anlaumlsslich einer
Verfassungsbeschwerde dass die Ermaumlchtigung des Bundeskri-
minalamts zum Einsatz von heimlichen Uumlberwachungsmaszlignah-
men zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus
zwar im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar ist die der-
zeitige Ausgestaltung von Befugnissen aber in verschiedener
Hinsicht dem Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatz nicht genuumlgt Teil
des Urteils waren dabei die Ausfuumlhrungen zu den verfassungs-
rechtlich vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen fuumlr den Kern-
bereich privater Lebensgestaltung Diese Ausfuumlhrungen sollen
nun daraufhin analysiert werden ob sie neue Erkenntnisse zu
den augenscheinlichen Diskrepanzen in der Kernbereichsrecht-
sprechung des BVerfG bieten koumlnnen
I Untermauerung der Uumlberlegungen zur Exklusion
des Straftatenbezugs
In den obigen Uumlberlegungen zur Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung wurde
der Versuch unternommen zu erlaumlutern warum dieses Krite-
rium kein Beweis fuumlr die Relativierung des absoluten Schutz des
Kernbereichs ist sondern lediglich die konsequente Anwendung
der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchstpersoumlnlichkeit von Aumlu-
szligerungen Demnach koumlnnen auch Aumluszligerungen mit konkretem
Straftatenbezug in den Kernbereich der Persoumlnlichkeit fallen
wenn die Elemente der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Gewissen und der Selbstreflexion die fuumlr eine individuelle Ent-
faltung unerlaumlsslich sind den Gesamtinhalt der Aumluszligerung stark
genug praumlgen Nach dem BGH der ein Selbstgespraumlch trotz
konkretem Straftatenbezug zum Kernbereich der Persoumlnlichkeit
86 Poscher JZ 2009 S 269 (276) 87 Poscher JZ 2009 S 269 (276) Hervorhebung hier 88 So Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270 89 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 -
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
46 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
zaumlhlte bestaumltigt nun auch das BVerfG in seiner juumlngsten Ent-
scheidung diese Interpretation indem es in aller Deutlichkeit
ausfuumlhrt
bdquoAuch koumlnnen trotz Straftatenbezugs Situationen in denen
Einzelnen gerade ermoumlglicht werden soll ein Fehlverhalten ein-
zugestehen oder sich auf dessen Folgen einzurichten wie
Beichtgespraumlche oder vertrauliche Gespraumlche mit einem Psy-
chotherapeuten oder einem Strafverteidiger der houmlchstpersoumlnli-
chen Privatsphaumlre unterfallen die dem Staat absolut entzogen
istldquo90
Damit laumlsst das BVerfG nun auch Aumluszligerungen mit unmittel-
baren Bezug zu konkreten Straftaten in den Kernbereich privater
Lebensgestaltung fallen Bei der in fruumlheren Entscheidungen91
noch so kategorisch anmutenden Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung han-
delt es sich somit um eine Vermutung die ihre Ausnahme in
Aumluszligerungen findet die in besonders hohem Maszlige der individu-
ellen Reflektion und Selbstentfaltung dienen und damit den So-
zialbezug des straftatbezogenen Inhalts uumlberwiegen
II Bestaumltigung des Achtungsgebots der
Menschenwuumlrde
Seit das BVerfG Uumlberwachungsmaszlignahmen zulieszlig obwohl
eine Erfassung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unver-
meidbar war musste es viel Kritik einstecken Der schaumlrfste
Vorwurf war mit der Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs auch die Menschenwuumlrde selbst Abwaumlgungsuumlber-
legungen zugaumlnglich zu machen Vermutlich um diesen Ten-
denzen ein Ende zu setzen stellte das Gericht in seinem neuen
Urteil klar
bdquoDer Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist
strikt und darf nicht durch Abwaumlgung mit den Sicherheitsinte-
ressen nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes re-
lativiert werden [hellip] Dies bedeutet jedoch nicht dass jede tat-
saumlchliche Erfassung von houmlchstpersoumlnlichen Informationen stets
einen Verfassungsverstoszlig oder eine Menschenwuumlrdeverletzung
begruumlndetldquo92
Damit scheint das Gericht Poschers Interpretation der Men-
schenwuumlrdegarantie als Achtungsanspruch zu bestaumltigen Indem
es feststellt dass zum Schutz des Kernbereichs Vorkehrungen
zu treffen sind bdquodie eine unbeabsichtigte Miterfassung von
Kernbereichsinformationen nach Moumlglichkeit ausschlieszligenldquo93
orientiert es sich nicht nur stark an der Formulierung Po-
schers94
sondern erwaumlhnt uumlberhaupt erstmals das Kriterium der
90 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
122 91 BVerfGE 80 S 367 (374) BVerfGE 109 S 279 (319) 92 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 93 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
126 Hervorhebung hier 94 Poscher JZ 2009 S 269 (275) bdquo[hellip] dass das nicht-intendierte Eindringen
[in den Kernbereich] soweit als moumlglich vermieden wirdldquo 95 Kant Die Metaphysik der Sitten Teil 2 sect 38 96 BVerfGE 109 S 279 (313)
staatlichen Intention im Zusammenhang mit der Kernbereichs-
rechtsprechung und laumlsst damit den Schluss auf eine sich auf das
Kantlsquosche Instrumentalisierungsverbot95
beziehende Interpreta-
tion der Menschenwuumlrde zu Dies ist insoweit wenig uumlberra-
schend da das BVerfG bereits im Abhoumlrurteil von einem abso-
lut geschuumltzten Achtungsanspruch der Menschenwuumlrde
sprach96
Ausdruumlcklich bdquoDie akustische Wohnraumuumlberwa-
chung zu Strafverfolgungszwecken verstoumlszligt dann gegen die
Menschenwuumlrde wenn der Kernbereich privater Lebensgestal-
tung nicht respektiert wirdldquo97
III Bestaumltigung des Achtungsgebots des
Kernbereichs
Erstaunlich am juumlngsten Urteil des BVerfG zum Kernbereichs-
schutz ist dass es diesen Achtungsanspruch auf den Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung uumlbertraumlgt Absolut geschuumltzt ist
demnach nicht der Kernbereich selbst sondern das Achtungsge-
bot des Kernbereichs Wie bei der Menschenwuumlrde liegt dem-
nach nur dann eine Verletzung des Kernbereichs bzw des Ach-
tungsgebots desselben vor wenn der Kernbereich missachtet
wird also der Staat bewusst auf den Kernbereich zugreift um
die houmlchstpersoumlnlichen Inhalte fuumlr Strafverfolgungszwecke zu
instrumentalisieren So schreibt das BVerfG
bdquoDer Kernbereich privater Lebensgestaltung beansprucht ge-
genuumlber allen Uumlberwachungsmaszlignahmen Beachtungldquo98
und kurz darauf noch deutlicher
bdquoDie Verfassung verlangt [hellip] fuumlr die Ausgestaltung der
Uumlberwachungsbefugnisse die Achtung des Kernbereichs als eine
strikte nicht frei durch Einzelfallerwaumlgungen uumlberwindbare
Grenzeldquo99
Ausdruumlcklich wird hier als Eingriffsgrenze staatlicher Uumlber-
wachungsmaszlignahmen nicht der Kernbereich privater Lebensge-
staltung selbst sondern die Achtung vor demselben angefuumlhrt
Uumlberraschend distanziert sich das BVerfG damit von einem
raumlumlich-gedachten Kernbereich der bei einem Eingriff verletzt
ist obwohl Formulierungen in fruumlheren Urteilen noch auf ein
solches Verstaumlndnis hindeuten100
Bei genauerer Betrachtung
jedoch taucht die Rhetorik von der Achtung des Kernbereichs
bereits in der Entscheidung zur akustischen Wohnraumuumlberwa-
chung auf Dort ist die Rede von einem bdquoverfassungsrechtlichen
Gebot unbedingter Achtung einer Sphaumlre des Buumlrgers fuumlr eine
ausschlieszliglich private ndash eine houmlchstpersoumlnliche ndash Entfal-
tungldquo101
Auch im Urteil zur Online-Durchsuchung spricht das
Gericht von einer bdquoverfassungsrechtlich gebotenen Achtung des
Kernbereichs privater Lebensgestaltungldquo102
97 BVerfGE 109 S 279 (314) 98 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
123 99 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 100 Bspw BVerfGE 120 S274 (338) bdquoDer Gesetzgeber hat [hellip] sicherzustel-
len dass [hellip] die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung [hellip] so gering wie
moumlglich [bleibt]ldquo ndash scheinbar Verletzung des Kernbereichs durch Eingriffe 101 BVerfGE 109 S 279 (313) 102 BVerfGE 120 S 274 (339)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 47
Es scheint als haumltte Poscher mit seiner Interpretation der
Menschenwuumlrde und der vorsichtigen Uumlbertragung dieses Kon-
zepts auf den Kernbereichsschutz ins Schwarze getroffen Legt
man dieses Verstaumlndnis uumlber die Urteile zum Kernbereichs-
schutz die bei einer Interpretation des Kernbereichs als absolut
geschuumltzten Raum so widerspruumlchlich erscheinen loumlsen sich die
Diskrepanzen in der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
in Luft auf Eine versehentliche Wahrnehmung kernbereichsre-
levanter Informationen stellt demnach noch keine Kernbereichs-
verletzung dar sondern erst wenn der Staat damit seine Miss-
achtung zum Ausdruck bringt Letztendlich ist diese Interpreta-
tion recht naheliegend denn wenn sich der Kernbereich der Per-
soumlnlichkeit aus der Menschenwuumlrde ergibt dann ist es logisch
dass der Staat zum Kernbereich das gleiche Verhaumlltnis hat wie
zur Menschenwuumlrde naumlmlich dass er sie zu achten hat
IV Konsequenz eines Achtungsgebots des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Die Frage die sich nun stellt ist Was verlangt das Achtungsge-
bot des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Genau dies ist
es was das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Kernbe-
reichsschutz herausgearbeitet hat und im oberen Teil der Arbeit
dargestellt wurde Die Schutzvorkehrungen sind damit keine
Kriterien die einen absoluten Schutz garantieren sollen sondern
das was das BVerfG fuumlr notwendig haumllt um die staatliche Ach-
tung vor dem Kernbereich der Persoumlnlichkeit auszudruumlcken
Dass er Eingriffe zulaumlsst obwohl die Erfassung kernbereichsre-
levanter Daten praktisch unvermeidbar ist basiert auf der Wer-
tung dass der Achtung des Kernbereichs genuumlge getan ist wenn
das nicht-intendierte (denn gezielt kernbereichsausforschende
Maszlignahmen waumlren zweifellos eine Missachtung) Eindringen
soweit wie moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen er-
folgende unbeabsichtigte Kenntnisnahmen umgehend zu unter-
brechen anfallende Kernbereichsdaten sofort zu vernichten und
in keiner Weise zu verwenden
Nun koumlnnte man diese Wertung mit dem Standpunkt anzwei-
feln dass die einzige Form mit der die Achtung des Kernbe-
reichs ausgedruumlckt werden kann darin besteht die Eingriffe die
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu unbeabsichtigten
Wahrnehmungen kernbereichsrelevanter Daten fuumlhren grund-
saumltzlich zu unterlassen103
Wenn der Staat Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen durchfuumlhrt obwohl eine Erfassung kernbereichsrele-
vanter Daten praktisch unvermeidbar ist ist dies nicht anders
als wenn gezielt auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung
zugegriffen wird schlieszliglich sind zwangslaumlufige Folgen einer
Handlung von der Handlungsintention stets miterfasst104
Letz-
teres Argument laumlsst sich zumindest dogmatisch dadurch ent-
kraumlften dass Uumlberwachungsbeamte regelmaumlszligig darauf hoffen
werden gerade keine kernbereichsrelevanten Daten zu erheben
um die Ergebnisse ihrer Uumlberwachung uumlberhaupt verwerten zu
koumlnnen Den Ansatz die Achtung vor dem Kernbereich gebiete
es Maszlignahmen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der
Kernbereichsberuumlhrung kategorisch zu unterlassen strikt durch-
103 So bspw SachsKrings JuS 2008 S 481 (485f) 104 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270
zusetzen wuumlrde bedeuten dass etliche Strafverfolgungsmaszlig-
nahmen wie beispielsweise die klassische Wohnungsdurchsu-
chung in Privatwohnungen ebenfalls unzulaumlssig waumlren Letzt-
endlich genuumlgt es jedoch nicht dem BVerfG vorzuwerfen seine
Kriterien wuumlrden dem Achtungsgebot des Kernbereichs der Per-
soumlnlichkeit nicht gerecht Es muumlsste vielmehr gezeigt werden
inwiefern ein Staat der alles praktisch und technisch Moumlgliche
unternimmt um den Kernbereich der Persoumlnlichkeit seiner Buumlr-
ger vor Wahrnehmungen zu schuumltzen der sich jede Verwertung
versagt und zudem eine unabhaumlngige Uumlberwachung einrichtet
trotz dieser Anstrengungen seine Missachtung zum Ausdruck
bringt105
G Fazit
Anhand der Interpretation des absolut geschuumltzten Kernbereichs
als Achtungsgebot ist es moumlglich die Kernbereichsrechtspre-
chung des BVerfG mit sich selbst in Einklang zu bringen Die
Aufloumlsung der oben diskutierten augenscheinlichen Widerspruuml-
che duumlrfte das Verstaumlndnis fuumlr die bundesverfassungsgerichtli-
che Judikatur foumlrdern und die zukuumlnftige Diskussion um den
Schutz des Kernbereichs erleichtern Ob der faktische Kernbe-
reichsschutz davon ebenso profitiert ist fraglich Die Verlage-
rung der Debatte auf die Wertung was die Achtung vor dem
Kernbereich gebiete laumlsst dem BVerfG bei seiner Rechtspre-
chung wesentlich mehr Wuumlrdigungsspielraum und gibt Kriti-
kern weniger handfeste Argumente an die Hand als eine raumlum-
lich-gedachte absolute Grenze Die Kernbereichsklausel des sect
100a Abs 4 StPO bleibt jedoch auch bei dieser Interpretation
mangelhaft denn wenn den Behoumlrden erlaubt wird auch bei An-
haltspunkten auf eine Beruumlhrung des Kernbereichs abzuhoumlren
kann von einer Achtung desselben keine Rede sein Unzweifel-
haft hat die Rechtsfigur des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
Vergleich zum Abhoumlrurteil an Wert verloren sie aumlhnelt nun eher
einer Konkretisierung der Menschenwuumlrdegarantie bei informa-
tionserhebenden Maszlignahmen Zwar ist die Nutzbarmachung der
Menschenwuumlrde in dieser Form eine begruumlszligenswerte Entwick-
lung die Idee eines tatsaumlchlich absolut geschuumltzten Bereichs
menschlicher Freiheit in den der Staat um keinen Preis eindrin-
gen kann war jedoch ein erfrischender Gegentrend zu der Ten-
denz Individualinteressen prinzipiell dem kollektiven Nutzen
unterzuordnen Die Scheu vor dieser Entwicklung wird es auch
sein was das BVerfG bis heute dazu bewegt in jedem Urteil
wieder die Unantastbarkeit des Kernbereichs zu proklamieren
und diese dem liberalen Verfassungsstaat entstammende Idee
des jedem staatlichen Zugriff entzogenen Freiheitsraumes am
Leben zu erhalten
Der Autor hat sein erstes juristisches Staatsexamen an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg 2018 abgelegt Des Weiteren war er seit 2015 am Max-Planck-Institut ebenfalls in Freiburg taumltig und war wissenschaftlicher Mitarbeit beim Lehrstuhl Prof Dr Perron (Frei-burg) bis er im April 2019 sein Referendariat am LG Freiburg begon-nen hat Die Arbeit entstand im Rahmen eines interdisziplinaumlren Se-minars zum Thema Cybercrime digitale Ermittlungen und Daten-schutz im WS 20162017
105 Poscher JZ 2008 S 269 (275)
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
48 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Buchrezension bdquoFamilienrechtldquo
-
Prof Dr Nina Dethloff
Tino Haupt
Das Familienrecht hat insbesondere in den letzten Jahren
stark im oumlffentlichen Interesse gestanden Beispielhaft ge-
nannt sei hier die sogenannte bdquoEhe fuumlr alleldquo Nach mona-
telangen emotional in der Oumlffentlichkeit gefuumlhrten Debat-
ten hat der Bundestag sich am 30 Juni 2017 mit einer
deutlichen Mehrheit fuumlr den Bundesratsentwurf und somit
die Eheoumlffnung entschlossen
Hervorzuheben sind auszligerdem die in letzter Zeit erfolgten
Aumlnderungen zur Bekaumlmpfung von Kinderehen und stetige
Entwicklungen im Abstammungsrecht
Gut geeignet fuumlr das Erlernen all dieser Gebiete ist das
Werk von Nina Dethloff zum Familienrecht
I Allgemeines zur Autorin und zum Lehrbuch
Nina Dethloff ist Professorin an der Universitaumlt Bonn und dort
Inhaberin des Lehrstuhls fuumlr Buumlrgerliches Recht Internationales
Privatrecht Rechtsvergleichung und Europaumlisches Privatrecht
Zuletzt war sie unter anderem Vorsitzende der Abteilung fuumlr
Familienrecht bei dem 72 Deutschen Juristentag in Leipzig
(Thema Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach
Trennung und Scheidung ndash Reformbedarf im Sorge- Umgangs-
und Unterhaltsrecht)
Das hier behandelte Lehrbuch zum Familienrecht wurde von
Guumlnther Beitzke begruumlndet und in der 26 und 27 Auflage von
Alexander Luumlderitz bearbeitet Mit der 28 Auflage wurde die
Bearbeitung von Nina Dethloff uumlbernommen Im Jahr 2018 ist
das Werk in der 32 Auflage im Verlag CH Beck erschienen
und ist fuumlr einen Preis von 3290 euro im Buchhandel erhaumlltlich
II Zum Inhalt
Die Autorin gliedert 548 Seiten Lehrbuchtext in eine Einleitung
sowie drei Kapitel und diese in insgesamt 17 Paragraphen Die
drei Kapitel des Werkes tragen die Titel bdquoEhe und Partner-
schaftldquo bdquoFamilieldquo und bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo
Vor dem Einstieg in die eigentliche Materie erlaumlutert die
Autorin in einer Einleitung von 25 Seiten die Hintergruumlnde des
Rechtsgebietes bdquoFamilienrechtldquo Deutlich wird hierbei die hohe
praktische Relevanz des Familienrechts aufgrund der enormen
Anzahl an familienrechtlichen Streitigkeiten Dargestellt wird
auszligerdem der Zusammenhang des Familienrechts mit dem
Verfassungsrecht sowie dem internationalen Recht Auch eine
Erlaumluterung der wichtigsten Reformgesetze und der elementaren
Begriffe erfolgt
Mit diesem Grundwissen ausgeruumlstet stellt die Autorin im 1
Kapitel (bdquoEhe und Partnerschaftldquo) den Gang der Ehe dar der mit
dem Verloumlbnis beginnt und haumlufig mit der Ehescheidung endet
Dargestellt wird auszligerdem die eingetragene Lebenspartner-
schaft (wobei diese mit der erfolgten Oumlffnung der Ehe erheblich
an Relevanz verloren hat) und die praktisch auszligerordentlich
relevante faktische Lebensgemeinschaft das heiszligt Lebensge-
meinschaften die ohne Eheschlieszligung oder Begruumlndung einer
Lebenspartnerschaft erfolgen Etwas zu kurz geraten hier die
Ausfuumlhrungen zu den vermoumlgensrechtlichen Anspruumlchen bei
Beendigung der Gemeinschaft Um der Bedeutung insbesondere
in Klausuren gerecht zu werden koumlnnte vor allem die
Darstellung des Bereicherungsrechts in diesem Zusammenhang
ausfuumlhrlicher erfolgen
Neben dem Eherecht ist das Verwandtschaftsrecht das zweite
groszlige Gebiet welches im familienrechtlichen Teil des BGB ge-
regelt ist Die Autorin behandelt diese Aspekte im 2 Kapitel
welches den Titel bdquoFamilieldquo traumlgt Uumlberzeugend ist hier das auch
immer wieder klausurrelevante Abstammungsrecht Neben der
Darstellung der Abstammung von der Mutter und dem Vater
werden auch kontrovers diskutierte Themen wie Leihmutter-
schaft und Babyklappen anschaulich und zum weiteren
Nachdenken anregend behandelt Die weiteren Ausfuumlhrungen
betreffen unter anderem den Unterhalt und die elterliche Sorge
aber auch die Thematik der Pflegefamilie und der Adoption
Abschlieszligend behandelt die Autorin in einem 3 Kapitel wel-
ches den Titel bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo traumlgt Fragestellungen die
im Zusammenhang mit Vormundschaft Rechtlicher Betreuung
und Pflegschaft entstehen
Im Anhang findet sich auszligerdem die Duumlsseldorfer Tabelle
mit Stand zum 112018 welche eine Richtlinie fuumlr den durch
den Barunterhaltspflichtigen an das Kind zu zahlenden Unter-
halt gibt
Hinsichtlich des inhaltlichen Aufbaus laumlsst sich feststellen dass
die einzelnen Paragraphen mit teils kurzen manchmal auch laumln-
geren Faumlllen eingelaumlutet werden die dann im Laufe der jeweili-
gen Darstellung geloumlst werden Das Buch erfuumlllt somit auch teil-
weise die Funktion von Fallbuumlchern und kann diese deshalb
ersetzen Hinzu kommen am Ende eines jeden Paragraphen
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen welche das gerade
Erlernte noch einmal abfragen und somit vertiefen Die
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 49
Loumlsungen zu diesen Fragen finden sich erst gesammelt am Ende
des Buches sodass die Motivation groumlszliger ist zunaumlchst einmal
selbst uumlber die Loumlsung nachzudenken anstatt sofort die Muster-
loumlsung nachzulesen Zudem finden sich immer wieder Angaben
zum relevanten Schrifttum
III Stellungnahme
Die Neubearbeitung des Lehrbuchs zum Familienrecht ist auch
in der 32 Auflage erfolgreich verlaufen
Alle relevanten Gesetzesaumlnderungen und die Entwicklungen
in der Rechtsprechung und der Literatur sind angemessen verar-
beitet Fuumlr eine schnelle Wiederholung des Familienrechts kurz
vor der Klausur eignet sich das Werk aufgrund des nicht gerade
geringen Umfangs nicht unbedingt Hier bieten sich kompaktere
Darstellungen zum Familienrecht an Gerade bei der Erstellung
von Haus- und Seminararbeiten sowie der tiefergehenden Vor-
bereitung auf die Klausur im Familienrecht etwa fuumlr das Erste
Juristische Staatsexamen oder den Schwerpunktbereich kommt
einem die ausfuumlhrliche Darstellung jedoch zugute Auszligerdem
kann durch die uumlbersichtliche Aufteilung in Kapitel und Para-
graphen schnell das Gesuchte gefunden werden Gerade fuumlr die
familienrechtlichen Klausuren im Studium kann somit eher als
bdquoSpezialwissenldquo Anzusehendes wie zB die Ausfuumlhrungen zur
Duumlsseldorfer Tabelle auch weggelassen werden
Erfreulich waumlre die Aufnahme eines Paragraphenverzeich-
nisses ndash dieses sucht man vergeblich Insbesondere bei Unklar-
heiten oder sonstigem Lesebedarf zu einer bestimmten Norm
erweist sich dieses als besonders hilfreich Unterstuumltzend bei der
Suche nach bestimmten Begriffen im Buch und deshalb auch
uumlberzeugend ist hingegen das umfangreiche und dennoch
anschaulich gestaltete Sachverzeichnis
Der Autor ist Wiss Mitarbeiter am Lehrstuhl fuumlr Deutsche und Europaumlische Rechtsgeschichte Kirchenrecht und Buumlrgerliches Recht (Prof Dr Anja Amend-Traut) an der Juristischen Fakultaumlt der Universitaumlt Wuumlrzburg sowie Wiss Mitarbeiter bei Freshfields Bruckhaus Deringer in der Praxisgruppe Globale Transaktionen in Frankfurt am Main
Schick Einfuumlhrung in die Logik Rezension Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 50
Buchrezension bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo
Drphil habil Alexander Aichele Dr phil Jakob Meier Prof Dr iur Joachim Renzikowski Sebas-
tian Simmert MA
-
von Stefan Schick
Wer sich als Jurist mit einem Buch zur Logik als wissenschaft-
licher Disziplin konfrontiert sieht stellt sich hierbei zunaumlchst die
Frage warum er sich mit dieser Materie die wohl auf den ersten
Blick der Mathematik zuzuordnen ist beschaumlftigen sollte Diese
Frage beantworten die Autoren selbst zu Beginn Wie jede Wis-
senschaft versucht die Rechtswissenschaft die Welt in ihrem Ge-
genstandsbereich (Recht) durch Aussagen zu analysieren Fuumlr
die Frage ob eine Aussage anwendbar ist und wie verschiedene
Aussagen in Beziehung zu setzen sind ist die Logik die ent-
scheidende Grunddisziplin Logik ist damit die Grundvorausset-
zung jeder sinnhaften Aussage und des informationsvermitteln-
den Kommunizierens
Die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo ist im Jahr
2015 im CHBeck Verlag Muumlnchen (Reihe bdquoJura kompaktldquo)
in Erstauflage erschienen Das vierkoumlpfige Autorenteam ist in-
terdisziplinaumlr wobei Prof Dr Joachim Renzikowski der den
Lehrstuhl fuumlr Strafrecht Rechtsphilosophie und Rechtstheorie
an der Martin-Luther-Universitaumlt Halle-Wittenberg innehat fuumlr
die spezifische juristische Fachkompetenz sorgt Die Abhand-
lung beruht auf einer gleichnamigen Vorlesung im Winterse-
mester 20092010 an der Martin-Luther Universitaumlt Halle-Wit-
tenberg
Die Abhandlung gliedert sich in fuumlnf groumlszligere Abschnitte Im
ersten dieser Abschnitte werden zunaumlchst die Grundbegriffe und
Grundmodelle der wissenschaftlichen Logik erlaumlutert insbeson-
dere wird der Begriff als Grundgegenstand der Logik naumlher aus-
geleuchtet Der zweite Abschnitt beschaumlftigt sich in der Folge
mit der Verbindung mehrerer Begriffe also der Aussage Dabei
werden die konstruktiven Grundvoraussetzungen sinnhafter
Aussagen erarbeitet darauf folgend verschiedene Arten von
Aussagen und besondere Auspraumlgungen solcher klassifiziert
Der dritte Abschnitt beschaumlftigt sich dann mit der Beziehung
mehrerer Aussagen zueinander Dabei geht es vor allem darum
vom Wahrheitsgehalt einer Aussage auf den Wahrheitsgehalt
anderer Aussagen zu schlieszligen Dies wird von den Autoren als
der Kernbereich der wissenschaftlichen Logik identifiziert Im
vierten Abschnitt geht es um die sog Deontische Logik Darun-
ter versteht man den spezifisch rechtswissenschaftlichen Be-
reich der Logik also das Verhaumlltnis von Handlungen und Nor-
men Im fuumlnften und letzten Abschnitt wird die Urteilsbegruumln-
dung des BGH im bekannten Jauchegruben-Fall unter logi-
schen Gesichtspunkten untersucht Hier schwingt auch deutliche
Kritik an der Vernachlaumlssigung der Logik als wissenschaftlicher
Disziplin im Bereich juristischer Methodenlehre mit Abge-
schlossen wird die Abhandlung dann mit einem formalen Uumlber-
blick
Grundsaumltzlich positiv faumlllt die Bemuumlhung der Autoren auf
die komplexe Materie der wissenschaftlichen Logik auch fuumlr
Neulinge auf diesem Gebiet anschaulich zu erklaumlren Schoumln sind
in diesem Zusammenhang auch die vielen juristischen Bei-
spiele Der Umfang der Darstellung ist mit 86 Seiten uumlberschau-
bar Jedoch waumlre es der Lesbarkeit in diesem Zusammenhang
zugutegekommen wenn fuumlr eine groumlszligere Schriftgroumlszlige einige
Seiten mehr in Kauf genommen worden waumlren
Zugegebenermaszligen handelt es sich bei der bdquoEinfuumlhrung in die
Logik und ihren Gebrauchldquo weder um eine Lektuumlre die fuumlr das
Studium unmittelbar weiterhilft noch um eine einfache Bettlek-
tuumlre Wer sich aber fuumlr Hintergruumlnde ndash insbesondere auch fach-
uumlbergreifend ndash interessiert und eine gewisse Freude am abstrak-
ten Denken mitbringt kann von dieser Grunddarstellung klar
profitieren Diese Freude am abstrakten Denken ist aber auch
notwendig so sind die Ausfuumlhrungen teilweise ndash trotz der ge-
lungenen Veranschaulichung ndash sehr komplex was aber selbst-
verstaumlndlich auch der komplexen Thematik geschuldet ist
Der Autor promoviert und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Muumlnchen
UN
SE
RE
ST
AN
DO
RT
E
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website | wwwschrade-partnerde
Seit 1976 betreuen wir Unternehmen und Unternehmer in allen Fragen des Wirtschaftsrechts Mit fuumlnf Standorten im suumldlichen Baden-Wuumlrttemberg und einem in Berlin sind rund 35 Rechtsanwaumlltinnen und Rechtsanwaumllte immer genau dort wo unsere Mandanten uns brauchen
bdquoWir geben der Wirtschaft Rechtldquo
Unser Credo praumlgt unsere taumlglichen Aufgaben Wir bieten ein breites Spektrum an Fachwissen und verfuumlgen uumlber einen groszligen Erfahrungsschatz in folgenden Kernkompetenzfeldern
- Gesellschaftsrecht - Handelsrecht - Unternehmenskauf (MampA) Unternehmensumstrukturierung - Arbeits- und Dienstvertragsrecht - Aktienrecht - Erbrecht und Unternehmensnachfolge - Sanierungs- und Restrukturierungsberatung Insolvenzrecht - Vergabe- und Kartellrecht - Prozessfuumlhrung Litigation - Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht - Recht des Gesundheitswesens
Wir arbeiten standortuumlbergreifend und interdisziplinaumlr Selbstverstaumlndlich werden neben den rechtlichen auch saumlmtliche steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Aspekte beruumlcksichtigt Deshalb pflegen wir eine enge Zusammenarbeit mit Steuerberatern und Wirtschaftspruumlfern Auszligerdem stehen unsere Beratungskonzepte immer in einem vernuumlnftigen finanziellen Verhaumlltnis zur Aufga-benstellung
Sie moumlchten uns besser kennenlernen Sprechen Sie uns gerne jederzeit an
BERLIN Georgenstraszlige 23 10117 Berlin Telefon +4930235024-0 Telefax +4930235024-99 berlinschrade-partnerde
LAHR Stefanienstraszlige 45 77933 Lahr Telefon +49782199039-30 Telefax +49782199039-59 lahrschrade-partnerde
TUTTLINGEN Bahnhofstraszlige 44 78532 Tuttlingen Telefon +497461965093-10 Telefax +497461965093-99 tuttlingenschrade-partnerde
FREIBURG Hermann-Herder-Straszlige 4 79104 Freiburg Telefon +49761389469-0 Telefax +49761389469-99 freiburgschrade-partnerde
VILLINGEN-SCHWENNINGEN Max-Planck-Straszlige 11 78052 Villingen-Schwenningen Telefon +49772120626-0 Telefax +49772120626-100 villingenschrade-partnerde
SINGEN Hegau-Tower Maggistraszlige 5 78224 Singen Telefon +49773159145-500 Telefax +49773159145-510 singenschrade-partnerde
Wer sind wir
FREILAW ist die studentisch-juristische Zeitschrift der Albert-Ludwigs-Universitaumlt
Freiburg und besteht als Projekt Freiburger Studierender bereits seit 2006 Die
Zeitschrift erscheint in drei bis vier Ausgaben jaumlhrlich online und teilweise auch
gedruckt Neben wissenschaftlichen Artikeln veroumlffentlichen wir auch solche die uumlber
das Fachliche hinausgehen und fuumlr Jurastudierende lesenswert sind In unseren
Ausgaben veroumlffentlichen wir daruumlber hinaus regelmaumlszligig Erfahrungsberichte uumlber
Auslandsaufenthalte sowie Interviews im Rahmen der Berufsperspektive fuumlr Juristen
Warum gerade Ihr Egal ob Ihr im ersten oder letzten Semester seid Ihr koumlnnt euch bei uns jederzeit in die
Redaktionsarbeit einbringen oder sogar eigene Artikel veroumlffentlichen
Was erwartet Euch Wir haben Aufgaben in vielen Bereichen von der Redaktionsmitarbeit der Pflege
unseres Internetauftritts bis hin zur Oumlffentlichkeitsarbeit uvm Euch erwartet eine
angenehme Arbeitsatmosphaumlre in einem netten und motivierten Team
Was erwarten wir
Kreative und motivierte Mitarbeiter die Interesse an der Weiterentwicklung des
Journals haben
Worauf wartet Ihr Kommt einfach zur naumlchsten Redaktionssitzung vorbei
Die Termine der Redaktionssitzung werden auf unserer
Homepage (wwwfreilawde) und auf unserer
Facebook-Seite (wwwfacebookcomfreilaw) bekanntgegeben
Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 IV
Vorwort der Chefredaktion
Liebe Leserinnen und Leser
Recht ist nie stetig sondern stets im Wandel Sichtbar wird dies immer wieder dann wenn
Gesetze oder rechtlich bedeutende Handlungen auf gesellschaftliche Kritik stoszligen und
Kontroversen ausloumlsen Eine solche Entwicklung lieszlig und laumlsst sich in der letzten Zeit etwa in
Israel und ganz besonders in der Europaumlischen Union feststellen
So moumlchten wir in dieser Ausgabe den ein oder anderen Aspekt juumlngerer Entwicklungen im
Recht oder in seiner Anwendung beleuchten
Zunaumlchst koumlnnen Sie dazu einen Artikel zum bdquoMenschenwuumlrdeverstaumlndnis Israels und dessen
Entwicklung auf das israelische Rechtldquo lesen Sodann wird der politisch brisante Aspekt der
bdquoAnerkennung Jerusalems und der Verlegung der US-Botschaft im Rahmen des Voumllkerrechtsldquo
vorgestellt
Dem schlieszligen sich zu europarechtlichen Fragestellungen ein Artikel zur bdquoProblematik der
europaumlischen Demokratie und der rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGHldquo sowie ein Artikel zu
bdquoConditional consent as a valid legal ground for data processingldquo innerhalb der DSGVO an
Ebenfalls an das Europarecht angelehnt erscheint die Fallbesprechung der Causa Magnus
Gaumlfgens die im Rahmen des Rechtsschutzes und der Verfahrensgarantien der EMRK
beleuchtet wird Zum anderen erhalten Sie durch die Abhandlung zum bdquoSchutz des Kernbereichs
der Persoumlnlichkeit im Rahmen strafprozessualer Ermittlungenldquo einen Einblick in bedeutende
Problemfelder des Strafprozessrechts
Abgerundet wird auch diese Ausgabe durch zwei Rezensionen zum einen uumlber das Lehrbuch
bdquoFamilienrechtldquo von Nina Dethloff und zum anderen uumlber die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren
Gebrauchldquo von Alexander Aichele Jakob Meier Joachim Renzikowski und Sebastian Simmert
Wir wuumlnschen Ihnen viel Spaszlig beim Lesen
Ihre Chefredaktion von Freilaw
(Sarah Baukelmann) (Joeumll Stumpp)
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
1
Von der Torah bis zur Knesset ndash Uumlber die Entwicklung des juumldischen
Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses und dessen Einfluss auf das
israelische Recht
-
Till Gawlyta
A Einleitung
Der Artikel beruht auf einer Seminararbeit mit dem Titel bdquoRechtsphilosophische Grundlagen der Menschenwuumlrde-diskussion - Die Menschenwuumlrde in Israel als Ausdruck europaumlischer Rechtsrezeption oder eigener religioumlser Tra-ditionldquo die im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher (Universitaumlt Freiburg) eingereicht wurde Be-handelt werden die Entwicklung der Menschenwuumlrdega-rantie in Israel und ihre Stellung innerhalb der israelischen Rechtsordnung Dazu erfolgt eine Darstellung der Genese des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses sowie wegweisender Urteile des obersten Gerichtshofs seit der Einfuumlhrung des Grundrechts auf Menschenwuumlrde im Jahr 1992 Der Arti-kel beleuchtet dabei einerseits die verbluumlffende Fort-schrittlichkeit des antiken juumldischen Menschenwuumlrdedis-kurses und andererseits das Ringen von religioumlsem und saumlkularem Wuumlrdeverstaumlndnis um die Vorherrschaft in der Gesetzgebung und Rechtsprechung Israels
B Die Entwicklung des juumldischen
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Der heutige Wortlaut fuumlr Menschenwuumlrde im Hebraumlischen
Kvod Harsquoadam ist erst seit der Verbreitung der Menschenwuumlrde
in europaumlischen Rechtsordnungen waumlhrend der zweiten Haumllfte
des 20 Jahrhunderts gelaumlufig den Ausgangspunkt fuumlr die Be-
zeichnung einer Wuumlrde des Menschen bildet im Judentum das
in der Bibel haumlufig vorkommende Wort Kavod das urspruumlnglich
mehrere Bedeutungen hatte zum einen bdquoWuumlrdeldquo und (soziale)
bdquoEhreldquo im Sinne eines gesellschaftlichen Status aumlhnlich der rouml-
mischen Dignitas zum anderen die Gegenwart Gottes1 Da jeder
Mensch nach dem in Genesis angelegten Verstaumlndnis ein Eben-
bild Gottes im Hebraumlischen Tzelem Elohim ist und durch jeden
Menschen Gott gegenwaumlrtig ist kommt auch jedem Menschen
Kavod zu2 Ein anderer vor allem in klassischen juumldischen
Rechtstexten gelaumlufiger Begriff fuumlr Wuumlrde ist Kvod Habriyot
der sich mit bdquoEhreWuumlrde der Menschenldquo uumlbersetzen laumlsst Die-
ser Begriff kann fuumlr einen dem Menschen innewohnenden Wert
1 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 2 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667f 3 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 4 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 669
stehen ist jedoch auch mit einer Wuumlrde im Sinne der Dignitas
konnotiert3 Der Begriff Kvod Habriyot ist im Plural formuliert
und beschreibt daher in weiten Teilen die Wuumlrde des Menschen
als integralen Teil eines Kollektivs4
I Das Wuumlrdeverstaumlndnis der Torah
Der erste und bedeutendste Teil der juumldischen Bibel ist die
Torah die aus den fuumlnf Buumlchern Mose besteht und dem Chris-
tentum als das Alte Testament bekannt ist Die Torah ist die aumll-
teste und bedeutendste schriftliche Quelle des Judentums und
stellt den Ausgangs- und Bezugspunkt saumlmtlicher folgender
Schriften des Judentums dar Die Torah enthaumllt Rechtstexte die
Halakhah die den aumlltesten Teil des kanonischen Rechts des Ju-
dentums bilden
1 Ebenbildlichkeit als Demokratisierung der Bindung
zu Gott
Vergleicht man das in Genesis angelegte Verstaumlndnis der Eben-
bildlichkeit Tzelem Elohim der Menschen mit Gott mit der zum
Zeitpunkt der Entstehung der fuumlnf Buumlcher Mose im Nahen Osten
vorherrschenden Vorstellung von der Bindung zwischen Gott-
heiten und Menschen erscheint das juumldische Verstaumlndnis als
sehr fortschrittlich In benachbarten Kulturen wie in Mesopota-
nien und Aumlgypten ging man davon aus dass lediglich der Herr-
scher sowie dessen Nachkommenschaft Ebenbilder und Kinder
des Goumlttlichen sein koumlnnen5 Das juumldische Verstaumlndnis das al-
len Menschen durch ihre Abstammung von Adam und Eva eine
Ebenbildlichkeit mit Gott zuspricht fuumlhrte somit zu einer De-
mokratisierung der Bindung zwischen dem Goumlttlichen und dem
Menschlichen6 Nicht nur die in benachbarten Kulturen den
Herrschern vorbehaltene Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
sondern auch der damit einhergehende Titel bdquoSohn Gottesldquo
wurde im Judentum der gesamten Bevoumllkerung uumlbertragen7
5 Y Lorberbaum Disempowered King ndash Monarchy in Classical Jewish Lit-
erature 2011 S 145f 6 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137 7 A Boumlckler Die Tora nach der Uumlbersetzung von Moses Mendelssohn 2014
Deuteronomium Kap 14 Vers 1
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 2
Auch wenn daraus noch kein normativer Anspruch folgte mar-
kiert der Gedanke des Tzelem Elohim die Geburt des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses im Judentum
Als Folge dieser Demokratisierung der Bindung zwischen
dem Menschen und dem Goumlttlichen konnten Herrschaftsanspruuml-
che in der juumldischen Gesellschaft nicht lediglich auf eine exklu-
sive Bindung der Herrschenden zu Gott gestuumltzt werden son-
dern es bedurfte weiterer Legitimation8 Der Anspruch dass ein
Herrscher daher auch ein gottgefaumllliges Handeln an den Tag le-
gen muss um sich seiner Stellung als wuumlrdig zu erweisen ist an
einem in der Torah formulierten Katalog von koumlniglichen bdquoHerr-
schafts- und Verhaltensregelnldquo9 abzulesen Aus diesen Vor-
schriften ergab sich fuumlr die Bevoumllkerung kein der modernen
Menschenwuumlrde entsprechender Anspruch auf Schutz vor staat-
licher Willkuumlr aber eine erste Beschraumlnkung koumlniglichen Han-
delns
2 Die Todesstrafe als Ausdruck eines extrinsischen
Werts des Menschen
Bevor sich der Talmud im Judentum durchsetzte und den Rege-
lungsgehalt der Torah ergaumlnzte war die Todesstrafe im alten Is-
rael wie auch in allen anderen Kulturen des Nahen Ostens eine
etablierte Praxis10 Als Grundlage des biblischen Strafrechts und
insbesondere der Todesstrafe im Judentum wird die Textstelle
angesehen in der es heiszligt bdquoWer Menschenblut vergieszligt dessen
Blut wird durch Menschen vergossen Denn Als Abbild Gottes
hat er den Menschen gemachtldquo11 Dies ist ein Ausdruck des fruuml-
hen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ndash der einem jeden Men-
schen innewohnenden Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
wurde ein universeller Wert beigemessen Es wurden keine Ab-
stufungen nach gesellschaftlichem Rang vorgenommen son-
dern jede Toumltungshandlung wurde grundsaumltzlich als gleich ver-
werflich angesehen auf die Person des Getoumlteten kam es zu-
naumlchst nicht an Gleichzeitig wurde der Grad der Verwerflich-
keit einer Toumltungshandlung houmlchstmoumlglich angesetzt da nur die
Anwendung der verwerflichen Handlung selbst auf den Taumlter als
adaumlquate Strafe angesehen wurde Die darin liegende Wertschaumlt-
zung der bdquoHeiligkeit des menschlichen Lebensldquo ist Ausdruck ei-
nes Wuumlrdeverstaumlndnisses das den Wert des Menschen durch
sein goumlttliches Element begruumlndet der Wert des Menschen ist
also nicht in- sondern extrinsisch12
3 Gebote und Verbote als Ausdruck des
8 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 9 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 17 Vers 16ff 10 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137f 11 A Boumlckler Die Tora 2014 Genesis Kap 9 Vers 6 12 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 673 13 A Boumlckler Die Tora Exodus Kap 20 Verse 2-17 Deuteronomium Kap
5 Verse 6-21 14 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext ndash Geschichten ndash Erscheinungs-
formen ndash Neuere Entwicklungen 2013 79 81
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Neben der in der Ebenbildlichkeit begruumlndeten Wuumlrde finden
sich in der Torah Gebote und Verbote die auf vergleichbare Art
Ausdruck des Wuumlrdeverstaumlndnisses des Tzelem Elohim wie
auch die modernen Menschenrechte Ausfluss des modernen
Wuumlrdeverstaumlndnisses sind Beispielsweise erfassen die Zehn
Gebote die Unverletzlichkeit von Leben Familie und Eigen-
tum13 Ansaumltze sozialer Rechte finden sich zum Beispiel in den
an benachbarten Kulturen gemessen fortschrittlichen Schutz-
rechten fuumlr Sklaven welche die Sabbatruhe die Freilassung
nach Ablauf von sieben Dienstjahren sowie Schutz vor Koumlrper-
verletzungen garantierten14 Auch die Ausweitung der Naumlchs-
tenliebe auf Fremde die sich aus den eigenen Erfahrungen der
Juden als Minderheit in Aumlgypten speiste wurde vorgeschrie-
ben15 und daraus ein Folterverbot hergeleitet16 Zudem ist ein
Asylrecht fuumlr zu Unrecht Verfolgte in der Torah angelegt17
Auch ein Andauern der Wuumlrde uumlber den Tod hinweg laumlsst sich
durch das eine Entwertung der Ebenbildlichkeit verhindernde
Verbot in Deuteronomium 2122 Gehaumlngte am jeweiligen
Baum zu belassen und nicht unverzuumlglich zu begraben herlei-
ten18
4 Universalitaumlt und Grenzen der Wuumlrde
Mitunter war der Kreis der durch die biblischen Vorschriften ge-
schuumltzten Personen jedoch auch beschraumlnkt Laut der Torah soll
beispielsweise alle sieben Jahre Schuldnern ein Schuldenerlass
gewaumlhrt werden19
und es soll davon abgesehen werden Zinsen
fuumlr verliehenes Geld zu erheben20
Die beiden letztgenannten
Regeln dienen der Verhinderung von extremer Armut und ent-
sprechen somit dem modernen Anspruch der Menschenwuumlrde
dass ein humanitaumlrer Mindeststandard zu wahren ist jedoch gel-
ten sie im Gegensatz zur heutigen Menschenwuumlrde begrenzt
naumlmlich nicht im Umgang mit Auslaumlndern21
Ebenso verhaumllt es
sich mit der Todesstrafe bei Toumltungsdelikten die nur Anwen-
dung finden sollte wenn ein Mitbuumlrger Opfer der Straftat
wurde22
An beiden Beispielen zeigt sich dass Teile des in der
Torah dargelegten Wuumlrdeverstaumlndnisses nur fuumlr Mitglieder der
eigenen Glaubensgemeinschaft gelten sollen
Somit ergeben sich die Fragen wie universell das Wuumlrdever-
staumlndnis der Torah ist und wie stark es mit der modernen Men-
schenwuumlrde vergleichbar ist Nach moderner Lesart sind insbe-
sondere vor dem Hintergrund verschiedener Schutzrechte fuumlr
Minderheiten und Verfolgte alle jene Gebote und Verbote die
niemanden explizit von ihrem Schutz ausschlieszligen universell
15 A Boumlckler Die Tora 2014 Leviticus Kap 19 Vers 33f 16 K Bland The Muslim World Journal 103 (2013) 199 201 17 A Boumlckler Die Tora 2014 Numeri Kap 35 Verse 22-25 18 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667 19 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 1f 20 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 23 Vers 20f 21 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 3 Kap 23 Vers
22 22 A Boumlckler Die Tora 2014 Exodus Kap 21 Vers 14
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 3
guumlltig und somit auch das durch sie transportierte Wuumlrdekon-
zept Fruumlhe juumldische Gelehrte haben diese Position jedoch groumlszlig-
tenteils nicht eingenommen23 Somit fehlt es dem biblischen
Wuumlrdekonzept im Vergleich mit dem modernen Wuumlrdebegriff
trotz des Grundgedankens der universellen Ebenbildlichkeit und
der auf dem Konzept der Naumlchstenliebe basierenden Rechte der
Minderheiten an einem stringenten klar formulierten Gleich-
heitsgedanken der einen normativen Anspruch auf grundsaumltzli-
che Gleichbehandlung begruumlndet Jedoch eroumlffnet die in den
meisten Faumlllen unklare Formulierung des Adressatenkreises der
biblischen Regeln die Moumlglichkeit das biblische Wuumlrdekonzept
nach modernen Standards auszulegen
II Entwicklung des Wuumlrdeverstaumlndnisses im Talmud
Neben der Torah wurde das Judentum umfangreich vom Tal-
mud einer Sammlung von Kommentierungen Analysen und
Dialogen fruumlher Rabbiner die die Themen der Torah behandeln
gepraumlgt bdquoDerldquo Talmud ist kein einheitliches Werk sondern es
bestehen zwei inhaltlich verschiedene Versionen der weitaus
bedeutendere und verbreitetere Babylonische Talmud und der
weniger strenge Jerusalemer bzw Palaumlstinische Talmud Beide
Werke entstanden in der Zeit nach der Zerstoumlrung Jerusalems
durch die Roumlmer ab ca 70 n Chr Wie auch die Torah enthaumllt
der Talmud Halakhah-Abschnitte die Teil des kanonischen
Rechts des Judentums sind Mit der Entwicklung des Talmud
kam es zu einer Losloumlsung vom reinen Wortlaut der Torah Dies
geschah im Zuge vielfaumlltiger Analysen Kommentierungen und
Auslegungen der Torah durch Rabbiner die mitunter auch
Rechtspraxen entwickelten die dem Wortlaut der Torah entge-
genstehen24
1 Priorisierung der Wuumlrde gegenuumlber biblischen
Vorschriften
In der Torah und im Babylonischen Talmud wurde die Befol-
gung biblischer Vorschriften noch konsequent uumlber die Wuumlrde
des Einzelnen gestellt Im Jerusalemer Talmud kam hingegen
erstmals ein anderer Ansatz zum Tragen
Beispielhaft ist die Frage ob das Umfeld einer sich in der
Oumlffentlichkeit befindlichen Person uumlber die sich herausstellt
dass sie ein Gewand das aus einem nach der biblischen Kleider-
ordnung verbotenen Stoff besteht traumlgt diese Person unverzuumlg-
lich zum Ablegen des Gewands bewegen muss Der neue Ansatz
einiger Stimmen des Jerusalemer Talmud bestand darin dass die
Befolgung der biblischen Gebote also das Ablegen des verbo-
tenen Gewandes herausgezoumlgert werden darf bis sich der Trauml-
ger nicht mehr in der Oumlffentlichkeit befindet damit eine oumlffent-
liche Erniedrigung des Traumlgers und somit eine Verletzung seiner
Wuumlrde (Kvod Habriot) und der Gesellschaft vermieden wird
Dieser Schutz der Wuumlrde entgegen den biblischen Vorschriften
23 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1104f 24 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1106f 25 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671f
sollte nicht nur die Vermeidung oumlffentlicher Erniedrigung um-
fassen sondern auch auf die Vermeidung geringerer Beschauml-
mung einer Person ausstrahlen25
Bezeichnend sind auch die in der Gemara dem zweiten Teil
des Talmud dargelegten Uumlberlegungen von Rabinern zur wuumlr-
devollen Vollstreckung der Todesstrafe bei Frauen Eine im ge-
samten Nahen Osten verbreitete Methode die Todesstrafe zu
vollstrecken war die Steinigung Maumlnner wurden grundsaumltzlich
nackt gesteinigt Diese Praxis wurde als wuumlrdevoll angesehen
da Bekleidung die Wurfgeschosse abfedern kann und somit den
mit koumlrperlichem Leiden erfuumlllten Zeitraum bis zum Eintreten
des Todes verlaumlngern kann In Bezug auf Frauen ergab sich den
Rabbinern das Problem dass sich nach ihrem Verstaumlndnis
Frauen im Gegensatz zu Maumlnnern bloszligstellt und erniedrigt fuumlh-
len wenn man sie verpflichtet sich in der Oumlffentlichkeit zu ent-
kleiden eine bekleidet gesteinigte Frau jedoch mehr Schmerzen
erleiden muumlsse Die Loumlsung sah daher vor Frauen in den Koumlrper
bedeckenden aber duumlnnen und daher moumlglichst gering abfe-
dernden Gewaumlndern zu steinigen26
In beiden Beispielen wurden im Zuge einer Abwaumlgung bibli-
sche Vorschriften zugunsten der Wuumlrde des Menschen be-
schraumlnkt im ersten Beispiel durch eine spaumltere Ausfuumlhrung im
zweiten Beispiel durch eine Aumlnderung der Art der Ausfuumlhrung
Somit wurde aumlhnlich dem modernen Menschenwuumlrdebegriff der
Wuumlrde ein normativer Vorrang vor bdquoregulaumlrenldquo Gesetzen einge-
raumlumt Nichtsdestotrotz ist abgrenzend zu bemerken dass der
Vorrang der Vermeidung von Wuumlrdeverletzungen mit dem
Schutz der geistigen Ebenbildlichkeit begruumlndet27 wird und da-
her nicht abgekoppelt vom religioumlsen Verstaumlndnis zu betrachten
ist
2 Schutz der Ebenbildlichkeit durch bdquomakelloseldquo
Todesstrafe
Im Talmud erfuhr die Todesstrafe eine erste Einschraumlnkung in-
dem man sich von Arten der Vollstreckung abwandte die eine
sichtbare Verletzung des Koumlrpers mit sich brachten Das zuvor
herrschende lediglich auf der Torah aufbauende Verstaumlndnis
hatte noch darauf abgezielt dass der Verurteilte nicht nur durch
seinen Tod geistig ausgeloumlscht werden sollte sondern dass
durch ein Zerschmettern des Koumlrpers auch dieser zerstoumlrt wer-
den sollte Mit dem Talmud setzte sich die Idee durch dass zu-
mindest der Koumlrper des zum Tode Verurteilten als physisches
Ebenbild Gottes keinen sichtbaren Schaden nehmen soll Man
nahm an dass Gott beim Toumlten von Suumlndern sein eigenes Eben-
bild nicht verunstalten wuumlrde und daher bdquomakelloseldquo Formen
der Toumltung grundsaumltzlich zu bevorzugen seien28
Die Tatsache dass besonders grausame Arten die Todesstrafe
zu vollstrecken dadurch weitestgehend ausgeschlossen wurden
26 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312f 27 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671 28 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 4
stellt grundsaumltzlich eine Annaumlherung an das moderne europaumli-
sche Menschenwuumlrdeverstaumlndnis dar die Begruumlndung dieses
Paradigmenwechsels bleibt jedoch im goumlttlich zentrierten Ver-
staumlndnis der Wuumlrde verhaftet
3 Abschaffung der Todesstrafe und des Lex talionis
als Ausdruck einer unverlierbaren Wuumlrde
Letztendlich kam es in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n
Chr zu einer praktischen Verdraumlngung der Todesstrafe da an
eine Verurteilung zum Tode eine Reihe von schwer erfuumlllbaren
Anforderungen geknuumlpft wurde29
So wurde zum Beispiel eine
verschaumlrfte Form des Vorsatzes gefordert die darin bestehen
sollte dass der Taumlter kurz vor der Tat noch einmal explizit ge-
warnt worden sein muss dass sein Vorhaben mit dem Tod be-
straft wird und er sein volles Bewusstsein dieser Tatsache be-
zuumlglich der bevorstehenden Toumltung ausdruumlckt und kurz darauf
die Tat begeht Des Weiteren bedurfte es zweier Augenzeugen
deren Aussagen nur verwertet werden sollten sofern sie sich in
keinem Detail widersprachen und eine Verurteilung durch das
zustaumlndige 23-koumlpfige Gericht sollte nur erfolgen koumlnnen wenn
mindestens ein Richter sich gegen einen Schuldspruch aus-
sprach bei Einstimmigkeit der Verurteilung soll diese automa-
tisch in einen Freispruch umgewandelt werden30
Grundlage fuumlr diese faktische Abschaffung der Todesstrafe
war neben dem Bemuumlhen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen
zu vermeiden eine weitere Auslegung des Wuumlrdebegriffs als zu-
vor So wurde die Wuumlrde nun als etwas verstanden das auch
durch das groumlszligte Verbrechen nicht verwirkt werden kann und
daher sollten auch die groumlszligten Suumlnder Ebenbilder Gottes blei-
ben31 Zudem wurde im Talmud angenommen dass bei einer
Beeintraumlchtigung der Ebenbildlichkeit Gottes durch Verletzung
oder Toumltung dieser aufgrund seiner menschlichen Immanenz
ebenso leidet Daher fand auch das Lex talionis eine Abloumlsung
und wurde durch Geldstrafen ersetzt32
Die Losloumlsung von Todesstrafe und Lex talionis in Verbin-
dung mit dem Gedanken dass die Wuumlrde unverlierbar ist fuumlhrt
zu einer groumlszligeren Deckungsgleichheit des juumldischen Wuumlrdever-
staumlndnisses mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken in der Rechtsanwendung Die Begruumlndung dieses
Schritts dass Verletzung und Toumltung von Menschen um das Lei-
den des Goumlttlichen und nicht des Menschen zu vermeiden sind
zeigt hingegen dass die Wuumlrde des Menschen weiterhin extrin-
sisch begruumlndet wurde und nicht der Mensch an sich sondern
Gott der Grund des auf dem Tzelem Elohim aufbauenden As-
pekts des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ist
4 Die Naumlchstenliebe des Talmud als Bestandteil des
29 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f 30 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 309ff 31 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 311f
Naturrechts
Das bereits in der Torah angelegte Konzept der Naumlchstenliebe
erfuhr im Talmud eine noch staumlrkere Ausformung die Rabbiner
Hillel als goldene Regel zusammenfasste ldquoWas Dir nicht lieb
ist tue auch deinem Naumlchsten nicht das ist die gesamte Geset-
zeslehre alles andere ist nur Erlaumluterung geh und lerneldquo Nach
dem Rabbiner Leo Baeck ergibt sich aus der Verbindung der in
Torah und Talmud angelegten Naumlchstenliebe Inklusion des
Fremden und Menschenrechte ein staatlicher Rechtsgedanke
der nur auf den Menschen abstellt und damit als ein Grundbe-
griff des Naturrechts gelten kann33 Torah und Talmud bieten
somit neben dem untrennbar mit Gott verknuumlpften Gedanken der
Ebenbildlichkeit Ansaumltze fuumlr ein Konzept der Menschenwuumlrde
das sich saumlkular auslegen laumlsst und daher eine grundsaumltzliche
Vereinbarkeit mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken aufweist
5 Zwischenfazit
Das in Torah und Talmud angelegte Wuumlrdeverstaumlndnis weist
verschiedene Ansaumltze des modernen europaumlischen Menschen-
wuumlrdegedankens auf Aus dem Konzept der Gottesebenbildlich-
keit entspringt der Gedanke einer unverlierbaren Gleichheit aller
Menschen aus der jedoch kein universeller normativer An-
spruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden kann Des Wei-
teren weisen Torah und Talmud Ansaumltze verschiedener Frei-
heits- und Sozialrechte auf die auch vom heutigen Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis umfasst werden und mit dem im Talmud ver-
staumlrkten Konzept der Naumlchstenliebe ist auch ein Bezugspunkt fuumlr
einen naturrechtlichen Menschenwuumlrdebegriff angelegt Diese
Ansaumltze reichen in Summe jedoch nicht aus um daraus das mo-
derne europaumlische Menschenwuumlrdeverstaumlndnis vollstaumlndig her-
zuleiten Insbesondere die Uumlberlegungen zum Menschen als ver-
nunftfaumlhigem Individuum die im Entwicklungsprozess des eu-
ropaumlischen Menschenwuumlrdegedankens zum Tragen gekommen
sind finden in Torah und Talmud keine klare Ausformung Der
Schutz der Wuumlrde des Menschen zielt im Judentum lediglich auf
den Schutz des goumlttlichen Anteils am Menschen ab Der Vorrang
der Wuumlrde vor den biblischen Gesetzen ist daher kein Vorrang
der Wuumlrde vor staatlichen oder religioumlsen Direktiven sondern
eine innerreligioumlse Priorisierung ebenjener Der Mensch wird im
kanonischen Recht des Judentums vor allem als Teil einer mit
dem Goumlttlichen verbundenen Gemeinschaft angesehen und das
Ausmaszlig des Schutzes seiner Wuumlrde wird mitunter an die Zuge-
houmlrigkeit zur Religion gekoppelt
III Einfluss der Diaspora auf das juumldische
Wuumlrdeverstaumlndnis
Neben religioumlsen und philosophischen Erwaumlgungen werden
ethische Konzepte wie das der Menschenwuumlrde auch immer
durch historische Gegebenheiten beeinflusst Ab der Zerstoumlrung
des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n Chr kam es zu einer
32 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312
33 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext 2013 79 81
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 5
knapp 2000 Jahre anhaltenden Vertreibung und Verfolgung von
Juden der Diaspora34 Im Folgenden werden die Auswirkungen
eines fehlenden juumldischen Staats und die Stellung der Juden als
diskriminierte Minderheit auf das juumldische Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde beleuchtet
1 Auswirkungen anhaltender Diskriminierung auf
das juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde
Die Diskriminierung der Juden nahm im Mittelalter mit dem
Einsetzen der Kreuzzuumlge ein noch staumlrkeres Ausmaszlig an als zu-
vor Dieser Hass der Mitgliedern der juumldischen Glaubensge-
meinschaft entgegengebracht wurde wirkte sich auch auf das
juumldische Recht aus So kam es im Shullan Arukh der bedeu-
tendsten Kodifikation juumldischen Rechts des spaumlten Mittelalters
zu einer Beschneidung der Menschenrechte von Nichtjuden
Exemplarisch sind insbesondere die Beschraumlnkungen die juumldi-
schen Frauen fuumlr die Hilfe bei der Niederkunft nichtjuumldischer
Frauen und juumldischen Aumlrzten bei der Behandlung nichtjuumldischer
Patienten auferlegt wurden Im Kern wurde ihnen das Entgegen-
bringen jeglicher Hilfe gegenuumlber Andersglaumlubigen untersagt
Einzig wenn sie dadurch die Feindseligkeit von Andersglaumlubi-
gen riskierten war es ihnen gestattet von dieser Regelung Ab-
stand zu nehmen35
Die Unterdruumlckung der Juden im Mittelalter fuumlhrte somit zu
einer Einschraumlnkung der Menschenrechte von Andersglaumlubigen
im juumldischen Recht Unter der Annahme dass Menschenrechte
Ausdruck des zugrundeliegenden Wuumlrdeverstaumlndnisses sind
kann daher vermutet werden dass der auf dem biblischen Kon-
zept der Naumlchstenliebe fuszligende Aspekt des juumldischen Wuumlrde-
verstaumlndnisses im Mittelalter eine Einengung auf Juden erfuhr
um der dauerhaften gegenwaumlrtigen Gefahr der die juumldischen
Gemeinden ausgesetzt waren Rechnung zu tragen Dem mit
dem modernen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis verknuumlpfbare natur-
rechtlichen Ansatz der aus der Naumlchstenliebe hergeleitet wer-
den kann wurde damit die Grundlage genommen
2 Ausbleiben einer saumlkularen Weiterentwicklung der
juumldischen Menschenwuumlrde
An dieser Stelle werden drei Vermutungen angestellt wie sich
das Fehlen eines juumldischen Staats im Zeitraum der Diaspora auf
das juumldische Konzept der Menschenwuumlrde ausgewirkt hat
Die erste Uumlberlegung besteht darin dass zur Durchsetzung
von menschenrechtlichen Garantien auf Draumlngen eines Teils der
Bevoumllkerung diese auch der zu veraumlndernden Rechtsordnung
praktisch unterworfen sein muss um sich an der betreffenden
Rechtsordnung stoumlren zu koumlnnen Da Juden in Europa eine un-
terdruumlckte Minderheit darstellten gab es zu keiner Zeit der
Diaspora einen Staat dessen Regierung durch das Judentum an-
stelle des Christentums legitimiert wurde Die juumldischen Gesetze
fanden durch das Fehlen eines juumldischen Staats keine Anwen-
34 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1110
dung durch irgendeinen Staat somit war auch die Erprobung ih-
rer Schwachstellen und Aktualitaumlt begrenzter als die von Rechts-
ordnungen mit tatsaumlchlicher Guumlltigkeit Das juumldische Recht
blieb daher das Beschaumlftigungsfeld der begrenzten Gruppe de-
rer die ohnehin fuumlr ihre Bewahrung und Entwicklung zustaumlndig
waren also die der Rechtsgelehrten Philosophen und Rabbiner
Eine Einforderung von Buumlrgerrechten als Annaumlherung an die
moderne Menschenwuumlrde wie sie sonst in Europa uumlber Jahrhun-
derte mehrfach stattgefunden hat konnte daher in Bezug auf das
juumldische Recht gar nicht geschehen Ein Beitrag zur Entwick-
lung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses durch eine
durch Aufstaumlnde und Revolutionen einem juumldischen Staat abge-
trotzte Reihe von Menschenrechten unterblieb daher infolge des
Fehlens eines juumldischen Staats
Als zweite These wird angenommen dass auch eine Weiter-
entwicklung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses
durch eine breite Beteiligung der Juden an den Bemuumlhungen fuumlr
die Gewaumlhrung von Menschenrechten in den europaumlischen Staa-
ten weitestgehend entfiel da sie flaumlchendeckend diskriminiert
wurden und als Buumlrger zweiter Klasse galten Bevor sie eine
sichtbare Rolle im Kampf der bdquoDurchschnittsbevoumllkerungldquo fuumlr
die Durchsetzung der Menschenwuumlrde spielen konnten mussten
sie erst den rechtlichen Status der christlichen Bevoumllkerung er-
langen Eine stetige Erweiterung des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs aufgrund einer Miturheberschaft an neu erlangten
Freiheits- und Schutzrechten innerhalb europaumlischer Rechtsord-
nungen entfaumlllt folglich ebenfalls
Der dritte Ansatz ist dass eine andere Moumlglichkeit der saumlku-
laren Weiterbildung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis-
ses die Reformierung der juumldischen Rechtsordnung bdquovon obenldquo
gewesen waumlre Dies waumlre durch das Einwirken von Juden die
als hochrangige Beamte in den europaumlischen Staaten Reformen
angestoszligen und begleitet haben denkbar gewesen Ihre Exper-
tise als Staatsmaumlnner koumlnnte dann als Legitimation fuumlr die Wei-
terentwicklung der juumldischen Rechtstheorie gehandelt worden
sein Die Diskriminierung der Juden in Europa machte jedoch
auch eine solche Entwicklung unmoumlglich
Diesen Uumlberlegungen folgend kann man annehmen dass es
im Gegensatz zu den christlich gepraumlgten europaumlischen Konzep-
ten der Menschenwuumlrde keine saumlkularen Ansaumltze Eingang in das
juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde finden konnten Ver-
schiedene Ausformungen des Wuumlrdeverstaumlndnisses die saumlku-
lare Elemente wie das Naturrecht und religioumlse Elemente unter-
schiedlich stark gewichten haben sich daher im Gegensatz zum
europaumlischen Wuumlrdebegriff in Verbindung mit dem juumldischen
Wuumlrdebegriff nicht entwickeln koumlnnen Es bleibt folglich bei ei-
ner rein religioumls begruumlndeten Wuumlrde die nie die Stellung als
oberster Wert einnehmen konnte da sie mit dem Goumlttlichen von
einer noch houmlheren Instanz begruumlndet wird
C Die Entwicklung der Menschenwuumlrde im positiven
35 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32 (2011) 1101 1110ff
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 6
Recht Israels
In diesem Abschnitt werden Rechtsschaffung und Rechtspre-
chung in Israel im Spannungsfeld zwischen dem bisher skizzier-
ten juumldischen und dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde eingeordnet Im Anschluss kommt es zu einer
Auseinandersetzung mit der Frage ob das heutige Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde in Israel im Feld der eigenen religioumlsen
Tradition verortet werden kann oder ob eine europaumlische
Rechtsrezeption vorliegt
I Das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis bis 1992
Der moderne Staat Israel wurde im Jahr 1948 durch die israeli-
sche Unabhaumlngigkeitserklaumlrung proklamiert die Israel als juumldi-
schen Staat definiert36 Der Begriff der Menschenwuumlrde ist in
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung nicht zu finden Bei Gruumlndung
des Staats Israel wurde die bestehende Gesetzeslage des Com-
mon Law aus der Zeit der britischen Mandatsherrschaft die Ele-
mente des osmanischen Rechts enthielt weitestgehend uumlber-
nommen37 Der Oberste Gerichtshof entwickelte daran durch
Auslegung eine Reihe von Menschenrechten die unter anderem
Demonstrationsfreiheit Freizuumlgigkeit Vereinigungsfreiheit
den freien Zugang zu den Gerichten und Meinungsfreiheit um-
fassten38 Eine erste Nennung im positiven Recht erfuhr der Be-
griff der Menschenwuumlrde erst in einer Entscheidung des Obers-
ten Gerichtshofs aus dem Jahr 1980 dem Fall Katalan v Prison
Services39 in dem der Oberste Gerichtshof das Auspumpen der
Maumlgen von Gefaumlngnisinsassen aufgrund des Verdachts auf Dro-
genschmuggel im Koumlrper verbot40
In dieser Anfangsphase des Staats Israel sind klare Ansaumltze
im Recht die die Freiheit und Autonomie des Individuums uumlber
dem Konzept der bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde des Kol-
lektivs und biblischen Vorschriften ansiedeln und dadurch eine
Naumlhe zum europaumlischen Menschenwuumlrdebegriff anzeigen nicht
ersichtlich Die bis ins Jahr 1980 lediglich indirekte und nach-
folgend noch immer geringe Ausformung der Menschenwuumlrde
im positiven Recht Israels scheint mit Blick auf die Definition
Israels als juumldischer Staat daher dem zuvor dargestellten juumldi-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu entsprechen
II Das israelische Grundrecht bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo
Israel verfuumlgt uumlber keine abschlieszligende Verfassung jedoch gibt
es eine Reihe einzelner Grundrechte Seit dem Jahr 1992 hat der
Begriff der Menschenwuumlrde mit dem Grundrecht bdquoMenschen-
wuumlrde und Freiheitldquo auch expliziten Eingang in die israelische
36 Israelische Unabhaumlngigkeitserklaumlrung Abs 12 37 A Weilert Grundlagen und Grenzen des Folterverbots in verschiedenen
Rechtskreisen 2009 240f 38 B Genut Fordham International Law Journal 19 (1996) 2120 2146f 39 HCJ 35579 40 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 41 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 42 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 43 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 44 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 2 3 4 7 45 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 6
Rechtsordnung gefunden Zuvor hatte die Menschenwuumlrde nur
in wenigen Urteilen des Obersten Gerichtshofs Israels Erwaumlh-
nung gefunden41 und Menschenrechte waren bis auf wenige
Ausnahmen als Teil des Common Law ebenfalls nur uumlber die
Rechtsprechung im positiven Recht Israels verankert42
1 Umfang des Grundrechts
Die Menschenwuumlrde ist durch das Grundrecht in Israel sowohl
ein Verfassungsprinzip43 als auch ein subjektives Recht Durch
das Grundrecht sind der Schutz von Leib Leben Wuumlrde Eigen-
tum und Privatsphaumlre garantiert44 Auch wird allen Menschen
freie Ausreise aus Israel und israelischen Staatsbuumlrgern daruumlber
hinaus freie Einreise nach Israel garantiert45 Uumlber weitere
Grundrechte sind die Freiheit der Berufswahl46 das Wahl-
recht47 das Recht fuumlr Aumlmter zu kandidieren48 sowie das Recht
auf Zugang zu den Gerichten49 garantiert
Bezuumlglich der Geltung weiterer auf der Menschenwuumlrde auf-
bauender Menschenrechte hat der Oberste Gerichtshof Israels
sowohl eine enge Auslegung des Rechts auf Menschenwuumlrde
als auch eine weite Auslegung des Grundrechts abgelehnt50
Eine enge Auslegung haumltte lediglich den Schutz vor physischer
und psychischer Verletzung Folter Demuumltigung und Erniedri-
gung umfasst eine weite Auslegung haumltte saumlmtliche in den mo-
dernen Rechtsordnungen vorhandenen Menschenrechte einge-
schlossen51 Stattdessen befand der Oberste Gerichtshof dass
das Recht auf Menschenwuumlrde das Verfassungsprinzip der Men-
schenwuumlrde umfassen soll52 Da im Verstaumlndnis des israelischen
Common Law die Menschenwuumlrde als Quelle aller Menschen-
rechte betrachtet wird fuumlhrt dies jedoch nicht zu einem Aus-
schluss der Rechte die durch die weite Auslegung des Rechts
auf Menschenwuumlrde garantiert worden waumlren53 Durch diese
Entscheidung wurde das Grundrecht auf Menschenwuumlrde zu ei-
nem zusammengesetzten Recht erklaumlrt das aus einem Buumlndel an
Tochterrechten besteht die verschiedene Aspekte des Mutter-
rechts abbilden und dadurch dessen multiple Wirkrichtungen si-
chern54
Folgende Tochterrechte wurden durch Entscheidungen des
Obersten Gerichts bisher anerkannt das Recht auf Gleichbe-
handlung Meinungsfreiheit Religionsfreiheit Freizuumlgigkeit
die Gruumlndung einer Familie freie Berufswahl Bildung ein or-
dentliches Gerichtsverfahren einen humanitaumlren Mindeststan-
dard Schutz vor Rufschaumldigung und ein Persoumlnlichkeitsrecht55
Zudem hat der Oberste Gerichtshof ein Hinausreichen der Men-
schenwuumlrde uumlber den Tod anerkannt56
46 Basic Law Freedom of Occupation 47 Basic Law The Knesset Abs 5 48 Basic Law The Knesset Abs 6 49 Basic Law The Judiciary Abs 3 50 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 47 49f 51 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 805 52 A Barak Human Dignity 2015 287 53 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 39 49f 54 A Barak Human Dignity 2015 287f 55 A Barak Human Dignity 2015 288ff 56 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 55
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 7
2 Geltung des Grundrechts und Stellung innerhalb
der Rechtsordnung
Das Grundrecht auf Menschenwuumlrde ist ein relatives Recht
Aufgrund einer im Grundrecht verankerten Bestimmung sind
Einschraumlnkungen der einzelnen durch das Grundrecht garantier-
ten Menschenrechte durch Notverordnungen moumlglich57 Zudem
unterliegt das Grundrecht nicht wie in Deutschland einer Ewig-
keitsklausel58 sondern kann durch das israelische Parlament die
Knesset veraumlndert werden59 Eine Abschaffung der Grundrechte
ist daher nicht explizit ausgeschlossen Jedoch kann der Oberste
Gerichtshof Aumlnderungen oder Abschaffungen von Grundgeset-
zen die seiner Ansicht nach der Demokratie oder den weiteren
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung innewohnenden Grundwerten
entgegenstehen fuumlr verfassungswidrig erklaumlren60 Somit ist die
Moumlglichkeit einer impliziten Sperre fuumlr die Abschaffung des
Grundrechts gegeben
Die Grundrechte wurden ebenso wie andere Gesetze Israels
von der Knesset mit einer einfachen Mehrheit beschlossen und
stehen daher formell nicht uumlber anderen Gesetzen61 Sie wurden
aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1995 zu
Gesetzen mit Verfassungscharakter erklaumlrt die einen den ande-
ren Gesetzen uumlbergeordneten Status genieszligen62 Sie haben nur
Vorrang vor Gesetzen die juumlnger sind aumlltere Normen werden
vom Grundrecht nicht verdraumlngt und verdraumlngen dieses eben-
falls nicht beide Normen gelten parallel Aumlnderungen und Er-
weiterungen von Gesetzen die bereits vor dem Grundrecht be-
standen genieszligen jedoch nicht diesen Schutz und werden durch
das Grundrecht verdraumlngt63
3 Zwischenfazit
Wie auch in europaumlischen Rechtsordnungen genieszligt die Men-
schenwuumlrde damit grundsaumltzlich Vorrang vor einfachen Geset-
zen Die Position der Menschenwuumlrde innerhalb des israelischen
Rechts ist gemessen an europaumlischen Rechtsordnungen zum
Beispiel der Griechenlands64 oder Deutschlands65 weniger pro-
minent und fest verankert Im israelischen Rechtssystem das
keine Ewigkeitsklauseln kennt und keine abgeschlossene Ver-
fassung hat kommt der Menschenwuumlrde dennoch eine heraus-
ragende Stellung als Gesetz mit Verfassungscharakter und
Quelle aller Menschenrechte zu die jedoch durch die Parallel-
wirkung zu aumllterem Recht und die grundsaumltzliche Einschraumlnk-
barkeit des Grundrechts aufgrund von Notverordnungen ge-
schmaumllert wird
57 Basic Law Human Dignity and Freedom Abs 12 58 Art 79 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 59 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 41 60 A Barak Human Dignity 2015 284f 61 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 796 A Bendor M Sachs
Israel Law Review 44 (2011) 25 41f 62 B Bracha University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 3
(2001) 581 583
III Die bdquokonstitutionelle Revolutionldquo
Mit der Verabschiedung des Grundrechts bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo erfolgte nicht nur eine Verankerung der Menschen-
wuumlrde im israelischen Recht sondern auch eine neue Ausrich-
tung des Menschenwuumlrdebegriffs in Israel Diese Veraumlnderung
der Gesetzeslage wird ruumlckblickend als bdquokonstitutionelle Revo-
lutionldquo bezeichnet66 Die Gesetzgebung der Knesset erfolgt in
der Regel unter Beteiligung eines breiten politischen Spektrums
da zur Bildung von Mehrheiten in Israel oft eine Einbeziehung
von mehr als zwei Parteien notwendig ist Parteien die dem ult-
raorthodoxen Umfeld zuzurechnen sind wirken ihrem An-
spruch entsprechend oft blockierend auf Gesetzesentwuumlrfe ein
die die Vorrangstellung der Religion im Staat eindaumlmmen koumlnn-
ten sie sind um die Beibehaltung des Status quo bemuumlht67 Un-
ter diesen Gesichtspunkten stellt das Grundrecht auf Menschen-
wuumlrde zum einen eine bedeutende Neuerung in der israelischen
Gesetzgebung dar zum anderen ist es Ausdruck eines Kompro-
misses
Das Gesetz definiert Israel woumlrtlich nicht mehr nur als juumldi-
schen sondern auch als demokratischen Staat68 Durch den Na-
men des Gesetzes bdquoHuman Dignity and Libertyldquo erfaumlhrt die
Wuumlrde eine Verknuumlpfung mit dem Autonomiegedanken Somit
wird die Wuumlrde sowohl mit religioumlsen als auch mit saumlkularen
Ansaumltzen des Menschenwuumlrdegedankens verknuumlpft Diese Ge-
wichtung fuumlhrt zu einer Ausbalancierung beider Ansaumltze die je-
doch auch das Potential einer bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des Gesetzes
birgt
IV Auswirkungen des Grundgesetzes auf die
Rechtsprechung
Im Folgenden werden Entscheidungen des Obersten Gerichts-
hofs Israels dargestellt die nach dem Erlass des Grundrechts auf
Menschenwuumlrde gefaumlllt wurden und deren Entscheidung von der
Einnahme der traditionellen juumldischen bzw der modernen euro-
paumlischen Perspektive auf die Menschenwuumlrde abhaumlngig war
1 Sheffer v State of Israel
Im Fall Sheffer v State of Israel69 der im Jahr 1993 entschieden
wurde standen sich das juumldische Konzept der bdquoHeiligkeit des
Lebensldquo das auf der Idee des Tzelem Elohim basiert und die
Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenuumlber Die Mutter ei-
nes zweijaumlhrigen Maumldchens das an einer unheilbaren Erkran-
kung litt und im Wachkoma lag klagte darauf die medizinische
Behandlung der Tochter bis auf die Gabe von Schmerzmitteln
einstellen zu duumlrfen und Wiederbelebungsmaszlignahmen an dem
Maumldchen zu unterlassen Das Gericht hatte somit uumlber das Recht
63 A Barak Human Dignity 2015 305ff 64 Art 2 I Verfassung Griechenlands 65 Art 1 I Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 66 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 799 67 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 41 68 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 69 Israeli Supreme Court CA 50688 Sheffer v State of Israel Israel Law Re-
ports 1992 1 ndash 144
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 8
von Patienten und Eltern minderjaumlhriger Patienten medizini-
sche Behandlungen zu verweigern zu entscheiden Der Oberste
Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Menachem Elon
wies die Klage unter Berufung auf die bdquoHeiligkeit des Lebensldquo
zuruumlck Diese Entscheidung ist daher dem traditionellen juumldi-
schen und nicht dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zuzuordnen jedoch wurde im Jahr 2005 das
Terminal Patient Law erlassen das praumlfinalen Patienten und de-
ren gesetzlichen Vormunden das Recht zugesteht weitere me-
dizinische Behandlung abzulehnen und somit klar dem europaumli-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zuzuordnen ist70
2 Hevra Kadisha v Lional Aria Kestenbaum
Der Streitpunkt des Falls Hevra Kadisha v Lional Aria Kesten-
baum71 aus dem Jahr 1992 war das Verstaumlndnis der postmortalen
Wuumlrde wobei das juumldische Konzept der Kvod Habriyot und das
europaumlische Verstaumlndnis der Wuumlrde des Einzelnen mit einander
kollidierten Die Kadisha-Organisation verwaltet Friedhoumlfe in
Israel wobei die Vorschrift dass Inschriften auf Grabsteinen
einheitlich auf hebraumlisch abgefasst sein muumlssen Teil der Ver-
traumlge der Organisation mit den dort Bestatteten ist Die Familie
des Verstorbenen hatte sich fuumlr eine nicht auf hebraumlisch abge-
fasste Inschrift entschieden wogegen die Organisation klagte
Richter Elon sprach sich im Sinne des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs dafuumlr aus dass die Wuumlrde der bereits auf dem betref-
fenden Friedhof Bestatteten im Sinne der Kvod Habriyot der
Wuumlrde des Einzelnen vorzuziehen sei Jedoch setzten sich die
Richter Meir Shamgar und Aharon Barak durch die zugunsten
eines saumlkular-liberalen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ent-
schieden dass der Wuumlrde des Einzelnen den Vorzug vor kol-
lektiven Werten gewaumlhrt72
3 Lior Horev et al v Minister of Transportation
Im Jahr 1996 musste der Oberste Gerichtshof eine weitere Ent-
scheidung im Spannungsfeld zwischen biblischen Vorschriften
und der Autonomie des Einzelnen faumlllen Im Fall Lior Horev et
al v Minister of Transportation73 wurde auf die Sperrung einer
Straszlige am Sabbath geklagt die durch ultrareligioumlse Bezirke Je-
rusalems fuumlhrt Der Oberste Gerichtshof entschied im Sinne des
europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses unter Herleitung
der Verkehrsfreiheit aus der Menschenwuumlrde gegen eine Sper-
rung der Straszlige Richter Tzvi Tal teilte die Ansicht der anderen
Richter jedoch nicht da er religioumlsen Traditionen und Werten
eine houmlhere Prioritaumlt als der Verkehrsfreiheit einraumlumte74
4 Zwischenfazit
In der Gesamtschau zeigen diese Beispiele dass sich der im
Grundrecht auf Menschenwuumlrde angelegte Dualismus von tra-
ditionellem juumldischem und modernem europaumlischem Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis in den Entscheidungen des Obersten Ge-
70 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 676f 71 Israeli Supreme Court CA 91294 72 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 677f 73 Israeli Supreme Court CA 965016
richtshofs wiederspiegelt was neben der Zweideutigkeit der ge-
setzlichen Grundlage auf die gezielt heterogene Besetzung des
Obersten Gerichtshofs mit religioumlsen und saumlkularen Richtern zu-
ruumlckzufuumlhren ist75
Auch wenn sich eine Verzerrung des Bildes durch die be-
grenzte Auswahl an Beispielen nicht ausschlieszligen laumlsst scheint
sich der moderne europaumlische Begriff der Menschenwuumlrde in
der israelischen Gesetzgebung und Rechtsprechung durchzuset-
zen Zur Annahme dieser These fuumlhrt zum einen der Charakter
des Common Law durch den sich die Rechtsprechung bei neuen
Entscheidungen stark an bereits ergangenen Urteilen orientiert
In den letzteren beiden Faumlllen wurde folglich mit Urteilen im
Sinne des europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses eine
Grundlage fuumlr weitere europaumlisch orientierte Entscheidungen in
Fragen des Verhaumlltnisses von der Wuumlrde des Kollektivs und bib-
lischer Vorschriften zur Autonomie des Individuums geschaf-
fen Ein Ruumlckgriff auf parallel wirkende Gesetze aus der Zeit
vor 1992 die im Einzelfall dem Grundrecht entgegenstehen
scheint aufgrund des Anspruchs der grundrechtskonformen
Auslegung aumllterer Gesetze76 und der Existenz eines neuen bdquoLei-
turteilsldquo unwahrscheinlich Zum anderen wird die Vermutung
durch die im ersten Beispiel erfolgte Staumlrkung des europaumlischen
Ansatzes der Wuumlrde durch den Gesetzgeber gestuumltzt Eine ge-
setzliche Kehrtwende ist aufgrund der bereits erlaumluterten Mehr-
heitsverhaumlltnisse der Knesset unwahrscheinlich
V Die Entstehung der israelischen Menschenwuumlrde
Die Menschenwuumlrde im israelischen Recht bewegt sich im
Spannungsfeld zwischen dem modernen europaumlischen und dem
traditionellen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis Eine klare Zuord-
nung zu einem der beiden Wuumlrdeverstaumlndnisse ist seit der bdquokon-
stitutionellen Revolutionldquo und der darauf aufbauenden Recht-
sprechung nicht mehr moumlglich Die bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des
Grundrechts auf Menschenwuumlrde fuumlhrt zu einem bestaumlndigen
Ringen beider Konzepte um Vorrang im positiven Recht Es
scheint jedoch dass der europaumlische Ansatz leicht die Oberhand
gewonnen hat Eine umfassende Saumlkularisierung des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses erscheint in Israel einem modernen Staat
dessen Existenz sich auf das Judentum stuumltzt hingegen unwahr-
scheinlich
Im Hinblick auf das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis im israeli-
schen Recht bietet es sich daher an nicht mehr von einem mo-
dernen europaumlischen oder einem traditionellen juumldischen son-
dern von einem israelischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu
sprechen Ebenso wie in Europa der moderne saumlkulare Wuumlrde-
begriff auf die Basis christlicher Uumlberzeugungen gestellt werden
kann ohne von diesen abhaumlngig gemacht zu werden ist dies
auch mit juumldischen Erklaumlrungsansaumltzen moumlglich Die Vorausset-
zung fuumlr einen solchen modernen Begriff der Menschenwuumlrde
ist in jedem Fall die Betrachtung der Religion als zusaumltzlichen
74 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 679 75 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 675 76 A Barak Human Dignity 2015 306f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 9
und nicht als einzigen Begruumlndungsansatz der Wuumlrde des Men-
schen
D Fazit
Wie sich gezeigt hat sind der Begriff und das Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zu unterscheiden waumlhrend die Gesetzeslage in
Europa und Israel auf einen vergleichbaren Mindestgehalt des
Begriffs Menschenwuumlrde schlieszligen laumlsst kann das Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde und der daraus folgende Umgang mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde in der Rechtsprechung variieren
Die Darstellung der Grundlagen und Genese des Begriffs im Ju-
dentum ergab dass sich aus der Auseinandersetzung mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde auf religioumlser philosophischer je-
doch nicht auf saumlkularer Ebene in der Tradition des Judentums
ein anderes Verstaumlndnis als in Europa entwickelt hat Das juumldi-
sche Wuumlrdeverstaumlndnis unterscheidet sich vom europaumlischen
Wuumlrdeverstaumlndnis maszliggeblich in der Priorisierung des Goumlttli-
chen die zu einem Vorrang der im Ebenbildlichkeitsgedanken
begruumlndeten bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde der Gemein-
schaft und der biblischen Regeln vor der Autonomie und der
Freiheit des Individuum fuumlhrt Im positiven Recht Israels sind
seit der bdquokonstitutionellen Revolutionldquo beide Verstaumlndnisse ver-
ankert und es zeichnet sich ein Erstarken des saumlkularen europauml-
ischen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ab In dieser Ent-
wicklung kann die Etablierung eines israelischen und nicht
mehr lediglich europaumlischen oder juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis-
ses gesehen werden das in seiner Schwerpunktsetzung saumlkular
ist jedoch religioumls begruumlndet werden kann
Vor diesem Hintergrund kann von einer einsetzenden euro-
paumlischen Rechtsrezeption der Menschenwuumlrde in Israel gespro-
chen werden In Anbetracht des vergleichsweise kurzen Beste-
hens des modernen Staats Israel laumlsst sich die gegenwaumlrtige Ent-
wicklung des Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses im israelischen
Recht jedoch auch als originaumlre Evolution des religioumlsen Wuumlr-
deverstaumlndnisses zu einem in modernen Demokratien praktikab-
len Wuumlrdeverstaumlndnis verstehen deren weiterer Verlauf nicht
auf die vollstaumlndige Angleichung an das europaumlische Modell der
Menschenwuumlrde begrenzt ist
Der Autor studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt und be-findet sich derzeit in der Examensvorbereitung Der Artikel ist Teil einer Seminararbeit die im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher entstanden ist
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
10
Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verle-
gung der US-Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts
-
von Lucie Schultz
A Abstract
Am 6122017 verkuumlndete US-Praumlsident Donald Trump
es sei an der Zeit Jerusalem offiziell als Hauptstadt Isra-
els anzuerkennen Mit der Planung zur Verlegung der US-
Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem solle umgehend
begonnen werden1 Damit stieszlig er international auf heftige
Reaktionen und vielfach auf Kritik Der folgende Beitrag
will untersuchen inwieweit diese begruumlndet sind und ob
Trump durch seine Ankuumlndigungen an die Grenzen des
Voumllkerrechts stoumlszligt oder sie uumlberschreitet
B Staatliche Souveraumlnitaumlt im Konflikt mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Voumllker
Der Zentrale Streitpunkt hierbei ist die Frage nach dem voumllker-
rechtlichen Status Jerusalems welcher wiederrum maszliggeblich
von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen in der Stadt abhaumlngig ist
Staatliche Souveraumlnitaumlt ist die notwendige Bedingung gar
Grundlage des Voumllkerrechts2 Gemeint ist die Faumlhigkeit einer ju-
ristischen oder natuumlrlichen Person zu ausschlieszliglicher rechtli-
cher Selbstbestimmung3 Dabei ist zu unterscheiden zwischen
rechtlicher und faktischer Souveraumlnitaumlt erstere meint den recht-
maumlszligigen Titel letztere tatsaumlchliche Kontrolle und Herrschaft4
Durch den rechtmaumlszligigen Titel wird faktische Kontrolle zur voll
ausgereiften Souveraumlnitaumlt Die faktische Herrschaft ist - insbe-
sondere bei militaumlrischen Konflikten - leichter festzustellen als
die Souveraumlnitaumlt uumlber das betreffende Gebiet5
Sowohl Israel als auch Palaumlstinenser sehen Jerusalem als ihre
jeweilige Hauptstadt Rechtsanspruumlche auf Territorium ergeben
sich zum groszligen Teil aus dem voumllkerrechtlichen Selbstbestim-
mungsrecht6 welches damit die staumlrkste Legitimationsquelle fuumlr
Souveraumlnitaumltsanspruumlche ist7 Gleichzeitig besteht aber auch ein
Spannungsverhaumlltnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht
1 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember 2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-
jerusalem (Stand 24022019) 2 Hillgruber in Der Staat Vol 53 Nr3 2014 475 476 3 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 173 4 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 111 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 321 5 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 181
der Voumllker in seiner offensiven Auspraumlgung (gerichtet auf eine
Aumlnderung des Territorialstatus8) und der Souveraumlnitaumlt der Staa-
ten Da das Selbstbestimmungsrecht im Einklang mit den Best-
immungen der UN-Charta gefoumlrdert werden soll wird es grund-
saumltzlich dem Souveraumlnitaumltsgrundsatz nachgeordnet9 Die UNO
bekraumlftigt gleichwohl das Recht der Palaumlstinenser auf Selbstbe-
stimmung als unabdingbar im Nahostkonflikt10
C Die Anerkennung im Voumllkerrecht
I Bedeutung Rechtsnatur und Arten
Die voumllkerrechtliche Anerkennung bezeichnet die einseitige Er-
klaumlrung eines Voumllkerrechtssubjekts eine bestimmte Sach- oder
Rechtslage fuumlr rechtmaumlszligig zu erachten11 Voraussetzung fuumlr die
Anerkennung eines Staates ist das Bestehen von Staatsgebiet -
volk und -gewalt im Sinne der Drei-Elemente-Lehre12 Fuumlr das
Staatsgebiet ist eine endguumlltige Festsetzung der Auszligengrenzen
nicht erforderlich es bedarf lediglich eines unbestrittenen Kern-
gebiets13 Wenngleich jeder Staat seine Hauptstadt frei waumlhlen
darf und hierfuumlr grundsaumltzlich keine Anerkennung benoumltigt geht
es bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gerade
auch um die territoriale Ausdehnung der effektiven Staatsgewalt
im nicht unbestrittenen Staatsgebiet denn die Anerkennung als
Hauptstadt impliziert die Anerkennung der Ausdehnung des
Staatsgebiets auf dem Territorium der Stadt Eine Anerkennung
betrifft das bilaterale Verhaumlltnis zwischen anerkanntem und an-
erkennendem Staat und ist daher sehr politisch gepraumlgt14 Im po-
litischen Sinne ist die Anerkennung konstitutiv im rechtlichen
Sinne dagegen hat sich die deklaratorische Theorie15 als vor-
zugswuumlrdig durchgesetzt16 Das bedeutet zunaumlchst eine be-
grenzte rechtliche Wirkung von Trumps Anerkennung Jerusa-
lems als Hauptstadt Israels Jerusalem wird nicht dadurch zur
Hauptstadt und zum Staatsgebiet Israels Es ist der Kontext des
6 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 239 7 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 240 8 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 41 9 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 10 ARES6719 11 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 160-1 12 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 13 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 391 14 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 379 394 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5
RN 173 15 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 174 16 Shaw International Law 2017 331
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
11
voumllkerrechtlichen und politischen Konflikts um den Status der
Stadt der der Anerkennung eine hohe Bedeutung verleiht
Es wird bei der Art der Anerkennung zwischen de facto und
de jure Anerkennung unterschieden Erstere beinhaltet keinen
diplomatischen Austausch hat einen politischen Charakter wird
als vorlaumlufig und weniger verbindlich bezeichnet und geht oft-
mals einer Anerkennung de jure voraus17 So erkannten die USA
den Staat Israel zunaumlchst nur de facto an nach vollzogenen
Wahlen auch de jure18
II Das Prinzip der Nichtanerkennung
Durch die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und
die damit verbundene Verlegung der US-Botschaft kann Trump
nur dann gegen Voumllkerrecht verstoszligen wenn eine Pflicht zur
Nichtanerkennung besteht Neben einer politisch motivierten
Nichtanerkennung (etwa die Nichtanerkennung Israels durch die
Arabische Liga) kann die Nichtanerkennung auf der voumllkerge-
wohnheitsrechtlich anerkannten Rechtspflicht zur Nicht-Aner-
kennung von Herrschaftsverbaumlnden die unter Verstoszlig gegen das
Gewaltverbot oder das Selbstbestimmungsrecht der Voumllker ent-
standen sind beruhen19 Das Prinzip dieser Rechtspflicht beruht
auf dem Grundgedanken dass es sich kein Rechtssystem erlau-
ben kann Verstoumlszlige gegen seine eigene Ordnung zu tolerieren20
Ein Wandel von dem fruumlher geltenden Effektivitaumltsgrundsatz ex
factis jus oritur nach dem das Recht seine Guumlltigkeit verliert
wenn kontinuierliche Rechtsbruumlche durch ihre Tolerierung er-
folgreich bleiben21 zeigte sich erstmals in der Stimson-Doktrin
einer US-amerikanischen politischen Absichtserklaumlrung von
1932 Unter Verstoszlig gegen den Kellogg-Pakt zur Aumlchtung des
Krieges oder die Voumllkerbundsatzung zustande gekommenen Zu-
staumlnden wurde hiernach die Anerkennung verweigert22 Seither
fand nach dem baldigen Konsens hinsichtlich des Gewaltverbots
eine Festigung des Legalitaumltsgrundsatzes ex injuria jus non ori-
tur statt Aus diesem Grundsatz ergibt sich dass die Anerken-
nung einer verbotenen Handlung ebenso widerrechtlich ist wie
die verbotene Handlung selbst23
Insbesondere durch die Friendly-Relations-Deklaration von
1970 hat sich der Grundsatz zur Pflicht erhaumlrtet 1986 hat der
IGH die vormals nicht rechtsverbindliche Friendly-Relations-
Deklaration als Voumllkergewohnheitsrecht anerkannt bezog sich
jedoch auf die gesamte Resolution nicht auf einzelne Vorschrif-
17 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 166 Brownlie 91 f Shaw International
Law 2017 341 18 Loudwin Die konkludente Anerkennung im Voumllkerrecht S 33 19 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 20 Patel Recognition in the Law of Nations S 111 21 H Lauterpacht Recognition in International Law S 427 22 Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 434 23 Vgl Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 440 IGH Wall in the Occupied
Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 24 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 12 bezugnehmend auf IGH Military and Paramilitary Ac-
tivities in and against Nicaragua Merits Judgement ICJ Reports 1986 14 25 Talmon in TomuschatThouvenin The Fundamental Rules of the International
Legal Order Jus Cogens and Obligations Erga Omnes 2006 99 102 IGH Wall
in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 26 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 4
ten24 2004 nahm der IGH explizit auf die Pflicht zur Nicht-An-
erkennung Bezug er sieht sie als gewohnheitsrechtlich begruumln-
det an25
3 Die Entwicklung der Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
uumlber Jerusalem und der voumllkerrechtliche Status der
Stadt
Der voumllkerrechtliche Status Jerusalems und damit die Frage ob
eine Anerkennung rechtmaumlszligiger Weise erfolgen kann oder ob e
contrario die Pflicht zur Nicht-Anerkennung besteht haumlngt
maszliggeblich von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen ab Hierzu bie-
tet sich ein Abriss der historischen Entwicklung der Souveraumlni-
taumlt auf dem Territorium Jerusalems an
II Vom Britischen Mandat zum Teilungsplan
Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des
Ersten Weltkriegs erhielt Groszligbritannien ein Mandat des Voumll-
kerbundes zur Administration des Mandatsgebiets Palaumlstina Je-
rusalem war waumlhrend dieser Zeit die Hauptstadt des Mandatsge-
biets26 Das Volk im Mandatsgebiet wurde nicht seiner Souve-
raumlnitaumlt beraubt sondern an seiner Ausuumlbung voruumlbergehend ge-
hindert27 Daher wird die genaue Souveraumlnitaumltslage seit diesem
Zeitpunkt treffend als bdquoVakuumldquo bezeichnet28 Insbesondere
war Palaumlstina inklusive Jerusalem zu diesem Zeitpunkt keine
terra nullius auf dem ein originaumlrer Gebietserwerb durch Ok-
kupation29 moumlglich gewesen waumlre
Nach der Aufloumlsung des Voumllkerbundes uumlbertrug Groszligbritan-
nien die Entscheidungsmacht zur Zukunft Palaumlstinas ndash nicht aber
die Souveraumlnitaumlt ndash an die UNO Der UN-Teilungsplan fuumlr Palaumls-
tina 1947 sah eine Beendigung des britischen Mandats und eine
Aufteilung in arabische und juumldische Gebiete vor ndash Jerusalem
sollte als corpus seperatum unter internationale Kontrolle ge-
stellt werden30 Der Teilungsplan verhinderte die Aufgabe der
Souveraumlnitaumlt im Sinne einer Dereliktion welche Palaumlstina zur
terra nullius gemacht haumltte31 Der Treuhandrat der UNO wurde
mit der Administration Jerusalems betraut Auch diese Admi-
nistration bedeutete lediglich die bdquobesitzendeldquo Gebietshoheit
keine rechtliche Souveraumlnitaumlt32 Dem Teilungsplan kam keine
Legislativwirkung zu33
27 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 6 28 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 13 Draper in Koumlchler The
Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 Hirsch in Israel Law Review Volume 38 Issue 1-2 2005
298 300 29 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 36 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumll-
kerrecht S 331 30 UN ARES181 (II) 31 Draper in Koumlchler The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 32 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 8 33 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 274 Fn 8 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy
Places S 16
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
12
Die Jewish Agency eine Art Vorlaumluferregierung Israels war
mit dem Teilungsplan einverstanden die arabische Seite auf-
grund der Unproportionalitaumlt gemessen an der Bevoumllkerungs-
zahl dagegen nicht34
II Erster Arabisch-Israelischer Krieg
In der Folge des nach der Proklamation des Staates Israels am
14051948 (dem Tag des Mandatsendes) ausbrechenden Kriegs
zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde das haupt-
saumlchlich juumldisch bevoumllkerte West-Jerusalem von Israel und Ost-
Jerusalem wo uumlberwiegend Araber lebten von Jordanien mili-
taumlrisch besetzt35 Die Besetzungen werden teils schon als fakti-
sche Annexionen beider Seiten36 und als stillschweigend von der
UNO akzeptiert angesehen37 Als Annexion wird der einseitige
Akt eines Staates bezeichnet durch den dieser gegen den Willen
eines fremden Staates dessen Staatsgebiet zu seinem eigenen
macht38 Selbst wenn das Schweigen der UNO als Duldung in-
terpretiert wird kann sich diese nur auf das Vorliegen der de
facto Autoritaumlt beziehen und nicht die Anerkennung voll ausge-
reifter Souveraumlnitaumlt begruumlnden39 Die Aufteilung in West- und
Ostjerusalem wurde Teil des Waffenstillstandsabkommens vom
441949 zwischen Israel und Jordanien und als sog bdquogruumlne Li-
nieldquo bekannt40 Sie ist die Grundlage anerkannter politischer
faktischer Souveraumlnitaumlt41 Am 23011950 erklaumlrte Israel Jerusa-
lem zu seiner Hauptstadt und siedelte seine Regierung in West-
jerusalem an42 Damit schafft Israel vollendete Tatsachen mit
der Absicht der Dauerhaftigkeit (fait accompli) was einer de-
facto Annexion gleichkommt43
III Sechstagekrieg
Bei diesem Status der Teilung zwischen Ost- und Westjerusalem
blieb es bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 bei dem Israel
nach einem Uumlberraschungsschlag Ostjerusalem eroberte in
seine Verwaltung eingliederte44 Ob Israel oder seine Gegner
letztlich Aggressor des Sechstagekriegs waren ist bis heute um-
stritten45 Jedoch betont der Sicherheitsrat die Unzulaumlssigkeit
des Gebietserwerbs durch Krieg ohne bei der Formulierung auf
Aggression abzustellen46 Somit spielt es keine Rolle wer letzt-
lich Aggressor war denn klar ist dass die Besetzung Ostjerusa-
lems durch Waffengewalt erreicht wurde47
34 Saperia in Journal of East Asia and International Law Vol 3 Nr 1 2010
175 177 35 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 279 Cattan Palestine and International Law The Le-
gal Aspects of the Arab-Israeli Conflict S 23 f Korman The Right to Con-
quest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 36 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 25 37 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 23 38 HailbronnerKau in Vitzthum Voumllkerrecht 2010 RN 137 39 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 281 40 42 UNTS 303 No 656 41 Korman The Right to Conquest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 42 UN DPI2276 Chapter 12 S 4 43 vgl IGH Wall in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 121 44 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 Cassese The Human Dimension of International Law Sel-ected Papers of Antonio Cassese 2008 272 284
Der UN Sicherheitsrat forderte zur sofortigen Beendigung
aller kriegerischen Aktivitaumlten und zum Ruumlckzug der israeli-
schen Streitkraumlfte aus (den) im juumlngsten Konflikt eroberten Ge-
bieten48 auf Dass auf zuvor besetzte Gebiete kein Bezug ge-
nommen wird wird als de facto Anerkennung der Souveraumlnitaumlt
innerhalb der vor dem Sechstagekrieg bestehenden faktischen
Grenzen gewertet49
IV Die Annexion Ostjerusalems durch Israel
Die de-jure Annexion folgt mit dem sog Jerusalemgesetz50
1980 welches rechtliche Anspruumlche auf die ganze Stadt als
ewige und unteilbare Hauptstadt Israels erhob51 Israel verstoumlszligt
damit gegen das in Art 2 (4) der UN-Charta festgelegte Gewalt-
verbot und gegen die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung52
Der Sicherheitsrat forderte Israel auf vom Festhalten an einer
Politik und an Maszlignahmen abzusehen die sich auf den Status
Jerusalems auswirken53 Als Israel dem nicht Folge leistete er-
klaumlrte der Sicherheitsrat das Jerusalemgesetz fuumlr null und nichtig
und forderte alle Mitgliedstaaten auf bestehende diplomatische
Vertretungen aus der heiligen Stadt abzuziehen54 Die rechtlich
bindende Resolution des Sicherheitsrates verurteilt eindeutig
das Vorgehen Israels als voumllkerrechtswidrig Es bestehen keine
Souveraumlnitaumltsrechte Israels auf Ostjerusalem
V Souveraumlnitaumltsanspruumlche der Palaumlstinenser
Auf der anderen Seite begruumlndeten die Palaumlstinenser ihren An-
spruch auf Jerusalem als Hauptstadt eines zukuumlnftigen unabhaumln-
gigen Staates vor allem damit dass vor der massenhaften Aus-
wanderung vieler Juden aus allen Laumlndern Europas waumlhrend des
Holocaust nach Israel Muslime die groumlszligte Bevoumllkerungsgruppe
im Gebiet des historischen Palaumlstina waren Koumlnig Hussein von
Jordanien erklaumlrte im Juli 1998 den Verzicht Jordaniens auf
Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Jerusalem und das Westjordanland
zugunsten der 1964 gegruumlndeten Palaumlstinensischen Befreiungs-
organisation PLO55 Diese wird seit 1974 von der Generalver-
sammlung als legitime Repraumlsentation des Volkes anerkannt56
45 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 46 SRES233 47 Wright in The Americal Journal of Internatinal Law Vol 64 Nr 2 1970
270 270 48 SRES242 engl from territories frnz des territoires 49 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 252 50 Basic Law Jerusalem Capital of Israel Sefer Ha-Chukkim No 980 of the
23th Av 5740 (5 August 1980) S 186 Englische Fassung unter httpswwwknessetgovillawsspecialengbasic10_enghtm (Stand
24022019) 51 Dawidowitz in Crawford ua The Law of International Responsibility Ox-ford Commentaries on International Law 2010 677 681 52 Randelzhofer in Simma The Charter of the United Nations A Commentary
Art 2 S 74 RN 14 53 SRES476 54 SRES478 55 Paech in Das Argument 321 59 Jahrgang Heft 12017 91 100 56 Shaw International Law 2017 196 ARES3236 (XXIX) APV2282
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
13
Am 15111988 rief die PLO in Algier den Staat Palaumlstina aus57
Die Staatsqualitaumlt Palaumlstinas ist jedoch umstritten Zum einen ist
trotz des jordanischen Verzichts die genaue Territorialhoheit zu
unbestimmt zum anderen ist das Ausuumlben einer effektiven
Staatsgewalt zweifelhaft58 Seit Ende 2012 erkennt die UNO Ge-
neralversammlung Palaumlstina als non-member observer state an
was als Vorstufe zur Vollmitgliedschaft gilt59 In der entspre-
chenden Resolution wird Jerusalem als Hauptstadt zweier Staa-
ten bezeichnet Die Weltgemeinschaft haumllt also am Streben nach
einer Zwei-Staaten-Loumlsung fest Eine Vollmitgliedschaft in der
UNO scheiterte bisher trotz der begruumlszligenden Haltung der Gene-
ralversammlung60 am Veto der USA im Sicherheitsrat61
VI Zwischenfazit
Die Darstellung zeigt dass der Status der Stadt nicht nur um-
stritten sondern noch ungeklaumlrt ist Eine verbindliche einver-
nehmliche Regelung gab es nicht Die exakten Souveraumlnitaumltsver-
haumlltnisse in Jerusalem befinden sich nach wie vor im Schwebe-
zustand Trotzdem ist Jerusalem die de facto Hauptstadt Israels
Israels Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Westjerusalem sind weniger
umstritten als diejenigen auf Ostjerusalem Durch die rechtliche
Anerkennung der Veraumlnderung des Status Ostjerusalems durch
die uumlberwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft oder durch
Organe der UN mit entsprechen Kompetenzen koumlnnte die zu-
naumlchst illegitime Autoritaumlt Souveraumln werden62 Dies meint nicht
die Genese von Staatlichkeit im Sinne der konstitutiven Theorie
sondern die Entstehung von Voumllkergewohnheitsrecht
E Trumps Politik und ihre voumllkerrechtlichen Grenzen
I Hintergruumlnde das Verhaumlltnis der USA und Israel
Die Ambiguitaumlt zwischen dem bisherigen Abstimmverhalten der
USA in der UNO und dem ploumltzlichen Umschwenken durch
Trump hat ihren Ursprung in der Gewaltenteilung63 Waumlhrend
die Exekutive oftmals im Einklang mit Haltung der Staatenge-
meinschaft handelte unternahm die nationale Legislative Ver-
suche sie hieran zu hindern64 Die Anerkennung der Rechtmauml-
szligigkeit des Status quo ist in der US-Politik kein Novum inner-
halb der Exekutive und auf auszligenpolitischer Ebene dagegen ist
Trumps sympathisierende Haltung eine Kehrtwende
Die US-amerikanische auszligenpolitische Haltung laumlsst sich
dahingehend zusammenfassen dass keine entschiedene Position
57 Unabhaumlngigkeitserklaumlrung des Staates Palaumlstina in Algier 15111988 Deut-
sche Fassung abrufbar unter der Webpraumlsenz der diplomatischen Mission Palaumls-
tinas in Deutschland httppalaestinaorguploadsmediaunabhaengigkeitser-klaerungpdf (Stand24022019) 58 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 138 59 ARES6719 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und
Voumllkerrecht Band 30 2016 173 190 60 ARES6719 61 A66371 S2011592 23 62 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 286 63 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 64 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 65 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 2 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
bezuumlglich des Status Jerusalems bezogen wurde denn dieser
solle in kuumlnftigen Verhandlungen der beteiligten Parteien fest-
gelegt werden Die Anerkennung Israels durch US-Praumlsident
Truman begruumlnde keine Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt
uumlber Jerusalem65 Eine Anerkennung Israelischer Souveraumlnitaumlt
unterblieb sogar bezuumlglich West-Jerusalems aufgrund von
Zweifeln an der Faumlhigkeit zur tatsaumlchlichen Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung66 wenngleich die USA Jerusalem als de facto Hauptstadt
Israels anerkannten67
Eine klarere Position vertrat der legislative Zweig Im Kon-
gress herrschte die Auffassung Jerusalem sei die rechtmaumlszligige
Hauptstadt Israels68 was zudem der uumlberwiegenden Auffassung
der US-amerikanischen Bevoumllkerung entspricht69 Diese Sicht-
weise versuchte der Kongress der Exekutive durch eine Reihe
von Gesetzesinitiativen aufzudraumlngen70 Der Jerusalem Em-
bassy Act of 1995 sieht die Verlegung der US-Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem vor71 Jedoch liegt die verfassungsmaumlszligige
Entscheidungshoheit uumlber die Anerkennung beim Praumlsidenten
da nur die Exekutive Zugriff auf alle entscheidungsrelevanten
Informationen hat72 Daher musste der Act mit einer Klausel er-
lassen werden welche die Moumlglichkeit eines Aufschubs durch
den Praumlsidenten zur Wahrung der nationalen Sicherheit um je-
weils sechs Monate vorsieht73 Von diesem Vollstreckungshin-
dernis machten die US-Praumlsidenten seit 1995 Gebrauch Die
Botschaftsverlegung und Anerkennung der Hauptstadt ist eine
politische Entscheidung keine diplomatische Trump beugt sich
dem Druck der Legislative und erfuumlllt ein Wahlkampfverspre-
chen
II Die Vereinbarkeit von Trumps Vorgehen mit dem voumllkerrechtlichen Status Jerusalems
Die Frage nach der voumllkerrechtlichen Vereinbarkeit muss be-
zuumlglich der Anerkennung als Hauptstadt und der Verlegung der
Botschaft getrennt beantwortet werden
1 Die Anerkennung als Hauptstadt
a) Gesamtjerusalem als Gegenstand der Anerkennung
66 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 340 67 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 838 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 68 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839-40 69 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 70 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 71 Jerusalem Embassy Act of 1995 Sec 3a (3) 3b httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 72 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 10 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 73 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 6 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
14
Die Anerkennung von Israels Wahl seiner Hauptstadt ist nicht
gaumlnzlich neu Bereits am 6042017 erklaumlrte Russland Westje-
rusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen Gleichzeitig
wurde das Bestreben bekraumlftig Ostjerusalem solle die Haupt-
stadt eines kuumlnftigen Palaumlstinensischen Staates werden74 Trump
signalisierte ebenfalls seine weiterhin bestehende Unterstuumltzung
der Zwei-Staaten-Loumlsung und betonte keine Position zum fina-
len Status zu beziehen insbesondere nicht bezuumlglich der spezi-
fischen Grenzen israelischer Souveraumlnitaumlt75 Das erscheint je-
doch widerspruumlchlich da er gleichzeitig nicht zwischen Ost-
und Westjerusalem unterscheidet Wenngleich er sich nicht di-
rekt auf das Jerusalem in der israelischen Sichtweise bezieht
handelt er in Ausfuumlhrung des Jerusalem Embassy Act welcher
Jerusalem als bdquowiedervereintldquo durch die Folgen des Sechstage-
krieges bezeichnet76 Ferner bezieht er sich auf die tatsaumlchlich
bestehende Herrschaft Israels welche sich ebenfalls auf die ge-
samte Stadt erstreckt Im Wortlaut seiner Erklaumlrung vom
6122017 findet sich keine Unterscheidung zwischen Ost und
West und schon im Wahlkampf hatte er eine Anerkennung der
ungeteilten Stadt angekuumlndigt77
b) Anerkennung faktischer Souveraumlnitaumlt
Trump betont ndash ebenso wie die Botschafterin der USA bei der
UNO Nikki Haley ndash uumlber den finalen Status der Stadt also auch
uumlber die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse kein Urteil faumlllen zu wol-
len78 Es stellt sich folglich die Frage ob die Anerkennung oder
Akzeptanz der faktischen Situation von der Anerkennung recht-
licher Souveraumlnitaumlt zu unterscheiden ist Jedoch ist die Wahl der
Hauptstadt Ausdruck des inneren Souveraumlnitaumltsrechts Waumlhrend
de facto Herrschaft ohne rechtliche Souveraumlnitaumlt bestehen kann
ist die Wahl der Hauptstadt Ausdruck von Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung braucht daher einen Rechtsgrund Somit kommt eine An-
erkennung faktischer Souveraumlnitaumlt nicht in Betracht ohne zu-
gleich eine anerkennende Haltung bezuumlglich voll ausgereifter
Souveraumlnitaumltsrechte zu treffen
c) Anerkennung rechtlicher Souveraumlnitaumlt
Anknuumlpfend an das Abstellen auf tatsaumlchlich bestehende Herr-
schaftsverhaumlltnisse koumlnnte die Argumentation zur Rechtmaumlszligig-
keit der Anerkennung mit dem aus dem roumlmischen Recht stam-
menden Grundsatz uti possidetis ita possidetis (wie ihr besitzt
so sollt ihr besitzen)79 begruumlndet werden Das Prinzip baut auf
das Vorliegen rechtlicher Eingestaumlndnisse des vormaligen Sou-
74 Foreign Ministry statement regarding Palestinian-Israeli settlement
6 April 2017 httpwwwmidruenforeign_policynews-asset_pub-lishercKNonkJE02Bwcontentid2717182p_p_id=101_INSTANCE_cKNon-
kJE02Bwamp_101_INSTANCE_cKNonkJE02Bw_languageId=en_GB (Stand
24022019) 75 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember
2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-jerusalem (Stand 24022019) 76 Jerusalem Embassy Act Sec 2 (6) httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 77 Dpa Trump wuumlrde ganz Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen Suumld-
deutsche Zeitung Meldung vom 25 September 2016 2207
httpwwwsueddeutschedenewspolitikwahlen-trump-wuerde-ganz-jerusa-lem-als-hauptstadt-israels-anerkennen-dpaurn-newsml-dpa-com-20090101-
160925-99-587350 (Stand 24022019) 78 SC13125 79 Torres Bernaacuterdez FS-Zemanek 1994 417 421
veraumlns zu einem bestimmten entscheidungserheblichen Zeit-
punkt auf80 Im Fall israelischer Gebietsanspruumlche uumlber Ostjeru-
salem fehlt es an diesen beiden Faktoren Bezuumlglich auf Westje-
rusalem begrenzte Souveraumlnitaumltsanspruumlche koumlnnte das Waffen-
stillstandsabkommen von 1949 herangezogen werden81 Die
bdquogruumlne Linieldquo koumlnnte dabei das territoriale Eingestaumlndnis sein
Jedoch wird der uti possidetis Grundsatz von konkreten voumllker-
rechtlichen Vereinbarungen verdraumlngt82 Eine solche besteht fuumlr
Jerusalem durch das Waffenstillstandsabkommen von 194983
Somit schlaumlgt auch die Anwendung des uti possidetis Prinzips
unter Hinzuziehung des Effektivitaumltsgrundsatzes fehl
Waumlhrend Mitte des 20 Jahrhunderts der gewohnheitsrecht-
liche Standard anerkannt war gewaltsame Gebietsaumlnderungen
fuumlr rechtmaumlszligig anzuerkennen laumlsst sich dies heute nicht mit der
Pflicht zur Nichtanerkennung unrechtmaumlszligiger Situationen ver-
einbaren84 Insbesondere bei der Bildung von Voumllkergewohn-
heitsrecht hat das Faktische eine normative Kraft es schafft je-
doch kein Recht85 Dies wird von Trump grundlegend verkannt
Auf die Abkehr von dem Prinzip ex factis ius oritur wurde be-
reits eingegangen86 Rechtliche Wirkung entfalten allein voumllker-
rechtliche Normen Die vorangegangenen Ausfuumlhrungen und
die Untersuchung des voumllkerrechtlichen Status Jerusalems zei-
gen dass es keine entsprechende voumllkerrechtliche Fundierung
fuumlr die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gibt das
Voumllkerrecht dem sogar klar entgegensteht
Es wird diskutiert ob die Pflicht zur Nicht-Anerkennung un-
mittelbar anwendbar ist sobald die ausloumlsenden Tatbestandsvo-
raussetzungen vorliegen oder ob es eines entsprechenden Hin-
weises einer unparteiischen Autoritaumlt bedarf um zu verhindern
dass sich einzelne Staaten als Schiedsrichter aufspielen87 Die
Frage eruumlbrigt sich da entsprechende Resolutionen der UNO
vorliegen Es spielt keine Rolle dass die unrechtmaumlszligige Anne-
xion bereits fast 40 Jahre zuruumlck liegt denn die Pflicht zur
Nichtanerkennung ist in ihrer Dauer unbegrenzt88
Somit konnte zeigt sich im Ergebnis die Unvereinbarkeit ei-
ner Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt uumlber Gesamtjerusa-
lem mit dem Voumllkerrecht
2 Die Verlegung der Botschaft
Davon getrennt ist abschlieszligend noch die Frage zu klaumlren ob
auch die Botschaftsverlegung gegen das Voumllkerrecht verstoumlszligt
Die Nichtigkeitserklaumlrung des Jerusalemgesetzes beinhaltete
80 Nesi in Max Planck Encyclopedia of International Public Law 2011 Uti Pos-
sidetis Doctrine RN 10 81 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumll-
kerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht
Band 30 2016 173 181 82 Blumenwitz FS Wuumlrzburg 2002 377 381 83 42 UNTS 303 No 656 84 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues and uncertainties S 7 85 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumllkerrecht S 69 bezugnehmend auf
Jellineks allgemeine Staatslehre 86 Vgl oben (Fn22) H Lauterpacht Recognition in International Law S 426 87 Vgl Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger
Gebietsaumlnderungen S 146 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contempo-rary international law issues and uncertainties S 12 f 88 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 18
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
15
auch die Aufforderung des Sicherheitsrates an alle Nationen die
diplomatische Missionen in Jerusalem aufgebaut hatten diese
aus der heiligen Stadt abzuziehen89 Daraufhin verlegten alle 13
in Jerusalem diplomatisch vertretenen Nationen ihre Botschaf-
ten nach Tel Aviv90 Jedoch trifft die entsprechende Resolution
keine Aussage uumlber die Dauerhaftigkeit des Ruumlckzugs Somit ist
zu fragen ob es daher grundsaumltzlich ausgeschlossen ist wieder
Botschaften nach Jerusalem zu verlegen Die Pflicht zur Nicht-
Anerkennung umfasst auch die Pflicht Handlungen zu unterlas-
sen die eine Anerkennung implizieren koumlnnten91 In Jerusalem
befinden sich unter anderem Generalkonsulate von Italien Grie-
chenland Groszligbritannien Frankreich und den USA92 Jedoch
geht im Gegensatz zu einer konsularischen Mission von einer
Botschaft eine hohe symbolische Wirkung aus93 Dem konklu-
denten Inhalt dieser Symbolkraft muumlsste explizit widersprochen
werden anderenfalls muumlsste die Verlegung der Botschaft als
konkludente Anerkennungserklaumlrung von Israelischer Souverauml-
nitaumlt uumlber das Gebiet des Botschaftsstandorts verstanden wer-
den94 Wenngleich die meisten diplomatischen Missionen in den
Hauptstaumldten aufgebaut werden enthaumllt die Wahl des Bot-
schaftsstandorts fuumlr sich genommen auch keine Aussage uumlber
den Status einer Stadt als Hauptstadt auch die USA unterhalten
in einigen Laumlndern Botschaften auszligerhalb der anerkannten
Hauptstadt95 Es bestuumlnde die Moumlglichkeit die Botschaft nach
Westjerusalem zu verlegen wo die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
weniger umstritten sind96 Angekuumlndigt ist der Umzug in das be-
reits bestehende Konsulat in Arnona97 Das Viertel wird von der
Grenze zwischen Ost und Westjerusalem durchzogen Das US-
Konsulat befindet sich auf der Waffenstillstandslinie von 1949
Somit wuumlrde nicht inhaumlrent eine Anerkennung uumlber Souveraumlni-
taumltsverhaumlltnisse erfolgen
Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Verlegung der
Botschaft vor allem deshalb so hohe Bedeutung beigemessen
wird weil sie im selben Atemzug angekuumlndigt wird wie die An-
erkennung Gesamtjerusalems als Hauptstadt Israels und diese
somit symbolisch bekraumlftigt Fuumlr sich betrachtet waumlre ein Um-
zug moumlglich ohne die Grenzen des Voumllkerrechts zu uumlberschrei-
ten Dann muumlsste zugleich bekraumlftigt werden dass eine Aner-
kennung der Annexion von 1980 unterbleibt Der von Trump
gewaumlhlte Rahmen der Anordnung der Botschaftsverlegung ent-
haumllt jedoch eine konkludente Anerkennung Israelischer Souve-
raumlnitaumlt und verstoumlszligt damit gegen das Voumllkerrecht
III Internationale Bewertungen und Reaktionen
Als Reaktion auf Trumps Entscheidung sah ein von Aumlgypten
eingebrachter Resolutionsentwurf des Sicherheitsrates vor alle
89 SRES 478 90 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 53 91 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 15 92 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-saumlnderungen S 53 93 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 31 94 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 165 95 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839 Fn 11 96 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The Future of Jerusalem A Symposium 837 839 840
Nationen aufzufordern keine diplomatischen Missionen in Je-
rusalem aufzubauen die Abhaumlngigkeit des finalen Status Jeru-
salems von zukuumlnftigen Verhandlungen zwischen Israelis und
Palaumlstinensern zu betonen und juumlngste Entscheidungen die dem
entgegenstuumlnden zu verurteilen Auszligerdem sollten Trends die
die Zwei-Staaten-Loumlsung gefaumlhrden reversiert werden98 Der
Entwurf scheiterte am 18122017 durch das Veto der USA mit
einer 14-1 Abstimmung
Einen Tag spaumlter verabschiedete die Generalversammlung
mit 128 Ja-Stimmen 9 Nein-Stimmen und 35 Enthaltungen eine
Resolution mit aumlhnlichem Tenor Unter anderem rief sie alle
Mitgliedstaaten dazu auf den Aufbau diplomatischer Missionen
in Jerusalem zu unterlassen99 Eine direkte Erwaumlhnung und Ver-
urteilung der von Trump eingeleiteten Schritte erfolgte gleich-
wohl nicht Die Resolution ist rechtlich nicht bindend hat aber
Symbolcharakter Die Haltung der Staatengemeinschaft laumlsst
sich als Verurteilung des Nichtnachkommens der voumllkerrechtli-
chen Pflicht die Annexion Ostjerusalems von 1980 nicht anzu-
erkennen qualifizieren
Die Reaktionen zeigen zudem dass die internationale Staa-
tengemeinschaft Trumps Entscheidungen fuumlr die weitere Ent-
wicklung des Nahostkonflikts fuumlr nicht friedensfoumlrderlich haumllt
was zumindest zunaumlchst durch die weitere Entwicklung bestaumltigt
wurde In den Tagen nach Trumps Verkuumlndung kam es in Jeru-
salem vermehrt zu Gewalt Palaumlstinensische Extremisten kuumln-
digten bdquoTage des Zornsldquo an100 Am Tag der Botschaftsverlegung
am 15052018 kam es zu Ausschreitungen mit Duzenden Toten
F Fazit
Jerusalems Sonderrolle als heilige Stadt dreier Weltreligionen
bringt eine emotionale Aufladung des Konflikts mit sich und er-
schwert den Friedensprozess da scheinbar wichtigere Werte das
Ziel in den Schatten stellen101 Fuumlr eine Internationalisierung
konnten sich beide Seiten nicht begeistern102 Ein beidseitiger
Verzicht auf Jerusalem als politische Hauptstadt koumlnnte der Son-
derrolle der Stadt als religioumlse Staumltte am besten gerecht werden
den Konflikt durch Vermeidung von Provokationen emotional
entladen und so den Friedensprozess foumlrdern
Die Autorin studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaf-ten an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg mit dem Schwerpunkt bdquoDeutsches Europaumlisches und Internationales Oumlffentliches Rechtldquo Der Beitrag beruht auf einer Studienarbeit im Rahmen des Seminars bdquoGrundlagen und Grenzen staatlicher Souveraumlnitaumlt ndash aktuelle Prob-leme und voumllkerrechtliche Loumlsungenldquo bei Frau Prof Dr Voumlneky im Sommersemester 2018
97 Nauert Heather Press Statement Opening of US Embassy in Jerusalem
23 Februar 2018 httpswwwstategovrpaprsps201802278825htm
(Stand 24022019) 98 S20171060 99 AES-10L22 100 Reuters Israeli minister sees Trump sbquohintlsquo at Jerusalem Partition with Pales-tinians 8 Dezember 2017 httpswwwreuterscomarticleus-usa-trump-is-
rael-partitionisraeli-minister-sees-trump-hint-at-jerusalem-partition-with-pa-
lestinians-idUSKBN1E21OL (Stand 24022019) 101 Wilson in Middle East Journal Vol 23 No 1 1969 1 1 StoverMankaryous
in International Journal on World Peace Vol 25 Nr 4 Dezember 2008 115
129 102 Ben-DrorZiedler in Diplomacy amp Statecraft Volume 26 2015 636 639
Praktikanten Referendare Wissenschaftliche Mitarbeiter (mw)
Eins drauflegenWas gute Juristen noch besser macht
Besondere Talente verdienen besondere Foumlrderung Fuumlr diesen Anspruch steht unsere ReferendarAcademy Als eine der weltweit fuumlhrenden Anwaltssozietaumlten sind wir immer auf der Suche nach hochqualifizierten Nachwuchskraumlften (mw) fuumlr unsere Buumlros in Duumlsseldorf Frankfurt am Main und Muumlnchen Ausgezeichnete Examina und exzellentes Englisch setzen wir dabei voraus Im Rahmen unserer ReferendarAcademy bieten wir Ihnen als Referendar u a in Zusammenarbeit mit dem Repetitorium KAISERSEMINARE Intensivkurse zur Vorbereitung auf das Assessorexamen einen Uumlber blick uumlber unsere Rechts be reiche und eine Einfuumlh rung in relevante Business Skills Fuumlr die stetige Weiter bildung un-serer Anwaumllte sorgt die Clifford Chance Academy
Erfahrene externe und interne Referenten informieren uumlber aktuelle juristische Entwick lungen und ver mitteln Faumlhigkeiten und Kenntnisse die fuumlr eine Berater per-soumln lichkeit entscheidend sind Haben wir Ihr Inter esse ge weckt Wir freuen uns uumlber Ihre Bewerbung per E-Mail an karrierecliffordchancecom Ihre Ansprech partnerin Nicola von Tschirnhaus 069 7199-4477
Career starts with CInformationen zu uns und der ReferendarAcademy wwwclif fordchancecomkarriere
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 17
Die Problematik der europaumlischen Demokratie und
die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGHs
-
von Soma Hegedős
Abstract
Eine Kardinalskritik in Bezug auf die Funktionsweise der
EU ist dass die EU eine bdquoantidemokratischerdquo Institution sei
sowie dass die Buumlrgerschaft der Mitgliedsstaaten ihre
Entscheidungen kaum beeinflussen kann Von diesem kri-
tischen Aspekt ausgehend wird die Beziehung zwischen
Demokratie und der EU unten ndash umfassend - untersucht
Ein zentraler Aspekt dieser Untersuchung ist die genaue
Betrachtung des Status und der Kompetenzen des EuGH
und zwar vor allem aus zweierlei Gruumlnden Zum einen ist
ein entscheidender Punkt der Kritiken die rechtsschoumlp-
fende Taumltigkeit des EuGH seit den Sechzigern bis heute
ohne ausreichende (demokratische) Legitimation Zum
anderen kann man mit der Pruumlfung seiner rechtsfortbilden-
den Taumltigkeit und seinen zur Rechtsschoumlpfung fuumlhrenden
Urteilsfeststellungen auch die Problematik der Demokratie
und der EU im Zeitalter der Globalisierung besser begrei-
fen
A Einleitung
Zahlreiche moderne Theoretiker - beispielsweise der ungarische
Gyula Mooacuter1 - sehen die Demokratie nicht nur als einen bloszligen
politikwissenschaftlichen Begriff oder eine Organisationsme-
thode von Gewalt an sondern als einen komplexeren Ausdruck
der auch die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen erklaumlren
kann Die Theorien die sich auf den pluralistischen Charakter
der Gesellschaften und des politischen Spektrums bzw auf die
Elitebildung fokussieren haben auf viele kritische Punkte hin-
gewiesen und in vielen Faumlllen die Durchfuumlhrbarkeit der Demo-
kratie infrage gestellt Nach ihren Thesen werden gewisse enge
Elitegruppierungen ndash fruumlher oder spaumlter ndash unmittelbaren Ein-
fluss auf die politischen Entscheidungen haben Hier ist die De-
mokratie-Vorstellung von Joseph Schumpeter zu erwaumlhnen in
deren Mittelpunkt der Konkurrenzkampf und der marktwirt-
schaftliche Wettbewerb stehen Schumpeter sieht das von den
Elitetheorien beleuchtete Problem darin so aufgeloumlst dass die
um die politische Macht kaumlmpfenden Eliten auch fuumlr die Voten
der Einzelnen kaumlmpfen muumlssen Und die Individuen koumlnnen
1 Vgl Gyula Mooacuter A demokraacutecia oumlrveacutenyei In Erdei-Fischer-Horvaacuteth
A demokraacutecia Egyetemi Nyomda Budapest 1945 s 96 ff 2 Vgl Schumpeter Joseph A Kapitalismus Sozialismus und Demokra-
tie A Francke Verlag Tuumlbingen 2018 S 365 ff 3 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie In Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 S 237
eben durch diesen um ihre Voten durchgefuumlhrten Wettbewerb
(bdquoKonkurrenzkampfldquo) Einfluss auf das oumlffentlichen Leben er-
werben2 Hans Kelsen hat es so gehalten dass diese Konfronta-
tion der Gerichte sowohl gegenuumlber der Gesetzgebung als auch
gegenuumlber der Regierung nicht stichhaltig sei Die strenge Tren-
nung der Gewalten schraumlnkt eben die Erfuumlllbarkeit des Volks-
willens ein3 Laut Giovanni Sartori sollte die Volksherrschaft
nach wie vor im Fokus einer demokratischen Staatsorganisation
stehen D h man muss auf solche Fragen eine sinnvolle Ant-
wort geben wie Was ist ein Volk uumlberhaupt und wie kann das
Volk den entscheidenden Einfluss auf die Herrschaft behalten4
In der Auffassung von Juumlrgen Habermas kann die Loumlsung dieser
Probleme durch die Institution eines Parlaments verwirklicht
werden5 In der Demokratie-Interpretation von Habermas ist we-
sentlich dass die zivile Gesellschaft eine tatsaumlchliche Kontrolle
uumlber die politische Sphaumlre und Verwaltung ausuumlbt und das Par-
lament ndash als Teil der Zivilgesellschaft - eine zentrale Rolle in
diesem Kontrollmechanismus spielt
Diese oben genannten Beispiele zeigen dass ein lebhafter
Diskurs uumlber die Interpretationsmoumlglichkeit und die Durchfuumlhr-
barkeit von Demokratie stattgefunden hat Das bdquoSortimentrdquo der
Vorstellungen uumlber die institutionelle Realisation der Demokra-
tie bdquoreicht von rousseauistischen uumlber elitenbezogene und plura-
listische sowie partizipationsorientierte Demokratiemodelle bis
hin zu den Spielarten marxistischer Staatstheorierdquo allerdings
darf das Erfordernis der Demokratie nicht ins bdquostaatstheoreti-
sche Ungewisse fuumlhrenrdquo ndash stellt Winfried Veil fest6 Daraus folgt
die Frage was jene festen Gedankengrundlagen sind aus denen
ein demokratisches Institutionsgefuumlge auch auf der europaumli-
schen ndash bzw transnationalen - Ebene konfiguriert werden kann
das zugleich auch uumlber rechtliche Bindekraft verfuumlgt
4 Vgl Sartori Giovanni DemokratietheorieWissenschaftliche Buchg
Darmstadt 1992 16 ff 5 Vgl Juumlrgen Habermas Faktizitaumlt und Geltung Frankfurt am Main
Suhrkamp 1992 S 430 ff 6 Veil Winfried Volkssouveraumlnitaumlt und Voumllkersouveraumlnitaumlt in der EU
Nomos Baden-Baden 2007 43
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 18
B Demokratiedilemma auf der Ebene der EU
I Das Europaumlische Parlament und die europaumlischen
Voumllker
Veil ndash die Situation vor dem in Kraft treten der Lissabon-Ver-
traumlge pruumlfend ndash sieht das so dass die Realisierung der Demokra-
tie auf EU-Ebene unter den heutigen gesellschaftlichen und po-
litischen Umstaumlnden keineswegs moumlglich sei Genauer gesagt
zweifelt er daran ob uumlberhaupt die Moumlglichkeit eines richtigen
europaumlischen repraumlsentativen Systems vorliegen koumlnne bdquo(hellip)
findet demokratische Repraumlsentation durch das Europaumlische
Parlament nicht statt Repraumlsentation erfordert naumlmlich mehr als
die bloszlige Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregelnrdquo7
Das Problem besteht einerseits im Mangel an einem europaumli-
schen bdquoDemosrdquo anderseits ist auch das Europaumlische Parlament
nicht dazu geeignet das Demos zu repraumlsentieren Die europaumli-
schen Voumllker sind nicht einheitlich weder kulturell noch
sprachlich noch politisch so kann der Diskurs der zum Funkti-
onieren der Demokratie unabdingbar notwendig ist nicht statt-
finden Es fehlt im Wesentlichen an der zur demokratischen
Meinungsbildung wichtigen bdquoBuumlhnerdquo zur Diskussion der Ange-
legenheiten auf Unionsebene Die Spannung zwischen dem Eu-
ropaumlischen Parlament und der Demokratie entsteht dadurch
dass die Kompetenzen des Europaumlischen Parlaments sehr be-
grenzt innerhalb der EU sind Aus diesem Grund kann das EP
den vom Demos durch die Wahlen ausgedruumlckten Volkswillen
nur eingeschraumlnkt zur Geltung bringen
Das andere grundlegende Problem ist der Verlauf der Euro-
pawahlen Das Ergebnis der Stimmabgabe spiegelt mehr die in-
neren Beziehungen der einzelnen Staaten den Zustand bdquoRegie-
rung-Oppositionrdquo ndash wieder als das Ergebnis jener gesellschaft-
lichen-politischen Dispute die uumlber die gemeinsamen bdquoeuropaumli-
schenrdquo Themen stattgefunden haumltten ndash eroumlrtert Veil8 Ein wei-
teres Dilemma ist die demokratische Legitimation der Instituti-
onen und Handlungen der EU genauer gesagt deren Mangels an
Legitimation Da die Subjekte des Voumllkerrechtes in erster Linie
die Staaten sind und die demokratische Legitimation von den
von Voumllkern begruumlndeten Staaten abgeleitet werden kann soll
die EU als spezieller sui generis Staatenverbund eine Parallelitaumlt
zwischen ihren Handlungen und dem Volkswillen aufweisen
Allerdings kann diese Parallelitaumlt in Bezug auf alle Hauptorgane
der EU nur schwach oder gar nicht nachgewiesen werden meint
Veil Zwar stellt dieser fest dass die demokratische Legitima-
tion nicht eine bdquoAlles oder Nichtsrdquo Frage sei vielmehr eine
bdquomehr oder wenigerrdquo Relation trotzdem bestreitet er ob uumlber-
haupt der akzeptable Mindestgrad der Legitimation jeglicher
EU-Organe noch vorhanden sei9 Umsonst kann man die insti-
tutionellen Grundlagen der EU mit voumllkerrechtlichen Vertraumlgen
sowie Volksabstimmungen legitimieren wenn die vertraglichen
Fundamente nicht mehr mit dem tatsaumlchlichen politischen Be-
trieb der EU vereinbart werden koumlnnen bdquoDas von den Gemein-
7 Veil aao S 157 8 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 9 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 10 Veil aaO S 273
schaftsvertraumlgen errichtete politische System deckt aber die lau-
fende Willensbildung der Gemeinschaftsorgane in legitimatori-
scher Hinsicht nicht mehr abrdquo ndash schreibt Veil10
II Demokratieverflechtung
Das sogenannte Lissabon-Urteil des deutschen BVerfG hat ver-
sucht auf diese Frage eine Antwort zu geben Ein Bundestagab-
geordneter hat 2008 eine Verfassungsbeschwerde gegen den
von Deutschland ratifizierten Vertrag von Lissabon bzw das
Bundesgesetz zum Vertrag von Lissabon eingereicht Nach der
Verfassungsbeschwerde wird der staatliche Charakter Deutsch-
lands mit dem Vertrag von Lissabon gefaumlhrdet zudem wurde
die Verletzung des Demokratiegebotes und das eigentliche Feh-
len der demokratischen Legitimation der EU moniert Das
BVerfG hat in seiner besonders detaillierten Begruumlndung darge-
legt dass auch der Vertrag von Lissabon das Problem des De-
mokratiedefizites nicht loumlsen koumlnne Paradoxerweise wurde zu-
gleich gesagt dass die EU keine bdquoDemokratiefaumlhigkeitrdquo besitze
und daruumlber hinaus darf sie keinen houmlheren Grad der Demokra-
tie disponieren als ihre Mitgliedstaaten Nach Marcus Houmlreth
wird als eine Folgerung des Urteiles die Problematik der sog
Demokratieverflechtung genannt Er begruumlndet dass die Sub-
jekte der demokratischen Legitimation weiterhin die Voumllker der
Mitgliedstaaten bleiben Die EU kann von der Legitimation
durch die mitgliedstaatlichen parlamentarischen Demokratien
nicht abruumlcken Aus diesem Grund ndash und aus der Gebundenheit
an das deutsche Verfassungsrecht ndash folgt dass der Wirkungs-
kreis der mitgliedstaatlichen Parlamente auf keinen Fall voll-
staumlndig ausgehoumlhlt werden darf Nach der Auffassung des deut-
schen BVerfG ist Demokratie ein Staatssystem in dem der
Mehrheitswille von den Parlamenten die durch die auf den glei-
chen Stimmrechten beruhenden Wahlen gewaumlhlt werden in
Form der Gesetzgebung und der Regierungsbildung kontinuier-
lich zur Geltung kommt Der Rahmen dieses Gefuumlges wird
dadurch gegeben dass es vor allem ein bdquoVolkrdquo gibt sowie eine
oumlffentliche Publizitaumlt die fuumlr das Volk die Diskussionen und den
Wettbewerb zwischen der Regierung und der Opposition trans-
parent abbilden kann Das Parlament kommt durch die mehr-
heitliche Entscheidung waumlhrend der Wahlen zustande was vor
allem den Wahlwillen der Bevoumllkerung abbildet und die Kapa-
zitaumlt hat den Volkswillen zu offenbaren Das deutsche BVerfG
hat sich in seiner Demokratieauffassung auf die parlamentari-
sche Souveraumlnitaumlt fokussiert und ausgesagt dass das Instituti-
onssystem der EU diesen Anforderungen nicht entspreche weil
die bdquoauszligerrechtlichen Voraussetzungenrdquo allzu unterentwickelt
sind Aus diesem Grund kann man die Demokratie auf EU-
Ebene nicht mit der nationalstaatlichen Stufe gleichsetzen ndash
fuumlhrt Houmlreth aus11
11 Marcus Houmlreth Die Demokratieverflechtungsfalle ndash Warum die EU
nach dem Lissabon-Urteil demokratisch defizitaumlr bleiben muss In
Lhotta ndash Ketelhut ndash Schoumlne Das Lissabon-Urteil Springer Fach-medien Wiesbaden 2013 S 48 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 19
III Wirtschaftliche Globalisierung und Demokratie
Auch die Machtstrukturen veraumlndern sich mit der Europaumlisie-
rung der Wirtschaft und der Gesellschaften wo Machtausuumlbung
zum bdquoRegierenrdquo wird das Regieren entterritorialisiert wird so
Richard Muumlnch Die Durchfuumlhrbarkeit der Demokratie er-
schwert sich mit der Relativierung der Machtausuumlbung uumlber
konkretes Gebiet und konkretes Volk Es gibt im Zentrum der
Politik nicht mehr den demokratischen Willen der sich durch
die politischen Dispute ausformt sondern die Entscheidungen
werden vom Wettbewerb determiniert Dementsprechend ndash
nach Muumlnch ndash vollzieht der EuGH das Programm der europaumli-
schen Liberalisierung und Individualisierung d h der Integra-
tion deren zentraler Handlungsbeauftragter er ist12 bdquoDie Insti-
tutionalisierung des transnationalen europaumlischen Rechtsraumes
ist in erheblichem Umfang das Werk des Europaumlischen Ge-
richtshofesldquo ndash meint Muumlnch13
Wegen der steigenden Bedeutung von der EU aumlhnlichen in-
ternationalen wirtschaftlichen Kooperationen beschaumlftigen sich
Wissenschaftler immer mehr mit Moumlglichkeiten der Durchsetz-
barkeit der Demokratie auf internationaler Ebene bdquojenseits des
Staatesldquo Drei wichtige Aspekte sind hier von groszliger Bedeu-
tung Der Mangel einer zentralen Macht (Regierung) und des
Parlamentes und die transnationale Transformation des oumlffentli-
chen Diskurses Diese drei Eckpunkte scheinen auch in Bezug
auf die demokratische Qualitaumlt der EU entscheidend zu sein die
unter den wichtigsten internationalen Zusammenschluumlssen ndash
wegen ihrer breiten Aufgabenbereiche und politischen Einfluumlsse
ndash den groumlszligten Demokratiebedarf hat14
C Richterrecht Juristokratie
Weltkonstitutionalisierung
I Richterrecht der politische Aktivismus des
Richters
Die Problematik des Richterrechts ist eine Achillesferse fuumlr die
demokratische Handlungsweise der unterschiedlichen richterli-
chen Foren (siehe z B bei Dworkin) Die Taumltigkeit der Verfas-
sungsgerichte sowie der internationalen Gerichtshoumlfe wurde
durch die richterliche bdquoRechtsschoumlpfungrdquo nunmehr so wesent-
lich dass man uumlber ein spezielles Phaumlnomen der sog bdquojuristo-
kratischenrdquo Tendenzen sprechen kann
Das Richterrecht ist ein altes Problem fuumlr die Rechts - und
Staatstheorie Fuumlr Friedrich Carl von Savigny der eine wichtige
Rolle in der Deutung des Richterrechtes gespielt hatte wurzelt
das Recht im bdquoVolksgeistrdquo als das Ergebnis einer geschichtli-
chen Entwicklung Der politische Aktivismus richtet sich nach
12 Vgl Muumlnch Richard Die Konstruktion der europaumlischen Gesellschaft
Zur Dialekt von transnationaler Integration und nationaler Desintegra-tion Campus Verlag FrankfurtNew York 2008 S 372 ff
13 Vgl Muumlnch aaO S 108 14 Vgl Dingwerth Klaus - Blauberger Michael - Schneider Christian
Postnationale Demokratie VS Verlag fuumlr Sozialwissenschaften Sprin-
ger Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden 2011 S 23 ff und
204 ff 15 Vgl Ruumlthers Bernd Die unbegrenzte Auslegung Mohr Siebeck
Auffassung von Philipp Heck letztendlich auf die Beeinflussung
der Gesetzgebung Wenn die Rechtsbildung durch die richterli-
che Rechtsprechung geschieht wird dem Richter also quasi eine
bdquopolitische Funktionrdquo verliehen Dies kann fuumlr die modernen
Demokratien wichtige Grundprinzipien verletzen das sind die
Konzeptionen uumlber die RechtssicherheitRechtstaatlichkeit und
das mit der Rechtsstaatsidee verbundene bdquogeschriebene Rechtrdquo
bzw bdquokodifizierte Rechtrdquo und die Idee der Gewaltenteilung Ob-
wohl die Ursachen der Abweichungen grundsaumltzlich historisch
sind kann der wesentliche bdquounuumlberwindbareldquo Unterschied zwi-
schen den Rechtskreisen common lawldquo und bdquocivil lawldquo immer
Sache von theoretischen Disputen sein15 bdquo(hellip) evolution of both
a codified and a judge made system of law is characterized by a
constant interplay between legislative and judicial actionrdquo ndash
schreibt Sauveplanne16 der meint ldquoa system of law must be cre-
ated and developed by the interaction between legislature and
judiciaryrdquo17
Es gibt unterschiedliche Ansichten die Substanz des Richter-
rechtes zu bestimmen Der Richter interpretiert das Recht nach
eigenen Anschauungen oder um es mit den Worten Bernd
Ruumlthers zu sagen bdquoder Richter stellt sich in einen Gegensatz zu
gesetzlichen Wertungenrdquo Die verbreitete Ansicht allerdings ist
dass das Richterrecht nichts anderes ist als Rechtsfortbildung in
einer bdquorechtsleerenrdquo Domaumlne sozusagen bdquounentdeckte Raumlumerdquo
die vom Gesetz noch nicht geregelt wurden Eine dritte bdquoweiter-
entwickelterdquo Auffassung uumlber das Richterrecht ist dass der
Richter die Luumlcken mit Wertungen ausfuumlllen soll wie zB im
Fall von Generalklauseln Mit dieser Ansicht verwandt ist der
vierte Typ ein Begriff der unterschiedliche Bedeutungen (In-
halt) haben koumlnnte und daher vom Richter konkretisiert wird18
II Richterrechttypologie und Luumlckenproblematik
Das Richterrecht bildet sich in allen Rechtsordnungen anders
heraus und ist von anderer Bedeutung In den zwei fuumlr die EU
so wichtigen Rechtsordnungen in der franzoumlsischen und deut-
schen gibt es Diskrepanzen im Vergleich in Bezug auf das
Richterrecht Man kann begrifflich das bdquoInterpretierenrdquo von der
bdquoRechtsfortbildungrdquo (Rechtsschoumlpfung) in der deutschen
Rechtstheorie abtrennen Der grundsaumltzliche Unterschied ist der
bdquoSchoumlpfercharakterrdquo der Rechtsfortbildung D h der Richter
uumlbertritt mit der Rechtsfortbildung die Textrahmen der Rechts-
norm waumlhrend er im Fall des Interpretierens nur den Textinhalt
erkennt Die Problematik der Rechtsluumlcke (siehe dazu mehr un-
ter II A) steht im Zentrum der Rechtsfortbildung d h eine Luuml-
cke die nicht vom Text des geschriebenen Rechts gedeckt ist
Diese Luumlcken koumlnnen verschiedenen Typs sein Einige Luumlcken
sind die Ergebnisse einer bewussten Entscheidung des Gesetz-
gebers der das Ausfuumlllen der Rechtsluumlcken der richterlichen
Rechtsprechung der Judikative uumlberlaumlsst In anderen Faumlllen ist
Tuumlbingen 2017 S 1 ff und 457 ff und JG Sauveplanne Codified
and judge made law The Role of Courts and Legislators in Civil and Common Law Systems North-Holland Publishing Company Amster-
dam Oxford New York 1982 16 Sauveplanne aaO S 25 17 Sauveplanne aaO S 28 18 Vgl Ruumlthers dazu aaO S 458 f und vgl Walter Kondrad Rechts-
fortbildung durch den EuGH Duncker amp Humblot Berlin 2009 S
41 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 20
die Luumlckenhaftigkeit der Regelung uumlberhaupt nicht absichtlich
Der Richter kann die Luumlcken mit seinen Beschluumlssen sozusagen
praeter legem (oder pactum) ausfuumlllen in diesem Fall wird die
Regelung im Endeffekt vom Richter ergaumlnzt Die Entscheidung
des Richters steht nicht gegen den moumlglichen Inhalt des Textes
obwohl sie nicht darauf basiert Der Beschluss geht im Fall der
bdquocontra legem (pactum)rdquo Rechtsfortbildung uumlber den Wortlaut
des Gesetzes (oder des Vertrages) hinaus oder steht im konkre-
ten Fall dem Gesetz diametral gegenuumlber Sowohl die Rechts-
fortbildung als auch die bdquoInterpretationrdquo kann in der franzoumlsi-
schen Rechtsordnung im Rahmen der sog bdquoInterpreacutetationrdquo statt-
finden Zudem ist das ein wesentlicher Unterschied im Ver-
gleich zum deutschen System dass also auch die Interpretation
zur Rechtsschoumlpfung fuumlhren kann Die Praxis des EuGHs fokus-
siert sich auf die bdquoInterpreacutetationldquo-Auffassung er macht also kei-
nen terminologischen Unterschied zum franzoumlsischen Recht
Allerdings ist eine inhaltliche Distinktion moumlglich Die Trennli-
nie befindet sich zwischen der Auslegung und Rechtsfortbil-
dung sodass die Auslegung innerhalb des Rahmens eines moumlg-
lichen Wortsinnes noch zumindest mit einer Sprachfassung bdquoab-
gedecktldquo werden kann Dagegen entspricht die Rechtsfortbil-
dung semantisch nicht mehr dem Wortsinn entweder ergaumlnzt sie
die vertraglichen Vorschriften oder die richterliche rechts-
schoumlpfende Taumltigkeit kann nicht mehr mit dem Vertragszweck
parallelisiert werden Ernsthafte Kritiken richten sich konkreter
auch gegen die richterliche Rechtsetzung des EuGHs teilweise
auch von diesem Gesichtspunkt Nach einigen Stellungnahmen
sollten die Grenzen seiner rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit bzw
seiner speziellen Befugnisse ausdruumlcklich in den Vertraumlgen be-
stimmt werden Man darf daher das bdquoVertragswerkldquo des Unions-
rechtes nur als unvollstaumlndig betrachten und die Rolle des
EuGHs als bdquoLegislativorganldquo nur beschraumlnkt akzeptieren19
III Vom Richterrecht zur Juristokratie
Das Problem ist dass die Rechtsauslegungsbefugnisse der Ver-
fassungsgerichte und der internationalen Gerichte immer staumlrker
mit Skepsis betrachtet werden Das Richterrecht das als Ergeb-
nis der richterlichen Rechtsauslegung entsteht erlangt nach ei-
nigen kritischen Betrachtungen nahezu so groszlige Bedeutung
dass man schon uumlber systemumfassende Veraumlnderungen dh
uumlber den Uumlbergang von Demokratie zur Juristokratie von der
Rechtsstaatlichkeit zur sog juristokratischen Regierungsform
sprechen kann Beacutela Pokol ungarischer Verfassungsrichter hat
diese Tendenz vor allem auf der Ebene der Taumltigkeit des Verfas-
sungsgerichtes nachgewiesen Diese Tendenz hat nach Pokol
politische und rechtstheoretische Gruumlnde Rechtstheoretischer
Grund sei zum Beispiel die Ruumlckkehr des weltlichen Natur-
rechts sowie die Staumlrkung der Auffassung uumlber die auf moral-
philosopischer Argumentation basierenden Menschenrechte ndash
19 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff (45-111) und Mittmann Patrick Die
Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europaumlischen Gemein-
schaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europaumlischen Union Peter Lang GmbH Frankfurt am Main 2000 S 235-244 und
S 269 20 Vgl Beacutela Pokol Der juristokratische Staat die Zerlegung seiner As-
pekte Nemzeti Koumlzszolgaacutelati Egyetem Working papers on state Gov-
ernance and Administration 201611 httparchivuni-nkehuup-
loadsmedia_itemsbela-pokol-der-juristokratische-staat-die-zerlegung-
schreibt Pokol20 Man kann unter anderem auch die Ausbreitung
der Rechtsauslegungsmoumlglichkeiten von den Gerichten her klas-
sifizieren die die starke Bindung der Rechtsprechung an den
Gesetzestext gelockert haben Die Grundlage dieser Wandlung
ist dass die Richter im Laufe der Interpretation nicht mehr das
gesucht haben was die subjektive Absicht der Gesetzgebung ge-
wesen ist sondern das was aufgrund der bdquoobjektiven Rationali-
taumltrdquo Ziel gewesen sein koumlnnte Eine dritte Seite dieser Veraumlnde-
rung ist die strukturelle Staumlrkung der Verfassungsgerichte ge-
genuumlber den Parlamenten Die Verfassungsgerichte konnten mit
actio popularis d h mit den gegen die Parlamente anwendbaren
einem dem Vetorecht aumlhnlichen Mittel Entscheidungen der Par-
lamente revidieren
bdquoAuf diese Weise verwandelt sich die Triple-Struktur der Poli-
tikStaatsverwaltungJustiz in die doppelte Struktur der durchpolitisier-
ten Justiz (mit dem Verfassungsgericht an der Spitze) und der unterwor-
fenen oumlffentlichen Verwaltung Die demokratischen Wahlen und die
durch sie entstehende legislative Mehrheit funktionieren nur als legiti-
mierender Schleier uumlber die tatsaumlchliche Machtausuumlbungrdquo
ndashPokol21
IV Juristokratische Tendenzen auf der
internationalen Buumlhne
Man kann die besondere Bedeutung und die immer staumlrker wer-
dende Tendenz der richterlichen Rechtsschoumlpfung auch auf in-
ternationaler Ebene wahrnehmen Von Bogdandy und Venzke
vertreten den Standpunkt dass die Arbeit der internationalen
Gerichte von bdquointernationaler Gerichtsbarkeitrdquo in einfache
Streitbeilegungsverfahren umbenannt werden sollte22 Der
Grund dafuumlr ist dass diese internationalen richterlichen Foren
wirklich mehr Funktionen erfuumlllen als nur das Schlichten diver-
ser Streitigkeiten zwischen Staaten Diese Funktion besteht zum
einen darin dass das Rechtsgefuumlhl d h die normative Kalkula-
tion und das Rechtsbewusstsein der Staaten und der internatio-
nalen Organisationen staumlrker wird Zu diesem Thema gehoumlrt
gleichermaszligen dass die staatlichen Akte aufgrund der Recht-
sprechung der internationalen Gerichte nach einem voumllkerrecht-
lichen Maszligstab uumlberpruumlft werden und wenn sie dieser Uumlberpruuml-
fung standhalten zugleich legitimiert werden koumlnnen beispiels-
weise dadurch dass sie den internationalen Standards entspre-
chen Dies entspricht der bdquoKontroll und Legitimationrdquo-Funktion
von Von Bogdandy Die wichtigste Rolle der internationalen
Gerichtshoumlfe ist die Rechtsschoumlpfung die mit den zwei anderen
oben genannten Funktionen in einem engen Zusammenhang
steht Zwei Typen der Rechtsschoumlpfung werden von von
Bogdandy unterschieden Der erste Typ ist die richterliche
Rechtsschoumlpfung in konkreten Streitfaumlllen Eine solche ist zum
seiner-aspekte-von-bela-pokoloriginalpdf S 18 Ff (2018 oktoacuteber
12) 21 Pokol aaO S 3 22 Von Bogdandy Armin ndash Venzke Ingo bdquoInternationale Streitbeteili-
gungldquo oder bdquointernationale Gerichtsbarkeitldquo In Arbeitspapiere Goe-
the Universitaumlt Frankfurt am Main 20164 httppublikatio-nenubuni-frankfurtdefrontdoorindexindexdocId39019 (2018 ok-
toacuteber 15)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 21
Beispiel die breitere Interpretation des Verbotes der Gewaltan-
wendung nach Artikel 2 der UNO-Charta im sog Nicaragua-
Urteil des Internationalen Gerichtshofs Der andere Typ der
Rechtsschoumlpfung ist die systemweite und bewusste Taumltigkeit
solcher internationalen meistens bdquoregional taumltigenrdquo sowie spe-
zialisierten Gerichte die das Rechtssystem in der mit Ihnen ver-
bundenen Sphaumlre mit Prospektivitaumlt bestimmen wollen Bei-
spiele dafuumlr sind gewisse Verfahrensregelungen seitens des Eu-
ropaumlischen Gerichtshofes fuumlr Menschenrechte ndash schreibt Von
Bogdandy
Tamara Ehs meint dass diese auf supranationalischer Ebene
erscheinenden juristokratischen Tendenzen auch mit der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH verbunden sind Nach Ehs hat
zwar der EuGH gegen die Politik das Recht bdquodes letzten Wor-
tesldquo aber dem EuGH fehlt das demokratische Moment23 Ehs
stellt fest dass der EuGH zum einen ndash innerhalb der EU ndash ein
europaumlisches Verfassungsrecht schaffen will zum anderen auch
politischen Aktivismus aufzeigt Die wichtigen Mittel dieses po-
litischen Aktivismus sind die Resolutionen in Vorabentschei-
dungsverfahren mit denen der EuGH tief hinter die mitglied-
staatlichen Grenzen reichen kann Allerdings sollte die Rolle des
EuGH auch in den weiteren internationalen Relationen gepruumlft
werden da das nach Ehs kein alleiniger Darsteller einer welt-
weiten Verfassungsordnung ist Solche weiteren bdquoElementeldquo
sind beispielsweise noch das WTO und IMF Im Zentrum dieser
Weltkonstitutionalisierung steht die Errichtung eines Systems
das auf den modernen neoliberalen Grundlagen der Weltwirt-
schaft beruht und das gegen die Ordnung der volksstaatlichen
Nationalwirtschaften gerichtet ist Daruumlber hinaus entspricht es
nicht den Prinzipien der demokratischen Repraumlsentation
D Die Rechtfertigungsversuche der
rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH
I Das Kompetenzdilemma des EuGH bdquoeffet utileldquo
und die Ultra-vires-Handeln
Eines der groumlszligten Dilemmas in Bezug auf den Kompetenzkreis
des EuGH sowie das von ihm geschaffene Richterrecht ist die
Dualitaumlt der Grenzen und des Zwanges der auf Rechtsschoumlp-
fung gerichteten Taumltigkeit des EuGH bdquoDer EuGH balanciert
stets bei seiner Rechtsprechung zwischen Kompetenzgrenze
und Kompetenzpflicht (hellip) Einerseits darf er kompetenzrecht-
lich nur gewisses Richterrecht schaffen anderseits ist er aber
genau berufen das Notwendige und Moumlgliche zu entwickelnrdquo
ndash schreibt Michel daruumlber24 Diese Spannung haumlngt eng mit der
Luumlckenproblematik des Gemeinschaftsrechts zusammen In ers-
ter Linie stellte sich die Frage der Kompetenzen der souveraumlnen
Mitgliedstaaten ob die Luumlckenhaftigkeit der neuen europaumli-
schen Rechtsordnung nicht absichtlich ist Die Antwort des
EuGH auf diese Frage war ua im seinen CostaENEL- und van
23 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 233-247 httpswwwmomentum-quarterlyorgojs2in-
dexphpmomentumarticleview16691333 234 (2018 oktoacuteber 15) 24 Michel Morten Alexander Die Kompetenzentwicklung des Europaumli-
schen Gerichtshofes in seiner juumlngeren Rechtsprechung und ihre Integ-
rationseffekte in den Mitgliedstaaten Shaker Verlag Aachen 2002
159
Gend amp Loos ndash Rechtsspruumlchen angelegt Sein bdquoneinldquo bedeutete
dass das Unionsrecht ein neues komplettes Rechtssystem sogar
bdquoeine neue Voumllkerrechtsordnungldquo ausmachen solle Zwar ist die
Rolle des Integrationsgebotes und seine Auslegunsmittel die
sog bdquoeffet utileldquo-Formel in der Arbeit des EuGH ziemlich um-
stritten sie kann aber ihre Grundkonzeption der Rechtferti-
gungslogik der richterlichen Rechtsschoumlpfung gut darstellen
Mit der Anwendung ndash unter anderem ndash des effet utile-Grund-
satzes hat der EuGH nach dem Muster des franzoumlsischen
Conseil dlsquoEtat versucht die maximal bdquonuumltzliche Wirkungldquo zu
erreichen um diese selbstaumlndige Rechtsordnung ausgestalten zu
koumlnnen bdquoMoreover the fact that within the bdquoschematic effet
utilerdquo orientation of the ECJ the national law surroundings of
EC law are not considered may ultimately lead to the paradoxi-
cal result that the combined application of EC and national law
in a given specific case does not promote the effet utile of the
applicable European legislationrdquo ndash schreibt Schmid uumlber die an-
dere Seite dieser Problematik25 Der Zwang zur Rechtsentwick-
lung des EuGH folgt vor allem aus der Aufgabe der Rechtsaus-
legung und Rechtsanwendung die ihm von den Gruumlndungsver-
traumlgen als Verpflichtungen vorgeschrieben sind D h die
Schaffung des Richterrechtes ist in gewissen Faumlllen ausdruumlck-
lich notwendig Allerdings sollte es wichtige Grenzen geben die
die Grenzen der Verbands- bzw Organkompetenz des EuGH
markieren Ihre Uumlberschreitung bedeutet einen sog Ultra-Vires-
Akt Die richterliche Rechtsfortbildung darf keine sog bdquoKom-
petenz-Kompetenzrdquo-Befugnis bedeuten da die begrenzte Ein-
zelermaumlchtigung sich als ndash wiewohl nicht allgemeine aber ndash
wichtige Gebundenheit meldet D h der EuGH darf solche
Kompetenzen die in den Vertraumlgen nicht festgelegt sind weder
vorschreiben noch entziehen und muss die sog bdquoVerfassungsi-
dentitaumltldquo der Mitgliedstaaten respektieren26 Trotzdem wurden
zahlreiche solche richterlichen Entscheidungen seit den 1960zi-
gern getroffen bei denen die richtige Wahrung dieser Schranken
streitig geworden ist Die Entscheidungen (Franchovich- Bras-
serie du pecheur-Urteile)27 uumlber die Errichtung der sog europauml-
ischen Staatshaftung dienen als gute Beispiele Die Essenz die-
ser EU-Beschluumlsse besteht darin dass die einzelnen Mitglied-
staaten gegenuumlber ihren Staatsbuumlrgern mit der Ermoumlglichung
des Anspruchs auf Schadenersatz bezuumlglich der angemessenen
Uumlbernahme und Anwendung des Unionsrechtes verantwortlich
gemacht wurden Die Errichtung der Institution der Staatshaf-
tung ist wieder ein ernsthafter Schritt in die Richtung der In-
tegration gewesen und die zugleich auch Streit hervorgerufen
hat ob der EuGH uumlberhaupt uumlber angemessene Kompetenzen zu
einem solchen Schritt verfuumlgt Zu einer vollstaumlndigen Pruumlfung
der Kompetenzen des EuGH gehoumlrt die Aufdeckung zahlreicher
weiterer Teilbereiche (Subsidiaritaumlt effet utile usw) jedoch
muumlssen wir uns auf die folgenden Bemerkungen einschraumlnken
Die Schaffung eines solchen Richterrechtes das die der Staats-
haftung aumlhnlichen Rechtsfortbildung folgt kann nach Michel
25 Christoph U Schmid The ECJ as a Constitutional and a Private Law Court Bremen ZERP an der Univ Bremen Bremen 2006 S 24
26 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff und 320 ff und Streinz
EUVAEUV 3 Aufl CHBeck Muumlnchen 2018 S 210 Rn 14-16 und dazu auch Schmid aaO S 22-28
27 (Rechtssachen C-690 und C-990 1991 sowie C-4693 und C-4893
1996)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 22
nur in jenen Faumlllen akzeptiert werden wo sie solchen Zielen
dient die nicht im Gegensatz zu den in den Gruumlndungsvertraumlgen
offenbarten Willen der Mitgliedstaaten stehen Auszligerdem brin-
gen sie die Rechtsstaatlichkeit und die Wirksamkeit des Euro-
parechtes voran Michel sieht das Problem darin dass solche Ur-
teile nur ausnahmsweise vorkommen sollten dagegen ist der
EuGH einerseits ndash mit den Worten von Michel ndash der bdquoWegbre-
cher der Integrationrdquo andererseits bdquoder Notgesetzgeberrdquo der EU
Der EuGH hat nunmehr ein gewisse bdquoquasi Kompetenzldquo die
dadurch legitimiert wird dass die Mitgliedstaaten solche Ent-
scheidungen des EuGH einfach stillschweigend akzeptieren28
bdquoDennoch muss man aus rechtstaatlicher Sicht wie aus Rechts-
sicherheitsgruumlnden die Akzeptanzkompetenz als echte Organ-
kompetenz des EuGH ablehnenrdquo ndash schreibt Michel29
II Die rechtliche Grundlage die bdquoWahrung des
Rechts zu sichernldquo
Die Grundlage des Richterrechtes das im Rahmen der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH geschaffen wird wird von ei-
ner permissiven Interpretation der Wendung bdquosichert die Wah-
rung des Rechtsrdquo in der Fachliteratur gegeben30 und sie umfaumlngt
nach dieser Interpretation auch die richterliche Rechtsfortbil-
dung des Unionsrechtes Diese breite Interpretation wird damit
begruumlndet dass der Richter nicht nur im sog bdquocommon lawldquo
Rechtskreis sondern auch in der europaumlischen Rechtstradition
mehr als bloszlig bdquoder Mund des Gesetzesldquo war Auch das BVerfG
hat sich mit dieser Frage in seinem UStRiL-Urteil beschaumlftigt
und sich auf die Uumlberlieferungen des Gemeinen Rechts des Rouml-
mischen Rechts bzw des englischen common law berufen Es
hat das festgestellt dass die Gruumlndungsvertraumlge auch aus der
Perspektive der europaumlischen rechtsgeschichtlichen Traditionen
interpretiert werden sollen Ein weiteres Auslegungsargument
ist dass die EU vor allem eine bdquoRechtsgemeinschaftldquo ist und
als solche braucht es die aktive integrierende Taumltigkeit des
EuGH damit das die Harmonie des Gemeinschaftsrecht verbuumlr-
gen kann bdquo(hellip) Der EuGH (muss) in gewissen Grenzen zur Ver-
wirklichung des Rechts Normen schaffen duumlrfen um das Recht
zu sichern wenn diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht
zu erreichen ist ndash schreibt Walter31
E Der Versuch der demokratischen Legitimierung
der Taumltigkeit von EuGH
I Die Unabhaumlngigkeit und die juumlngsten Urteile des
EuGH
Die herausragende Bedeutung des EuGH innerhalb der EU
kommt aus seinem umfangreichen Wirkungsbereich sowie aus
sonstigen organisatorischen Umstaumlnden Solch ein bdquoorganisato-
rischer Umstandrdquo ist dass mehrere Mitglieder des Organismus
EU einander in den unterschiedlichen Verfahren ergaumlnzen und
28 Vgl dazu Michel aaO S 157 ff und 162 ff 29 Michel aaO S 170 30 Vgl dazu Michel aa O S 24 ff und Calliess-Ruffert-Blanke EUV-
AEUV das Verfassungsrecht der Europaumlischen Union mit Europaumli-
scher Grundrechtecharta Kommentar 5 Aufl CH Beck Muumlnchen
2016 S 311 ff Rn 12-18 und dazu auch Streinz aaO S 209 f
RN 12-16
kontrollieren ihre Arbeit sich in einer speziellen Wechselwir-
kung verwirklicht Daraus folgt dass die klassische These der
Gewaltenteilung sich in diesem Bezug nicht durchsetzt Der
EuGH verfuumlgt uumlber eine ziemlich groszlige Unabhaumlngigkeit Dazu
wesentliches Kompetenzpotenzial konzentriert sich in seiner
Hand Aus Hinsicht der Mitgliedstaaten ist die Position des
EuGH noch staumlrker Die Judikatur des EuGH schraumlnkt sowohl
die nationalen Parlamente sowie die Verfassungsgerichte als
auch die nationalen Gerichte stark ein Die nationalen (Verfas-
sungs-) Gerichte muumlssen auf das Unionsrecht sowie auf die Ur-
teile des EuGH Ruumlcksicht nehmen und daruumlber hinaus sogar an-
wenden wenn die gerichtliche Rechtsauslegung dem Unions-
recht entsprechen soll Aus diesem Grund verlagert sich das
Machtpotenzial von den Mitgliedstaaten hin zum EuGH Die de-
mokratische Legitimation dieses Machtpotentials wird sowohl
in der organisatorischen Struktur der EU als auch aus Richtung
der Mitgliedstaaten beansprucht
bdquoInsbesondere im Hinblick auf die enorme Bedeutung und Autoritaumlt
des EuGH und EuG im institutionellen Gefuumlge der EU scheint die Frage
nach deren demokratischer Legitimation unausweichlich und von
grundsaumltzlicher Bedeutung zu sein (hellip) Diese beiden Fundamentalprin-
zipien beeinflussen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander
verbunden und bauen ein Spannungsverhaumlltnis zueinander aufrdquo
ndash Kathrin F Baltes32
Die Kritiker des EuGH lassen nach Baltes ein sehr wichtiges
Postulat auszliger Acht die richterliche Unabhaumlngigkeit Die An-
forderung der Unabhaumlngigkeit zieht eine Grenzlinie fuumlr die Er-
weiterung der demokratischen Legitimation des EuGH Das Er-
fordernis der Unabhaumlngigkeit wurde auch in den juumlngsten Urtei-
len33 des EuGH bekraumlftigt Nach der Rechtsprechung des EuGH
ist die richterliche Unabhaumlngigkeit bdquovon grundlegender Bedeu-
tungldquo und ein wichtiger Eckpfeiler der modernen rechtsstaatli-
chen Demokratie und im Vergleich zu den zwei anderen Staats-
gewalten schreibt sie der Judikative spezielle Anforderungen
vor Der Richter der im gegebenen Fall Entscheidungen treffen
soll sollte vollstaumlndig unabhaumlngig von anderen Organisationen
und politischen und sonstigen Einfluumlssen sein Der Richter soll
auf die Gesetze Ruumlcksicht nehmen und darf bei der Ausuumlbung
seines Amtes von niemandem angewiesen werden und seine
Entscheidungen duumlrfen nicht von anderen (nicht gerichtlichen)
Organen uumlberpruumlft werden Der EuGH hat vor kurzem in seinem
Urteil ausgesprochen dass die unabhaumlngige Einrichtung des Ge-
richtes sowohl auf der Ebene der Union als auch auf der mit-
gliedstaatlichen Ebene unerlaumlsslich ist Sehr wichtig ist dass der
EuGH auch den ndash auf der Charta basierenden ndash Grundrecht-
schutz fest mit der richterlichen Unabhaumlngigkeit zusammenge-
bunden hat und zugleich als Bedingung einer bdquoreibungslosenldquo
justiziellen Kooperation bestimmt hat Zu der richterlichen Un-
abhaumlngigkeit gehoumlrt die bdquovoumlllige Autonomieldquo ndash hat der EuGH
31 Walter aaO S 145 32 Baltes Kathrin F Die demokratische Legitimation und die Unabhaumln-
gigkeit des EuGH und des EuG Peter Lang Frankfurt am Main 2011 S 3
33 (Rechtssachen C-6416 EUC2018117 und C-21618 PPU
EUC2018586)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 23
betont Ein entscheidendes Moment ist also die Unabhaumlngigkeit
gegenuumlber nationalstaatlichen Einfluumlssen
II bdquoZeitgemaumlszligeldquo Legitimationsmodelle
Man muss zur umsichtigen Festsetzung der Position des EuGH
die Legitimationsart der EU untersuchen Die Errichtung der mit
den Nationalstaaten analog einhergehenden demokratischen Le-
gitimation ist ndash ohne Zweifel ndash problematisch in Bezug auf die
EU Allerdings betont Baltes gebe es zwar kein einheitliches
bdquoeuropaumlisches Demosrdquo aber das bdquoVolkrdquo ndash im Einklang mit den
europaumlischen gesellschaftlichen Tendenzen - ist nicht monis-
tisch kollektiv sondern soll pluralistisch individuell interpre-
tiert werden34 Dies ist ein entscheidender Punkt weil die EU
auf einer sog dualistischen Legitimationsbasis beruht Der si-
multane Status der mitgliedstaatlichen und europaumlischen Staats-
buumlrgerschaft ermoumlglicht die demokratische Legitimation sowohl
auf EU-Ebene die von der Institution des Europaumlischen Parla-
ments praumlsentiert wird als auch auf der Ebene der Mitgliedstaa-
ten die ndash auszligerhalb des EP ndash vom Ministerrat und dem Europauml-
ischem Rat realisiert wird Waumlhrend nach einigen die mitglied-
staatliche Legitimationsbasis Vorrang hat hat nach anderen die
bdquoeuropaumlischerdquo Legitimationsbasis Der EuGH hat sich schon in
seinen fruumlheren Urteilen (zB 13879 Roquette Freacuteres vs Rat)
eher fuumlr die letztere Variante ausgesprochen mit der Begruumln-
dung dass das EP bdquo(altough limited) it reflects at Community
level the fundamental democratic principle that the people
should take part in the exercise of power through the intermedi-
ary of a representative assemblyldquo Baltes unterstreicht ihre
Gleichwertigkeit als die Entwicklung der EU von Baltes als ein
solcher bdquodynamischer Prozessrdquo bezeichnet wird bdquoder nicht auf
ein konkretes starres und ausnahmsloses Prinzip beschraumlnkt
werden kannrdquo35
Laut der Klassifikation von Baltes kann die demokratische
Relation zwischen der EU und den Staatsbuumlrgern grundsaumltzlich
durch zwei unterschiedlich logische Mechanismen ferner durch
die Kombination derselben geschaffen werden Der erste Me-
chanismus ist die sog bdquoLegitimationsruumlckkopplungrdquo die darauf
fokussiert ob die Machtausuumlbung auf den buumlrgerlichen Willen
bzw auf dessen Initiative zuruumlckgefuumlhrt werden kann Unter-
schiedliche Schemata wurden als Methoden der Ruumlckkopplung
bearbeitet zB die Schemata der bdquoLegitimationskettenrdquo oder
des bdquoKontrollmodellsrdquo Im Fokus der Legitimationsketten steht
das Volk als die staumlndige und kontinuierliche Quelle der Staats-
gewalt Zwar gibt es Abweichungen zwischen den einzelnen un-
terschiedlichen praktischen Formen (institutionelle formelle
persoumlnliche inhaltliche Legitimation usw) aber ndash nach der all-
gemeinen Form des Schemas ndash das Volk soll das Parlament
waumlhlen und dem im Wesentlichen alle anderen oumlffentlich-recht-
lichen Anstalten unterordnen Die Regierungsmacht ist durch
ihre parlamentarische Verantwortlichkeit und auch durch kon-
kretes Weisungsrecht sowie durch Rechtsvorschriften die vom
34 Baltes aaO S 65 35 AaO S 83
Parlament als Legislative konstituiert werden begrenzt Die Le-
gitimationskette beruht auf dieser Dependenz Es ist sichtbar
dass die Jurisdiktion schwerer in die Legitimationskette einge-
fuumlgt werden kann und sie ist daher auch schwerer auf den Volks-
willen zuruumlckzufuumlhren Die Spannung kann schlieszliglich nur in
der Ausgestaltung der strengen Gesetzesbindung von richterli-
chen Amtsbefugnissen in diesem Legitimationsverstaumlndnis auf-
geloumlst werden Diese Verkettung ist deshalb leicht angreifbar
und daruumlber hinaus entsteht ein weiteres Problem die Legitima-
tionskette auf der Ebene der EU kann ungeachtet der Dualitaumlt
der nationalen sowie Unionsstaatsbuumlrgerschaft nur bdquoschwer-
lichrdquo aufgezogen werden Aus dem Loumlsungsversuch dieses Di-
lemmas sind die weiteren Modelle die mehr oder weniger als
Ergaumlnzungen des Schemas der Legitimationskette dienen ent-
standen Die sog personale Legitimation ist daher wichtig in
diesem Themenbereich weil ihre Vertreter meinen dass die Le-
gitimationskette allein eben darum nicht maszliggeblich ist weil
der Bewegungsraum der Richter nie vollstaumlndig eingeschraumlnkt
werden darf zum Beispiel wegen der Notwendigkeit der Ent-
wicklung bzw Interpretation des Unionsrechts Daraus folgt die
Forderung dass die Auswahl der Richter bdquodemokratischrdquo so
zum Beispiel durch Parlamentsausschuumlsse stattfinden sollte
Man muss ndash nach einer anderen bdquoLegitimationsergaumlnzungrdquo ndash
mit fachlichen Vorschriften bzw Standards die Legitimations-
kette verstaumlrken (zB Amtshaftung die Publizitaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens bzw der gerichtlichen Beschluumlsse) Das Kon-
trollmodell basiert ebenfalls auf der derivativen Partizipation
sowie auf der Ruumlckkopplung des Volkswillens aber weicht in-
haltlich von der Auffassung des Legitimationsmodelles ab Der
Entwickler dieses Modelles Axel Tschentscher betont die fach-
lichen und auch persoumlnlichen Faktoren Der entscheidende
Punkt in diesem Modell ist die unabhaumlngige Position des Rich-
ters von anderen Institutionen abzusichern In Tschentschers
Auffassung ist die richterliche Rechtsschoumlpfung bzw die An-
wendung des Richterrechts in einer demokratischen Ordnung
daher nicht problematisch weil die Legislative ein bdquopraktischesrdquo
Revisionsrecht hat Falls das Parlament anders beschlieszligt kann
es eine von der richterlichen Entscheidung abweichende Rechts-
norm schaffen ndash legt Baltes das theoretische System von Tsch-
entscher dar36
F Fazit
Wie man das auch basierend auf dem oben dargestellten
wahrnehmen kann koumlnnenmuumlssen wir den Demokratieldquoindexldquo
der europaumlischen Organisationsstruktur nunmehr auf mehreren
Ebenen analysieren und ndash zu einem authentischen angemesse-
nen Ergebnis ndash die Problematik der WTO-Struktur und der sog
bdquoJuristokratieldquo bzw bdquoWeltkonstitutionalisierungldquo (siehe oben
bei Ehs) das Dilemma des Parlamentarismus (siehe oben bei
Veil) und auch der Mitgliedstaaten (siehe oben z B bei den
Ultra-Vires Handlungen) etc zusammen betrachten und pruumlfen
Es bedarf daher noch weiterer Pruumlfungsschritte Daraus ergibt
sich dass wir uns auf die folgenden Feststellungen beschraumlnken
muumlssen
36 AaO S 86 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 24
Ein wichtiger Punkt ist dass bedeutende Theoretiker das un-
verzichtbare Element der Demokratie im Parlamentarismus
wahrnehmen Das Fehlen eines tatsaumlchlich funktionierenden
Parlamentes kann auf der Ebene der EU festgestellt werden weil
wichtige gesellschaftliche und politische Bedingungen dazu
nicht oder nur mangelhaft vorhanden sind Es ist zu betonen
dass der Mangel an Parlamentarismus daher problematisch ist
weil die europapolitischen richtunggebenden Entscheidungen
nicht vom Volk bzw nicht von den europaumlischen Buumlrgern be-
stimmt werden koumlnnen Wie im zweiten Teil dargestellt wurde
hat der EuGH ndash nach zB Michel - seit den Sechzigern diese
quasi (bdquoersatz- oder not-bdquo) gesetz- und richtunggebende Rolle
des Parlamentes teilweise uumlbergenommen Baltes weist ndash siehe
den dritten Teil der Untersuchung ndash auf die besondere Bedeu-
tung der institutionellen Unabhaumlngigkeit des EuGHs hin aller-
dings unterscheiden sich seine Legitimationskonzepte grund-
saumltzlich von den bdquotraditionellenldquo nationalstaatlichen Demokra-
tievorstellungen d h von der auf der Volkssouveraumlnitaumlt basie-
renden parlamentarischen Demokratie Falls die Befugnisse des
EuGH weiterhin so weitreichend bleiben kann man schwierig
das institutionelle Gefuumlge der EU nicht als juristokratische
Machtstruktur definieren In diesem Bezug scheint Hans Kel-
senrsquos Stellungnahme uumlber die Notwendigkeit der Einheit der
staatlichen Gewalten aus der Hinsicht der Demokratie voraus-
schauend und bemerkenswert zu sein Das Erfordernis der rich-
terlichen Unabhaumlngigkeit und das sehr groszlige Kompetenzpoten-
zial ohne wirklich funktionierende parlamentarische Gegenkon-
trolle bedeuten zusammen auf der Ebene eines sich noch immer
entwickelnden Staatenverbundes eine bedeutsame Machtkon-
zentration in der Hand des EuGH Also was unsere Grundfrage
angeht d h ob die europaumlischen Buumlrger wirklich einen demo-
kratischen effektiven Einfluss auf die Entscheidungen der EU
ausuumlben koumlnnen kann man nicht eindeutig mit bdquojaldquo oder bdquonein
beantwortet werden Muumlnch und auch Baltes schreiben uumlber eine
bdquozeitgemaumlszligeldquo Demokratievorstellung die die Gesellschaft plu-
ralistisch und individualistisch betrachtet Die sog bdquoOutputldquo-
oder Ergebnislegitimationsmodelle koumlnnen sich zwar als sehr
wichtige Bestandteile eines demokratischen Gefuumlges des EuGH
bzw der EU erweisen allerdings ersetzen sie nicht die demo-
kratische Funktion des zur Zivilgesellschaft gehoumlrenden (siehe
oben bei Habermas) Parlamentes Daruumlber hinaus liegt auch ein
weiteres Problem mit der Ergebnislegitimation vor Wie schon
im ersten Kapitel dargestellt wurde bedeutet die sog Elitebil-
dung immer eine ernsthafte Gefahr fuumlr die Demokratie Sofern
die Einzelnen als bdquoVolkldquo ihren Willen durch das Parlament nicht
zu validieren vermoumlgen und so auch Schumpeterrsquos Wettbe-
werbsmodell uumlber die bdquoHerrschaft der Politikerldquo marginalisiert
wird wird das Risiko der Herausbildung von Elitegruppierun-
gen noch beachtlicher Eine Demokratie muss den Rahmen des
politischen Kampfes (bdquoWettbewerbesldquo) der Mehrheits- und
Minderheitsansichten immer gewaumlhrleisten ferner das eine
Minderheitsmeinung zu einer Mehrheitsmeinung werden kann
Daraus folgt dass man unbedingt pruumlfen muss wie die Effizienz
des Parlamentarismus auch auf der Ebene der EU aussieht wie
die europapolitischen Auseinandersetzungen fuumlr die mitglied-
staatlichen Buumlrger wirksamer verdeutlicht werden koumlnnen und ndash
vor allem ndash wie die Kompetenzverteilung zwischen dem EP und
dem EuGH noch effektiver zugunsten der Prinzipien des Parla-
mentarismus ausgestaltet werden kann
Die Autorin hat bereits das erste juristische Staatsexa-men abgelegt und befindet sich derzeit im Masterstu-dium an der Universitaumlt zu Koumlln (Staatsrecht mit Bezuuml-gen zum Europa- und Voumllkerrecht)
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 25
Conditional consent as a valid legal ground for data processing
- a misbelief
-
Sonja Buumlhler
A Introduction
An inflationary use of personal data due to internet-con-
nected devices such as smart-TVs smartwatches fitbits
or smartphones and online services such as Spotify or
Netflix is taking place forming a valuable economic asset1
To counter this development there is a need to effectively
protect personal data of users Consumers often find
themselves in situations where they have no choice but to
agree to the processing of personal data if they want to
use a certain device or service
This article examines whether a term of use clause mak-
ing use of a device or service conditional on consenting to
data collection through the device is compatible with Arti-
cle 7(4) GDPR (II)2 Therefore it recalls the principle of
consent as a legal ground for processing (II1) and con-
siders under which conditions conditional consent is
freely given (II2) Thereby the article takes into account
the question whether a real choice of the user is denied
due to an imbalance of power I will argue that the imbal-
ance of power arises due to the form of the contract which
gives no opportunity for renegotiation (II21) I argue that
positive incentives to give consent cannot be considered
inadmissible force (II22) whereas factual dependency
and a lack of alternatives prevent free consent (II23)
Further I argue that withdrawing consent will most likely
lead to detriment and thus consent is invalid (II24) This
article will also show that data processing often is not nec-
essary for the contract and thus consent is very likely to
be invalid (II25) I will conclude that in many situations
conditional consent is not freely given under Art 7(4)
(II3)
In a second step I will discuss other safeguards of the
GDPR applying in this scenario (III) Those are especially
the principles of data processing namely the principle of
1 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regulation
(GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 2 All articles cited in the following are articles of the GDPR if not indicated
otherwise 3 Art 6(1) GDPR 4 Art 6(1)(a) GDPR For general information about consent as a justifica-
tion see D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford and Portland Oregon (2007) p 61 ff
purpose limitation (III1) data minimisation (III2) and ac-
countability (III3) I will conclude that consumers are not
always sufficiently protected by those safeguards from a
situation where they might be ldquoselling their soul for Netflixrdquo
(III4)
Hence the article considers other regulatory constraints
such as strengthening the rights of the user through con-
sumer protection law that are necessary in order to protect
users (IV)
After all I will find most of the conditional consents are
probably invalid and thus do not constitute a legal ground
for processing Currently the situation of the data subjects
in practice is not enhanced by the invalidity but the legal
situation has to be improved (V)
B Consent - when can conditional consent be
considered freely given
I Principle of consent as a legal ground for
processing data
Following the rule and exception doctrine of the GDPR pro-
cessing data is always considered unlawful except if one of the
legal grounds of Art 6 applies3 The legal ground considered in
this article is consent Data processing is lawful when the data
subject gave consent to it4 Very often consent will be given by
accepting privacy policies5 It is questionable if and under
which circumstances processing of personal data can be based
on consent in the special situation when consent is a condition
for using a device or service such as smart TVs Fitbits or Net-
flix
To illustrate the findings of this article I will use the online
service Netflix as an example Nevertheless the general find-
ings made in this article can be applied to any other kind of in-
ternet-connected device or online service if its use is conditional
on giving consent6
5 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 They state
The controller can achieve this either by way of contractual means (by
stating in the contract that it will only be performed if consent for certain processing is provided) or through technical means (eg through an app
which does not install or function if consent is not provided) 6 The problem of conditional consent arises also in context with tracking
walls when consent has to be given in order to be able to get access to a
website See therefore F J Zuiderveen Borgesius S Kruikemeier S C
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 26
II Freely given conditional consent - nearly
impossible due to imbalance of power
Consent is any freely given specific informed and unambigu-
ous indication of the data subjectrsquos wishes by which he or she
by a statement or by a clear affirmative action signifies agree-
ment to the processing of personal data relating to him or her7
This definition confirms that giving consent is an expression of
self-determination8 Out of those requirements for valid consent
the words freely given are of special interest in cases where
consent is conditional for the performance of a contract or for
providing a service
In those constellations the user is in an especially vulnerable
position and extremely likely to give consent to the use of per-
sonal data Whether consent that is conditional for the perfor-
mance of a contract or providing the service is really given
freely has to be considered carefully with special relevance9
As Recital 43 lines out consent should not provide a valid legal
ground for the processing of personal data in a specific case
where there is a clear imbalance between the data subject and
the controller10 The purpose of Art 7(4) is to ensure that con-
sent to the processing of personal data which is necessary for
conducting the contract or service is not bundled with consent
to data processing which is not necessary for the contract11
Nevertheless it does not contain an absolute ban that condi-
tional consent can be given freely but it has to be considered
with the utmost scrutiny for each case depending on the con-
text and circumstances
So to come back to our case the question arises whether
there is an imbalance of power between the user and the control-
ler (eg Netflix) that could preclude free consent A clear imbal-
ance is assumed in relation with public authorities and employ-
ers12 In this case the imbalance of power due to subordination
is apparent The question is whether the same degree of imbal-
ance can be established between the producers of smart devices
or providers of online services and their users
1 Imbalance expressed by form contract
First of all it has to be considered that the terms of contract usu-
ally cannot be renegotiated as they are part of a form contract
The two contracting parties are not at eye level but the user is
Boerman N Helberger Tracking Walls Take-It- Or-Leave-It Choices the GDPR and the ePrivacy Regulation (2017) European Data Protec-
tion Law Review pp 353-368 7 GDPR Art 4(11) Relevant Recitals of the GDPR are Recital 32 and 33 8 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 169 9 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 218 10 Recital 43 GDPR 11 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 B Kostić E Vargas Penagos The freely given
consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computer-
recht p 218 12 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 7 Recital 43 S 1 GDPR 13 See for this opinion also M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data
Protection through Consumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Re-
view Vol 5 Issue 1
in a weaker bargaining position and does in fact not have the
possibility to introduce his own interests into the contract The
user only has the possibility to accept the terms or not to con-
clude the contract13 This so called structural power of the con-
troller limits the private autonomy of the user14 Thus it appears
that the form of the contract and the way by with the contract is
concluded (namely without any possibility to negotiate or adjust
it) already implies an imbalance of power15
2 Imbalance due to lack of real choice - Impact of
negative and positive forces
Secondly an imbalance exists when the user has no real choice
whether or not to give consent Only if such a real choice exists
the consent is valid
For having a genuine and free choice consent has to be given
without external force Force can be negative in the form of
threat making a consent invalid but there is also positive force
which is an act of force that intends to influence the individual
in a positive way such as an inducement16 Positive force does
not itself make consent invalid and can be considered a weaker
kind of force Those influences can eg be of financial emo-
tional or practical nature17 Consent is still freely given even
when a small degree of positive pressure is exercised on the in-
dividual18 This is rather a resistible offer than an actual
threat19 An example is a shopping discount in return to using a
bonus card collecting user information It can be hard to draw a
line between a simple incentive and a real influence on the free-
dom of choice of the data subject20
But in the case of smart devices or online services the pres-
sure exerted on users to consent is not negative force but rather
positive force as the consent establishes the possibility to gain
access to a service or use a special device It expands the free-
dom of action of each user by giving the opportunity to use the
device or service There is an incentive to give consent in order
to use the device which is making life easier but that could also
be resisted This positive force as such does in my opinion not
amount to a limitation of the freedom of will and does not estab-
lish an imbalance of power
3 Imbalance due to lack of choice - Impact of factual
14 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
3 15 The article comes back to this issue and gives an answer how this prob-
lem could be tackled through consumer law See below at V 16 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 172 On unforced choice see also D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford
and Portland Oregon (2007) pp 131 f 17 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14 18 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 173 19 R R Faden T L A Beauchamp A History and Theory of Informed Con-
sent (1986) p 340 20 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 27
dependency and lack of alternatives
But even without negative force consent can still be unfree if
there is a factual dependency on the device or service and a lack
of alternatives If the service or device it is indispensable it is
likely that there is a relationship of dependency between the
controller and the data subject and thus there is no balance of
power21 This is even more likely if a controller does have a
monopoly22
Users clearly always have the choice not to use the device or
service at all Many modern electronic devices such as smart
watches Fitbits or smart TVs can (still) be replaced by devices
not connected to the internet and thus not requiring personal data
(like traditional watches TVs DVDs) In the current status of
the society people are not completely relying on internet-con-
nected devices So if there is an alternative on the market that
does not require personal data a free choice might be given23
Maybe this changes within the next centuries but right now
there is no dependency on smart devices or online services com-
parable to the dependency to your employee or public authori-
ties So from this point of view the data subject has a free
choice whether or not to give consent
But the question is how realistic it is that this choice can be
made against the use of smart devices or services It has to be
seen that in our modern society users are largely depending on
the use of electronic devices and services (such as laptops
smartphones or tablets) for example for school university and
work but also for their social and private life Choosing not to
use certain devices or services means excluding oneself from
many advantages benefits and possibilities The everyday use
of data processing devices will even increase in the future24
However the Article 29 Working Party in contrast takes a
different starting point It asks for a data-processing-free
choice within one controller and not a choice between different
market players25 The performance or conduct of a contract must
not depend on consent to data processing even if the user could
have access to an equivalent and reasonable service somewhere
else at the market where the user does not need to give consent
to data processing26 This seems convincing as otherwise the
freedom of choice would depend on the existence of equivalent
services or devices by other market players which is outside the
area of influence of the controller27 The choice is not between
21 A Golland Das Kopplungsverbot in der Datenschutz-Grundverordnung
Anwendungsbereich oumlkonomische Auswirkungen auf Web 20-Dienste
und Loumlsungsvorschlag (2018) Multimedia und Recht p 132 22 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 43 23 See for this view the example 31 on External choice in B Kostić E
Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision
under the GDPR (2017) Computerrecht p 222 24 See for more information and examples C Storr P Storr New Technol-
ogy Big Data and the Law The internet of things Right to Data from a
European Perspective (2017) pp 65 - 96 25 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9 f 26 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 45 27 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9
use or not use the device or service but between use one and
the same device or service with or without data processing28
This more user-friendly approach would require each control-
ler to offer an alternative to the conditional use of data So if
two versions of a product or service are offered eg a more ex-
pensive version where you do not have to give consent to data
processing the data subject has a real choice whether he or she
wants to pay with their data or not29
This approach can be criticized as consent in those cases
would technically speaking not be conditional anymore as the
service or device can also be used without the consent30 Offer-
ing two options would make conditional consent obsolete But
in my opinion this criticism mistakes that each of the two pos-
sible choices (pay more without data processing or pay less with
data processing) has to be considered separately When the user
decides not to pay money for the use of a service but to give
consent to the use of its data the consent in this particular situ-
ation is conditional But the user has a free and genuine choice
to get the same service without giving consent to data pro-
cessing
I conclude that in many cases a real choice has to be doubted
There might in some cases be a factual dependency on the de-
vice or service But even if there is no factual dependency there
is often a lack of real choice if the controller does not an offer
data-processing-free alternative
4 No free will due to detriment when withdrawing the
consent
Furthermore consent is only valid if it can be refused or with-
drawn without detriment31 Vice versa it is unfree if the user is
penalised or suffers detriment when withdrawing consent Pos-
sible detriment can be deception intimidation coercion or sig-
nificant negative consequences32
For better clarity Art 29 Working Party gives an example
constituting detriment33 In this example a lifestyle phone app
wants to get information about the movements of its users using
the accelerometer of the phone This data is not necessary for
the app to work Once the consent to use the accelerometer is
withdrawn the app only works to a limited extend This amounts
to detriment under Recital 42 GDPR and thus consent was not
valid
28 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 with further references 29 This opinion is also shared by L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU Gen-
eral Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 30 See for this criticims L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General Data
Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 31 Recital 42 last sentence 32 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 10 already Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition of Consent p 12 regarding consent
under Art 2 h DPD Art 2 lit h DPD stated Consent can only be valid if
the data subject is able to exercise a real choice and there is no risk of de-ception intimidation coercion or significant negative consequences if
heshe does not consent 33 See Example 8 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p 11
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 28
So in the case of smart devices and services their restriction
in use after withdrawing consent amounts to detriment If a user
does not give consent to data processing by his or her internet-
connected TV the TV cannot be used in the first place This
means the owner cannot use his or her property thoroughly And
if the consent is withdrawn later the TV can most probably not
be used anymore It is thus very likely that in most cases of con-
ditional consent detriment (eg regarding the usage of their
property) will happen meaning that the consent is not freely
given
5 Is consent not freely given when data processing
(or consent) is not necessary for performing the
contract
Art 7(4) states that for considering whether consent has been
given freely ldquoutmost account shall be taken of whether (hellip) the
performance of a contract (hellip) is conditional on consent to the
processing of personal data that is not necessary for the perfor-
mance of the contract Additionally Recital 43 S 2 GDPR pre-
sumes that consent is not given freely when consent is not nec-
essary for the performance34 The burden of proof to disprove
this assumption lies with the controller35
Considering the wording of Art 7(4) it is somewhat unclear
whether the words ldquothat is not necessaryrdquo relate to ldquoconsentrdquo or
to ldquothe processing of personal datardquo Comparing the English and
the German versions of the GDPR it catches the readerrsquos eye
that the German version quite explicitly relates the necessity-
requirement to the processing of personal data that is not nec-
essary for the performance of the contract (the translation would
literally be whether ldquoit is conditional on consent to the pro-
cessing of various36 personal data that are not necessary for the
performance of the contractrdquo)37 This difference in the German
version is regarded as being a translation error by some authors
claiming that the validity of consent should be considered de-
pending on whether consent is necessary for the performance of
the contract38 This finding also seems to be supported by Re-
cital 43 S 2 Recital 43 S 2 assumes that consent is not freely
34 Recital 43 sentence 2 GDPR Consent is presumed not to be freely given
() if the performance of a contract including the provision of a service
is dependent on the consent despite such consent not being necessary for
such performance 35 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 219 f 36 various was added by the author to clarify that personal data is in the
form of plural in the German text 37 Art 7(4) DSGVO bdquoBei der Beurteilung ob die Einwilligung freiwillig
erteilt wurde muss dem Umstand in groumlszligtmoumlglichem Umfang Rechnung getragen werden ob unter anderem die Erfuumlllung eines Vertrags ein-
schlieszliglich der Erbringung einer Dienstleistung von der Einwilligung zu
einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhaumlngig ist die fuumlr die Erfuumlllung des Vertrags nicht erforderlich sindldquo
38 This opinion is taken in L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General
Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 39 This is also the leading opinion in literature see eg P Voigt A von dem
Bussche The EU General Data Protection Regulation (GDPR) A Practi-
cal Guide (2017) p 96 40 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 41 This conclusion is also in line with the interpretation of Art 29 Data Pro-
tection Working Party Guidelines on Consent under Regulation 2016679
p 9
given if the performance of a contract including the provision
of a service is dependent on the consent despite such consent
not being necessary for such performance
However to base an interpretation on an alleged translation
error is not convincing Following a teleological approach in-
stead it is more likely that it plays a role whether data pro-
cessing is necessary and not whether consent is necessary39 The
purpose of Art 7(4) is to ensure that personal data processing is
not disguised nor bundled with the provision of a contract of a
service for which these personal data are not necessary40 Vice
versa if data processing is indeed necessary to perform the con-
tract or service Art 6(1)(b) will already be a legal ground for
processing So Art 7(4) in fact only applies to data processing
that is not necessary for the contract or service41
It is thus decisive whether the data processing is necessary
for the performance of the contract42
The meaning of necessary in Art 7(4) could be the same as
in Art 6(1)(b)43 Thereby a strict interpretation should be ap-
plied excluding everything that is ldquonot genuinely necessary for
the performance of a contract but rather unilaterally imposed on
the data subject by the controllerrdquo44 There needs to be a direct
and objective link between the processing itself and the purposes
of the contractual performance expected from the data45 So in
order to assess what is necessary the scope of the substance
and fundamental objective of the contract has to be consid-
ered46 This does not mean that processing is necessary for the
contract just because it is mentioned in the contract47 But pro-
cessing is necessary if it is a targeted and proportionate way of
achieving the purpose of the contract and it is not necessary if
the controller can reasonably achieve the purpose by some
other less intrusive means48 An example for necessary data
processing eg is the processing of credit card details in order to
conduct payments49
But let us take a closer look to the example of Netflix50 Net-
flix uses a lot of information such as demographics location
42 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7 subparagraph 41
43 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 44 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 45 Art 29 Data Protection Working Party Opinion on recent developments
on the Internet of Things p 15 46 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 47 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 48 ICO Guide to the General Data Protection Regulation (GDPR) Lawful
basis for processing August 2018 p 5 49 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 50 The information used here is taken from Netflix Privacy Policy available
at httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policy last access on
141218
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 29
language movie queues made by users ratings but also inter-
actions of the users such as scrolls mouse-overs clicks or the
time spent on a given page51 All this data is used to optimize
the user experience and give custom-fit recommendations in or-
der to make the user spend more time on Netflix The recom-
mendation system Netflix has is one of its main business driv-
ers52 But data is also shared with processing partners for adver-
tisement purposes53 It can be argued that the recommendation
of movies is also part of the contract between the user and Net-
flix This would be the case if the user and Netflix agree that
the recommendation is part of the service offered by Netflix In-
deed many users might appreciate the recommendations If this
is the case then the right legal ground for data processing would
not be consent but contract54
Following Art 29 Working Party building a profile of the
users tastes (hellip) based on his clickstream on a website is not
covered by the contract on delivering a certain good or service55
The purpose of the service (Netflix) is to offer access to movies
and series in return for a monthly payment Netflix can also offer
videos without knowing the personal preferences viewing hab-
its or location of the user All additional data that is eg used for
advertisement purposes is not needed for the contractual obli-
gations Thus a lot of data that Netflix processes is not neces-
sary and thus consent is presumed to be not freely given and thus
invalid56
III Conclusion
It has been shown that conditional consent has to overcome
many obstacles in order to be valid It is very likely that condi-
tional consent under Art 7(4) is not valid due to an imbalance
of power due to the form of the contract and the lack of a real
choice This is not only the case when a user depends on the
devices or services A lack of choice also exists if within one
market player there is no data-processing-free option Addi-
tionally when the withdrawal of consent for data processing that
is not necessary for the contract leads to a restriction of the use
of the device or the service consent is not freely given
In the end there is the presumption that conditional consent
to processing that is not necessary for the contract is unfree The
processing consented to is most of the time not necessary for the
contract Then consent is invalid meaning the processing bears
a legal ground and thus is illegal
51 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p4 52 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p2 53 see Netflix Privacy Policies available at httpswwwwhats-on-net-
flixcomprivacy-policygdpr-information last access on 141218 54 Art 6(1)(b) GDPR 55 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 56 Recital 43 S2 GDPR 57 Art 5 GDPR 58 Art 5(1)(b) GDPR
C Other safeguards of the GDPR
Nevertheless if data is processed by the controller there are still
other safeguards protecting personal data namely the principles
for data processing57 Those are the principles of lawfulness
fairness and transparency purpose limitation data minimisa-
tion accuracy storage limitation integrity and confidentiality
and accountability Of special interest regarding conditional
consent are the principles of purpose limitation data minimisa-
tion and accountability
I The principle of purpose limitation
The principle of purpose limitation stipulates that data can only
be collected for specified explicit and legitimate purposes and
shall not be further processed in a manner that is incompatible
with those purposes58 The aim of this principle is that the us-
ers know what the data is used for Only than they can make an
informed decision whether to give consent to data processing59
There is a close connection to the necessity requirement of Art
7(4) because there the purpose of the contract has to be consid-
ered as well60
The purpose of data processing has to be specified whereby
the level of detail should be considered on a case-to-case basis
in order to tell the user why the data is processed and what is
intended to be done with it61
As a result of the purpose limitation principle many services
have published their purposes in their privacy policies It has to
be examined critically whether the outlines purposes are de-
tailed enough Controllers will tend do give as little detail as
possible Eg in the case of Netflix you will find some cryptic
purposes like to enhance costumer experience and to fulfil an
obligation under law or contract62 So in theory purpose limita-
tion seems to be a good safeguard which in practice might easily
fail
Further purpose limitation might not be enough of protec-
tion as it is limited itself If data shall be reused then the con-
troller shall take into account various factors eg the terms of
contract (Art 6(4)(b)) But shall is not giving the same level
of protection as if the controller must take those into ac-
count63
II The principle of Data minimisation and right to be
forgotten
The principle of data minimisation64 means that the amount of
collected personal data must be adequate relevant and limited
59 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 032013 on purpose limi-
tation p 46 at the end 60 Art 29 Working Party 2014 Opinion 062014 on the notion of legitimate
interests of the data controller under Art 7 of Directive 9546EC p 17 61 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 89 62 Netflix Privacy Policy How we use your personal data availabe at
httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policygdpr-processing last accessed 141218
63 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review p 5 64 Art 5(1)(c) GDPR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 30
to what is necessary in relation to the purpose for which they are
processed65 Personal data should be processed only if the pur-
pose of the processing could not reasonably be fulfilled by other
means66 What is adequate and relevant depends on the specific
purpose for processing so this principle is linked to the principle
of purpose limitation
Consent for processing that is not necessary for the perfor-
mance of the contract has to be scrutinized67 Whether pro-
cessing is necessary depends on whether it is adequate relevant
and limited to what is needed to achieve the determined purpose
Art 7(4) thus enforces the principle of data minimisation by its
necessity-requirement
Additionally data processing that cannot be consented to due
to Art 7(4) and thus has no legal ground The data subject
whose data have been processed without a valid legal ground as
a consequence of has the right to be forgotten68 which means
that the data has to be deleted
The principle of data minimisation thus is already inherent in
Art 7(4) As an infringement of this principle in context with
Art 7(4) will probably make the legal ground of consent invalid
controllers are well advised to be in compliance with this prin-
ciple
III Principle of accountability
The principle of accountability means that the controller is
responsible for compliance with data processing under the
GDPR69 It also includes a material obligation to demonstrate
compliance70 One expression of this obligation is that the bur-
den of proof whether free consent has been given lies with the
controller71
In the case of conditional consent consent is presumed not to
be freely given if it is not necessary for the performance of the
contract72 This means that the burden of proof in cases of con-
ditional consent is on the controller It has to proof that consent
was freely given and is thus valid The controller will only be
able to proof this that consent is valid if the consent is neces-
sary for the contract
IV Conclusion - are consumers sufficiently
protected from a situation where they might be
ldquoselling their soul for Netflixrdquo
This article has discussed the different scenarios in which con-
ditional consent is not valid due to Art 7(4) The data processing
65 Art 5 (1)(c) GDPR and also Recital 39 GDPR ICO Guide to the General
Data Protection Regulation (GDPR) Principle Data minimisation availa-ble at httpsicoorgukfor-organisationsguide-to-the-general-data-protec-
tion-regulation-gdprprinciplesdata-minimisation last access on
141218 66 Recital 39 GDPR 67 Art7(4) GDPR 68 Developed by ECJ ruling of 13 May 2014 Google Spain C-13112 Now
also in Art 17 Sec 1 lit a-f GDPR 69 Art 5(2) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010
on the principle of accountability p4 70 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010 on the principle of
accountability at Nr 41
principles shall give additional protection As Art 7(4) already
includes a lot of those principles indirectly I conclude that they
hardly add a higher level of protection
Even though the consent is invalid in many cases of condi-
tional consent and controllers thus have no legal ground for pro-
cessing this does not stop controllers from using consent as a
legal basis for a lot of data processing Due to the overwhelming
power of large companies acting as controllers users do not
have a choice and often feel like they have to give their consent
even though the consent is invalid Eg it has been shown that
from the perspective of the majority of people in Europe there
is no alternative than to provide personal information if you
want to obtain products or services73 Users will probably not
even be aware that their consent is invalid The asymmetry in
power of the user and the controllers hinders an uproar of the
users against this practice Also it is in the interest of the users
to have access to the service or use the device It does not serve
their interests that the law just declares the consent invalid with-
out any further actions following
D Lack of consumer protection - what other
regulatory safeguards should be considered
But how could this lack of consumer protection be tackled One
could argue that market forces themselves will develop a higher
level of protection of personal data meaning that users would
prefer services that use less data But this is a very unlikely sce-
nario as many different factors come into play when a user
chooses a certain device (such as prize availability personal
preferences)74 Also reality has shown that the market fails to
protect privacy So there is an urgent need for the legislator to
increase consumer protection
A possible regulatory constraint could be that controllers are
obliged to offer two versions of a service or device of which
one does not process unnecessary data but charging a fee75 But
a legal obligation to offer two versions would be an interfer-
ence with the principle of party autonomy and freedom of con-
tract of the controller and thus would has to be justified76
A different legal constraint could be to combine EU con-
sumer protection and data protection law forming a data con-
71 Art 7(4) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p9 72 Recital 43 GDPR 73 Special Eurobarometer 431 Data Protection June 2015 p 30 available
at eceuropaeucommfrontofficepublicopinionar-chivesebsebs_431_enpdf last access 141218
74 J Rauhofer Judith ldquoOne Step Forward Two Steps Back Critical observa-
tions on the proposed reform of the EU data protection frameworkldquo Jour-nal of Law and Economic Regulation (2013) Vol 6 No 1 2013 p 69
75 W Kerber Digital markets data and privacy competition law consumer
law and data protection (2016) Journal of Intellectual Property Law amp Practice p 862
76 Art 8 ECHR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 31
sumer law which could be beneficial especially as the con-
sumer market is more and more data driven77 Data protection
law deals with fair processing and protection of fundamental
rights and consumer protection law shall empower consumers
in situations where they have low bargaining power78 The lack
of power is the reasons why the users rights are not sufficient
to protect their privacy in practice A stronger interplay of data
protection and consumer law could strengthen the autonomy of
the users
As noted above it is not very helpful for the user if the data
processing is unlawful but no consequences follow This would
be different if the unlawfulness would result in concrete rights
for the user If a Smart-TV unlawfully processes data (eg be-
cause the consent is invalid) or cannot be used because the user
refuses to give consent an effective solution for the user would
be to have the right to return the TV79 Consumer law could in-
crease the options of users by offering remedies and strengthen
their market power80
Consumer law could further be used to assess the fairness of
terms and conditions on personal data and limit the possibility
of the controller to impose terms on the users81 This would be
possible as processing data is not considered the main subject
matter of the contract82 The conditions of the contract could be
assessed and conditional consent is probably likely to lead to
an unfair situation as the lack of real choice would be against
good faith83 As a consequence controllers cannot impose un-
fair terms on their users
E Conclusion and Prospect
I conclude that in the case of smart devices or online services
where consent is conditional to use them the consent is likely to
be invalid for various reasons It has been shown that the user
has no real choice due to an imbalance of power between him or
her and the controller This imbalance arises from the lack of the
possibility to renegotiate terms and conditions and from the lack
of data-processing-free alternatives Further consent is not free
as withdrawing will lead to detriment And consent is presumed
not to be valid in the many cases where data processing is not
necessary for the contract Other safeguards namely the data
processing principles of purpose limitation data minimisation
and accountability fail to add any additional protection as they
are already included in Art7(4) I also conclude that the effect
of invalidating the consent is of very little help for the data sub-
ject
77 This is eg suggested by N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1428 78 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-
tion law (2017) Common Market Law Review p 1436 79 See for this example N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-
sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1440 80 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
It is therefore essential having in mind the importance of data
protection as a fundamental right84 and the exploding amount of
data processed to consider other legal constraints for the future
The weak point of data protection and the GDPR in my view is
the lack of remedies that are really useful for the data subject
A combination with consumer law could help to protect the data
subjects rights more efficiently The article has exemplified two
points Consumer law could be used to apply its fairness test to
the contract involving data processing between the data subject
and the controller limiting the possibilities of the controller and
thus balancing the difference in power And it could be used to
create remedies such as a right to return a device that cannot be
used without illegal data processing
Overall Art 7(4) has the best intentions to protect data sub-
jects but further steps need to be taken to transfer those good
intentions into the reality of data subjects
Die Autorin hat im Fruumlhjahr 2018 die erste juristische Staatspruumlfung an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau abgelegt Derzeit absolviert sie ein LLM-Studium in Intellectual Property Law an der University of Edinburgh Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Seminares Data Protection and Information Privacy auf Grundlage einer dort gestellten Essay-Frage entstanden
7 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1449
81 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1451 Monopolkom-
mission Competition Policy The challenge of digital markets Special Re-
port No 56 at para 341 82 This is at least the case in the Digital Content Directive 83 Art 3(1) of the Unfair Contract Terms Directive 84 Art 7 Charter of Fundamental Rights
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 32
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo
-Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK-
-
Sarah Baukelmann
Abstract
Der Fall Gaumlfgen hat die deutsche sowie die europaumlische
Rechtsprechung vor eine Herausforderung gestellt Die
abweichenden Meinungen der einzelnen RichterInnen1 in
den zwei ergangenen Urteilen zeigt das Dilemma mit dem
sich die fuumlnfte Kammer und die Groszlige Kammer des
EGMR konfrontiert sahen In diesem Fall wurde der Taumlter
zum Opfer der polizeilichen Vernehmungsmethode Frag-
lich ist unter welchen Voraussetzungen ein Straftaumlter sich
selbst als Opfer der Justiz bezichtigen kann Und wie geht
der Gerichtshof mit diesem Fall um der methodologisch
normativ und moralisch an die Grenzen des Rechts und
der bisherigen Rechtsprechung stoumlszligt Vorweg sei gesagt
nicht einheitlich
Diese Arbeit hat zum Ziel den Umgang die Methodik und
das Ergebnis zu beleuchten
A Einleitung I Fakten
Gefasst wurde der 27-jaumlhrige Student der Rechtswissenschaften
Magnus Gaumlfgen am Nachmittag des 30 Septembers als er ei-
nen mit Loumlsegeld bezahlten gemieteten Mercedes abholen
wollte2 Die Polizeibeamten die unter der irrtuumlmlichen An-
nahme standen dass das Entfuumlhrungsopfer Jakob noch am Le-
ben sei befragten den mutmaszliglichen Taumlter bis 1Uhr nachts
Am Morgen des 01Oktobers 2002 bevor der leitendende
Hauptkommissar seinen Dienst antrat fuumlhrte der Kriminal-
hauptkommissar Ennigkeit das Verhoumlr Zu diesem Zeitpunkt
wurde der Elfjaumlhrige schon seit vier Tagen vermisst Er drohte
Gaumlfgen auf Anordnung des Vizepraumlsidenten der Frankfurter Po-
lizei Daschner mit der Zufuumlgung von massiven Schmerzen von
1 In dieser Arbeit wird wenn es sich um Maumlnner und Frauen handelt die ver-
kuumlrzte Form der Beidnennung verwendet um geschlechtersensibler und in-klusiver Sprache gerecht zu werden
2 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 82 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 3 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 96 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018)
einer speziell fuumlr diese Zwecke ausgebildeten Person wenn er
den Aufenthaltsort des Kindes nicht preisgebe3 Von Angst mo-
tiviert nannte der Beschuldigte nach etwa zehn Minuten die
Fundstelle der Leiche
Magnus Gaumlfgen wurde am 28072003 wegen Mordes in Tat-
einheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und
wegen falscher Verdaumlchtigung in Tateinheit mit Freiheitsberau-
bung in zwei Faumlllen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamt-
strafe verurteilt Zudem wurde die besondere Schwere der
Schuld festgestellt4
Die Polizeibeamten wurden wegen Noumltigung im Amt und
wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Noumltigung im
Amt fuumlr schuldig befunden und gegen beide Angeklagte eine
Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen Geldstrafen von
60 bzw 90 Tagessaumltzen zu je 60 Euro fuumlr Ennigkeit und 120
Euro fuumlr Daschner wurden hinsichtlich der Verurteilung ver-
haumlngt5
II Was und Warum
Die folgenden gerichtlichen Verfahren stellen in nur mehr als
einer Hinsicht bdquoGrenzfaumllleldquo sowohl fuumlr die deutsche als auch
die europaumlische Justiz dar die Exekutive uumlberschreitet ihre
rechtlichen Grenzen die Strafprozesspflege stoumlszligt an die Gren-
zen des Beweisverwertungsverbots und dessen Fernwirkung
der europaumlische Gerichtshof fuumlr Menschenrechte sieht sich mit
der Grenze des Grundrechtsschutzes insbesondere dem Verbot
der Folter und der Verfahrensgarantie des fairen Verfahrens
konfrontiert Kontrovers wird die Causa Gaumlfgen nicht nur in den
allgemeinen Medien diskutiert sondern ebenso im rechtswis-
senschaftlichen Diskurs6 Besonders deutlich wird dies anhand
der abweichenden Meinungen in den Urteilen des EGMR
III Wie
Die Disparitaumlt der Urteile sowie die -herrschenden und abwei-
chenden- Meinungen bezuumlglich der Rechtsfrage um den Entfall
4 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Tenor abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 5 LG FrankfurtM Urt v 20122004 ndash 527 KLs 7570 Js 20381403 (404) in
NJW 2005 S 692 (693) 6 Vgl aus dem umfangr Schrifttum zit nach Heinrich Goumltz Das Urteil gegen
Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes in NJW 2005
S 953 (953)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 33
der Opfereigenschaft und der Fairness des Verfahrens gilt es in
der Ausarbeitung dazustellen Zur Erreichung dessen ist es not-
wendig die Hintergruumlnde zu beleuchten und den Ablauf der
Verfahren auf deutscher Seite wiederzugeben
Daruumlber hinaus ist im anschlieszligenden Vergleich unter Her-
anziehung vergangener Rechtsprechung des EGMR der Ver-
fahrensgang nach Straszligburg zu beleuchten und zu erlaumlutern
Durch eine tripartitaumlre Darstellung (bisherige Rspr-EGMR I-
EGMR II) laumlsst sich das Urteil der Groszligen Kammer besser ta-
xieren und ein Gesamtergebnis zusammenfassen
B Hauptteil
I Deutscher Verfahrensgang 1 Urteil des LG Frankfurt
Anfaumlnglich erklaumlrte Gaumlfgen den Tod Jakobs nicht geplant zu
haben Nach eingehender Belehrung uumlber die Konsequenzen ei-
ner Aussage hat Gaumlfgen sich in der Hauptverhandlung aus freien
Stuumlcken erneut umfaumlnglich eingelassen und raumlumte letztlich je-
doch ein dass er bereits von Anfang an geplant hatte das Kind
zu toumlten und in dieser Absicht gehandelt habe Er umschrieb
sein Gestaumlndnis dann als den einzigen Weg seine schwere
Schuld zu akzeptieren und als die groumlszligtmoumlgliche Entschuldi-
gung fuumlr den Mord an dem Kind
Das Gericht stellte fest dass sich Gaumlfgen des Mordes schul-
dig gemacht hat und dabei mit direktem Vorsatz gehandelt hat
Ferner folgte die Feststellung von drei Mordmerkmalen Heim-
tuumlcke Habgier und Verdeckungsabsicht Der Taumlter wollte sich
die Maske seines luxurioumlsen Lebens aufrechterhalten Seine Op-
ferauswahl basierte auf der Vermoumlgenslage der Eltern sodass
eine hohe Loumlsegeldforderung realistisch blieb Hauptmotiv war
damit ein Gewinnstreben mit dem der Angeklagte ruumlcksichtslos
die Existenz eines Menschen opferte welches nur als abstoszligend
gewertet werden kann Auch ging es Gaumlfgen darum zu verde-
cken dass er sich des erpresserischen Menschenraubs strafbar
gemacht hat Daher toumltete er den einzigen Zeugen und Opfer die-
ser Straftat Das Fehlverhalten der Exekutive also der Polizei-
beamten koumlnne die rechtsprechende Gewalt nicht daran hin-
dern die Tatsachenfeststellungen nach Recht und Gesetz zu be-
werten und zu beurteilen
Die Kammer hat die Schwere der Schuld aufgrund einer zu-
sammenfassenden Wuumlrdigung von Tat und Taumlterpersoumlnlichkeit
unter Abwaumlgung der fuumlr und gegen den Angeklagten sprechen-
den Gesichtspunkte bejaht Als Gesamtstrafe ist eine lebens-
lange Freiheitsstrafe anzuerkennen
7 BGH Urt v 21052004 ndash 2 StR 3504 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrr2042-35-04php (Abrufdatum 09082018) 8 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (656) 9 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 10 Vgl BVerfG Beschl v 2742000 ndash 2 BvR 7594 in NJW 2000 S 3557
2 Verfahren Bundesgerichtshof
Gaumlfgen legte daraufhin Revision beim BGH in Karlsruhe ein
der diese jedoch mit der Begruumlndung dass die Nachpruumlfung kei-
nen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe7
als unbegruumlndet ablehnte
3 Verfahren Bundesverfassungsgericht
Es folgte eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen die Ent-
scheidungen des LG und des BGH wandte in der Gaumlfgen die
Verletzung von Art 1 I GG sowie Art 104 I 2 GG ruumlgte da die
Behandlung der Polizei in Anbetracht seiner damaligen psychi-
schen und physischen Verfassung sowie des planmaumlszligigen
durch die Polizeihierarchie abgesicherten und von dem ernsthaf-
ten Willen zur (spurenlosen) Umsetzung getragenen Vorgehens
Folter iS des Art 3 EMRK gewesen sei8
Das BVerfG entschied dass die Begruumlndung nicht den An-
forderungen des Vorbringens gem sectsect 23I 2 92 BVerfGG ent-
spreche da es zum einen an der Darlegung der Grundrechtsver-
letzung durch die angegriffenen Maszlignahmen mangele und dass
die geltend gemachten Folge verfassungsrechtlich zwingend
sei9 Inwiefern die Ablehnung eines Verfahrenshindernisses die
verfassungsrechtlich verbuumlrgten Rechte des Beschwerdefuumlhrers
verletze10 hielt das BVerfG nicht fuumlr ausreichend dargestellt da
sich der Beschwerdefuumlhrer ausschlieszliglich gegen seine Verurtei-
lung durch das LG und auf die Verwerfung seiner Revision
durch den BGH11 beschraumlnke Die Verwertbarkeit der Beweis-
mittel betreffend wurde von beiden Gerichten das Beweisver-
wertungsverbot hinsichtlich der Aussagen gem sect 136a StPO an-
erkannt bzw die Fernwirkung desselbigen bzgl der Beweismit-
tel abgelehnt Die Verfassungsbeschwerde wurde mangels Zu-
laumlssigkeit abgelehnt
4 Amtshaftungsklage
Mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg lehnte das LG
Frankfurt den Anspruch auf Schadensersatz gegen das Land
Hessen ab Das OLG Frankfurt hat mit einem Beschluss v
2822007 die Ablehnung der Prozesskostenhilfe bestaumltigt12
II Europaumlische Rechtsprechung
Gaumlfgen als Beschwerdefuumlhrer hat sich an den EGMR gem Art
34 S 1 EMRK13 gewandt und behauptet dass er bei seiner poli-
zeilichen Vernehmung unter Verstoszlig gegen Art 3 gefoltert wor-
den sei Auszligerdem sei er in seinem durch Art 6 I garantierten
Recht auf ein faires Verfahren das ein Recht sich nicht selbst
zu bezichtigen einschlieszlige verletzt worden14 Sein Recht auf
Verteidigung sei ihm durch die Verwertung der Beweismittel
und des Gestaumlndnisses entzogen worden
11 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 12 OLG FrankfurtM Beschl v 2822007 ndash 1 W 4706 in NJW 2007 S 2494 13 Folgende Artikel ohne Kennzeichnung sind solche der EMRK 14 EGMR (V Sektion) Entschv 10042007 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland)
in NJW 2007 S 2461 (2462)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 34
1 Zulaumlssigkeit
Die Beschwerde ergibt fuumlr den Gerichtshof mit Hinblick auf
seine bisher erarbeiteten Rechtsprechungskriterien dass diese
Ruumlge nicht offensichtlich unbegruumlndet iS von Art 35 III ist
2 Verletzung von Art 3
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Schutz von Art 3 ist einer der wichtigsten und grundle-
gendsten Werte unserer demokratischen Gesellschaft15 Art 3
ist nicht einschraumlnkbar und gehoumlrt zu den Bestimmungen von
denen auch im Notstandsfall nicht abgewichen werden darf16
Auch wenn immer mal wieder die Frage der Abwaumlgung zwi-
schen den Risiken fuumlr die betroffene Person und der nationalen
Sicherheit auftauchte lehnte der Gerichtshof eine implizite Be-
grenzung strikt ab17 Selbst in den schwierigsten Umstaumlnden
wie im Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen
verbietet die Konvention Folter und unmenschliche oder ernied-
rigende Behandlung oder Bestrafung absolut ohne jede Aus-
nahme18 Daher hat es fuumlr Art 3 keine Bedeutung welche Straf-
tat dem Betroffenen vorgeworfen wird19
Um von Art 3 erfasst zu werden muss eine Misshandlung ein
Mindestmaszlig an Schwere erreichen Die Beurteilung dieses Min-
destmaszliges ist der Natur der Dinge nach relativ es ist abhaumlngig
von saumlmtlichen Umstaumlnden des Einzelfalls20 Der Zweck sowie
die Absicht und die Beweggruumlnde bilden Faktoren fuumlr die Ein-
ordnung der Behandlung21 So zum Beispiel die Erlangung eines
Gestaumlndnisses22 und der Kontext der fraglichen Behandlung23
Der Gerichtshof hat eine Behandlung als erniedrigend erach-
tet wenn sie dazu angetan ist bei den Opfern Gefuumlhle der Angst
Beklemmung und Unterlegenheit hervorzurufen die geeignet
sind sie zu demuumltigen zu entwuumlrdigen und moumlglicherweise ih-
ren koumlrperlichen oder geistigen Widerstand zu brechen24 Bei
der Beurteilung ob eine Bestrafung oder eine Behandlung er-
niedrigend iS des Art 3 ist wird das Gericht auch pruumlfen ob es
dem Zweck dient die betreffende Person zu erniedrigen und zu
benachteiligen und ob sie in Bezug auf die Folgen ihre Persoumln-
lichkeit in einer Weise beeintraumlchtigt die mit Art 3 unvereinbar
ist mit einer Behandlung die Gefuumlhle von Angst Angst und
Minderwertigkeit hervorruft die geeignet sind das Opfer zu er-
niedrigen oder zu entwerten und moumlglicherweise seinen physi-
schen oder moralischen Widerstand zu brechen oder das Opfer
15 EGMR Urtv 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 119 abrufbar unter
httphudocechrcoeintengi=001-58559 (Abrufdatum 2882018) 16 EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ 1997 S
1078 17 Vgl EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ
1997 S 1078 18 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 wwwhu-
docechrcoeintengitemid[001-58559] (Abrufdatum 15082018) 19 EGMR Urtv 2822008 - 3720106 (SaadiItalien) Rn 139-140 in NVwZ
2008 S 1330 20 EGMR Urt v 1811978 Rn 162 in EuGRZ 1979 Seite 149 21 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 88 (Abrufdatum 21082018)
22 EGMR Urtv 8121996 - 2198793(AksoyTuumlrkei) Rd 64 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-58003 (Abrufdatum 28082018) 23 EGMR Urtv 20122000 - 3087396 (EgmezZypern) Rd 78 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59100 (Abrufdatum 28082018)
zu veranlassen gegen seinen Willen oder Gewissen zu han-
deln25 Art 1 UN-Antifolterkonvention postuliert dass bdquowenn
eine Behandlung erfolgt um () ein Gestaumlndnis zu erlangen oder
um zu bestrafen einzuschuumlchtern oder zu noumltigenldquo es sich um
Folter handelt Die bloszlige Bedrohung mit einem durch Art 3 ver-
botenen Verhalten kann mit dieser Bestimmung in Konflikt ge-
raten Die Bedrohung eines Menschen mit Folter koumlnnte demge-
maumlszlig unter bestimmten Umstaumlnden zumindest eine bdquounmensch-
liche Behandlungldquo darstellen26 Hat jedoch ein innerstaatliches
Verfahren stattgefunden so ist es nicht Aufgabe des Gerichts-
hofs anstelle der innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt zu
wuumlrdigen und es obliegt in der Regel diesen Gerichten die
ihnen vorliegenden Beweise zu wuumlrdigen27
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die angedrohte Bedrohung
wenn sie erfolgt waumlre als Folter anzusehen waumlre und ist vor die-
sem Hintergrund der Auffassung dass der Bf waumlhrend der Be-
fragung am 1102002 einer nach der Konvention verbotenen
unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war28
c) EGMR II
Unter Beruumlcksichtigung der fuumlr die Beurteilung wesentlichen
Gesichtspunkte haben die gegen den Bf ausgesprochenen realen
und direkten Drohungen das Mindestmaszlig an Schwere erreicht
um das umstrittene Verhalten der Polizeibeamten in den Anwen-
dungsbereich von Art 3 zu bringen Das durch die Androhung
ausgeloumlste psychische Leiden dem der Bf ausgesetzt war ist
schwerwiegend genug um als eine nach Art 3 verbotene und
unmenschliche Behandlung gewertet zu werden aber nicht das
Niveau der Grausamkeit erreicht um sie als Folter zu bezeich-
nen29
d) Fazit
Die Verletzung von Art 3 wurde bereits von den innerstaatli-
chen Gerichten und der Kammer anerkannt Die Anwendbarkeit
von Art 3 insgesamt mithin das Vorliegen einer Behandlung
die dessen Tatbestand erfuumlllt begruumlndet die Groszlige Kammer aus-
fuumlhrlich und eng an den Kriterien der bisherigen Rspr ange-
lehnt30 Die Groszlige Kammer weicht mit dieser Einschaumltzung
nicht von ihrem vorherigen Rechtskurs ab31
24 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 abrufbar unter wwwhudocechrcoeintengitemid[001-58559 (Abrufdatum
15082018) 25 EGMR 342001 - 2722995 (KeenanUK) Rd 110 abrufbar unter wwwhu-
docechrcoeintengi=001-59365 (Abrufdatum 28082018) 26 EGMR Urtv 2521982 - 751176 (Campbell CosansUK) Rd 23 abrufbar
unter httphudocechrcoeintengi=001-57455 (Abrufdatum 28082018)
27 EGMR Urtv 2291993 - 1547389 (KlaasDeutschland) Rd 29 Serie A Bd
269 28 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 69 ff 29 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3146) 30 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 31 Fuumlr Beispiele als Einordnung von Folter siehe Christoph Grabenwarter Ka-
tharina Pabel Europaumlische Menschenrechtskonvention ein Studienbuch
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 35
3 Opfereigenschaft
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Gerichtshof verlangt fuumlr den Fortfall der Opfereigenschaft
1 dass der beklagte Staat den Eingriff aufhebt und anerkennt
dass eine Konventionsverletzung vorgelegen hat und 2 dass er
die Konventionsverletzung angemessen wiedergutmacht32 Eine
angemessene Wiedergutmachung der Konventionsverletzung
kann durch unterschiedliche Rechtsbehelfe bewirkt werden33
Im Zuge dessen hat der Gerichtshof festgestellt dass es nicht um
die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten
sondern um die voumllkerrechtliche Verantwortung des Staates
ginge34 Die Zustaumlndigkeit des Gerichtshofs beschraumlnkt sich auf
Letztere In sbquovergleichbarenlsquo Faumlllen wurde beanstandet dass
keinerlei disziplinarischen Maszlignahmen gegen die Staatsbe-
dienstete eingeleitet wurden35 sowie das Unterlassen einer Sus-
pendierung oder die Entlassung bei Verurteilung36
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die deutschen Gerichte die Kon-
ventionsverletzung ausdruumlcklich und der Sache nach anerkannt
haben37Zur Wiedergutmachung ist der Schuldspruch vom
20122004 gegen die Polizeibeamten zu nennen Unter Beruumlck-
sichtigung aller Umstaumlnde stellte der Gerichtshof fest dass der
Verstoszlig gegen Art 3 in der Androhung einer Misshandlung be-
steht (im Unterschied zu einer tatsaumlchlichen koumlrperlichen Miss-
handlung die die Schwelle fuumlr die Anwendbarkeit von Art 3
erreicht) Eine Wiedergutmachung fuumlr die Verletzung wurde
durch die wirksame Strafverfolgung und Verurteilung der ver-
antwortlichen Polizeibeamten mit der unzweifelhaft der Un-
rechtsgehalt der Misshandlung festgestellt wurde38 anerkannt
Diese Uumlberlegungen fuumlhren dazu dass der Bf nicht mehr be-
haupten kann Opfer einer Verletzung von Art 3 zu sein da die
innerstaatlichen Gerichte hinreichend Wiedergutmachung fuumlr
die gegen Art 3 verstoszligene Behandlung geleistet haben
c) EGMR II
Die Verletzung von Art 3 wurde durch die innerstaatlichen Ge-
richte ausdruumlcklich anerkannt Jedoch sei die Verurteilung zu
Geldstrafen iHv 60 bzw 120 Euro zu je 60 bzw 90 Tagessaumlt-
zen die auch noch zur Bewaumlhrung auszusetzen sind keine an-
gemessene Reaktion auf einen Verstoszlig gegen Art 3 Eine solche
bdquooffensichtlich unverhaumlltnismaumlszligigeldquo Strafe fuumlr die Verletzung
eines der wesentlichen Grundrechte der Konvention hat nicht
die abschreckende Wirkung die notwendig ist um neuen Ver-
stoumlszligen gegen das Verbot von Misshandlungen in kuumlnftig moumlgli-
6Aufl 2016 sect20 Rn 42 Maureen Spencer und John Spencer Human
Rights in a Nutshell 3 Aufl S89 32 Meyer-LadewigKulick Europaumlische Menschenrechtskonvention Handkom-
mentar 4 Auflage Art 34 Rd 31 33 EGMR Urt v 2932006 ndash 3681397 (ScordinoItalien) Rd 186 in NJW
2007 S1259 34 EGMR Urt v 1042001 - 2612995 (TanliTuumlrkei) Rd 111 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59372 (Abrufdatum 2882018) 35 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 63 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 36 EGMR Urtv 2112004 - 3244696 (AbduumllsametTuumlrkei) Rd 55 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-67228 (Abrufdatum 2882018)
chen schwierigen Situationen vorzubeugen39 Die von den deut-
schen Gerichten ergriffenen Maszlignahmen entsprechen keiner
Widergutmachung die jemand bekommen sollte wenn Art 3
verletzt worden ist Mangels ausreichender Wiedergutmachung
ist der Bf nach wie vor Opfer der Verletzung von Art 3
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die bulgarische Richterin Kalaydjieva konnte sich den Ausfuumlh-
rungen der Mehrheit (mit sechs zu einer Stimme) des Entschlus-
ses der Kammer nicht anschlieszligen Sie begruumlndet ihre Auffas-
sung damit dass die Verletzung von Art 3 bereits festgestellt
worden ist und dass die Opfereigenschaft nicht durch Entschauml-
digung wegfalle Vielmehr wuumlrde dies den Weg ebnen fuumlr die
Legitimierung von Zwang als Methode zur Beschaffung von Be-
weismitteln in Strafverfahren in denen bei wichtigen Faumlllen
die Devise Zahlen und Foltern gelte Danach koumlnnten Ver-
stoumlszlige gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung im Namen der Gerechtigkeit begruumln-
det und beguumlnstigt werden40
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen stimmen mit der Mehrheit der GK uumlberein
weichen jedoch bei der Begruumlndung der Opfereigenschaft ab
Die innerstaatlichen Behoumlrden die uumlber die Erschoumlpfung aller
innerstaatlichen Rechtsbehelfe entscheiden haben die Verlet-
zung von Art 3 anerkannt Die GK hat bereits festgestellt dass
eine Widergutmachung nicht stattgefunden hat da die Wirkung
der Strafen keine ausreichende abschreckende Wirkung hatte
Fraglich ist allerdings ob die Waffe der Bestrafung als Abschre-
ckungswirkung der einzige Weg der Wiedergutmachung gewe-
sen waumlre Nach Auffassungen der drei RichterInnen unter Be-
ruumlcksichtigung der Gesamtumstaumlnde des Falls waumlre fuumlr die
festgestellte und anerkannte Verletzung von Art 3 ein Verwer-
tungsverbot fuumlr die konventionswidrig erlangten Beweise eine
angemessene und hinreichende Widergutmachung gewesen41
cc) Richter Casadevall ua
Die abweichende Meinung von Richter Casadevall der sich die
Richter Kovler Mijović Jaeger Jočiene und Loacutepez Guerra an-
geschlossen haben negiert die Opfereigenschaft des Bf sowie
die Feststellung der Verletzung von Art 3 Der andorranische
Richter schlieszligt sich der Rspr der Kammer an dass die Andro-
hung von Gewalt eine unmenschliche Behandlung darstellt
Dies wurde jedoch bereits von den deutschen Gerichten foumlrm-
lich anerkannt Die Begruumlndung des Gerichtshofs die Opferei-
Vgl Conclusions and Recommendations of the United Nations Committee
against Torture Turkey 27 May 2003 CATCCR305 37 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 77 38 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 80 39 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3147) 40 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 118-119 (Abrufdatum
16082018) 41 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 7 der abw Meinung (Ab-
rufdatum 17082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 36
genschaft nicht abzuerkennen war die milde Bestrafung der Po-
lizeibeamten obwohl es nicht seine Aufgabe ist uumlber die
Schwere der Schuld des Einzelnen zu entscheiden denn es han-
delt sich hierbei um Angelegenheiten die in die ausschlieszligliche
Zustaumlndigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte fallen42 Die
Opfereigenschaft des Bf ist nicht abhaumlngig von der Houmlhe der ge-
gen die Polizeibeamten verhaumlngten Strafen Ebenso ist die Frage
der Houmlhe der Strafen willkuumlrlich denn wird die Houmlhe der Strafe
zum Maszligstab gemacht so kann man sich fragen welches Straf-
maszlig fuumlr die Mehrheit wohl genuumlgt haumltte um die Feststellung
treffen zu koumlnnen dass die Opfereigenschaft des Bf entfalle Der
Richter erhebt Zweifel an dem Erfordernis einer Entschaumldigung
und an der Amtshaftungsklage die nicht einmal eine Entschaumldi-
gung zum Ziel hat sondern ein neues Verfahren und die erst drei
Jahre nach Eintritt des Schadens versucht wurde geltend zu ma-
chen Zweifelhaft ist auch der Tenor des Urteils denn letztlich
bestaumltigt der Gerichtshof das was die innerstaatlichen Behoumlrden
bereits anerkannt haben die Verletzung von Art 3
e) Fazit
Die GK verweist auf die Verfolgung der fuumlr die unmenschliche
Behandlung Verantwortlichen Beamten Die in der Rechtspre-
chung -uumlberwiegend in Urteilen uumlber Beschwerden gegen die
Tuumlrkei und Russland-43 verfestigten Kriterien fuumlr eine gruumlndli-
che und effektive Untersuchung bringt der EGMR auch hier zur
Anwendung Raschheit Verfahrensdauer Ergebnisse der Un-
tersuchung und anschlieszligender Strafverfahren einschlieszliglich
disziplinaumlrer Maszlignahmen44 Dies erscheint auf dem ersten Blick
auch angemessen da mit der Verletzung von Art 3 eine Verlet-
zung des garantierten Rechtsschutzes vorliegt Jedoch weisen
die Urteile vorheriger Faumllle Unterschiede in der Schwere der
Misshandlung auf die bis hin zu Folter und zu einer Verletzung
von Art 2 durch Staatsbedienstete gehen Im vorliegenden Gaumlf-
gen Fall handelt es sich um eine 10-minuumltige unmenschliche Be-
handlung Die Faumllle NiklovaBulgarien TanliTuumlrkei und Ab-
duumllsametTuumlrkei bei denen die Opfer in Polizeigewahrsam auf-
grund von Folter gestorben sind gleichzusetzen mit der Andro-
hung von Gewalt uumlberzeugt nicht Die Grundsaumltze sind in der
bisherigen Rspr entwickelt worden in Faumlllen in denen gegen
die verantwortlichen Polizeibeamten keinerlei disziplinarische
Sanktionen eingeleitet worden sind Die vermeintliche Kritik
dass Daschner und Ennigkeit nicht suspendiert wurden schlaumlgt
ebenfalls fehl da beide bereits waumlhrend der Untersuchungen
und des Strafverfahrens von Positionen entfernt wurden in de-
nen sie in direkter Verbindung mit der Untersuchung von Straf-
taten standen45 Wenn die Beurteilung des Mindestmaszliges fuumlr die
42 Vgl EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 123 (Abrufdatum 17082018)
43 Vgl EGMR Urtv 3092004 ndash 5022299 (Krastanov) Rd 48 EGMR
Urtv1772008 ndash 284330202 (Camdereli) Rd 28 44Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 45 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 46 EGMR Urt v 1811978 - 531071 (IrlandUK) Rn 162 in EuGRZ 1979
S149 47 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129)
Schwere einer Behandlung also relativ ist abhaumlngig von saumlmtli-
chen Umstaumlnden des Einzelfalls wie die Dauer der Behandlung
ihre physischen und psychischen Folgen46so scheint die Frage
die Richter Casadevall aufgeworfen hat wann die Schwere der
Bestrafung ausreichend gewesen waumlre fuumlr einen Entfall der Op-
fereigenschaft unbeantwortet zu bleiben Trotz Erfuumlllung aller
formalistischen Voraussetzungen entscheidet die GK uumlber die
general-praumlventive Eignung der Strafe einen Anspruch des Fol-
teropfers auf eine bestimmte Mindestbestrafung die die Verlet-
zung beseitigt47Dem Gerichtshof obliegt es nicht uumlber inner-
staatliches Recht zu fuumlr die verurteilten Polizeibeamten zu urtei-
len Die Schutzrichtung des Art 3 zielt nach erfolgtem Fehlver-
halten darauf ab das Entstehen einer Gleichguumlltigkeit zu verhin-
dern nicht aber auch entscheiden48 so seine eigene Rspr im Jahr
2007
4 Verletzung Art 6
a) Bisherige Rechtsprechung
Das Recht zu Schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen ist
nicht ausdruumlcklich in Art 6 erwaumlhnt ergibt sich aber aus dem
Grundsatz eines fairen Verfahrens und entspricht allgemein an-
erkannten internationalen Standards49 Wird eine strafrechtliche
Verurteilung ausschlieszliglich auf ein durch Verletzung von Art 3
gewonnenes Beweismittel gestuumltzt kann darin eine Verletzung
von Art 6 liegen50 Wenn es sich um Beweise handelt die nur
indirekt durch den Art3 verletzende Methoden erlangt wurden
ist es in der Regel zwar erforderlich dass diese Beweise in ei-
nem Strafverfahren nicht verwendet werden51 Eine Frage nach
Art6 I kann aufgeworfen werden wenn es sich um Beweise
handelt die unter Verletzung von Art3 erlangt worden sind
selbst wenn die Zulaumlssigkeit solcher Beweise bei der Verurtei-
lung des Beschuldigten nicht ausschlaggebend gewesen ist52
Wird das Recht zu schweigen durch eine Maszlignahme verletzt
die gegen Art3 verstoumlszligt so sind in der Folge dann wenn ein
Fall der Folter vorliegt auch koumlrperliche Beweismittel die auf-
grund der Folterung erlangt werden koumlnnen unverwertbar ohne
dass es auf eine Abwaumlgung ankaumlme53 Die Verwertung rechts-
widrig erlangter Beweise kann zu einer Verletzung des Art 6 I
1 fuumlhren eine solche wird aber selbst bei Verletzung anderer
Konventionsrechte nur nach Umstaumlnden des Falles nicht aber
per seacute anerkannt soweit die Beweise unter Beachtung der Natur
der Verletzung in der adversatorischen Hauptverhandlung unbe-
hindert angefochten werden koumlnnen54
48 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 163 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 49 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 129 50 EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006 S
3117 (3123) 51 Grabenwarter und Pabel Fn 80 sect24 Rn 71 52 EGMR Entschv912003 - 5491900 (Iccediloumlk Tuumlrkei) Rd 3 abrufbar unter
www httphudocechrcoeintengi=001-22982 (Abrufdatum 28082018)
53 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 133 54 Karsten Gaede Fairness als Teilhabe ndash Das Recht auf konkrete und wirksame
Teilhabe durch Verteidigung gemaumlszlig Art 6 EMRK S322
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 37
b) EGMR I
Die wesentliche Grundlage fuumlr das Urteil des LG ist allein das
neue und umfassende Gestaumlndnis das er nach qualifizierter Be-
lehrung in der Hauptverhandlung als erwiesen ansah waumlhrend
alle anderen Beweismittel einschlieszliglich der beanstandeten
sachlichen Beweismittel eine Nebenrolle spielten und nur ver-
wertet wurden um den Wahrheitsgehalt dieses Gestaumlndnisses zu
uumlberpruumlfen55
Folglich kommt das Gericht zu dem Ergebnis dass keine der
beanstandeten Beweismittel bei der Uumlberpruumlfung der Schuld
eine Rolle spielten und dass die Verteidigungsrechte des Bf in-
folge ihrer Zulassung nicht beeintraumlchtigt wurden Im Ergebnis
liegt durch die Verwertung kein Verstoszlig gegen das Gebot des
fairen Verfahrens gem Art 6 I und III vor
c) EGMR II
Der Bf behauptet dass die Verwertung der Beweismittel in dem
gegen ihn gefuumlhrten Strafverfahren eine erhebliche Rolle bei sei-
ner Verurteilung gespielt haumltte
Problematisch ist der Anwendungsbereich der Ausschlussre-
gel von Beweismitteln die durch eine Verletzung von Art 3 ge-
wonnen wurden Bisher besteht keine gaumlngige Rspr weder bei
den Konventionsstaaten noch den Gerichten anderer Staaten o-
der Institutionen die uumlber die Wahrung von Menschenrechten
zu wachen haben
Ein Ausschluss so erlangter Beweismittel wuumlrde die Strafver-
folgung erheblich in ihrer Wirksamkeit beeintraumlchtigen Auf der
anderen Seite stehen die Opfer oder Familienangehoumlrigen der
Opfer die Interesse an der Aufklaumlrung der Straftat haben wie es
im vorliegenden Fall auch der Fall ist Ein von Wesentlichkeit
gepraumlgtes oumlffentliches Interesse an der Integritaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens das die Werte unserer zivilisierten Gesell-
schaft schuumltzt ist vorhanden damit die erarbeiteten Grundsaumltze
nicht an Bodenhaftung verlieren Eine Zulassung der illegal er-
worbenen Beweismittel koumlnnten eine Veranlassung sein das ab-
solute Verbot des Art 3 zu umgehen oder bei wirksamem
Schutz des Einzelnen gegen solche Methoden ein Verbot der
Zulassung
Im vorliegenden Fall ist zu beachten dass die rechtswidrige
Vernehmungsmethode angewandt wurde um das in Art 2 ma-
nifestierte Grundrecht des Kindes auf Leben zu retten Die Kon-
vention verpflichtet die Vertragsstaaten auch das Recht auf Le-
ben zu schuumltzen56 Jedoch kann weder der Schutz menschlichen
Lebens noch eine strafrechtliche Gefaumlhrdung um den Preis einer
Gefaumlhrdung der Garantie des absoluten Rechts von Art 3 aus-
gesetzt werden ohne die Werte zu opfern und die Justiz in Verruf
zu bringen Die Fairness des Verfahrens ist hingegen nur betrof-
fen wenn feststeht dass sich der Verstoszlig gegen Art 3 auf den
Ausgang des Verfahrens gegen den Angeklagten ausgewirkt hat
anders gesagt wenn er die Entscheidung uumlber seine Schuld und
die Strafe beeinflusst hat57
55 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (701) Rd 106 56 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) EGMR Urt v 28101998 - 2345294 (OsmanUK) in Slg
1998-III S3159-3160 Nr 115-116 57 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Fuumlr das LG Frankfurt waren nicht die Beweismittel ein-
schlieszliglich der beanstandeten koumlrperlichen Beweismittel we-
sentliche Grundlage fuumlr das Urteil sondern allein das neue und
umfassende Gestaumlndnis das nach qualifizierter Belehrung in der
Hauptverhandlung abgelegt wurde Die umstrittenen bdquoeinge-
faumlrbtenldquo Beweismittel waren nicht notwendig und haben nicht
dazu gedient die Schuld des Bf zu beweisen oder die Strafe fest-
zustellen
Dass der Bf in der Hauptverhandlung keine andere Wahl ge-
habt haben soll ist der erneuten qualifizierten Belehrung und
dem Hinweis des Gerichts dass seine bisher getaumltigten Gestaumlnd-
nisse nicht gegen ihn verwertet werden koumlnnen entgegenzustel-
len Zumal er zugegeben hat sein Gestaumlndnis aus Reue abzuge-
ben
Die GK ist nicht der Meinung dass die Verletzung von Art
3 im Ermittlungsverfahren Einfluss auf das in der Hauptver-
handlung abgelegte Gestaumlndnis hatte Die Rechte der Verteidi-
gung und das Recht sich selbst zu bezichtigen wurden ebenfalls
beachtet Folglich ist Art 6 I iVm III nicht verletzt
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die Absolutheit von Art 3 ziehe eine Verletzung der Selbstbe-
lastungsfreiheit nach sich und somit einen Verstoszlig gegen Art 6
Der Gerichtshof unterscheide nicht zwischen durch Zwang er-
worbene Aussagen und durch von Zwang erworbene Beweis-
mittel Die Verwertung der Beweismittel im vorliegenden Fall
und der angebliche Verlust der Opfereigenschaft stellt einen ge-
faumlhrlichen Ansatz dar der zu einer illegalen Beschaffung von
Beweismitteln solange das Verhaumlltnis zwischen Nutzen und
Schaden vertretbar ist verleite
Ob die Beweismittel ggf zu einem spaumlteren Zeitpunkt aufge-
funden worden waumlren ist nicht ob dem Gericht daruumlber zu spe-
kulieren Die Frage ist ob das Recht auf die Selbstbelastungs-
freiheit wirksam ausgeuumlbt wurde ohne sich dabei auf illegal er-
langte Beweismittelverwertung zu stuumltzen Angeblich so das in-
nerstaatliche Gericht sei der Umfang der Beweisverwertung nur
auf die Uumlberpruumlfung des Gestaumlndnisses beschraumlnkt Tatsche je-
doch ist dass ohne die Beweismittelverwertung die nach inner-
staatlichem Recht das Gestaumlndnis nicht haumltten uumlberpruumlfen koumln-
nen die Qualifizierung von erpresserischen Menschenraub zu
Mord nicht haumltte stattfinden koumlnnen58
Die Frage der Verfahrenseinstellung ist keine Abwaumlgung
zwischen der Gefahr oder Schwere einer Misshandlung gegen
die Gefaumlhrlichkeit fuumlr die Gemeinschaft denn dies kommt
der Feststellung gleich dass der Schutz der nationalen Sicher-
heit es rechtfertigt die Gefahr einer Misshandlung des Betroffe-
nen eher in Kauf zu nehmen59 Festzustellen ist ob zur Schuld-
feststellung ein Zugriff auf die durch Androhung von Zwang er-
langten Beweismittel hinzugezogen wurden selbst wenn es nur
zur Uumlberpruumlfung eines Gestaumlndnisses galt Durch den Ruumlckgriff
58 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 124 (Abrufdatum 16082018)
59 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 117 (Abrufdatum 16082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 38
auf die illegal erlangten Beweismittel ist die Unschuldsvermu-
tung und damit die Fairness des Verfahrens eingeschraumlnkt
Die einzige Heilung fuumlr den Verstoszlig gegen Art 6 und die Ab-
sprache der Opfereigenschaft sei ein neues Verfahren
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen weichen von der mehrheitlichen Meinung ab
dass keine Verletzung von Art 6 Abs I und III stattgefunden
hat Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ergebe
sich aus der Zulassung der Beweismittel die unmittelbar aus
Art 3 sichergestellt worden sind und unter selbstbelastenden
Umstaumlnden erlangt worden sind Deren Zulassung ist eine fun-
damentale und auszligerordentlich wichtige Grundsatzfrage die die
Fairness iSv Art 6 betrifft Die bisherige Rspr habe Gestaumlnd-
nisse die unter einer Verletzung von Art 3 gewonnen wurden
als immer unzulaumlssig betrachtet Uneindeutig war bisher der
Umfang des Verwertungsverbots fuumlr sachliche Beweismittel
Nach Auffassung der RichterInnen kann ein Strafverfahren in
dem Beweismittel die infolge eines Verstoszliges gegen eine derart
absolute Konventionsvorschrift erlangt wurden zugelassen und
bdquoin welchem Umfang auch immerldquo zur Entscheidung herange-
zogen werden nicht fair sein60 Unfair sei selbst wenn unter an-
gemessenen Verfahrensgarantien erlangt Beweismittel verwer-
tet werden denen auch nur der Makel von Druck oder Zwang
anhaftet Die Diskrepanz zwischen der Zulaumlssigkeit der Aussa-
gen und der Zulaumlssigkeit der Beweismittel gefaumlhrde durch deren
Begruumlndung das absolute Rechte Der angeblichen Unterbre-
chung der Kausalkette koumlnnen sich die RichterInnen nicht an-
schlieszligen Die Trennung die der Gerichtshof vornimmt zwi-
schen der Verurteilung wegen Mordes und dem bdquoeingeschlage-
nen Wegldquo im Rahmen der Beweisverwertung sei unrealistisch
und formalistisch Die in der Ermittlungsphase geschehene Ver-
letzung ziehe seine nachteiligen Folgen in dem sich ergebenden
Verfahren da die Bedeutung der Ermittlungsphase einen Rah-
men bestimmen kann fuumlr den Ansatz eines Gerichts Die nach-
teiligen Folgen haumltten fuumlr eine Wiedergutmachung komplett be-
seitigt werden koumlnnen durch ein Beweisverwertungsverbot und
einer bdquosauberen Durchfuumlhrungldquo des Verfahrens Die StA haumltte
den Bf wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge
anklagen und damit den wirksamen Schutz aufrechterhalten
koumlnnen Fraglich erscheint jedoch die Unterscheidung zwischen
Beweismitteln Zumal sich die Frage stellt warum wenn die
bdquounsauberen Beweismittelldquo nicht zur Verurteilung dienten sie
uumlberhaupt zugelassen werden mussten Nach Einschaumltzung der
teilweise abweichenden Meinung hatten die Beweismittel Ein-
fluss auf den Ausgang des Verfahrens und eine Heilung durch
die Unverwertbarkeit der Gestaumlndnisse des Bf nuumltzte ihm wenn
uumlberhaupt nur wenig Im Gegenteil da die Zulaumlssigkeit derer
60 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 2 der abw Meinung (Ab-rufdatum 17082018)
61 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) 62Vgl EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006
S 3117 (3123) 63 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131)
die Freiheit sich zu verteidigen erheblich oder gar voumlllig ein-
schraumlnkt ist eine Verurteilung nahezu unausweichlich Die
Amtstraumlger handelten zwar in einer schwierigen und sehr ange-
spannten Situation doch gerade in kritischen Zeiten duumlrfen ab-
solute Werte nicht aufs Spiel gesetzt werden Die Umstaumlnde aumln-
dern nichts an der Tatsache dass sie durch einen Verstoszlig gegen
Art 3 sachliche Beweismittel erlangten die spaumlter in dem Straf-
verfahren gegen den Beschwerdefuumlhrer verwertet und zur Be-
gruumlndung herangezogen wurden Da es sich um ein absolutes
Recht handelt sind alle Verstoumlszlige dagegen schwerwiegend und
die wirksamste Moumlglichkeit dieses absolute Verbot durchzuset-
zen ist eine strenge Anwendung des Verwertungsverbots im
Hinblick auf Art 6
e) Fazit
Die GK schlieszligt sich in ihrem Urteil im Wesentlichen dem an
was die Kammer in ihrem Entschluss bewertete Der Bf hatte
die Moumlglichkeit der Bekaumlmpfung der bdquovergiftetenldquo Beweise vor
dem LG deren Ausschluss er auch in seinem Antrag vor der
Hauptverhandlung beantragte Durch die qualifizierte Beleh-
rung uumlber das Schweigerecht und den Umstand dass keine sei-
ner fruumlheren Aussagen als Beweis gegen ihn verwendet werden
duumlrfe wurde der Bf in den Status quo ante versetzt61 Jedoch
stimmt das Argument der bulgarischen Richterin Kalaydjieva
nachdenklich In seiner vorherigen Rspr hat der EGMR keine
Unterscheidung zwischen Aussagen und koumlrperlichen Beweisen
gemacht Im Gegenteil in Urteilen wie Jalloh als einem Dro-
gendealer seine Beute durch die Zufuumlhrung von Brechmitteln
entwendet wurde wurde die Zulassung der illegal erworbenen
Beweismittel als moumlgliche Verletzung von Art 6 I gewertet62
Dem koumlnnte das oumlffentliche Interesse der Verurteilung von Gaumlf-
gen entgegenstehen die es im oben genannten Beispiel nicht
gab63 Man gewinnt den Eindruck dass der EGMR etwas hin-
und hergerissen ist zwischen der Absolutheit des Art3 und dem
bdquoweicherenldquo Fairnessgebot bis er sich zur Abwaumlgung iRv Art6
durchringt64
Einen Ausweg scheint der EGMR in der Schuldbegruumlndung
zu finden Dies erscheint jedenfalls schon beinahe konstruiert
und uumlberzeugt wenig da auf der einen Seite die koumlrperlichen
Beweise keine Rolle spielen und auf der anderen Seite genau
dieselben den Wahrheitsgehalt des Gestaumlndnisses uumlberpruumlfen
sollen Die in Jalloh offen gelassene Frage der indirekten Ver-
wertbarkeit ist nun beantwortet und laumlsst insofern eine bdquoHinter-
tuumlrldquo offen65 indem ein Ausschluss von Beweisen erforderlich
sein koumlnnte aber nur fuumlr den Fall des Einflusses auf das Ge-
staumlndnis oder die Strafe66
65 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 66 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 39
5 Ergebnis
Das endguumlltige Urteil aus Straszligburg uumlberrascht Der Gerichtshof
bleibt sich den Grundsaumltzen des Art 3 treu Umso mehr uumlber-
rascht die Bewertung der innerdeutschen Strafprozesspflege und
die Verhaumlngung der Strafen Um die Absolutheit von Art 3 zu
schuumltzen bestimmt sich der Gerichtshof selbst als Kontrol-
linstanz fuumlr die Schwere von Strafen Aus Angst Art 3 wuumlrde
unterwandert beschlieszligt die GK dass sich Gaumlfgen weiter als
bdquoOpferldquo der Justiz iSv Art 34 I bezeichnen darf Es finden sich
in dem endguumlltigen Urteil Abweichungen der bisherigen Rspr
die sich weniger rechtlich als moralisch erklaumlren lassen Eine
Abwaumlgung fuumlr eine Beweisverwertung ist kritisch zu betrach-
ten67 Die abweichenden Meinungen streuen begruumlndete Zweifel
in die zugebenermaszligen neue Leitlinie des EGMR
III Gesamtfazit
Die moralische und rechtliche Problematik wird deutlich an der
scharfen Meinungsspaltung der Jurisprudenz Die Mehrheit der
5 Kammer und die Minderheit der GK sowie die innerdeut-
schen Gerichte stimmen uumlberein dass die milde Strafe der Poli-
zisten die Verletzung von Art3 kompensiere Vorherzusehen
war es nicht dass der EGMR der Rspr der deutschen Gerichte
zustimmt und Einigkeit herrscht Der absolute Schutz von Art3
bleibt bewahrt und der Umfang des Beweisverbots ist nach wie
vor -wenn auch etwas weniger- ungeklaumlrt
C Ausleitungsteil
Anknuumlpfend an die anfangs aufgestellten Herausforderungen
und die Ausgangsproblematik dieser Arbeit laumlsst sich folgendes
sagen der EGMR hat neues Terrain betreten
Methodologisch bestand die Grenzerfahrung in der Erhaltung
des Rechtsschutzes fuumlr Gaumlfgen als Rechtssubjekt und Grund-
rechtstraumlger Die objektive Bewertung stellt sich bereits als her-
ausfordernd dar
Normativ war zu entscheiden ob die Androhung von Gewalt
unter Folter fiel und ob die Androhung vergleichbar mit brutalen
und gewaltsamen Vernehmungsmethoden war Die Herausfor-
derung bestand darin zu entscheiden ob dies nicht das ganze
Strafverfahren Gaumlfgens gefaumlhrdete und seine Verurteilung
Moralisch ist zu unterscheiden zwischen dem Unrechtsgehalt
der Tat und dem Unrechtsgehalt der Behandlung Strafe sollte
nicht dem Zweck der Vergeltung dienen Fuumlr die begangene Tat
wurde Gaumlfgen zu lebenslanger Haft verurteilt Seine Rechte als
Grundrechtstraumlger stehen ihm ebenso zu wie die Anspruumlche Ver-
letzungen geltend zu machen Die Grundsaumltze unseres Rechts-
staates wurden uumlber Jahrhunderte lang erarbeitet und erkaumlmpft
und sind gerade in Anbetracht unserer Historie unumstoumlszliglich
Der zu behandelnde Fall ist nicht nur von juristischer Schwie-
rig- und Spitzfindigkeit sondern auch von moralischer Unwei-
gerlich stellen wir die Uumlbereinstimmung unseres Rechts und un-
seres Rechtsempfindens in Frage Damit scheinen wir jedoch
nicht alleine zu sein denn auch die RichterInnen in Straszligburg
stehen vor dem Menschenwuumlrdedilemma zwischen Opfer und
67 Naumlher dazu Karsten Gaede Fairness als Teilhabe 2007 S810 ff
Taumlter Die Schwierigkeit in diesem besonderen Fall war es den
Taumlter einer Straftat als Opfer der Polizei und des Rechtsstaates
zu betrachten was auf den ersten Blick schon fast antagonistisch
wirkt Der schuldig gesprochene Gaumlfgen hat alle Rechtsmittel
auf deutscher und europaumlischer Ebene ergriffen Es faumlllt schwer
zuzugeben seine Penetranz und sein Kampf um das Recht auch
als bdquorechtensldquo zu bewerten In Rechtsfragen die der EGMR zum
ersten Mal anders interpretiert hat fragt man sich in diesem Zu-
sammenhang was uumlberhaupt Recht-sprechen bedeutet Somit er-
reicht der Fall nicht nur die Grenze des Strafrechts und des Oumlf-
fentlichen Rechts sondern auch der Rechtsphilosophie in der
die Trennung von Recht und Moral ein zentrales Thema dar-
stellt Es reicht hin bis zu der Frage ob es unrichtiges Recht
gesetzliches Unrecht gebe und was das bdquoRechtldquo uumlberhaupt sei68
bdquoWas rechtens sei (quid sit iuris) das ist was die Gesetze an einem
gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben kann
der Rechtsgelehrte noch wohl angeben aber ob das was sie wollten
auch recht sei und das allgemeine Kriterium woran man uumlberhaupt
Recht sowohl als Unrecht (istum et iniustum) erkennen koumlnne bleibt
(ihm) wohl verborgenhellipldquo
ndash Immanuel Kant
Der Fall Magnus Gaumlfgen bleibt in vielerlei Hinsicht
-juristisch sowie moralisch- grenzwertig
Die Autorin studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau im achten Semester Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus der Seminararbeit die im WS 201819 im Rahmen des trinationalen Eucor-Seminars ge-schrieben und verteidigt wurde Das Seminar wurde angebo-ten von Prof Dr Jestaedt (Freiburg) unter dem Namen bdquoRechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der Eu-ropaumlischen Grundrechtecharta und der Menschenrechtskon-ventionldquo Die Autorin ist seit 2014 Mitglied der Freilaw-Re-daktion und leitet seit 2017 die Chefredaktion Sie befindet sich derzeit in der Examensvorbereitung
68 Christian Fahl Angewandte Rechtsphilosophie ndash bdquoDarf der Staat folternldquo in
JR 2004 S 182 (185)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
40 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Der Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen
-
Samuel Hahn
A Einleitung
Es ist eine dem liberalen Gedankengut des 19 Jahrhun-
derts entstammende Idee dass der Mensch nicht nur Buumlr-
ger ist sondern der Staatsverband lediglich einen Teil der
Persoumlnlichkeit absorbiert Neben der oumlffentlichen Rolle als
Staatsbuumlrger existiert noch eine private Rolle in der sich
der Mensch ganz individuell ausleben kann Diese Privat-
heit sichert ein ungestoumlrtes Zu-sich-selbst-Verhalten der
Person ohne das ein Herausbilden einer authentischen
Identitaumlt unmoumlglich ist1 Nun hat jedoch der Staat haumlufig
ein Interesse daran in den privaten Bereich der Buumlrger
vorzudringen Gerade im Rahmen strafprozessualer Er-
mittlungen ist dies der Fall da Straftaumlter ihre Verfehlungen
selten publik machen sondern diese so weit wie moumlglich
vor der Oumlffentlichkeit verbergen Dem Staat bleibt bei der
Strafverfolgung also nichts anderes uumlbrig als die private
Sphaumlre seiner Buumlrger auszuforschen Waumlhrend dies fruuml-
her mehr oder minder offen in Form von Haus- und Perso-
nendurchsuchungen geschah ermoumlglicht die heutige
Technik heimliche Uumlberwachungsmaszlignahmen die es
dem Buumlrger unmoumlglich machen seine innersten Vorgaumlnge
in einer fuumlr ihn kontrollierbaren Sphaumlre zu bewahren Da
diese innersten Vorgaumlnge fuumlr eine autonome Charakter-
entwicklung unentbehrlich sind gebietet es die Men-
schenwuumlrde dass der Staat dem Buumlrger ein Herzstuumlck der
Privatheit einen Kernbereich der privaten Lebensgestal-
tung ganz selbst uumlberlaumlsst und ihn nicht staatlichen Inte-
ressen unterordnet Die vorliegende Arbeit widmet sich
der Entstehung dieser Rechtsfigur und dem Schutz der
sich aus ihr ergibt
I Terminologie
Das BVerfG an dessen Rechtsprechung sich diese Arbeit orien-
tiert hat hinsichtlich der Benennung des absolut geschuumltzten
Bereichs keine klare Nomenklatur entwickelt Es bezeichnet ihn
uneinheitlich als bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo2 bdquoIntim-
sphaumlreldquo3 bdquounantastbaren Bereich privater Lebensgestaltungldquo
4
bdquoabsolut geschuumltzten Kernbereich privater Lebensgestaltungldquo5
1 Roumlssler Der Wert des Privaten S 275 2 BVerfGE 6 S 55 (81) 3 BVerfGE 32 S 373 (379) 4 BVerfGE 27 S 1 (6) 5 BVerfGE 80 S 137 (153)
und bdquoKernbereich der Persoumlnlichkeitldquo6 Die Terminologie in
dieser Arbeit wird daher ebenso variieren Einzig auf die Ver-
wendung des Terminus der Intimsphaumlre wird verzichtet da es
unklar ist ob das BVerfG diese begriffliche Identitaumlt konsequent
aufrechterhaumllt7
II Untersuchungsgegenstand
Gegenstand dieser Arbeit ist anhand der Rechtsprechung des
BVerfG den Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
strafprozessualen Ermittlungsverfahren zu untersuchen Dabei
wird im Besonderen auf Widerspruumlche in den Entscheidungen
des Gerichts eingegangen und gepruumlft was diese fuumlr den Kern-
bereichsschutz bedeuten Die Untersuchung beschraumlnkt sich da-
bei auf den fuumlr die Strafverfolgung besonders bedeutungsvollen
Schutz vor Informationserhebung aus dem Kernbereich privater
Lebensgestaltung Aufgrund seiner engen Verbindung zur Men-
schenwuumlrdegarantie hat jeder Schutz vor staatlichen Maszlignah-
men eine gewisse Kernbereichsrelevanz Zum Zwecke einer
Analyse des reinen von anderen Grundrechten losgeloumlsten
Kernbereichsschutzes sollen in dieser Arbeit andere Konstella-
tionen mit Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung
wie der Schutz der Kommunikation mit zeugnisverweigerungs-
berechtigten Personen auszligen vor bleiben
III Gang der Untersuchung
Im Folgenden wird zuerst die Entwicklung der Kernbereichs-
rechtsprechung durch das BVerfG dargestellt und analysiert
Anhand der auftretenden Diskrepanzen wird anschlieszligend eine
moumlgliche Relativierung des Kernbereichsschutzes gepruumlft und
schlieszliglich wird die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
anhand seines juumlngsten Urteils neu interpretiert
B Entwicklung des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung durch das BVerfG
Der Gedanke eines Kernbereichs der Persoumlnlichkeit auf den der
Staat nicht zugreifen kann hat in der Rechtsprechung der deut-
schen Verfassungsgerichtsbarkeit lange Tradition8
6 BVerfGE 34 S 238 (245) 7 Dies bejahend Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
S 14 kritisch Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 256 8 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (161) Dammann Der Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung S 23
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 41
Bereits 1957 sprach das BVerfG in der sog Elfes-Entscheidung
erstmals von einer bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo die dem
einzelnen Buumlrger verfassungskraumlftig vorbehalten sei9 Es leitet
dies aus der Menschenwuumlrde ab Der Gesetzgeber darf die buumlr-
gerlichen Freiheitsrechte bei entsprechenden entgegenstehen-
den Interessen zwar einschraumlnken die Menschenwuumlrde aller-
dings ist unantastbar woraus folgt dass bdquoein letzter unantastba-
rer Bereich menschlicher Freiheit besteht der der Einwirkung
der gesamten oumlffentlichen Gewalt entzogen istldquo10
Diesen absolut geschuumltzten Bereich sah das BVerfG lange al-
lein in der nichtkommunikativen Sphaumlre11
Er war gekennzeich-
net durch Gedanken die der Buumlrger allein sich selbst anver-
trauen wollte ein forum internum in dem er bdquosich selbst besitztldquo
und zu dem bdquodie Umwelt keinen Zutritt hatldquo12
Ein Raum in
welchem die innere Daseinsbewaumlltigung die Auseinanderset-
zung mit sich selbst und die Rechenschaftsablegung gegenuumlber
sich selbst stattfinden13
Nach der damaligen Rechtsprechung
war der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung grundsaumltz-
lich nicht beruumlhrt sobald die Handlung einen Sozialbezug auf-
wies also die Persoumlnlichkeitssphaumlre eines anderen Menschen
beruumlhrte14
Damit waren auch intime zwischenmenschliche Be-
ziehungen vom absoluten Schutz der Persoumlnlichkeit ausge-
schlossen15
In seinem Tagebuchurteil16
relativierte das BVerfG dieses
harte Exklusionskriterium dahingehend dass nicht entscheidend
sei ob uumlberhaupt ein Sozialbezug bestehe sondern vielmehr
dessen bdquohoumlchstpersoumlnlicher Charakterldquo und bdquoin welcher Art und
Intensitaumlt aus sich heraus die Sphaumlre anderer und die Belange
der Gemeinschaft beruumlhrtldquo werden bdquoDer Mensch als Person
auch im Kernbereich seiner Persoumlnlichkeit verwirklicht sich
notwendig in sozialen Bezuumlgenldquo17
Zugleich schraumlnkt das Ge-
richt den Umfang des Schutzes dahingehend ein dass bdquoGesprauml-
che die Angaben uumlber begangene Straftaten enthalten [hellip] dem
Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Le-
bensgestaltungldquo zuzuordnen und deshalb auch nicht von dessen
absolutem Schutz erfasst sind18
C Urteil groszliger Lauschangriff
Zwar hatte das BVerfG in den vorangegangenen Entscheidun-
gen seine Rechtsprechung zu einem absolut geschuumltzten Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit stetig fortgefuumlhrt einen staatlichen
Eingriff in denselben jedoch nie bejaht Die Entscheidung fiel
stets auszligerhalb des Kernbereichs naumlmlich im Bereich der Ab-
waumlgung zwischen Individualschutz und Gemeinwohlinteresse
nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes19
Dies aumln-
derte sich im Urteil zum groszligen Lauschangriff20
dem in der
9 BVerfGE 6 S 32 (41) 10 BVerfGE 6 S 32 (41) 11 BVerfGE 27 S 1 (6) BVerfGE 33 S 367 (377) 12 BVerfGE 27 S 1 (6) 13 Warntjen Heimliche Zwangsmaszlignahmen und der Kernbereich S 54 14 BverfGE 6 S 389 (433) 15 Benda Gefaumlhrdungen der Menschenwuumlrde S35 16 BVerfGE 80 S 367 17 BVerfGE 80 S 367 (374) 18 BVerfGE 80 S 367 (374) 19 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (14) Hervorhebung
hier
Entwicklung der Kernbereichsrechtsprechung besondere Be-
deutung zukommt21
Erstmals stellte das Gericht eine Verlet-
zung des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit fest22
Es skizziert
sorgfaumlltig und wesentlich detaillierter als in fruumlheren Entschei-
dungen sein Kernbereichskonzept entwickelt Schutzvorkehrun-
gen und zeigt Konsequenzen eines Eingriffs auf
I Bestimmung des Kernbereichs
Entscheidend fuumlr eine Einbeziehung des Sachverhalts in den
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist das Kriterium der
Houmlchstpersoumlnlichkeit23
Gespraumlche und Aumluszligerungen sind dann
vom Kernbereich erfasst wenn es um bdquoausschlieszliglich innere
Eindruumlcke und Gefuumlhleldquo geht der bdquoBereich des Houmlchstpersoumlnli-
chenldquo betroffen ist und ein bdquoBezug des konkreten Gespraumlchs
zum Persoumlnlichkeitskernldquo nicht fehlt24
Konsequent nimmt das
Gericht eine Kernbereichsverletzung auch bei umfassenden
Uumlberwachungen an deren Ergebnisse bdquozur Grundlage eines Per-
soumlnlichkeitsprofils werden koumlnnenldquo25
Auch hinsichtlich des
Straftatenbezugs lockerte das Gericht seine Exklusionskriterien
Waumlhrend das entscheidungstragende Votum im Tagebuchbe-
schluss bereits einen mittelbaren Straftatenbezug genuumlgen lieszlig
um eine Kernbereichsrelevanz zu verneinen26
scheint sich der
Senat im Urteil zum groszligen Lauschangriff dem abweichenden
Votum des Tagebuchbeschlusses27
anzuschlieszligen28
bdquoAuf-
zeichnungen oder Aumluszligerungen im Zwiegespraumlch die zum Bei-
spiel ausschlieszliglich innere Eindruumlcke und Gefuumlhle wiedergeben
und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten gewinnen
nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug dass sie Ursa-
chen oder Beweggruumlnde eines strafbaren Verhaltens freizulegen
vermoumlgenldquo29
Das heiszligt lediglich Aumluszligerungen mit unmittelbarem Bezug zu
einer geplanten oder begangenen Tat sind nicht vom Kernbe-
reich erfasst30
Nicht beruumlhrt sei der Kernbereich allerdings
wenn der Betroffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssach-
verhalts selbst keinen Wert lege wobei nicht jede Kundgabe an
einen anderen Menschen auf das Fehlen eines Geheimhaltungs-
willen schlieszligen lasse es kaumlme vielmehr auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation an31
II Schutz des Kernbereichs
Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist unantastbar
und jeglichem staatlichen Zugriff entzogen Die inhaltsbezo-
gene Kernbereichsdefinition des BVerfG schafft das Dilemma
dass Strafverfolgungsbehoumlrden vor der Uumlberwachung gar nicht
wissen koumlnnen ob der Kernbereich des Uumlberwachten betroffen
ist Erst durch die Spaumlhmaszlignahme selbst laumlsst sich anhand des
20 BVerfGE 109 S 279 21 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (13) bdquogroszliges Urteilldquo 22 BVerfGE 109 S 279 (311) 23 BVerfGE 109 S 279 (313 320) 24 BVerfGE 109 S 279 (319 320) 25 BVerfGE 109 S 279 (323) 26 BVerfGE 80 S 367 (377) 27 BVerfGE 80 S 367 (381) 28 So auch SK-StPOWolter sect 100c Rn 60 29 BVerfGE 109 S 279 (319) 30 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 43 31 BVerfGE 109 S 279 (319)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
42 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Inhalts der Aumluszligerung oder Aufzeichnung das Vorliegen einer
Kernbereichsrelevanz feststellen Dann aber wurden die houmlchst-
persoumlnlichen Informationen bereits von den Behoumlrden wahrge-
nommen Das BVerfG stellt deswegen folgendes fest bdquoDie
Uumlberwachung muss in Situationen von vornherein unterbleiben
in denen Anhaltspunkte bestehen dass die Menschenwuumlrde
durch die Maszlignahme verletzt wirdldquo32
Damit loumlst das BVerfG das Dilemma dahingehend auf dass
die allein uumlber die Betroffenheit des Kernbereichs Gewissheit
verschaffende dabei aber zugleich denselben potentiell verlet-
zende Maszlignahme bereits dann unterbleiben muss wenn sie
wahrscheinlich den Kernbereich verletzen wuumlrde Zu vermuten
sei dies beispielsweise beim groszligen Lauschangriff auf Privat-
wohnungen oder wenn der Uumlberwachte mit Personen des
houmlchstpersoumlnlichen Vertrauens kommuniziere33
Diese Vermu-
tungswirkung kann jedoch widerlegt werden wenn Indikatoren
dafuumlr vorliegen dass der Kernbereich nicht betroffen ist34
Auch
dann darf lediglich bdquoeine fuumlr die Bewertung des Gespraumlchsin-
halts unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschen-
wuumlrde erforderliche erste Sichtungldquo durchgefuumlhrt werden bei
der groumlszligtmoumlgliche Zuruumlckhaltung geboten ist35
Diese Vorkehrungen koumlnnen letztendlich aber eine Erhebung
kernbereichsrelevanter Daten nicht ausschlieszligen sondern nur
das Risiko minimieren36
Deswegen fuumlhrt das BVerfG weiter
aus bdquoFuumlhrt die akustische Wohnraumuumlberwachung im Uumlbrigen
unerwartet zur Erhebung von absolut geschuumltzten Informatio-
nen muss sie abgebrochen werden und die Aufzeichnungen
muumlssen geloumlscht werden jede Verwendung solcher im Rahmen
der Strafverfolgung erhobener absolut geschuumltzter Daten ist aus-
geschlossenldquo37
Das Verwertungsverbot kernbereichsrelevanter
Daten erstreckt sich damit nicht nur auf die Verwendung als Be-
weismittel im Hauptverfahren sondern auch auf die Verwen-
dung als Spurenansatz fuumlr weitere Ermittlungen38
Dieses zweistufige Schutzkonzept der Vermeidung der Erhe-
bung kernbereichsrelevanter Daten auf der ersten Ebene zusam-
men mit der Loumlschpflicht und des umfassenden Verwertungs-
verbots auf der zweiten Ebene wird vom BVerfG seither in staumln-
diger Rechtsprechung als notwendige Voraussetzung fuumlr den
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aufrecht erhalten39
D Widerspruumlche in der Kernbereichsrechtsprechung
des BVerfG
Umso mehr uumlberrascht es dass das BVerfG seither in mehreren
Urteilen Eingriffe in den Kernbereich faktisch gebilligt hat So
hat es beispielsweise die Telekommunikationsuumlberwachung
32 BVerfGE 109 S 279 (318) 33 BVerfGE 109 S 279 (321) 34 BVerfGE 109 S 279 (332) 35 BVerfGE 109 S 279 (332) 36 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (168) 37 BVerfGE 109 S 279 (318) 38 Ausdruumlcklich BVerfGE 109 S 279 (318) 39 BVerfGE 113 S 348 (391f) BVerfGE 120 S 247 (388f) BVerfGE 129
S 208 (245f) 40 So auch Reiszlig StV 2008 S 539 (542) 41 BVerfG NJW 2012 S 833 (837) 42 BVerfG NJW 2012 S 833 (837)
gem sect 104a StPO fuumlr verfassungsmaumlszligig erklaumlrt obwohl dort
keinerlei Prognose notwendig ist ob in der abzuhoumlrenden Kon-
versation kernbereichsrelevante Aumluszligerungen zu erwarten sind
Dies steht in direktem Widerspruch zum zweistufigen Schutz-
modell des BVerfG das Uumlberwachungsmaszlignahmen nur dann
zulaumlsst wenn eine Kernbereichsverletzung zumindest unwahr-
scheinlich ist40
In Faumlllen in denen es bdquopraktisch unvermeidbarldquo
ist dass Ermittlungsbehoumlrden kernbereichsrelevante Informati-
onen zur Kenntnis nehmen sei es bdquoverfassungsrechtlich nicht
gefordert den Zugriff wegen des Risikos einer Kernbereichs-
verletzung auf der Erhebungsebene von vornherein zu unterlas-
senldquo41
Selbst bei konkreten Anhaltspunkten dass der Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung von einer Maszlignahme beruumlhrt
werden wird hat diese nur bdquogrundsaumltzlichldquo zu unterbleiben42
Mit dieser Rechtsprechung schlieszligt das BVerfG an sein 2008
ergangenes Urteil zur Online-Durchsuchung43
an Feststellend
dass die Datenerhebung bei der Online-Durchsuchung aus tech-
nischen Gruumlnden automatisiert erfolgt und damit eine vorherige
Unterscheidung zwischen Daten mit und ohne Bezug zum Kern-
bereich quasi unmoumlglich ist forderte es bereits dort von den ent-
sprechenden gesetzlichen Ermaumlchtigungen lediglich bdquodarauf
hinzuwirken dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten
soweit wie informationstechnisch und ermittlungstechnisch
moumlglich unterbleibtldquo44
Es genuumlge dann bdquofuumlr hinreichenden Schutz in der Auswer-
tungsphase zu sorgenldquo und bdquodurch geeignete Verfahrensvor-
schriften sicherzustellen dass dann wenn Daten mit Bezug zum
Kernbereich privater Lebensgestaltung erhoben worden sind
die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung und ihre Auswirkun-
gen fuumlr die Persoumlnlichkeit und Entfaltung des Betroffenen so ge-
ring wie moumlglich bleibenldquo45
Damit wandeln sich so die zu-
naumlchst als Ergaumlnzung konzipierten Verfahrensvorschriften der
zweiten Stufe zum einzigen Stuumltzpfeiler des Kernbereichsschut-
zes46
Besonders irritiert dass das BVerfG sich sowohl im Urteil
zur Online-Durchsuchung47
als auch bei der Billigung des sect
100a Abs 448
auf seine Kernbereichsrechtsprechung im Abhoumlr-
Urteil bezieht Waumlhrend es damals aber noch Maszlignahmen fuumlr
unzulaumlssig erklaumlrte die wahrscheinlich in den Kernbereich ein-
dringen49
laumlsst es nun Uumlberwachungen zu obwohl eine Erfas-
sung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unvermeidbar
ist50
Diese Urteile stehen in einem starken Widerspruch sogar
gegenteilig zur fruumlheren Rechtsprechung sodass die Frage be-
rechtigt ist ob das BVerfG nicht laumlngst von dem Konzept eines
absolut geschuumltzten Kernbereichs der Persoumlnlichkeit abgewi-
chen ist
43 BVerfGE 120 S 274 44 BVerfGE 120 S 274 (338) 45 BVerfGE 120 S 274 (338) 46 Schwabenbauer Heimliche Eingriffsmaszlignahmen S 283 mit Verweis auf
BVerfG 113 S 348 (392) bdquoHinzu muumlssen Vorkehrungen kommen die si-
chern dass Kommunikationsinhalte des houmlchstpersoumlnlichen Bereichs nicht
gespeichert und verwertet werden duumlrfenldquo 47 BVerfGE 120 S 274 (338) 48 BVerfGE NJW 2012 S 833 (837) 49 BVerfGE 109 S 279 (318) 50 BVerfGE 120 S 274 (338)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 43
E Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Diesen Schluss ziehen viele Stimmen in der Literatur51
Teil-
weise wird vermutet dass dies eine Reaktion auf den nach der
Entscheidung zum groszligen Lauschangriff erhobenen Vorwurf
der Praxisuntauglichkeit darstellt52
Vor diesem Hintergrund
gibt es auch Unterstuumltzer fuumlr die vermeintliche Entscheidung des
BVerfG den Kernbereich nun doch der Abwaumlgung mit oumlffentli-
chen Interessen zugaumlnglich zu machen53
Im Folgenden soll nun gepruumlft werden ob das BVerfG seinen
vormals absoluten Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
tatsaumlchlich aufgegeben und zugunsten staatlicher Strafverfol-
gungsinteressen relativiert hat
I Prozessuale Relativierung infolge der Disponibilitaumlt
des Verwertungsverbots
Hauck54
meint eine Relativierung des Kernbereichsschutzes
darin zu erkennen dass der BGH es Beschuldigten eroumlffnet auf
das Verwertungsverbot von Beweismitteln mit Kernbereichsre-
levanz zu verzichten und ihnen so zur Zulaumlssigkeit zur verhel-
fen55
Er vertritt dies mit der Begruumlndung dass wenn sich der
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aus der Menschen-
wuumlrde herleite welche unstreitig indisponibel sei somit auch
der Kernbereichsschutz selbst indisponibel sein muumlsse56
Unab-
haumlngig davon ob die Menschenwuumlrde tatsaumlchlich indisponibel
ist57
schuumltzt der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
aber nicht unmittelbar die Menschenwuumlrde selbst sondern eine
sich aus der Menschenwuumlrde ergebende Sphaumlre der Privatheit
die dem Buumlrger auch bei uumlberragenden entgegenstehenden staat-
lichen Interessen zugestanden werden muss Was von diesem
Kern der Privatheit umfasst ist bestimmt sich anhand von zwei
Faktoren der Houmlchstpersoumlnlichkeit und dem Sozialbezug
Wenn mangels Sozialbezug bdquoallein [hellip][die] eigene Sphaumlre tan-
giert istldquo58
kann der Buumlrger Elemente seiner houmlchstpersoumlnli-
chen Sphaumlre beliebig aus dem geschuumltzten Kernbereich der Pri-
vatheit entlassen indem er sie freiwillig der Oumlffentlichkeit zu-
gaumlnglich macht Dieser Ansicht ist auch das BVerfG wenn es
ausfuumlhrt der Kernbereich sei nicht betroffen wenn der Be-
troffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssachverhalts selbst
keinen Wert lege59
Dieses Ergebnis ist auch dahingehend sinn-
voll dass Beweisverwertungsverbote regelmaumlszligig Schutzinteres-
sen des Beschuldigten dienen60
Es waumlre deshalb widerspruumlch-
lich dem Beschuldigten die Einbringung von entlastenden Be-
weisen mit dem Argument zu verwehren sie unterfielen seinem
Kernbereich privater Lebensgestaltung obwohl offensichtlich
kein Geheimhaltungswille besteht Insofern unterscheidet sich
51 Hoffmann-Riem JZ 2008 S 1009 (1021) Dammann Der Kernbereich der
privaten Lebensgestaltung S 51 Schwabenbauer Heimliche Zwangsmaszlig-
nahmen S 283 Sachs JuS 2012 S 374 (375) Baldus JZ 2008 S 218
(224) 52 Volkmann AnwBl 2009 S 118 (123) 53 So bspw Boumlckenfoumlrde JZ 2008 S 925 (932) 54 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 55 BGHSt 51 S 1 (4) bdquoAuch uumlber ein derartiges Verwertungsverbot kann der
Angeklagte disponieren soweit allein seine eigene Sphaumlre tangiert istldquo 56 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 57 So naumlmlich MKS-GGStarck Art 1 Rn 114 58 BGHSt 51 S 1 (4)
das disponible absolute Verwertungsverbot des Kernbereichs-
schutzes von dem indisponiblen absoluten Verwertungsverbot
des sect 163a Abs 3 S 2 welches seinen Grund darin hat dass
Aussagen die unter den dort genannten Umstaumlnden hervorge-
bracht worden sind auch in ihrem Beweiswert zweifelhaft er-
scheinen61
Eine Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung daran festzumachen
dass der BGH das absolute Beweisverwertungsverbot des Kern-
bereichsschutzes zur Disposition gestellt hat ist somit nicht ge-
rechtfertigt
II Materielle Relativierung durch funktionale
Auslegung des Kernbereichsbegriffs
Ein haumlufiger Vorwurf ist auch das BVerfG relativiere den abso-
luten Schutz des Kernbereichs indem es Aumluszligerungen die einen
unmittelbaren Bezug zu konkreten Straftaten haben vom
Schutzbereich ausschlieszligt62
Viele meinen darin zu erkennen
dass das Gericht beim Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlich-
keit entgegen seiner Proklamation63
doch auf Abwaumlgungsuumlber-
legungen zuruumlckgreift ndash nur eben nicht erst bei der tatsaumlchlichen
Anwendung des Kernbereichsschutzes sondern bereits bei der
Bestimmung der Reichweite desselben64
Absolut geschuumltzt
waumlre demnach nur was diesen Abwaumlgungsvorgang mit staatli-
chen Interessen erfolgreich durchlaufen hat65
Dieser Vorwurf
wird damit begruumlndet dass es anders nicht erklaumlrbar sei Aumluszlige-
rungen mit Straftatenbezug vom Schutzbereich auszunehmen
Fraglich ist ob dies zutrifft Das Kriterium das das BVerfG zur
Bestimmung des absolut geschuumltzten Kernbereichs des Privaten
heranzieht ist die Houmlchstpersoumlnlichkeit des Inhalts und in wel-
cher Art und Intensitaumlt er aus sich heraus die Belange der Ge-
meinschaft beruumlhrt66
Dabei ist klar dass bloszlige Erzaumlhlungen o-
der Prahlereien uumlber die Begehung von Straftaten sowie deren
Planung schon mangels Houmlchstpersoumlnlichkeit nicht in den
Schutzbereich fallen Relevant wird das Ausschlusskriterium
des Straftatenbezugs erst bei Aumluszligerungen houmlchstpersoumlnlicher
Art beispielsweise dem vielzitierten Mordgestaumlndnis unter Ehe-
leuten67
Eine Straftat selbst kann weil sie gegen Regeln ver-
stoumlszligt die fuumlr ein gemeinsames Zusammenleben in einer Gesell-
schaft unerlaumlsslich sind niemals ein privater Akt sein68
Da je-
der Buumlrger der Gesellschaft die Einhaltung dieser Normen
schuldet beruumlhren Aussagen bezuumlglich der Nichteinhaltung der
strafrechtlichen Verbote stets die Belange der Gemeinschaft
Somit haben Aussagen mit Straftatenbezug auch immer einen
Sozialbezug und sind damit nie nur houmlchstpersoumlnlich Das
BVerfG schlieszligt jedoch nicht (mehr) alle Aumluszligerung mit sozial-
bezogenem Inhalt kategorisch vom Schutz des Kernbereichs
59 BVerfG 109 S 279 (318) 60 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 492 61 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 491 62 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 51 63 BVerfG 109 S 279 (314) 64 Baldus JZ 2008 S 218 (224) Lindemann JR 2006 S 191 (198) LR-
StPOHauck sect 100a Rn 138 65 Baldus JZ 2008 S 218 (224) 66 BVerfGE 109 S 279 (314) 67 Meyer-GroszlignerSchmidt sect 100c Rn 16 68 Vgl LR-StPOHauck sect 100a Rn 151 auch Rogall FS-Fezer S 61 (67)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
44 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
aus er differenziert nach Art und Intensitaumlt Ebendieser Diffe-
renzierung ist es geschuldet wenn es feststellt dass Aumluszligerun-
gen die bdquoUrsachen und Beweggruumlnde eines strafbaren Verhal-
tens freizulegen vermoumlgenldquo69
trotz Straftatenbezugs vom Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit erfasst sind
Insofern findet tatsaumlchlich eine Abwaumlgung statt jedoch nicht
in der Art dass aufgrund des Strafverfolgungsinteresses Aumluszlige-
rungen die zur Aufklaumlrung von Straftaten fuumlhren koumlnnen vom
absoluten Kernbereich ausgeschlossen sind sondern schlicht
ob eine Aumluszligerung der houmlchstpersoumlnlichen Privatsphaumlre zuzu-
rechnen ist oder nicht Dies bemisst sich auf der einen Seite am
selbstreflektierenden Charakter der Aumluszligerung also in welchem
Maszlig sie bdquosich als individuelle Entfaltung im Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung darstelltldquo70
und auf der anderen Seite bdquoin
welcher Art und Intensitaumlt sie aus sich heraus die Belange der
Gemeinschaft beruumlhrtldquo71
also wie unmittelbar und konkret sie
Bezug auf den oumlffentlichen Akt der Straftatbegehung nimmt
Dass das BVerfG eine Abwaumlgung mit dem Strafverfolgungsin-
teresse nicht vornimmt zeigt sich auch daran dass die Schwere
der konkreten Straftat auf die sich die Aumluszligerung bezieht fuumlr den
Straftatenbezug keine Rolle spielt72
Es liegt in der Natur einer inhaltsbezogenen Kernbereichsde-
finition nicht operationalisierbar zu sein maszliggebend sind im-
mer die Besonderheiten des jeweiligen Falles73
Uumlber den Straf-
tatenbezug gibt das BVerfG den Entscheidungstraumlgern ein star-
kes Indiz fuumlr einen Sozialbezug an die Hand so wie das Selbst-
gespraumlch ein starkes Indiz fuumlr die Houmlchstpersoumlnlichkeit der Aumlu-
szligerungen ist Ob eine Aumluszligerung in den Kernbereich der Persoumln-
lichkeit faumlllt wird sich immer anhand des Zusammenspiels die-
ser beiden Faktoren bestimmen So koumlnnen selbst Aumluszligerungen
die sich unzweifelhaft unmittelbar auf eine Straftat beziehen und
damit Belange der Gemeinschaft betreffen aber in einem
Selbstgespraumlch getaumltigt wurden aufgrund des uumlberragend
houmlchstpersoumlnlichen Charakters des Selbstgespraumlchs unter den
absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
fallen74
In der Regel75
werden solche Aumluszligerungen aber die Be-
lange der Gemeinschaft in einer Art und Intensitaumlt beruumlhren
dass sie nicht dem Kernbereich zugerechnet werden koumlnnen
Hinter dieser Wertung steckt aber keine heimliche Abwaumlgung
mit Strafverfolgungsinteressen sondern lediglich eine konse-
quente Anwendung der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchst-
persoumlnlichkeit von Aumluszligerungen
III Widerspruumlchlichkeit des Gestattens von Eingriffen
in den absolut geschuumltzten Bereich
Es stellt sich also die Frage wie es mit dem absoluten Schutz
des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit zusammenpasst dass das
BVerfG in seinen juumlngeren Entscheidungen Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen auch dann zulieszlig wenn Eingriffe in den Kernbereich
69 BVerfGE 109 S 279 (319) 70 BVerfGE 109 S 279 (314) 71 BVerfGE 109 S 279 (314) 72 Vgl BVerfGE 109 S 279 (319 343) das die Schwere der Tat als nur fuumlr
die Verhaumlltnismaumlszligigkeit relevant betrachtet siehe auch Schwabenbauer
Heimliche Grundrechtseingriffe Fn 470 73 BVerfGE 109 S 279 (314) 74 Vgl BGHSt 50 S 206 (213)
praktisch unvermeidbar waren Zwar werden die Konsequenzen
dieser Eingriffe die kernbereichsrelevanten Daten geloumlscht und
nicht weiter verwertet dies aumlndert jedoch nichts daran bdquodass
stets ein Eingriff in diesen Kernbereich zunaumlchst hingenommen
wirdldquo wie sich bereits in der noch sehr kernbereichsschutz-
freundlichen Entscheidung zum groszligen Lauschangriff die Rich-
terinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt in einer abweichen-
den Meinung aumluszligerten76
Wie kann es also sein dass das
BVerfG in einem Satz den absolut geschuumltzten Kernbereich pri-
vater Lebensgestaltung proklamiert der jedem staatlichen Ein-
griff entzogen ist und im naumlchsten Satz Eingriffe in diesen
Kernbereich ausdruumlcklich zulaumlsst wenn sie nicht vermeidbar
sind
1 Exkurs Demontierung der Unantastbarkeit der
Menschenwuumlrde
Dieser augenscheinliche Widerspruch in der Rechtsprechung
des BVerfG hat mehr Sprengkraft als es auf den ersten Blick
scheint Manche folgern aus den Diskrepanzen dass das
BVerfG offensichtlich nicht willens sei den Kernbereich der
Persoumlnlichkeit tatsaumlchlich absolut zu schuumltzen77
Andere jedoch
gehen noch weiter und argumentieren dass wenn sich der aus
der Menschenwuumlrde herleitende Kernbereich privater Lebens-
gestaltung als abwaumlgungs- und relativierungsoffen erweise
auch der Absolutheitsanspruch der Menschenwuumlrdegarantie aus
Art 1 Abs 1 GG selbst in Zweifel zu ziehen sei78
Das BVerfG
sei bei dem Versuch die Wuumlrdegarantie in konkreten grund-
rechtlichen Problemlagen nutzbar zu machen gescheitert79
Die
Folge daraus sei dass es keine absolut geschuumltzten Rechtsguumlter
geben koumlnne nicht einmal im Bereich der Menschenwuumlrde80
Anhand der Rechtsprechung zum Kernbereichsschutz soll die
Menschenwuumlrdegarantie insgesamt gegenuumlber Abwaumlgungen mit
staatlichen Sicherheits- bzw Strafverfolgungsinteressen geoumlff-
net werden Wenn dies aber zutrifft was bedeutet dies fuumlr die
verbotenen Vernehmungsmethoden aus sect 136a StPO Fuumlr das
Folterverbot Hat das BVerfG tatsaumlchlich klammheimlich diese
Buumlchse der Pandora geoumlffnet
a) Menschenwuumlrde als Achtungsgebot
Den obigen Uumlberlegungen liegt die Vorstellung zugrunde dass
jede staatliche Wahrnehmung von Informationen die dem Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit zuzurechnen sind eine Menschen-
wuumlrdeverletzung darstellt Poscher bietet eine andere Interpre-
tation der Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung Fuumlr ihn wurzeln die oben gezeigten teil-
weise dramatischen Konsequenzen die ein Teil der Literatur aus
der Kernbereichsrechtsprechung zieht in einem tiefer liegenden
Missverstaumlndnis des Menschenwuumlrdeschutzes dass sich auch in
der Verraumlumlichung des Kernbereichsschutzes zeige81
Die
75 BT-Drucksache 154533 S 14 76 BVerfG 109 S 279 (383) 77 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 265 78 So Baldus JZ 2008 S 218 (224) 79 Baldus JZ 2008 S 218 (225) 80 MaunzDuumlrig-GGHerdegen Art 1 Rn 50 Rogall FS-Fezer S 61 (86) 81 Poscher JZ 2009 S 269 (274)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 45
Menschenwuumlrde sei aber kein ideeller Raum der durch einen
Eingriff in den Kernbereich privater Lebensfuumlhrung verletzt
werden koumlnne so wie ein Eindringen in die Wohnung das Recht
aus Art 13 Abs 1 GG verletze Vielmehr sei der Satz aus Art 1
Abs 1 GG woumlrtlich gemeint bdquoDie Wuumlrde des Menschen ist un-
antastbarldquo ist demnach keine Forderung sondern eine Feststel-
lung Der Staat koumlnne die Wuumlrde des Menschen nie verletzen
verletzbar sei lediglich der Achtungsanspruch der sich aus ihr
ergibt82
Dieser Achtungsanspruch wuumlrde aber nicht bereits
dadurch verletzt dass der Staat in bestimmte Freiheitsraumlume
eindringe im Extremfall koumlnne der Staat einen Angreifer sogar
toumlten ohne seine Wuumlrde zu verletzen indem er ihn zumindest
als einen Feind achte83
Der aus der Menschenwuumlrde flieszligende
Achtungsanspruch sei erst dann verletzt wenn in der Rechtsver-
letzung gerade eine Missachtung der Wuumlrde zum Ausdruck
komme so beispielsweise bei der Folter wo die Verletzung der
koumlrperlichen Unversehrtheit gerade darauf gerichtet ist die ver-
nuumlnftige Willensbildung und damit das zu negieren was den
Menschen als Gattung auszeichnet Poscher macht damit die In-
tention des Staates zum wesentlichen Kriterium der Verletzung
der Wuumlrdegarantie aus Art 1 Abs 1 GG Wenn ein Polizist auf
Streife zufaumlllig aufgrund eines geoumlffneten Fensters intime De-
tails wahrnehme liege darin keine Menschenwuumlrdeverletzung
und auch nicht wenn Beamten bei der Durchsuchung der Woh-
nung eines Drogenhaumlndlers in einer Schublade auf intime Pho-
tographien desselben stoszligen84
Eine Verletzung des Achtungs-
anspruchs bestehe erst dann wenn der Staat (gezielt) auf den
Kernbereich zugreift um Daten aus dem Kernbereich fuumlr seine
Zwecke zu nutzen denn damit zeige er dass er alle Bereiche der
Persoumlnlichkeit instrumentalisiert und seinen Zwecken unterord-
net85
Die Achtung der Menschenwuumlrde verlange demnach dass
die nicht-intendierte Erfassung von kernbereichsrelevanten Da-
ten so weit als moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen
erfolgende nicht-intendierte Kenntnisnahmen umgehend unter-
brochen werden anfallende Kernbereichsdaten sofort vernichtet
und besonders in keiner Weise verwendet werden
b) Zwischenergebnis
Mit der Ruumlckbesinnung auf die Menschenwuumlrdegarantie als
Achtungsanspruch laumlsst sich der Widerspruch in der Kernbe-
reichsrechtsprechung des BVerfG zumindest insoweit erklaumlren
als dass er nicht mehr als Beweis fuumlr die offizielle Aufgabe des
Absolutheitsanspruches der Menschenwuumlrdegarantie angefuumlhrt
werden kann Das Konzept des Gerichts beruhe demnach nicht
auf einer relativierenden Abwaumlgung der Menschenwuumlrde gegen
staatliche Sicherheitsinteressen sondern auf einem Urteil uumlber
das was der aus der Menschenwuumlrde folgende Achtungsan-
spruch gegenuumlber nicht-intendierten Folgen staatlichen Han-
delns gebietet86
2 Kernbereich der Persoumlnlichkeit als
82 Poscher JZ 2009 S 269 (274) auch BVerfGE 96 S 375 (399) 83 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 84 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 85 Poscher JZ 2009 S 269 (275)
Achtungsgebot
Den moderateren Vorwuumlrfen das BVerfG halte unabhaumlngig da-
von ob darin eine Relativierung des Absolutheitsanspruches der
Menschenwuumlrdegarantie zu sehen ist oder nicht zumindest sei-
nen absoluten Schutz des Kernbereichs nicht konsequent durch
schafft diese Interpretation jedoch noch keine Abhilfe Poscher
geht indessen noch einen Schritt weiter indem er das Achtungs-
gebot der Menschenwuumlrde auf den Kernbereich der Persoumlnlich-
keit uumlbertraumlgt
bdquoDer aus der Menschenwuumlrdegarantie abgeleitete Kernbe-
reichsschutz gilt nicht der Abdichtung eines physischen oder
ideellen Raums sondern der Achtung vor bestimmten Lebens-
aumluszligerungen von hoher Relevanz fuumlr die psychologische und so-
ziale Integritaumlt eines Grundrechtstraumlgers in welchen Raumlumen
auch immer sie sich ereignenldquo87
Diese Theorie die in der Literatur als Konstruktion kritisiert
wurde88
im Hinterkopf behaltend soll im Folgenden ein Blick
in die aktuellste Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung geworfen werden
F Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016
Am 20 April 2016 entschied das BVerfG89
anlaumlsslich einer
Verfassungsbeschwerde dass die Ermaumlchtigung des Bundeskri-
minalamts zum Einsatz von heimlichen Uumlberwachungsmaszlignah-
men zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus
zwar im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar ist die der-
zeitige Ausgestaltung von Befugnissen aber in verschiedener
Hinsicht dem Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatz nicht genuumlgt Teil
des Urteils waren dabei die Ausfuumlhrungen zu den verfassungs-
rechtlich vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen fuumlr den Kern-
bereich privater Lebensgestaltung Diese Ausfuumlhrungen sollen
nun daraufhin analysiert werden ob sie neue Erkenntnisse zu
den augenscheinlichen Diskrepanzen in der Kernbereichsrecht-
sprechung des BVerfG bieten koumlnnen
I Untermauerung der Uumlberlegungen zur Exklusion
des Straftatenbezugs
In den obigen Uumlberlegungen zur Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung wurde
der Versuch unternommen zu erlaumlutern warum dieses Krite-
rium kein Beweis fuumlr die Relativierung des absoluten Schutz des
Kernbereichs ist sondern lediglich die konsequente Anwendung
der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchstpersoumlnlichkeit von Aumlu-
szligerungen Demnach koumlnnen auch Aumluszligerungen mit konkretem
Straftatenbezug in den Kernbereich der Persoumlnlichkeit fallen
wenn die Elemente der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Gewissen und der Selbstreflexion die fuumlr eine individuelle Ent-
faltung unerlaumlsslich sind den Gesamtinhalt der Aumluszligerung stark
genug praumlgen Nach dem BGH der ein Selbstgespraumlch trotz
konkretem Straftatenbezug zum Kernbereich der Persoumlnlichkeit
86 Poscher JZ 2009 S 269 (276) 87 Poscher JZ 2009 S 269 (276) Hervorhebung hier 88 So Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270 89 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 -
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
46 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
zaumlhlte bestaumltigt nun auch das BVerfG in seiner juumlngsten Ent-
scheidung diese Interpretation indem es in aller Deutlichkeit
ausfuumlhrt
bdquoAuch koumlnnen trotz Straftatenbezugs Situationen in denen
Einzelnen gerade ermoumlglicht werden soll ein Fehlverhalten ein-
zugestehen oder sich auf dessen Folgen einzurichten wie
Beichtgespraumlche oder vertrauliche Gespraumlche mit einem Psy-
chotherapeuten oder einem Strafverteidiger der houmlchstpersoumlnli-
chen Privatsphaumlre unterfallen die dem Staat absolut entzogen
istldquo90
Damit laumlsst das BVerfG nun auch Aumluszligerungen mit unmittel-
baren Bezug zu konkreten Straftaten in den Kernbereich privater
Lebensgestaltung fallen Bei der in fruumlheren Entscheidungen91
noch so kategorisch anmutenden Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung han-
delt es sich somit um eine Vermutung die ihre Ausnahme in
Aumluszligerungen findet die in besonders hohem Maszlige der individu-
ellen Reflektion und Selbstentfaltung dienen und damit den So-
zialbezug des straftatbezogenen Inhalts uumlberwiegen
II Bestaumltigung des Achtungsgebots der
Menschenwuumlrde
Seit das BVerfG Uumlberwachungsmaszlignahmen zulieszlig obwohl
eine Erfassung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unver-
meidbar war musste es viel Kritik einstecken Der schaumlrfste
Vorwurf war mit der Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs auch die Menschenwuumlrde selbst Abwaumlgungsuumlber-
legungen zugaumlnglich zu machen Vermutlich um diesen Ten-
denzen ein Ende zu setzen stellte das Gericht in seinem neuen
Urteil klar
bdquoDer Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist
strikt und darf nicht durch Abwaumlgung mit den Sicherheitsinte-
ressen nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes re-
lativiert werden [hellip] Dies bedeutet jedoch nicht dass jede tat-
saumlchliche Erfassung von houmlchstpersoumlnlichen Informationen stets
einen Verfassungsverstoszlig oder eine Menschenwuumlrdeverletzung
begruumlndetldquo92
Damit scheint das Gericht Poschers Interpretation der Men-
schenwuumlrdegarantie als Achtungsanspruch zu bestaumltigen Indem
es feststellt dass zum Schutz des Kernbereichs Vorkehrungen
zu treffen sind bdquodie eine unbeabsichtigte Miterfassung von
Kernbereichsinformationen nach Moumlglichkeit ausschlieszligenldquo93
orientiert es sich nicht nur stark an der Formulierung Po-
schers94
sondern erwaumlhnt uumlberhaupt erstmals das Kriterium der
90 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
122 91 BVerfGE 80 S 367 (374) BVerfGE 109 S 279 (319) 92 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 93 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
126 Hervorhebung hier 94 Poscher JZ 2009 S 269 (275) bdquo[hellip] dass das nicht-intendierte Eindringen
[in den Kernbereich] soweit als moumlglich vermieden wirdldquo 95 Kant Die Metaphysik der Sitten Teil 2 sect 38 96 BVerfGE 109 S 279 (313)
staatlichen Intention im Zusammenhang mit der Kernbereichs-
rechtsprechung und laumlsst damit den Schluss auf eine sich auf das
Kantlsquosche Instrumentalisierungsverbot95
beziehende Interpreta-
tion der Menschenwuumlrde zu Dies ist insoweit wenig uumlberra-
schend da das BVerfG bereits im Abhoumlrurteil von einem abso-
lut geschuumltzten Achtungsanspruch der Menschenwuumlrde
sprach96
Ausdruumlcklich bdquoDie akustische Wohnraumuumlberwa-
chung zu Strafverfolgungszwecken verstoumlszligt dann gegen die
Menschenwuumlrde wenn der Kernbereich privater Lebensgestal-
tung nicht respektiert wirdldquo97
III Bestaumltigung des Achtungsgebots des
Kernbereichs
Erstaunlich am juumlngsten Urteil des BVerfG zum Kernbereichs-
schutz ist dass es diesen Achtungsanspruch auf den Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung uumlbertraumlgt Absolut geschuumltzt ist
demnach nicht der Kernbereich selbst sondern das Achtungsge-
bot des Kernbereichs Wie bei der Menschenwuumlrde liegt dem-
nach nur dann eine Verletzung des Kernbereichs bzw des Ach-
tungsgebots desselben vor wenn der Kernbereich missachtet
wird also der Staat bewusst auf den Kernbereich zugreift um
die houmlchstpersoumlnlichen Inhalte fuumlr Strafverfolgungszwecke zu
instrumentalisieren So schreibt das BVerfG
bdquoDer Kernbereich privater Lebensgestaltung beansprucht ge-
genuumlber allen Uumlberwachungsmaszlignahmen Beachtungldquo98
und kurz darauf noch deutlicher
bdquoDie Verfassung verlangt [hellip] fuumlr die Ausgestaltung der
Uumlberwachungsbefugnisse die Achtung des Kernbereichs als eine
strikte nicht frei durch Einzelfallerwaumlgungen uumlberwindbare
Grenzeldquo99
Ausdruumlcklich wird hier als Eingriffsgrenze staatlicher Uumlber-
wachungsmaszlignahmen nicht der Kernbereich privater Lebensge-
staltung selbst sondern die Achtung vor demselben angefuumlhrt
Uumlberraschend distanziert sich das BVerfG damit von einem
raumlumlich-gedachten Kernbereich der bei einem Eingriff verletzt
ist obwohl Formulierungen in fruumlheren Urteilen noch auf ein
solches Verstaumlndnis hindeuten100
Bei genauerer Betrachtung
jedoch taucht die Rhetorik von der Achtung des Kernbereichs
bereits in der Entscheidung zur akustischen Wohnraumuumlberwa-
chung auf Dort ist die Rede von einem bdquoverfassungsrechtlichen
Gebot unbedingter Achtung einer Sphaumlre des Buumlrgers fuumlr eine
ausschlieszliglich private ndash eine houmlchstpersoumlnliche ndash Entfal-
tungldquo101
Auch im Urteil zur Online-Durchsuchung spricht das
Gericht von einer bdquoverfassungsrechtlich gebotenen Achtung des
Kernbereichs privater Lebensgestaltungldquo102
97 BVerfGE 109 S 279 (314) 98 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
123 99 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 100 Bspw BVerfGE 120 S274 (338) bdquoDer Gesetzgeber hat [hellip] sicherzustel-
len dass [hellip] die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung [hellip] so gering wie
moumlglich [bleibt]ldquo ndash scheinbar Verletzung des Kernbereichs durch Eingriffe 101 BVerfGE 109 S 279 (313) 102 BVerfGE 120 S 274 (339)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 47
Es scheint als haumltte Poscher mit seiner Interpretation der
Menschenwuumlrde und der vorsichtigen Uumlbertragung dieses Kon-
zepts auf den Kernbereichsschutz ins Schwarze getroffen Legt
man dieses Verstaumlndnis uumlber die Urteile zum Kernbereichs-
schutz die bei einer Interpretation des Kernbereichs als absolut
geschuumltzten Raum so widerspruumlchlich erscheinen loumlsen sich die
Diskrepanzen in der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
in Luft auf Eine versehentliche Wahrnehmung kernbereichsre-
levanter Informationen stellt demnach noch keine Kernbereichs-
verletzung dar sondern erst wenn der Staat damit seine Miss-
achtung zum Ausdruck bringt Letztendlich ist diese Interpreta-
tion recht naheliegend denn wenn sich der Kernbereich der Per-
soumlnlichkeit aus der Menschenwuumlrde ergibt dann ist es logisch
dass der Staat zum Kernbereich das gleiche Verhaumlltnis hat wie
zur Menschenwuumlrde naumlmlich dass er sie zu achten hat
IV Konsequenz eines Achtungsgebots des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Die Frage die sich nun stellt ist Was verlangt das Achtungsge-
bot des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Genau dies ist
es was das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Kernbe-
reichsschutz herausgearbeitet hat und im oberen Teil der Arbeit
dargestellt wurde Die Schutzvorkehrungen sind damit keine
Kriterien die einen absoluten Schutz garantieren sollen sondern
das was das BVerfG fuumlr notwendig haumllt um die staatliche Ach-
tung vor dem Kernbereich der Persoumlnlichkeit auszudruumlcken
Dass er Eingriffe zulaumlsst obwohl die Erfassung kernbereichsre-
levanter Daten praktisch unvermeidbar ist basiert auf der Wer-
tung dass der Achtung des Kernbereichs genuumlge getan ist wenn
das nicht-intendierte (denn gezielt kernbereichsausforschende
Maszlignahmen waumlren zweifellos eine Missachtung) Eindringen
soweit wie moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen er-
folgende unbeabsichtigte Kenntnisnahmen umgehend zu unter-
brechen anfallende Kernbereichsdaten sofort zu vernichten und
in keiner Weise zu verwenden
Nun koumlnnte man diese Wertung mit dem Standpunkt anzwei-
feln dass die einzige Form mit der die Achtung des Kernbe-
reichs ausgedruumlckt werden kann darin besteht die Eingriffe die
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu unbeabsichtigten
Wahrnehmungen kernbereichsrelevanter Daten fuumlhren grund-
saumltzlich zu unterlassen103
Wenn der Staat Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen durchfuumlhrt obwohl eine Erfassung kernbereichsrele-
vanter Daten praktisch unvermeidbar ist ist dies nicht anders
als wenn gezielt auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung
zugegriffen wird schlieszliglich sind zwangslaumlufige Folgen einer
Handlung von der Handlungsintention stets miterfasst104
Letz-
teres Argument laumlsst sich zumindest dogmatisch dadurch ent-
kraumlften dass Uumlberwachungsbeamte regelmaumlszligig darauf hoffen
werden gerade keine kernbereichsrelevanten Daten zu erheben
um die Ergebnisse ihrer Uumlberwachung uumlberhaupt verwerten zu
koumlnnen Den Ansatz die Achtung vor dem Kernbereich gebiete
es Maszlignahmen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der
Kernbereichsberuumlhrung kategorisch zu unterlassen strikt durch-
103 So bspw SachsKrings JuS 2008 S 481 (485f) 104 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270
zusetzen wuumlrde bedeuten dass etliche Strafverfolgungsmaszlig-
nahmen wie beispielsweise die klassische Wohnungsdurchsu-
chung in Privatwohnungen ebenfalls unzulaumlssig waumlren Letzt-
endlich genuumlgt es jedoch nicht dem BVerfG vorzuwerfen seine
Kriterien wuumlrden dem Achtungsgebot des Kernbereichs der Per-
soumlnlichkeit nicht gerecht Es muumlsste vielmehr gezeigt werden
inwiefern ein Staat der alles praktisch und technisch Moumlgliche
unternimmt um den Kernbereich der Persoumlnlichkeit seiner Buumlr-
ger vor Wahrnehmungen zu schuumltzen der sich jede Verwertung
versagt und zudem eine unabhaumlngige Uumlberwachung einrichtet
trotz dieser Anstrengungen seine Missachtung zum Ausdruck
bringt105
G Fazit
Anhand der Interpretation des absolut geschuumltzten Kernbereichs
als Achtungsgebot ist es moumlglich die Kernbereichsrechtspre-
chung des BVerfG mit sich selbst in Einklang zu bringen Die
Aufloumlsung der oben diskutierten augenscheinlichen Widerspruuml-
che duumlrfte das Verstaumlndnis fuumlr die bundesverfassungsgerichtli-
che Judikatur foumlrdern und die zukuumlnftige Diskussion um den
Schutz des Kernbereichs erleichtern Ob der faktische Kernbe-
reichsschutz davon ebenso profitiert ist fraglich Die Verlage-
rung der Debatte auf die Wertung was die Achtung vor dem
Kernbereich gebiete laumlsst dem BVerfG bei seiner Rechtspre-
chung wesentlich mehr Wuumlrdigungsspielraum und gibt Kriti-
kern weniger handfeste Argumente an die Hand als eine raumlum-
lich-gedachte absolute Grenze Die Kernbereichsklausel des sect
100a Abs 4 StPO bleibt jedoch auch bei dieser Interpretation
mangelhaft denn wenn den Behoumlrden erlaubt wird auch bei An-
haltspunkten auf eine Beruumlhrung des Kernbereichs abzuhoumlren
kann von einer Achtung desselben keine Rede sein Unzweifel-
haft hat die Rechtsfigur des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
Vergleich zum Abhoumlrurteil an Wert verloren sie aumlhnelt nun eher
einer Konkretisierung der Menschenwuumlrdegarantie bei informa-
tionserhebenden Maszlignahmen Zwar ist die Nutzbarmachung der
Menschenwuumlrde in dieser Form eine begruumlszligenswerte Entwick-
lung die Idee eines tatsaumlchlich absolut geschuumltzten Bereichs
menschlicher Freiheit in den der Staat um keinen Preis eindrin-
gen kann war jedoch ein erfrischender Gegentrend zu der Ten-
denz Individualinteressen prinzipiell dem kollektiven Nutzen
unterzuordnen Die Scheu vor dieser Entwicklung wird es auch
sein was das BVerfG bis heute dazu bewegt in jedem Urteil
wieder die Unantastbarkeit des Kernbereichs zu proklamieren
und diese dem liberalen Verfassungsstaat entstammende Idee
des jedem staatlichen Zugriff entzogenen Freiheitsraumes am
Leben zu erhalten
Der Autor hat sein erstes juristisches Staatsexamen an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg 2018 abgelegt Des Weiteren war er seit 2015 am Max-Planck-Institut ebenfalls in Freiburg taumltig und war wissenschaftlicher Mitarbeit beim Lehrstuhl Prof Dr Perron (Frei-burg) bis er im April 2019 sein Referendariat am LG Freiburg begon-nen hat Die Arbeit entstand im Rahmen eines interdisziplinaumlren Se-minars zum Thema Cybercrime digitale Ermittlungen und Daten-schutz im WS 20162017
105 Poscher JZ 2008 S 269 (275)
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
48 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Buchrezension bdquoFamilienrechtldquo
-
Prof Dr Nina Dethloff
Tino Haupt
Das Familienrecht hat insbesondere in den letzten Jahren
stark im oumlffentlichen Interesse gestanden Beispielhaft ge-
nannt sei hier die sogenannte bdquoEhe fuumlr alleldquo Nach mona-
telangen emotional in der Oumlffentlichkeit gefuumlhrten Debat-
ten hat der Bundestag sich am 30 Juni 2017 mit einer
deutlichen Mehrheit fuumlr den Bundesratsentwurf und somit
die Eheoumlffnung entschlossen
Hervorzuheben sind auszligerdem die in letzter Zeit erfolgten
Aumlnderungen zur Bekaumlmpfung von Kinderehen und stetige
Entwicklungen im Abstammungsrecht
Gut geeignet fuumlr das Erlernen all dieser Gebiete ist das
Werk von Nina Dethloff zum Familienrecht
I Allgemeines zur Autorin und zum Lehrbuch
Nina Dethloff ist Professorin an der Universitaumlt Bonn und dort
Inhaberin des Lehrstuhls fuumlr Buumlrgerliches Recht Internationales
Privatrecht Rechtsvergleichung und Europaumlisches Privatrecht
Zuletzt war sie unter anderem Vorsitzende der Abteilung fuumlr
Familienrecht bei dem 72 Deutschen Juristentag in Leipzig
(Thema Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach
Trennung und Scheidung ndash Reformbedarf im Sorge- Umgangs-
und Unterhaltsrecht)
Das hier behandelte Lehrbuch zum Familienrecht wurde von
Guumlnther Beitzke begruumlndet und in der 26 und 27 Auflage von
Alexander Luumlderitz bearbeitet Mit der 28 Auflage wurde die
Bearbeitung von Nina Dethloff uumlbernommen Im Jahr 2018 ist
das Werk in der 32 Auflage im Verlag CH Beck erschienen
und ist fuumlr einen Preis von 3290 euro im Buchhandel erhaumlltlich
II Zum Inhalt
Die Autorin gliedert 548 Seiten Lehrbuchtext in eine Einleitung
sowie drei Kapitel und diese in insgesamt 17 Paragraphen Die
drei Kapitel des Werkes tragen die Titel bdquoEhe und Partner-
schaftldquo bdquoFamilieldquo und bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo
Vor dem Einstieg in die eigentliche Materie erlaumlutert die
Autorin in einer Einleitung von 25 Seiten die Hintergruumlnde des
Rechtsgebietes bdquoFamilienrechtldquo Deutlich wird hierbei die hohe
praktische Relevanz des Familienrechts aufgrund der enormen
Anzahl an familienrechtlichen Streitigkeiten Dargestellt wird
auszligerdem der Zusammenhang des Familienrechts mit dem
Verfassungsrecht sowie dem internationalen Recht Auch eine
Erlaumluterung der wichtigsten Reformgesetze und der elementaren
Begriffe erfolgt
Mit diesem Grundwissen ausgeruumlstet stellt die Autorin im 1
Kapitel (bdquoEhe und Partnerschaftldquo) den Gang der Ehe dar der mit
dem Verloumlbnis beginnt und haumlufig mit der Ehescheidung endet
Dargestellt wird auszligerdem die eingetragene Lebenspartner-
schaft (wobei diese mit der erfolgten Oumlffnung der Ehe erheblich
an Relevanz verloren hat) und die praktisch auszligerordentlich
relevante faktische Lebensgemeinschaft das heiszligt Lebensge-
meinschaften die ohne Eheschlieszligung oder Begruumlndung einer
Lebenspartnerschaft erfolgen Etwas zu kurz geraten hier die
Ausfuumlhrungen zu den vermoumlgensrechtlichen Anspruumlchen bei
Beendigung der Gemeinschaft Um der Bedeutung insbesondere
in Klausuren gerecht zu werden koumlnnte vor allem die
Darstellung des Bereicherungsrechts in diesem Zusammenhang
ausfuumlhrlicher erfolgen
Neben dem Eherecht ist das Verwandtschaftsrecht das zweite
groszlige Gebiet welches im familienrechtlichen Teil des BGB ge-
regelt ist Die Autorin behandelt diese Aspekte im 2 Kapitel
welches den Titel bdquoFamilieldquo traumlgt Uumlberzeugend ist hier das auch
immer wieder klausurrelevante Abstammungsrecht Neben der
Darstellung der Abstammung von der Mutter und dem Vater
werden auch kontrovers diskutierte Themen wie Leihmutter-
schaft und Babyklappen anschaulich und zum weiteren
Nachdenken anregend behandelt Die weiteren Ausfuumlhrungen
betreffen unter anderem den Unterhalt und die elterliche Sorge
aber auch die Thematik der Pflegefamilie und der Adoption
Abschlieszligend behandelt die Autorin in einem 3 Kapitel wel-
ches den Titel bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo traumlgt Fragestellungen die
im Zusammenhang mit Vormundschaft Rechtlicher Betreuung
und Pflegschaft entstehen
Im Anhang findet sich auszligerdem die Duumlsseldorfer Tabelle
mit Stand zum 112018 welche eine Richtlinie fuumlr den durch
den Barunterhaltspflichtigen an das Kind zu zahlenden Unter-
halt gibt
Hinsichtlich des inhaltlichen Aufbaus laumlsst sich feststellen dass
die einzelnen Paragraphen mit teils kurzen manchmal auch laumln-
geren Faumlllen eingelaumlutet werden die dann im Laufe der jeweili-
gen Darstellung geloumlst werden Das Buch erfuumlllt somit auch teil-
weise die Funktion von Fallbuumlchern und kann diese deshalb
ersetzen Hinzu kommen am Ende eines jeden Paragraphen
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen welche das gerade
Erlernte noch einmal abfragen und somit vertiefen Die
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 49
Loumlsungen zu diesen Fragen finden sich erst gesammelt am Ende
des Buches sodass die Motivation groumlszliger ist zunaumlchst einmal
selbst uumlber die Loumlsung nachzudenken anstatt sofort die Muster-
loumlsung nachzulesen Zudem finden sich immer wieder Angaben
zum relevanten Schrifttum
III Stellungnahme
Die Neubearbeitung des Lehrbuchs zum Familienrecht ist auch
in der 32 Auflage erfolgreich verlaufen
Alle relevanten Gesetzesaumlnderungen und die Entwicklungen
in der Rechtsprechung und der Literatur sind angemessen verar-
beitet Fuumlr eine schnelle Wiederholung des Familienrechts kurz
vor der Klausur eignet sich das Werk aufgrund des nicht gerade
geringen Umfangs nicht unbedingt Hier bieten sich kompaktere
Darstellungen zum Familienrecht an Gerade bei der Erstellung
von Haus- und Seminararbeiten sowie der tiefergehenden Vor-
bereitung auf die Klausur im Familienrecht etwa fuumlr das Erste
Juristische Staatsexamen oder den Schwerpunktbereich kommt
einem die ausfuumlhrliche Darstellung jedoch zugute Auszligerdem
kann durch die uumlbersichtliche Aufteilung in Kapitel und Para-
graphen schnell das Gesuchte gefunden werden Gerade fuumlr die
familienrechtlichen Klausuren im Studium kann somit eher als
bdquoSpezialwissenldquo Anzusehendes wie zB die Ausfuumlhrungen zur
Duumlsseldorfer Tabelle auch weggelassen werden
Erfreulich waumlre die Aufnahme eines Paragraphenverzeich-
nisses ndash dieses sucht man vergeblich Insbesondere bei Unklar-
heiten oder sonstigem Lesebedarf zu einer bestimmten Norm
erweist sich dieses als besonders hilfreich Unterstuumltzend bei der
Suche nach bestimmten Begriffen im Buch und deshalb auch
uumlberzeugend ist hingegen das umfangreiche und dennoch
anschaulich gestaltete Sachverzeichnis
Der Autor ist Wiss Mitarbeiter am Lehrstuhl fuumlr Deutsche und Europaumlische Rechtsgeschichte Kirchenrecht und Buumlrgerliches Recht (Prof Dr Anja Amend-Traut) an der Juristischen Fakultaumlt der Universitaumlt Wuumlrzburg sowie Wiss Mitarbeiter bei Freshfields Bruckhaus Deringer in der Praxisgruppe Globale Transaktionen in Frankfurt am Main
Schick Einfuumlhrung in die Logik Rezension Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 50
Buchrezension bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo
Drphil habil Alexander Aichele Dr phil Jakob Meier Prof Dr iur Joachim Renzikowski Sebas-
tian Simmert MA
-
von Stefan Schick
Wer sich als Jurist mit einem Buch zur Logik als wissenschaft-
licher Disziplin konfrontiert sieht stellt sich hierbei zunaumlchst die
Frage warum er sich mit dieser Materie die wohl auf den ersten
Blick der Mathematik zuzuordnen ist beschaumlftigen sollte Diese
Frage beantworten die Autoren selbst zu Beginn Wie jede Wis-
senschaft versucht die Rechtswissenschaft die Welt in ihrem Ge-
genstandsbereich (Recht) durch Aussagen zu analysieren Fuumlr
die Frage ob eine Aussage anwendbar ist und wie verschiedene
Aussagen in Beziehung zu setzen sind ist die Logik die ent-
scheidende Grunddisziplin Logik ist damit die Grundvorausset-
zung jeder sinnhaften Aussage und des informationsvermitteln-
den Kommunizierens
Die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo ist im Jahr
2015 im CHBeck Verlag Muumlnchen (Reihe bdquoJura kompaktldquo)
in Erstauflage erschienen Das vierkoumlpfige Autorenteam ist in-
terdisziplinaumlr wobei Prof Dr Joachim Renzikowski der den
Lehrstuhl fuumlr Strafrecht Rechtsphilosophie und Rechtstheorie
an der Martin-Luther-Universitaumlt Halle-Wittenberg innehat fuumlr
die spezifische juristische Fachkompetenz sorgt Die Abhand-
lung beruht auf einer gleichnamigen Vorlesung im Winterse-
mester 20092010 an der Martin-Luther Universitaumlt Halle-Wit-
tenberg
Die Abhandlung gliedert sich in fuumlnf groumlszligere Abschnitte Im
ersten dieser Abschnitte werden zunaumlchst die Grundbegriffe und
Grundmodelle der wissenschaftlichen Logik erlaumlutert insbeson-
dere wird der Begriff als Grundgegenstand der Logik naumlher aus-
geleuchtet Der zweite Abschnitt beschaumlftigt sich in der Folge
mit der Verbindung mehrerer Begriffe also der Aussage Dabei
werden die konstruktiven Grundvoraussetzungen sinnhafter
Aussagen erarbeitet darauf folgend verschiedene Arten von
Aussagen und besondere Auspraumlgungen solcher klassifiziert
Der dritte Abschnitt beschaumlftigt sich dann mit der Beziehung
mehrerer Aussagen zueinander Dabei geht es vor allem darum
vom Wahrheitsgehalt einer Aussage auf den Wahrheitsgehalt
anderer Aussagen zu schlieszligen Dies wird von den Autoren als
der Kernbereich der wissenschaftlichen Logik identifiziert Im
vierten Abschnitt geht es um die sog Deontische Logik Darun-
ter versteht man den spezifisch rechtswissenschaftlichen Be-
reich der Logik also das Verhaumlltnis von Handlungen und Nor-
men Im fuumlnften und letzten Abschnitt wird die Urteilsbegruumln-
dung des BGH im bekannten Jauchegruben-Fall unter logi-
schen Gesichtspunkten untersucht Hier schwingt auch deutliche
Kritik an der Vernachlaumlssigung der Logik als wissenschaftlicher
Disziplin im Bereich juristischer Methodenlehre mit Abge-
schlossen wird die Abhandlung dann mit einem formalen Uumlber-
blick
Grundsaumltzlich positiv faumlllt die Bemuumlhung der Autoren auf
die komplexe Materie der wissenschaftlichen Logik auch fuumlr
Neulinge auf diesem Gebiet anschaulich zu erklaumlren Schoumln sind
in diesem Zusammenhang auch die vielen juristischen Bei-
spiele Der Umfang der Darstellung ist mit 86 Seiten uumlberschau-
bar Jedoch waumlre es der Lesbarkeit in diesem Zusammenhang
zugutegekommen wenn fuumlr eine groumlszligere Schriftgroumlszlige einige
Seiten mehr in Kauf genommen worden waumlren
Zugegebenermaszligen handelt es sich bei der bdquoEinfuumlhrung in die
Logik und ihren Gebrauchldquo weder um eine Lektuumlre die fuumlr das
Studium unmittelbar weiterhilft noch um eine einfache Bettlek-
tuumlre Wer sich aber fuumlr Hintergruumlnde ndash insbesondere auch fach-
uumlbergreifend ndash interessiert und eine gewisse Freude am abstrak-
ten Denken mitbringt kann von dieser Grunddarstellung klar
profitieren Diese Freude am abstrakten Denken ist aber auch
notwendig so sind die Ausfuumlhrungen teilweise ndash trotz der ge-
lungenen Veranschaulichung ndash sehr komplex was aber selbst-
verstaumlndlich auch der komplexen Thematik geschuldet ist
Der Autor promoviert und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Muumlnchen
UN
SE
RE
ST
AN
DO
RT
E
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website | wwwschrade-partnerde
Seit 1976 betreuen wir Unternehmen und Unternehmer in allen Fragen des Wirtschaftsrechts Mit fuumlnf Standorten im suumldlichen Baden-Wuumlrttemberg und einem in Berlin sind rund 35 Rechtsanwaumlltinnen und Rechtsanwaumllte immer genau dort wo unsere Mandanten uns brauchen
bdquoWir geben der Wirtschaft Rechtldquo
Unser Credo praumlgt unsere taumlglichen Aufgaben Wir bieten ein breites Spektrum an Fachwissen und verfuumlgen uumlber einen groszligen Erfahrungsschatz in folgenden Kernkompetenzfeldern
- Gesellschaftsrecht - Handelsrecht - Unternehmenskauf (MampA) Unternehmensumstrukturierung - Arbeits- und Dienstvertragsrecht - Aktienrecht - Erbrecht und Unternehmensnachfolge - Sanierungs- und Restrukturierungsberatung Insolvenzrecht - Vergabe- und Kartellrecht - Prozessfuumlhrung Litigation - Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht - Recht des Gesundheitswesens
Wir arbeiten standortuumlbergreifend und interdisziplinaumlr Selbstverstaumlndlich werden neben den rechtlichen auch saumlmtliche steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Aspekte beruumlcksichtigt Deshalb pflegen wir eine enge Zusammenarbeit mit Steuerberatern und Wirtschaftspruumlfern Auszligerdem stehen unsere Beratungskonzepte immer in einem vernuumlnftigen finanziellen Verhaumlltnis zur Aufga-benstellung
Sie moumlchten uns besser kennenlernen Sprechen Sie uns gerne jederzeit an
BERLIN Georgenstraszlige 23 10117 Berlin Telefon +4930235024-0 Telefax +4930235024-99 berlinschrade-partnerde
LAHR Stefanienstraszlige 45 77933 Lahr Telefon +49782199039-30 Telefax +49782199039-59 lahrschrade-partnerde
TUTTLINGEN Bahnhofstraszlige 44 78532 Tuttlingen Telefon +497461965093-10 Telefax +497461965093-99 tuttlingenschrade-partnerde
FREIBURG Hermann-Herder-Straszlige 4 79104 Freiburg Telefon +49761389469-0 Telefax +49761389469-99 freiburgschrade-partnerde
VILLINGEN-SCHWENNINGEN Max-Planck-Straszlige 11 78052 Villingen-Schwenningen Telefon +49772120626-0 Telefax +49772120626-100 villingenschrade-partnerde
SINGEN Hegau-Tower Maggistraszlige 5 78224 Singen Telefon +49773159145-500 Telefax +49773159145-510 singenschrade-partnerde
Wer sind wir
FREILAW ist die studentisch-juristische Zeitschrift der Albert-Ludwigs-Universitaumlt
Freiburg und besteht als Projekt Freiburger Studierender bereits seit 2006 Die
Zeitschrift erscheint in drei bis vier Ausgaben jaumlhrlich online und teilweise auch
gedruckt Neben wissenschaftlichen Artikeln veroumlffentlichen wir auch solche die uumlber
das Fachliche hinausgehen und fuumlr Jurastudierende lesenswert sind In unseren
Ausgaben veroumlffentlichen wir daruumlber hinaus regelmaumlszligig Erfahrungsberichte uumlber
Auslandsaufenthalte sowie Interviews im Rahmen der Berufsperspektive fuumlr Juristen
Warum gerade Ihr Egal ob Ihr im ersten oder letzten Semester seid Ihr koumlnnt euch bei uns jederzeit in die
Redaktionsarbeit einbringen oder sogar eigene Artikel veroumlffentlichen
Was erwartet Euch Wir haben Aufgaben in vielen Bereichen von der Redaktionsmitarbeit der Pflege
unseres Internetauftritts bis hin zur Oumlffentlichkeitsarbeit uvm Euch erwartet eine
angenehme Arbeitsatmosphaumlre in einem netten und motivierten Team
Was erwarten wir
Kreative und motivierte Mitarbeiter die Interesse an der Weiterentwicklung des
Journals haben
Worauf wartet Ihr Kommt einfach zur naumlchsten Redaktionssitzung vorbei
Die Termine der Redaktionssitzung werden auf unserer
Homepage (wwwfreilawde) und auf unserer
Facebook-Seite (wwwfacebookcomfreilaw) bekanntgegeben
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
1
Von der Torah bis zur Knesset ndash Uumlber die Entwicklung des juumldischen
Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses und dessen Einfluss auf das
israelische Recht
-
Till Gawlyta
A Einleitung
Der Artikel beruht auf einer Seminararbeit mit dem Titel bdquoRechtsphilosophische Grundlagen der Menschenwuumlrde-diskussion - Die Menschenwuumlrde in Israel als Ausdruck europaumlischer Rechtsrezeption oder eigener religioumlser Tra-ditionldquo die im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher (Universitaumlt Freiburg) eingereicht wurde Be-handelt werden die Entwicklung der Menschenwuumlrdega-rantie in Israel und ihre Stellung innerhalb der israelischen Rechtsordnung Dazu erfolgt eine Darstellung der Genese des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses sowie wegweisender Urteile des obersten Gerichtshofs seit der Einfuumlhrung des Grundrechts auf Menschenwuumlrde im Jahr 1992 Der Arti-kel beleuchtet dabei einerseits die verbluumlffende Fort-schrittlichkeit des antiken juumldischen Menschenwuumlrdedis-kurses und andererseits das Ringen von religioumlsem und saumlkularem Wuumlrdeverstaumlndnis um die Vorherrschaft in der Gesetzgebung und Rechtsprechung Israels
B Die Entwicklung des juumldischen
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Der heutige Wortlaut fuumlr Menschenwuumlrde im Hebraumlischen
Kvod Harsquoadam ist erst seit der Verbreitung der Menschenwuumlrde
in europaumlischen Rechtsordnungen waumlhrend der zweiten Haumllfte
des 20 Jahrhunderts gelaumlufig den Ausgangspunkt fuumlr die Be-
zeichnung einer Wuumlrde des Menschen bildet im Judentum das
in der Bibel haumlufig vorkommende Wort Kavod das urspruumlnglich
mehrere Bedeutungen hatte zum einen bdquoWuumlrdeldquo und (soziale)
bdquoEhreldquo im Sinne eines gesellschaftlichen Status aumlhnlich der rouml-
mischen Dignitas zum anderen die Gegenwart Gottes1 Da jeder
Mensch nach dem in Genesis angelegten Verstaumlndnis ein Eben-
bild Gottes im Hebraumlischen Tzelem Elohim ist und durch jeden
Menschen Gott gegenwaumlrtig ist kommt auch jedem Menschen
Kavod zu2 Ein anderer vor allem in klassischen juumldischen
Rechtstexten gelaumlufiger Begriff fuumlr Wuumlrde ist Kvod Habriyot
der sich mit bdquoEhreWuumlrde der Menschenldquo uumlbersetzen laumlsst Die-
ser Begriff kann fuumlr einen dem Menschen innewohnenden Wert
1 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 2 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667f 3 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
135 4 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 669
stehen ist jedoch auch mit einer Wuumlrde im Sinne der Dignitas
konnotiert3 Der Begriff Kvod Habriyot ist im Plural formuliert
und beschreibt daher in weiten Teilen die Wuumlrde des Menschen
als integralen Teil eines Kollektivs4
I Das Wuumlrdeverstaumlndnis der Torah
Der erste und bedeutendste Teil der juumldischen Bibel ist die
Torah die aus den fuumlnf Buumlchern Mose besteht und dem Chris-
tentum als das Alte Testament bekannt ist Die Torah ist die aumll-
teste und bedeutendste schriftliche Quelle des Judentums und
stellt den Ausgangs- und Bezugspunkt saumlmtlicher folgender
Schriften des Judentums dar Die Torah enthaumllt Rechtstexte die
Halakhah die den aumlltesten Teil des kanonischen Rechts des Ju-
dentums bilden
1 Ebenbildlichkeit als Demokratisierung der Bindung
zu Gott
Vergleicht man das in Genesis angelegte Verstaumlndnis der Eben-
bildlichkeit Tzelem Elohim der Menschen mit Gott mit der zum
Zeitpunkt der Entstehung der fuumlnf Buumlcher Mose im Nahen Osten
vorherrschenden Vorstellung von der Bindung zwischen Gott-
heiten und Menschen erscheint das juumldische Verstaumlndnis als
sehr fortschrittlich In benachbarten Kulturen wie in Mesopota-
nien und Aumlgypten ging man davon aus dass lediglich der Herr-
scher sowie dessen Nachkommenschaft Ebenbilder und Kinder
des Goumlttlichen sein koumlnnen5 Das juumldische Verstaumlndnis das al-
len Menschen durch ihre Abstammung von Adam und Eva eine
Ebenbildlichkeit mit Gott zuspricht fuumlhrte somit zu einer De-
mokratisierung der Bindung zwischen dem Goumlttlichen und dem
Menschlichen6 Nicht nur die in benachbarten Kulturen den
Herrschern vorbehaltene Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
sondern auch der damit einhergehende Titel bdquoSohn Gottesldquo
wurde im Judentum der gesamten Bevoumllkerung uumlbertragen7
5 Y Lorberbaum Disempowered King ndash Monarchy in Classical Jewish Lit-
erature 2011 S 145f 6 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137 7 A Boumlckler Die Tora nach der Uumlbersetzung von Moses Mendelssohn 2014
Deuteronomium Kap 14 Vers 1
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 2
Auch wenn daraus noch kein normativer Anspruch folgte mar-
kiert der Gedanke des Tzelem Elohim die Geburt des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses im Judentum
Als Folge dieser Demokratisierung der Bindung zwischen
dem Menschen und dem Goumlttlichen konnten Herrschaftsanspruuml-
che in der juumldischen Gesellschaft nicht lediglich auf eine exklu-
sive Bindung der Herrschenden zu Gott gestuumltzt werden son-
dern es bedurfte weiterer Legitimation8 Der Anspruch dass ein
Herrscher daher auch ein gottgefaumllliges Handeln an den Tag le-
gen muss um sich seiner Stellung als wuumlrdig zu erweisen ist an
einem in der Torah formulierten Katalog von koumlniglichen bdquoHerr-
schafts- und Verhaltensregelnldquo9 abzulesen Aus diesen Vor-
schriften ergab sich fuumlr die Bevoumllkerung kein der modernen
Menschenwuumlrde entsprechender Anspruch auf Schutz vor staat-
licher Willkuumlr aber eine erste Beschraumlnkung koumlniglichen Han-
delns
2 Die Todesstrafe als Ausdruck eines extrinsischen
Werts des Menschen
Bevor sich der Talmud im Judentum durchsetzte und den Rege-
lungsgehalt der Torah ergaumlnzte war die Todesstrafe im alten Is-
rael wie auch in allen anderen Kulturen des Nahen Ostens eine
etablierte Praxis10 Als Grundlage des biblischen Strafrechts und
insbesondere der Todesstrafe im Judentum wird die Textstelle
angesehen in der es heiszligt bdquoWer Menschenblut vergieszligt dessen
Blut wird durch Menschen vergossen Denn Als Abbild Gottes
hat er den Menschen gemachtldquo11 Dies ist ein Ausdruck des fruuml-
hen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ndash der einem jeden Men-
schen innewohnenden Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
wurde ein universeller Wert beigemessen Es wurden keine Ab-
stufungen nach gesellschaftlichem Rang vorgenommen son-
dern jede Toumltungshandlung wurde grundsaumltzlich als gleich ver-
werflich angesehen auf die Person des Getoumlteten kam es zu-
naumlchst nicht an Gleichzeitig wurde der Grad der Verwerflich-
keit einer Toumltungshandlung houmlchstmoumlglich angesetzt da nur die
Anwendung der verwerflichen Handlung selbst auf den Taumlter als
adaumlquate Strafe angesehen wurde Die darin liegende Wertschaumlt-
zung der bdquoHeiligkeit des menschlichen Lebensldquo ist Ausdruck ei-
nes Wuumlrdeverstaumlndnisses das den Wert des Menschen durch
sein goumlttliches Element begruumlndet der Wert des Menschen ist
also nicht in- sondern extrinsisch12
3 Gebote und Verbote als Ausdruck des
8 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 9 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 17 Vers 16ff 10 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137f 11 A Boumlckler Die Tora 2014 Genesis Kap 9 Vers 6 12 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 673 13 A Boumlckler Die Tora Exodus Kap 20 Verse 2-17 Deuteronomium Kap
5 Verse 6-21 14 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext ndash Geschichten ndash Erscheinungs-
formen ndash Neuere Entwicklungen 2013 79 81
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Neben der in der Ebenbildlichkeit begruumlndeten Wuumlrde finden
sich in der Torah Gebote und Verbote die auf vergleichbare Art
Ausdruck des Wuumlrdeverstaumlndnisses des Tzelem Elohim wie
auch die modernen Menschenrechte Ausfluss des modernen
Wuumlrdeverstaumlndnisses sind Beispielsweise erfassen die Zehn
Gebote die Unverletzlichkeit von Leben Familie und Eigen-
tum13 Ansaumltze sozialer Rechte finden sich zum Beispiel in den
an benachbarten Kulturen gemessen fortschrittlichen Schutz-
rechten fuumlr Sklaven welche die Sabbatruhe die Freilassung
nach Ablauf von sieben Dienstjahren sowie Schutz vor Koumlrper-
verletzungen garantierten14 Auch die Ausweitung der Naumlchs-
tenliebe auf Fremde die sich aus den eigenen Erfahrungen der
Juden als Minderheit in Aumlgypten speiste wurde vorgeschrie-
ben15 und daraus ein Folterverbot hergeleitet16 Zudem ist ein
Asylrecht fuumlr zu Unrecht Verfolgte in der Torah angelegt17
Auch ein Andauern der Wuumlrde uumlber den Tod hinweg laumlsst sich
durch das eine Entwertung der Ebenbildlichkeit verhindernde
Verbot in Deuteronomium 2122 Gehaumlngte am jeweiligen
Baum zu belassen und nicht unverzuumlglich zu begraben herlei-
ten18
4 Universalitaumlt und Grenzen der Wuumlrde
Mitunter war der Kreis der durch die biblischen Vorschriften ge-
schuumltzten Personen jedoch auch beschraumlnkt Laut der Torah soll
beispielsweise alle sieben Jahre Schuldnern ein Schuldenerlass
gewaumlhrt werden19
und es soll davon abgesehen werden Zinsen
fuumlr verliehenes Geld zu erheben20
Die beiden letztgenannten
Regeln dienen der Verhinderung von extremer Armut und ent-
sprechen somit dem modernen Anspruch der Menschenwuumlrde
dass ein humanitaumlrer Mindeststandard zu wahren ist jedoch gel-
ten sie im Gegensatz zur heutigen Menschenwuumlrde begrenzt
naumlmlich nicht im Umgang mit Auslaumlndern21
Ebenso verhaumllt es
sich mit der Todesstrafe bei Toumltungsdelikten die nur Anwen-
dung finden sollte wenn ein Mitbuumlrger Opfer der Straftat
wurde22
An beiden Beispielen zeigt sich dass Teile des in der
Torah dargelegten Wuumlrdeverstaumlndnisses nur fuumlr Mitglieder der
eigenen Glaubensgemeinschaft gelten sollen
Somit ergeben sich die Fragen wie universell das Wuumlrdever-
staumlndnis der Torah ist und wie stark es mit der modernen Men-
schenwuumlrde vergleichbar ist Nach moderner Lesart sind insbe-
sondere vor dem Hintergrund verschiedener Schutzrechte fuumlr
Minderheiten und Verfolgte alle jene Gebote und Verbote die
niemanden explizit von ihrem Schutz ausschlieszligen universell
15 A Boumlckler Die Tora 2014 Leviticus Kap 19 Vers 33f 16 K Bland The Muslim World Journal 103 (2013) 199 201 17 A Boumlckler Die Tora 2014 Numeri Kap 35 Verse 22-25 18 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667 19 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 1f 20 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 23 Vers 20f 21 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 3 Kap 23 Vers
22 22 A Boumlckler Die Tora 2014 Exodus Kap 21 Vers 14
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 3
guumlltig und somit auch das durch sie transportierte Wuumlrdekon-
zept Fruumlhe juumldische Gelehrte haben diese Position jedoch groumlszlig-
tenteils nicht eingenommen23 Somit fehlt es dem biblischen
Wuumlrdekonzept im Vergleich mit dem modernen Wuumlrdebegriff
trotz des Grundgedankens der universellen Ebenbildlichkeit und
der auf dem Konzept der Naumlchstenliebe basierenden Rechte der
Minderheiten an einem stringenten klar formulierten Gleich-
heitsgedanken der einen normativen Anspruch auf grundsaumltzli-
che Gleichbehandlung begruumlndet Jedoch eroumlffnet die in den
meisten Faumlllen unklare Formulierung des Adressatenkreises der
biblischen Regeln die Moumlglichkeit das biblische Wuumlrdekonzept
nach modernen Standards auszulegen
II Entwicklung des Wuumlrdeverstaumlndnisses im Talmud
Neben der Torah wurde das Judentum umfangreich vom Tal-
mud einer Sammlung von Kommentierungen Analysen und
Dialogen fruumlher Rabbiner die die Themen der Torah behandeln
gepraumlgt bdquoDerldquo Talmud ist kein einheitliches Werk sondern es
bestehen zwei inhaltlich verschiedene Versionen der weitaus
bedeutendere und verbreitetere Babylonische Talmud und der
weniger strenge Jerusalemer bzw Palaumlstinische Talmud Beide
Werke entstanden in der Zeit nach der Zerstoumlrung Jerusalems
durch die Roumlmer ab ca 70 n Chr Wie auch die Torah enthaumllt
der Talmud Halakhah-Abschnitte die Teil des kanonischen
Rechts des Judentums sind Mit der Entwicklung des Talmud
kam es zu einer Losloumlsung vom reinen Wortlaut der Torah Dies
geschah im Zuge vielfaumlltiger Analysen Kommentierungen und
Auslegungen der Torah durch Rabbiner die mitunter auch
Rechtspraxen entwickelten die dem Wortlaut der Torah entge-
genstehen24
1 Priorisierung der Wuumlrde gegenuumlber biblischen
Vorschriften
In der Torah und im Babylonischen Talmud wurde die Befol-
gung biblischer Vorschriften noch konsequent uumlber die Wuumlrde
des Einzelnen gestellt Im Jerusalemer Talmud kam hingegen
erstmals ein anderer Ansatz zum Tragen
Beispielhaft ist die Frage ob das Umfeld einer sich in der
Oumlffentlichkeit befindlichen Person uumlber die sich herausstellt
dass sie ein Gewand das aus einem nach der biblischen Kleider-
ordnung verbotenen Stoff besteht traumlgt diese Person unverzuumlg-
lich zum Ablegen des Gewands bewegen muss Der neue Ansatz
einiger Stimmen des Jerusalemer Talmud bestand darin dass die
Befolgung der biblischen Gebote also das Ablegen des verbo-
tenen Gewandes herausgezoumlgert werden darf bis sich der Trauml-
ger nicht mehr in der Oumlffentlichkeit befindet damit eine oumlffent-
liche Erniedrigung des Traumlgers und somit eine Verletzung seiner
Wuumlrde (Kvod Habriot) und der Gesellschaft vermieden wird
Dieser Schutz der Wuumlrde entgegen den biblischen Vorschriften
23 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1104f 24 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1106f 25 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671f
sollte nicht nur die Vermeidung oumlffentlicher Erniedrigung um-
fassen sondern auch auf die Vermeidung geringerer Beschauml-
mung einer Person ausstrahlen25
Bezeichnend sind auch die in der Gemara dem zweiten Teil
des Talmud dargelegten Uumlberlegungen von Rabinern zur wuumlr-
devollen Vollstreckung der Todesstrafe bei Frauen Eine im ge-
samten Nahen Osten verbreitete Methode die Todesstrafe zu
vollstrecken war die Steinigung Maumlnner wurden grundsaumltzlich
nackt gesteinigt Diese Praxis wurde als wuumlrdevoll angesehen
da Bekleidung die Wurfgeschosse abfedern kann und somit den
mit koumlrperlichem Leiden erfuumlllten Zeitraum bis zum Eintreten
des Todes verlaumlngern kann In Bezug auf Frauen ergab sich den
Rabbinern das Problem dass sich nach ihrem Verstaumlndnis
Frauen im Gegensatz zu Maumlnnern bloszligstellt und erniedrigt fuumlh-
len wenn man sie verpflichtet sich in der Oumlffentlichkeit zu ent-
kleiden eine bekleidet gesteinigte Frau jedoch mehr Schmerzen
erleiden muumlsse Die Loumlsung sah daher vor Frauen in den Koumlrper
bedeckenden aber duumlnnen und daher moumlglichst gering abfe-
dernden Gewaumlndern zu steinigen26
In beiden Beispielen wurden im Zuge einer Abwaumlgung bibli-
sche Vorschriften zugunsten der Wuumlrde des Menschen be-
schraumlnkt im ersten Beispiel durch eine spaumltere Ausfuumlhrung im
zweiten Beispiel durch eine Aumlnderung der Art der Ausfuumlhrung
Somit wurde aumlhnlich dem modernen Menschenwuumlrdebegriff der
Wuumlrde ein normativer Vorrang vor bdquoregulaumlrenldquo Gesetzen einge-
raumlumt Nichtsdestotrotz ist abgrenzend zu bemerken dass der
Vorrang der Vermeidung von Wuumlrdeverletzungen mit dem
Schutz der geistigen Ebenbildlichkeit begruumlndet27 wird und da-
her nicht abgekoppelt vom religioumlsen Verstaumlndnis zu betrachten
ist
2 Schutz der Ebenbildlichkeit durch bdquomakelloseldquo
Todesstrafe
Im Talmud erfuhr die Todesstrafe eine erste Einschraumlnkung in-
dem man sich von Arten der Vollstreckung abwandte die eine
sichtbare Verletzung des Koumlrpers mit sich brachten Das zuvor
herrschende lediglich auf der Torah aufbauende Verstaumlndnis
hatte noch darauf abgezielt dass der Verurteilte nicht nur durch
seinen Tod geistig ausgeloumlscht werden sollte sondern dass
durch ein Zerschmettern des Koumlrpers auch dieser zerstoumlrt wer-
den sollte Mit dem Talmud setzte sich die Idee durch dass zu-
mindest der Koumlrper des zum Tode Verurteilten als physisches
Ebenbild Gottes keinen sichtbaren Schaden nehmen soll Man
nahm an dass Gott beim Toumlten von Suumlndern sein eigenes Eben-
bild nicht verunstalten wuumlrde und daher bdquomakelloseldquo Formen
der Toumltung grundsaumltzlich zu bevorzugen seien28
Die Tatsache dass besonders grausame Arten die Todesstrafe
zu vollstrecken dadurch weitestgehend ausgeschlossen wurden
26 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312f 27 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671 28 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 4
stellt grundsaumltzlich eine Annaumlherung an das moderne europaumli-
sche Menschenwuumlrdeverstaumlndnis dar die Begruumlndung dieses
Paradigmenwechsels bleibt jedoch im goumlttlich zentrierten Ver-
staumlndnis der Wuumlrde verhaftet
3 Abschaffung der Todesstrafe und des Lex talionis
als Ausdruck einer unverlierbaren Wuumlrde
Letztendlich kam es in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n
Chr zu einer praktischen Verdraumlngung der Todesstrafe da an
eine Verurteilung zum Tode eine Reihe von schwer erfuumlllbaren
Anforderungen geknuumlpft wurde29
So wurde zum Beispiel eine
verschaumlrfte Form des Vorsatzes gefordert die darin bestehen
sollte dass der Taumlter kurz vor der Tat noch einmal explizit ge-
warnt worden sein muss dass sein Vorhaben mit dem Tod be-
straft wird und er sein volles Bewusstsein dieser Tatsache be-
zuumlglich der bevorstehenden Toumltung ausdruumlckt und kurz darauf
die Tat begeht Des Weiteren bedurfte es zweier Augenzeugen
deren Aussagen nur verwertet werden sollten sofern sie sich in
keinem Detail widersprachen und eine Verurteilung durch das
zustaumlndige 23-koumlpfige Gericht sollte nur erfolgen koumlnnen wenn
mindestens ein Richter sich gegen einen Schuldspruch aus-
sprach bei Einstimmigkeit der Verurteilung soll diese automa-
tisch in einen Freispruch umgewandelt werden30
Grundlage fuumlr diese faktische Abschaffung der Todesstrafe
war neben dem Bemuumlhen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen
zu vermeiden eine weitere Auslegung des Wuumlrdebegriffs als zu-
vor So wurde die Wuumlrde nun als etwas verstanden das auch
durch das groumlszligte Verbrechen nicht verwirkt werden kann und
daher sollten auch die groumlszligten Suumlnder Ebenbilder Gottes blei-
ben31 Zudem wurde im Talmud angenommen dass bei einer
Beeintraumlchtigung der Ebenbildlichkeit Gottes durch Verletzung
oder Toumltung dieser aufgrund seiner menschlichen Immanenz
ebenso leidet Daher fand auch das Lex talionis eine Abloumlsung
und wurde durch Geldstrafen ersetzt32
Die Losloumlsung von Todesstrafe und Lex talionis in Verbin-
dung mit dem Gedanken dass die Wuumlrde unverlierbar ist fuumlhrt
zu einer groumlszligeren Deckungsgleichheit des juumldischen Wuumlrdever-
staumlndnisses mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken in der Rechtsanwendung Die Begruumlndung dieses
Schritts dass Verletzung und Toumltung von Menschen um das Lei-
den des Goumlttlichen und nicht des Menschen zu vermeiden sind
zeigt hingegen dass die Wuumlrde des Menschen weiterhin extrin-
sisch begruumlndet wurde und nicht der Mensch an sich sondern
Gott der Grund des auf dem Tzelem Elohim aufbauenden As-
pekts des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ist
4 Die Naumlchstenliebe des Talmud als Bestandteil des
29 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f 30 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 309ff 31 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 311f
Naturrechts
Das bereits in der Torah angelegte Konzept der Naumlchstenliebe
erfuhr im Talmud eine noch staumlrkere Ausformung die Rabbiner
Hillel als goldene Regel zusammenfasste ldquoWas Dir nicht lieb
ist tue auch deinem Naumlchsten nicht das ist die gesamte Geset-
zeslehre alles andere ist nur Erlaumluterung geh und lerneldquo Nach
dem Rabbiner Leo Baeck ergibt sich aus der Verbindung der in
Torah und Talmud angelegten Naumlchstenliebe Inklusion des
Fremden und Menschenrechte ein staatlicher Rechtsgedanke
der nur auf den Menschen abstellt und damit als ein Grundbe-
griff des Naturrechts gelten kann33 Torah und Talmud bieten
somit neben dem untrennbar mit Gott verknuumlpften Gedanken der
Ebenbildlichkeit Ansaumltze fuumlr ein Konzept der Menschenwuumlrde
das sich saumlkular auslegen laumlsst und daher eine grundsaumltzliche
Vereinbarkeit mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken aufweist
5 Zwischenfazit
Das in Torah und Talmud angelegte Wuumlrdeverstaumlndnis weist
verschiedene Ansaumltze des modernen europaumlischen Menschen-
wuumlrdegedankens auf Aus dem Konzept der Gottesebenbildlich-
keit entspringt der Gedanke einer unverlierbaren Gleichheit aller
Menschen aus der jedoch kein universeller normativer An-
spruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden kann Des Wei-
teren weisen Torah und Talmud Ansaumltze verschiedener Frei-
heits- und Sozialrechte auf die auch vom heutigen Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis umfasst werden und mit dem im Talmud ver-
staumlrkten Konzept der Naumlchstenliebe ist auch ein Bezugspunkt fuumlr
einen naturrechtlichen Menschenwuumlrdebegriff angelegt Diese
Ansaumltze reichen in Summe jedoch nicht aus um daraus das mo-
derne europaumlische Menschenwuumlrdeverstaumlndnis vollstaumlndig her-
zuleiten Insbesondere die Uumlberlegungen zum Menschen als ver-
nunftfaumlhigem Individuum die im Entwicklungsprozess des eu-
ropaumlischen Menschenwuumlrdegedankens zum Tragen gekommen
sind finden in Torah und Talmud keine klare Ausformung Der
Schutz der Wuumlrde des Menschen zielt im Judentum lediglich auf
den Schutz des goumlttlichen Anteils am Menschen ab Der Vorrang
der Wuumlrde vor den biblischen Gesetzen ist daher kein Vorrang
der Wuumlrde vor staatlichen oder religioumlsen Direktiven sondern
eine innerreligioumlse Priorisierung ebenjener Der Mensch wird im
kanonischen Recht des Judentums vor allem als Teil einer mit
dem Goumlttlichen verbundenen Gemeinschaft angesehen und das
Ausmaszlig des Schutzes seiner Wuumlrde wird mitunter an die Zuge-
houmlrigkeit zur Religion gekoppelt
III Einfluss der Diaspora auf das juumldische
Wuumlrdeverstaumlndnis
Neben religioumlsen und philosophischen Erwaumlgungen werden
ethische Konzepte wie das der Menschenwuumlrde auch immer
durch historische Gegebenheiten beeinflusst Ab der Zerstoumlrung
des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n Chr kam es zu einer
32 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312
33 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext 2013 79 81
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 5
knapp 2000 Jahre anhaltenden Vertreibung und Verfolgung von
Juden der Diaspora34 Im Folgenden werden die Auswirkungen
eines fehlenden juumldischen Staats und die Stellung der Juden als
diskriminierte Minderheit auf das juumldische Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde beleuchtet
1 Auswirkungen anhaltender Diskriminierung auf
das juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde
Die Diskriminierung der Juden nahm im Mittelalter mit dem
Einsetzen der Kreuzzuumlge ein noch staumlrkeres Ausmaszlig an als zu-
vor Dieser Hass der Mitgliedern der juumldischen Glaubensge-
meinschaft entgegengebracht wurde wirkte sich auch auf das
juumldische Recht aus So kam es im Shullan Arukh der bedeu-
tendsten Kodifikation juumldischen Rechts des spaumlten Mittelalters
zu einer Beschneidung der Menschenrechte von Nichtjuden
Exemplarisch sind insbesondere die Beschraumlnkungen die juumldi-
schen Frauen fuumlr die Hilfe bei der Niederkunft nichtjuumldischer
Frauen und juumldischen Aumlrzten bei der Behandlung nichtjuumldischer
Patienten auferlegt wurden Im Kern wurde ihnen das Entgegen-
bringen jeglicher Hilfe gegenuumlber Andersglaumlubigen untersagt
Einzig wenn sie dadurch die Feindseligkeit von Andersglaumlubi-
gen riskierten war es ihnen gestattet von dieser Regelung Ab-
stand zu nehmen35
Die Unterdruumlckung der Juden im Mittelalter fuumlhrte somit zu
einer Einschraumlnkung der Menschenrechte von Andersglaumlubigen
im juumldischen Recht Unter der Annahme dass Menschenrechte
Ausdruck des zugrundeliegenden Wuumlrdeverstaumlndnisses sind
kann daher vermutet werden dass der auf dem biblischen Kon-
zept der Naumlchstenliebe fuszligende Aspekt des juumldischen Wuumlrde-
verstaumlndnisses im Mittelalter eine Einengung auf Juden erfuhr
um der dauerhaften gegenwaumlrtigen Gefahr der die juumldischen
Gemeinden ausgesetzt waren Rechnung zu tragen Dem mit
dem modernen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis verknuumlpfbare natur-
rechtlichen Ansatz der aus der Naumlchstenliebe hergeleitet wer-
den kann wurde damit die Grundlage genommen
2 Ausbleiben einer saumlkularen Weiterentwicklung der
juumldischen Menschenwuumlrde
An dieser Stelle werden drei Vermutungen angestellt wie sich
das Fehlen eines juumldischen Staats im Zeitraum der Diaspora auf
das juumldische Konzept der Menschenwuumlrde ausgewirkt hat
Die erste Uumlberlegung besteht darin dass zur Durchsetzung
von menschenrechtlichen Garantien auf Draumlngen eines Teils der
Bevoumllkerung diese auch der zu veraumlndernden Rechtsordnung
praktisch unterworfen sein muss um sich an der betreffenden
Rechtsordnung stoumlren zu koumlnnen Da Juden in Europa eine un-
terdruumlckte Minderheit darstellten gab es zu keiner Zeit der
Diaspora einen Staat dessen Regierung durch das Judentum an-
stelle des Christentums legitimiert wurde Die juumldischen Gesetze
fanden durch das Fehlen eines juumldischen Staats keine Anwen-
34 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1110
dung durch irgendeinen Staat somit war auch die Erprobung ih-
rer Schwachstellen und Aktualitaumlt begrenzter als die von Rechts-
ordnungen mit tatsaumlchlicher Guumlltigkeit Das juumldische Recht
blieb daher das Beschaumlftigungsfeld der begrenzten Gruppe de-
rer die ohnehin fuumlr ihre Bewahrung und Entwicklung zustaumlndig
waren also die der Rechtsgelehrten Philosophen und Rabbiner
Eine Einforderung von Buumlrgerrechten als Annaumlherung an die
moderne Menschenwuumlrde wie sie sonst in Europa uumlber Jahrhun-
derte mehrfach stattgefunden hat konnte daher in Bezug auf das
juumldische Recht gar nicht geschehen Ein Beitrag zur Entwick-
lung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses durch eine
durch Aufstaumlnde und Revolutionen einem juumldischen Staat abge-
trotzte Reihe von Menschenrechten unterblieb daher infolge des
Fehlens eines juumldischen Staats
Als zweite These wird angenommen dass auch eine Weiter-
entwicklung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses
durch eine breite Beteiligung der Juden an den Bemuumlhungen fuumlr
die Gewaumlhrung von Menschenrechten in den europaumlischen Staa-
ten weitestgehend entfiel da sie flaumlchendeckend diskriminiert
wurden und als Buumlrger zweiter Klasse galten Bevor sie eine
sichtbare Rolle im Kampf der bdquoDurchschnittsbevoumllkerungldquo fuumlr
die Durchsetzung der Menschenwuumlrde spielen konnten mussten
sie erst den rechtlichen Status der christlichen Bevoumllkerung er-
langen Eine stetige Erweiterung des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs aufgrund einer Miturheberschaft an neu erlangten
Freiheits- und Schutzrechten innerhalb europaumlischer Rechtsord-
nungen entfaumlllt folglich ebenfalls
Der dritte Ansatz ist dass eine andere Moumlglichkeit der saumlku-
laren Weiterbildung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis-
ses die Reformierung der juumldischen Rechtsordnung bdquovon obenldquo
gewesen waumlre Dies waumlre durch das Einwirken von Juden die
als hochrangige Beamte in den europaumlischen Staaten Reformen
angestoszligen und begleitet haben denkbar gewesen Ihre Exper-
tise als Staatsmaumlnner koumlnnte dann als Legitimation fuumlr die Wei-
terentwicklung der juumldischen Rechtstheorie gehandelt worden
sein Die Diskriminierung der Juden in Europa machte jedoch
auch eine solche Entwicklung unmoumlglich
Diesen Uumlberlegungen folgend kann man annehmen dass es
im Gegensatz zu den christlich gepraumlgten europaumlischen Konzep-
ten der Menschenwuumlrde keine saumlkularen Ansaumltze Eingang in das
juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde finden konnten Ver-
schiedene Ausformungen des Wuumlrdeverstaumlndnisses die saumlku-
lare Elemente wie das Naturrecht und religioumlse Elemente unter-
schiedlich stark gewichten haben sich daher im Gegensatz zum
europaumlischen Wuumlrdebegriff in Verbindung mit dem juumldischen
Wuumlrdebegriff nicht entwickeln koumlnnen Es bleibt folglich bei ei-
ner rein religioumls begruumlndeten Wuumlrde die nie die Stellung als
oberster Wert einnehmen konnte da sie mit dem Goumlttlichen von
einer noch houmlheren Instanz begruumlndet wird
C Die Entwicklung der Menschenwuumlrde im positiven
35 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32 (2011) 1101 1110ff
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 6
Recht Israels
In diesem Abschnitt werden Rechtsschaffung und Rechtspre-
chung in Israel im Spannungsfeld zwischen dem bisher skizzier-
ten juumldischen und dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde eingeordnet Im Anschluss kommt es zu einer
Auseinandersetzung mit der Frage ob das heutige Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde in Israel im Feld der eigenen religioumlsen
Tradition verortet werden kann oder ob eine europaumlische
Rechtsrezeption vorliegt
I Das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis bis 1992
Der moderne Staat Israel wurde im Jahr 1948 durch die israeli-
sche Unabhaumlngigkeitserklaumlrung proklamiert die Israel als juumldi-
schen Staat definiert36 Der Begriff der Menschenwuumlrde ist in
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung nicht zu finden Bei Gruumlndung
des Staats Israel wurde die bestehende Gesetzeslage des Com-
mon Law aus der Zeit der britischen Mandatsherrschaft die Ele-
mente des osmanischen Rechts enthielt weitestgehend uumlber-
nommen37 Der Oberste Gerichtshof entwickelte daran durch
Auslegung eine Reihe von Menschenrechten die unter anderem
Demonstrationsfreiheit Freizuumlgigkeit Vereinigungsfreiheit
den freien Zugang zu den Gerichten und Meinungsfreiheit um-
fassten38 Eine erste Nennung im positiven Recht erfuhr der Be-
griff der Menschenwuumlrde erst in einer Entscheidung des Obers-
ten Gerichtshofs aus dem Jahr 1980 dem Fall Katalan v Prison
Services39 in dem der Oberste Gerichtshof das Auspumpen der
Maumlgen von Gefaumlngnisinsassen aufgrund des Verdachts auf Dro-
genschmuggel im Koumlrper verbot40
In dieser Anfangsphase des Staats Israel sind klare Ansaumltze
im Recht die die Freiheit und Autonomie des Individuums uumlber
dem Konzept der bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde des Kol-
lektivs und biblischen Vorschriften ansiedeln und dadurch eine
Naumlhe zum europaumlischen Menschenwuumlrdebegriff anzeigen nicht
ersichtlich Die bis ins Jahr 1980 lediglich indirekte und nach-
folgend noch immer geringe Ausformung der Menschenwuumlrde
im positiven Recht Israels scheint mit Blick auf die Definition
Israels als juumldischer Staat daher dem zuvor dargestellten juumldi-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu entsprechen
II Das israelische Grundrecht bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo
Israel verfuumlgt uumlber keine abschlieszligende Verfassung jedoch gibt
es eine Reihe einzelner Grundrechte Seit dem Jahr 1992 hat der
Begriff der Menschenwuumlrde mit dem Grundrecht bdquoMenschen-
wuumlrde und Freiheitldquo auch expliziten Eingang in die israelische
36 Israelische Unabhaumlngigkeitserklaumlrung Abs 12 37 A Weilert Grundlagen und Grenzen des Folterverbots in verschiedenen
Rechtskreisen 2009 240f 38 B Genut Fordham International Law Journal 19 (1996) 2120 2146f 39 HCJ 35579 40 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 41 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 42 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 43 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 44 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 2 3 4 7 45 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 6
Rechtsordnung gefunden Zuvor hatte die Menschenwuumlrde nur
in wenigen Urteilen des Obersten Gerichtshofs Israels Erwaumlh-
nung gefunden41 und Menschenrechte waren bis auf wenige
Ausnahmen als Teil des Common Law ebenfalls nur uumlber die
Rechtsprechung im positiven Recht Israels verankert42
1 Umfang des Grundrechts
Die Menschenwuumlrde ist durch das Grundrecht in Israel sowohl
ein Verfassungsprinzip43 als auch ein subjektives Recht Durch
das Grundrecht sind der Schutz von Leib Leben Wuumlrde Eigen-
tum und Privatsphaumlre garantiert44 Auch wird allen Menschen
freie Ausreise aus Israel und israelischen Staatsbuumlrgern daruumlber
hinaus freie Einreise nach Israel garantiert45 Uumlber weitere
Grundrechte sind die Freiheit der Berufswahl46 das Wahl-
recht47 das Recht fuumlr Aumlmter zu kandidieren48 sowie das Recht
auf Zugang zu den Gerichten49 garantiert
Bezuumlglich der Geltung weiterer auf der Menschenwuumlrde auf-
bauender Menschenrechte hat der Oberste Gerichtshof Israels
sowohl eine enge Auslegung des Rechts auf Menschenwuumlrde
als auch eine weite Auslegung des Grundrechts abgelehnt50
Eine enge Auslegung haumltte lediglich den Schutz vor physischer
und psychischer Verletzung Folter Demuumltigung und Erniedri-
gung umfasst eine weite Auslegung haumltte saumlmtliche in den mo-
dernen Rechtsordnungen vorhandenen Menschenrechte einge-
schlossen51 Stattdessen befand der Oberste Gerichtshof dass
das Recht auf Menschenwuumlrde das Verfassungsprinzip der Men-
schenwuumlrde umfassen soll52 Da im Verstaumlndnis des israelischen
Common Law die Menschenwuumlrde als Quelle aller Menschen-
rechte betrachtet wird fuumlhrt dies jedoch nicht zu einem Aus-
schluss der Rechte die durch die weite Auslegung des Rechts
auf Menschenwuumlrde garantiert worden waumlren53 Durch diese
Entscheidung wurde das Grundrecht auf Menschenwuumlrde zu ei-
nem zusammengesetzten Recht erklaumlrt das aus einem Buumlndel an
Tochterrechten besteht die verschiedene Aspekte des Mutter-
rechts abbilden und dadurch dessen multiple Wirkrichtungen si-
chern54
Folgende Tochterrechte wurden durch Entscheidungen des
Obersten Gerichts bisher anerkannt das Recht auf Gleichbe-
handlung Meinungsfreiheit Religionsfreiheit Freizuumlgigkeit
die Gruumlndung einer Familie freie Berufswahl Bildung ein or-
dentliches Gerichtsverfahren einen humanitaumlren Mindeststan-
dard Schutz vor Rufschaumldigung und ein Persoumlnlichkeitsrecht55
Zudem hat der Oberste Gerichtshof ein Hinausreichen der Men-
schenwuumlrde uumlber den Tod anerkannt56
46 Basic Law Freedom of Occupation 47 Basic Law The Knesset Abs 5 48 Basic Law The Knesset Abs 6 49 Basic Law The Judiciary Abs 3 50 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 47 49f 51 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 805 52 A Barak Human Dignity 2015 287 53 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 39 49f 54 A Barak Human Dignity 2015 287f 55 A Barak Human Dignity 2015 288ff 56 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 55
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 7
2 Geltung des Grundrechts und Stellung innerhalb
der Rechtsordnung
Das Grundrecht auf Menschenwuumlrde ist ein relatives Recht
Aufgrund einer im Grundrecht verankerten Bestimmung sind
Einschraumlnkungen der einzelnen durch das Grundrecht garantier-
ten Menschenrechte durch Notverordnungen moumlglich57 Zudem
unterliegt das Grundrecht nicht wie in Deutschland einer Ewig-
keitsklausel58 sondern kann durch das israelische Parlament die
Knesset veraumlndert werden59 Eine Abschaffung der Grundrechte
ist daher nicht explizit ausgeschlossen Jedoch kann der Oberste
Gerichtshof Aumlnderungen oder Abschaffungen von Grundgeset-
zen die seiner Ansicht nach der Demokratie oder den weiteren
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung innewohnenden Grundwerten
entgegenstehen fuumlr verfassungswidrig erklaumlren60 Somit ist die
Moumlglichkeit einer impliziten Sperre fuumlr die Abschaffung des
Grundrechts gegeben
Die Grundrechte wurden ebenso wie andere Gesetze Israels
von der Knesset mit einer einfachen Mehrheit beschlossen und
stehen daher formell nicht uumlber anderen Gesetzen61 Sie wurden
aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1995 zu
Gesetzen mit Verfassungscharakter erklaumlrt die einen den ande-
ren Gesetzen uumlbergeordneten Status genieszligen62 Sie haben nur
Vorrang vor Gesetzen die juumlnger sind aumlltere Normen werden
vom Grundrecht nicht verdraumlngt und verdraumlngen dieses eben-
falls nicht beide Normen gelten parallel Aumlnderungen und Er-
weiterungen von Gesetzen die bereits vor dem Grundrecht be-
standen genieszligen jedoch nicht diesen Schutz und werden durch
das Grundrecht verdraumlngt63
3 Zwischenfazit
Wie auch in europaumlischen Rechtsordnungen genieszligt die Men-
schenwuumlrde damit grundsaumltzlich Vorrang vor einfachen Geset-
zen Die Position der Menschenwuumlrde innerhalb des israelischen
Rechts ist gemessen an europaumlischen Rechtsordnungen zum
Beispiel der Griechenlands64 oder Deutschlands65 weniger pro-
minent und fest verankert Im israelischen Rechtssystem das
keine Ewigkeitsklauseln kennt und keine abgeschlossene Ver-
fassung hat kommt der Menschenwuumlrde dennoch eine heraus-
ragende Stellung als Gesetz mit Verfassungscharakter und
Quelle aller Menschenrechte zu die jedoch durch die Parallel-
wirkung zu aumllterem Recht und die grundsaumltzliche Einschraumlnk-
barkeit des Grundrechts aufgrund von Notverordnungen ge-
schmaumllert wird
57 Basic Law Human Dignity and Freedom Abs 12 58 Art 79 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 59 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 41 60 A Barak Human Dignity 2015 284f 61 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 796 A Bendor M Sachs
Israel Law Review 44 (2011) 25 41f 62 B Bracha University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 3
(2001) 581 583
III Die bdquokonstitutionelle Revolutionldquo
Mit der Verabschiedung des Grundrechts bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo erfolgte nicht nur eine Verankerung der Menschen-
wuumlrde im israelischen Recht sondern auch eine neue Ausrich-
tung des Menschenwuumlrdebegriffs in Israel Diese Veraumlnderung
der Gesetzeslage wird ruumlckblickend als bdquokonstitutionelle Revo-
lutionldquo bezeichnet66 Die Gesetzgebung der Knesset erfolgt in
der Regel unter Beteiligung eines breiten politischen Spektrums
da zur Bildung von Mehrheiten in Israel oft eine Einbeziehung
von mehr als zwei Parteien notwendig ist Parteien die dem ult-
raorthodoxen Umfeld zuzurechnen sind wirken ihrem An-
spruch entsprechend oft blockierend auf Gesetzesentwuumlrfe ein
die die Vorrangstellung der Religion im Staat eindaumlmmen koumlnn-
ten sie sind um die Beibehaltung des Status quo bemuumlht67 Un-
ter diesen Gesichtspunkten stellt das Grundrecht auf Menschen-
wuumlrde zum einen eine bedeutende Neuerung in der israelischen
Gesetzgebung dar zum anderen ist es Ausdruck eines Kompro-
misses
Das Gesetz definiert Israel woumlrtlich nicht mehr nur als juumldi-
schen sondern auch als demokratischen Staat68 Durch den Na-
men des Gesetzes bdquoHuman Dignity and Libertyldquo erfaumlhrt die
Wuumlrde eine Verknuumlpfung mit dem Autonomiegedanken Somit
wird die Wuumlrde sowohl mit religioumlsen als auch mit saumlkularen
Ansaumltzen des Menschenwuumlrdegedankens verknuumlpft Diese Ge-
wichtung fuumlhrt zu einer Ausbalancierung beider Ansaumltze die je-
doch auch das Potential einer bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des Gesetzes
birgt
IV Auswirkungen des Grundgesetzes auf die
Rechtsprechung
Im Folgenden werden Entscheidungen des Obersten Gerichts-
hofs Israels dargestellt die nach dem Erlass des Grundrechts auf
Menschenwuumlrde gefaumlllt wurden und deren Entscheidung von der
Einnahme der traditionellen juumldischen bzw der modernen euro-
paumlischen Perspektive auf die Menschenwuumlrde abhaumlngig war
1 Sheffer v State of Israel
Im Fall Sheffer v State of Israel69 der im Jahr 1993 entschieden
wurde standen sich das juumldische Konzept der bdquoHeiligkeit des
Lebensldquo das auf der Idee des Tzelem Elohim basiert und die
Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenuumlber Die Mutter ei-
nes zweijaumlhrigen Maumldchens das an einer unheilbaren Erkran-
kung litt und im Wachkoma lag klagte darauf die medizinische
Behandlung der Tochter bis auf die Gabe von Schmerzmitteln
einstellen zu duumlrfen und Wiederbelebungsmaszlignahmen an dem
Maumldchen zu unterlassen Das Gericht hatte somit uumlber das Recht
63 A Barak Human Dignity 2015 305ff 64 Art 2 I Verfassung Griechenlands 65 Art 1 I Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 66 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 799 67 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 41 68 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 69 Israeli Supreme Court CA 50688 Sheffer v State of Israel Israel Law Re-
ports 1992 1 ndash 144
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 8
von Patienten und Eltern minderjaumlhriger Patienten medizini-
sche Behandlungen zu verweigern zu entscheiden Der Oberste
Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Menachem Elon
wies die Klage unter Berufung auf die bdquoHeiligkeit des Lebensldquo
zuruumlck Diese Entscheidung ist daher dem traditionellen juumldi-
schen und nicht dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zuzuordnen jedoch wurde im Jahr 2005 das
Terminal Patient Law erlassen das praumlfinalen Patienten und de-
ren gesetzlichen Vormunden das Recht zugesteht weitere me-
dizinische Behandlung abzulehnen und somit klar dem europaumli-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zuzuordnen ist70
2 Hevra Kadisha v Lional Aria Kestenbaum
Der Streitpunkt des Falls Hevra Kadisha v Lional Aria Kesten-
baum71 aus dem Jahr 1992 war das Verstaumlndnis der postmortalen
Wuumlrde wobei das juumldische Konzept der Kvod Habriyot und das
europaumlische Verstaumlndnis der Wuumlrde des Einzelnen mit einander
kollidierten Die Kadisha-Organisation verwaltet Friedhoumlfe in
Israel wobei die Vorschrift dass Inschriften auf Grabsteinen
einheitlich auf hebraumlisch abgefasst sein muumlssen Teil der Ver-
traumlge der Organisation mit den dort Bestatteten ist Die Familie
des Verstorbenen hatte sich fuumlr eine nicht auf hebraumlisch abge-
fasste Inschrift entschieden wogegen die Organisation klagte
Richter Elon sprach sich im Sinne des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs dafuumlr aus dass die Wuumlrde der bereits auf dem betref-
fenden Friedhof Bestatteten im Sinne der Kvod Habriyot der
Wuumlrde des Einzelnen vorzuziehen sei Jedoch setzten sich die
Richter Meir Shamgar und Aharon Barak durch die zugunsten
eines saumlkular-liberalen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ent-
schieden dass der Wuumlrde des Einzelnen den Vorzug vor kol-
lektiven Werten gewaumlhrt72
3 Lior Horev et al v Minister of Transportation
Im Jahr 1996 musste der Oberste Gerichtshof eine weitere Ent-
scheidung im Spannungsfeld zwischen biblischen Vorschriften
und der Autonomie des Einzelnen faumlllen Im Fall Lior Horev et
al v Minister of Transportation73 wurde auf die Sperrung einer
Straszlige am Sabbath geklagt die durch ultrareligioumlse Bezirke Je-
rusalems fuumlhrt Der Oberste Gerichtshof entschied im Sinne des
europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses unter Herleitung
der Verkehrsfreiheit aus der Menschenwuumlrde gegen eine Sper-
rung der Straszlige Richter Tzvi Tal teilte die Ansicht der anderen
Richter jedoch nicht da er religioumlsen Traditionen und Werten
eine houmlhere Prioritaumlt als der Verkehrsfreiheit einraumlumte74
4 Zwischenfazit
In der Gesamtschau zeigen diese Beispiele dass sich der im
Grundrecht auf Menschenwuumlrde angelegte Dualismus von tra-
ditionellem juumldischem und modernem europaumlischem Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis in den Entscheidungen des Obersten Ge-
70 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 676f 71 Israeli Supreme Court CA 91294 72 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 677f 73 Israeli Supreme Court CA 965016
richtshofs wiederspiegelt was neben der Zweideutigkeit der ge-
setzlichen Grundlage auf die gezielt heterogene Besetzung des
Obersten Gerichtshofs mit religioumlsen und saumlkularen Richtern zu-
ruumlckzufuumlhren ist75
Auch wenn sich eine Verzerrung des Bildes durch die be-
grenzte Auswahl an Beispielen nicht ausschlieszligen laumlsst scheint
sich der moderne europaumlische Begriff der Menschenwuumlrde in
der israelischen Gesetzgebung und Rechtsprechung durchzuset-
zen Zur Annahme dieser These fuumlhrt zum einen der Charakter
des Common Law durch den sich die Rechtsprechung bei neuen
Entscheidungen stark an bereits ergangenen Urteilen orientiert
In den letzteren beiden Faumlllen wurde folglich mit Urteilen im
Sinne des europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses eine
Grundlage fuumlr weitere europaumlisch orientierte Entscheidungen in
Fragen des Verhaumlltnisses von der Wuumlrde des Kollektivs und bib-
lischer Vorschriften zur Autonomie des Individuums geschaf-
fen Ein Ruumlckgriff auf parallel wirkende Gesetze aus der Zeit
vor 1992 die im Einzelfall dem Grundrecht entgegenstehen
scheint aufgrund des Anspruchs der grundrechtskonformen
Auslegung aumllterer Gesetze76 und der Existenz eines neuen bdquoLei-
turteilsldquo unwahrscheinlich Zum anderen wird die Vermutung
durch die im ersten Beispiel erfolgte Staumlrkung des europaumlischen
Ansatzes der Wuumlrde durch den Gesetzgeber gestuumltzt Eine ge-
setzliche Kehrtwende ist aufgrund der bereits erlaumluterten Mehr-
heitsverhaumlltnisse der Knesset unwahrscheinlich
V Die Entstehung der israelischen Menschenwuumlrde
Die Menschenwuumlrde im israelischen Recht bewegt sich im
Spannungsfeld zwischen dem modernen europaumlischen und dem
traditionellen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis Eine klare Zuord-
nung zu einem der beiden Wuumlrdeverstaumlndnisse ist seit der bdquokon-
stitutionellen Revolutionldquo und der darauf aufbauenden Recht-
sprechung nicht mehr moumlglich Die bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des
Grundrechts auf Menschenwuumlrde fuumlhrt zu einem bestaumlndigen
Ringen beider Konzepte um Vorrang im positiven Recht Es
scheint jedoch dass der europaumlische Ansatz leicht die Oberhand
gewonnen hat Eine umfassende Saumlkularisierung des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses erscheint in Israel einem modernen Staat
dessen Existenz sich auf das Judentum stuumltzt hingegen unwahr-
scheinlich
Im Hinblick auf das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis im israeli-
schen Recht bietet es sich daher an nicht mehr von einem mo-
dernen europaumlischen oder einem traditionellen juumldischen son-
dern von einem israelischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu
sprechen Ebenso wie in Europa der moderne saumlkulare Wuumlrde-
begriff auf die Basis christlicher Uumlberzeugungen gestellt werden
kann ohne von diesen abhaumlngig gemacht zu werden ist dies
auch mit juumldischen Erklaumlrungsansaumltzen moumlglich Die Vorausset-
zung fuumlr einen solchen modernen Begriff der Menschenwuumlrde
ist in jedem Fall die Betrachtung der Religion als zusaumltzlichen
74 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 679 75 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 675 76 A Barak Human Dignity 2015 306f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 9
und nicht als einzigen Begruumlndungsansatz der Wuumlrde des Men-
schen
D Fazit
Wie sich gezeigt hat sind der Begriff und das Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zu unterscheiden waumlhrend die Gesetzeslage in
Europa und Israel auf einen vergleichbaren Mindestgehalt des
Begriffs Menschenwuumlrde schlieszligen laumlsst kann das Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde und der daraus folgende Umgang mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde in der Rechtsprechung variieren
Die Darstellung der Grundlagen und Genese des Begriffs im Ju-
dentum ergab dass sich aus der Auseinandersetzung mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde auf religioumlser philosophischer je-
doch nicht auf saumlkularer Ebene in der Tradition des Judentums
ein anderes Verstaumlndnis als in Europa entwickelt hat Das juumldi-
sche Wuumlrdeverstaumlndnis unterscheidet sich vom europaumlischen
Wuumlrdeverstaumlndnis maszliggeblich in der Priorisierung des Goumlttli-
chen die zu einem Vorrang der im Ebenbildlichkeitsgedanken
begruumlndeten bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde der Gemein-
schaft und der biblischen Regeln vor der Autonomie und der
Freiheit des Individuum fuumlhrt Im positiven Recht Israels sind
seit der bdquokonstitutionellen Revolutionldquo beide Verstaumlndnisse ver-
ankert und es zeichnet sich ein Erstarken des saumlkularen europauml-
ischen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ab In dieser Ent-
wicklung kann die Etablierung eines israelischen und nicht
mehr lediglich europaumlischen oder juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis-
ses gesehen werden das in seiner Schwerpunktsetzung saumlkular
ist jedoch religioumls begruumlndet werden kann
Vor diesem Hintergrund kann von einer einsetzenden euro-
paumlischen Rechtsrezeption der Menschenwuumlrde in Israel gespro-
chen werden In Anbetracht des vergleichsweise kurzen Beste-
hens des modernen Staats Israel laumlsst sich die gegenwaumlrtige Ent-
wicklung des Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses im israelischen
Recht jedoch auch als originaumlre Evolution des religioumlsen Wuumlr-
deverstaumlndnisses zu einem in modernen Demokratien praktikab-
len Wuumlrdeverstaumlndnis verstehen deren weiterer Verlauf nicht
auf die vollstaumlndige Angleichung an das europaumlische Modell der
Menschenwuumlrde begrenzt ist
Der Autor studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt und be-findet sich derzeit in der Examensvorbereitung Der Artikel ist Teil einer Seminararbeit die im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher entstanden ist
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
10
Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verle-
gung der US-Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts
-
von Lucie Schultz
A Abstract
Am 6122017 verkuumlndete US-Praumlsident Donald Trump
es sei an der Zeit Jerusalem offiziell als Hauptstadt Isra-
els anzuerkennen Mit der Planung zur Verlegung der US-
Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem solle umgehend
begonnen werden1 Damit stieszlig er international auf heftige
Reaktionen und vielfach auf Kritik Der folgende Beitrag
will untersuchen inwieweit diese begruumlndet sind und ob
Trump durch seine Ankuumlndigungen an die Grenzen des
Voumllkerrechts stoumlszligt oder sie uumlberschreitet
B Staatliche Souveraumlnitaumlt im Konflikt mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Voumllker
Der Zentrale Streitpunkt hierbei ist die Frage nach dem voumllker-
rechtlichen Status Jerusalems welcher wiederrum maszliggeblich
von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen in der Stadt abhaumlngig ist
Staatliche Souveraumlnitaumlt ist die notwendige Bedingung gar
Grundlage des Voumllkerrechts2 Gemeint ist die Faumlhigkeit einer ju-
ristischen oder natuumlrlichen Person zu ausschlieszliglicher rechtli-
cher Selbstbestimmung3 Dabei ist zu unterscheiden zwischen
rechtlicher und faktischer Souveraumlnitaumlt erstere meint den recht-
maumlszligigen Titel letztere tatsaumlchliche Kontrolle und Herrschaft4
Durch den rechtmaumlszligigen Titel wird faktische Kontrolle zur voll
ausgereiften Souveraumlnitaumlt Die faktische Herrschaft ist - insbe-
sondere bei militaumlrischen Konflikten - leichter festzustellen als
die Souveraumlnitaumlt uumlber das betreffende Gebiet5
Sowohl Israel als auch Palaumlstinenser sehen Jerusalem als ihre
jeweilige Hauptstadt Rechtsanspruumlche auf Territorium ergeben
sich zum groszligen Teil aus dem voumllkerrechtlichen Selbstbestim-
mungsrecht6 welches damit die staumlrkste Legitimationsquelle fuumlr
Souveraumlnitaumltsanspruumlche ist7 Gleichzeitig besteht aber auch ein
Spannungsverhaumlltnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht
1 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember 2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-
jerusalem (Stand 24022019) 2 Hillgruber in Der Staat Vol 53 Nr3 2014 475 476 3 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 173 4 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 111 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 321 5 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 181
der Voumllker in seiner offensiven Auspraumlgung (gerichtet auf eine
Aumlnderung des Territorialstatus8) und der Souveraumlnitaumlt der Staa-
ten Da das Selbstbestimmungsrecht im Einklang mit den Best-
immungen der UN-Charta gefoumlrdert werden soll wird es grund-
saumltzlich dem Souveraumlnitaumltsgrundsatz nachgeordnet9 Die UNO
bekraumlftigt gleichwohl das Recht der Palaumlstinenser auf Selbstbe-
stimmung als unabdingbar im Nahostkonflikt10
C Die Anerkennung im Voumllkerrecht
I Bedeutung Rechtsnatur und Arten
Die voumllkerrechtliche Anerkennung bezeichnet die einseitige Er-
klaumlrung eines Voumllkerrechtssubjekts eine bestimmte Sach- oder
Rechtslage fuumlr rechtmaumlszligig zu erachten11 Voraussetzung fuumlr die
Anerkennung eines Staates ist das Bestehen von Staatsgebiet -
volk und -gewalt im Sinne der Drei-Elemente-Lehre12 Fuumlr das
Staatsgebiet ist eine endguumlltige Festsetzung der Auszligengrenzen
nicht erforderlich es bedarf lediglich eines unbestrittenen Kern-
gebiets13 Wenngleich jeder Staat seine Hauptstadt frei waumlhlen
darf und hierfuumlr grundsaumltzlich keine Anerkennung benoumltigt geht
es bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gerade
auch um die territoriale Ausdehnung der effektiven Staatsgewalt
im nicht unbestrittenen Staatsgebiet denn die Anerkennung als
Hauptstadt impliziert die Anerkennung der Ausdehnung des
Staatsgebiets auf dem Territorium der Stadt Eine Anerkennung
betrifft das bilaterale Verhaumlltnis zwischen anerkanntem und an-
erkennendem Staat und ist daher sehr politisch gepraumlgt14 Im po-
litischen Sinne ist die Anerkennung konstitutiv im rechtlichen
Sinne dagegen hat sich die deklaratorische Theorie15 als vor-
zugswuumlrdig durchgesetzt16 Das bedeutet zunaumlchst eine be-
grenzte rechtliche Wirkung von Trumps Anerkennung Jerusa-
lems als Hauptstadt Israels Jerusalem wird nicht dadurch zur
Hauptstadt und zum Staatsgebiet Israels Es ist der Kontext des
6 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 239 7 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 240 8 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 41 9 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 10 ARES6719 11 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 160-1 12 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 13 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 391 14 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 379 394 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5
RN 173 15 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 174 16 Shaw International Law 2017 331
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
11
voumllkerrechtlichen und politischen Konflikts um den Status der
Stadt der der Anerkennung eine hohe Bedeutung verleiht
Es wird bei der Art der Anerkennung zwischen de facto und
de jure Anerkennung unterschieden Erstere beinhaltet keinen
diplomatischen Austausch hat einen politischen Charakter wird
als vorlaumlufig und weniger verbindlich bezeichnet und geht oft-
mals einer Anerkennung de jure voraus17 So erkannten die USA
den Staat Israel zunaumlchst nur de facto an nach vollzogenen
Wahlen auch de jure18
II Das Prinzip der Nichtanerkennung
Durch die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und
die damit verbundene Verlegung der US-Botschaft kann Trump
nur dann gegen Voumllkerrecht verstoszligen wenn eine Pflicht zur
Nichtanerkennung besteht Neben einer politisch motivierten
Nichtanerkennung (etwa die Nichtanerkennung Israels durch die
Arabische Liga) kann die Nichtanerkennung auf der voumllkerge-
wohnheitsrechtlich anerkannten Rechtspflicht zur Nicht-Aner-
kennung von Herrschaftsverbaumlnden die unter Verstoszlig gegen das
Gewaltverbot oder das Selbstbestimmungsrecht der Voumllker ent-
standen sind beruhen19 Das Prinzip dieser Rechtspflicht beruht
auf dem Grundgedanken dass es sich kein Rechtssystem erlau-
ben kann Verstoumlszlige gegen seine eigene Ordnung zu tolerieren20
Ein Wandel von dem fruumlher geltenden Effektivitaumltsgrundsatz ex
factis jus oritur nach dem das Recht seine Guumlltigkeit verliert
wenn kontinuierliche Rechtsbruumlche durch ihre Tolerierung er-
folgreich bleiben21 zeigte sich erstmals in der Stimson-Doktrin
einer US-amerikanischen politischen Absichtserklaumlrung von
1932 Unter Verstoszlig gegen den Kellogg-Pakt zur Aumlchtung des
Krieges oder die Voumllkerbundsatzung zustande gekommenen Zu-
staumlnden wurde hiernach die Anerkennung verweigert22 Seither
fand nach dem baldigen Konsens hinsichtlich des Gewaltverbots
eine Festigung des Legalitaumltsgrundsatzes ex injuria jus non ori-
tur statt Aus diesem Grundsatz ergibt sich dass die Anerken-
nung einer verbotenen Handlung ebenso widerrechtlich ist wie
die verbotene Handlung selbst23
Insbesondere durch die Friendly-Relations-Deklaration von
1970 hat sich der Grundsatz zur Pflicht erhaumlrtet 1986 hat der
IGH die vormals nicht rechtsverbindliche Friendly-Relations-
Deklaration als Voumllkergewohnheitsrecht anerkannt bezog sich
jedoch auf die gesamte Resolution nicht auf einzelne Vorschrif-
17 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 166 Brownlie 91 f Shaw International
Law 2017 341 18 Loudwin Die konkludente Anerkennung im Voumllkerrecht S 33 19 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 20 Patel Recognition in the Law of Nations S 111 21 H Lauterpacht Recognition in International Law S 427 22 Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 434 23 Vgl Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 440 IGH Wall in the Occupied
Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 24 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 12 bezugnehmend auf IGH Military and Paramilitary Ac-
tivities in and against Nicaragua Merits Judgement ICJ Reports 1986 14 25 Talmon in TomuschatThouvenin The Fundamental Rules of the International
Legal Order Jus Cogens and Obligations Erga Omnes 2006 99 102 IGH Wall
in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 26 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 4
ten24 2004 nahm der IGH explizit auf die Pflicht zur Nicht-An-
erkennung Bezug er sieht sie als gewohnheitsrechtlich begruumln-
det an25
3 Die Entwicklung der Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
uumlber Jerusalem und der voumllkerrechtliche Status der
Stadt
Der voumllkerrechtliche Status Jerusalems und damit die Frage ob
eine Anerkennung rechtmaumlszligiger Weise erfolgen kann oder ob e
contrario die Pflicht zur Nicht-Anerkennung besteht haumlngt
maszliggeblich von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen ab Hierzu bie-
tet sich ein Abriss der historischen Entwicklung der Souveraumlni-
taumlt auf dem Territorium Jerusalems an
II Vom Britischen Mandat zum Teilungsplan
Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des
Ersten Weltkriegs erhielt Groszligbritannien ein Mandat des Voumll-
kerbundes zur Administration des Mandatsgebiets Palaumlstina Je-
rusalem war waumlhrend dieser Zeit die Hauptstadt des Mandatsge-
biets26 Das Volk im Mandatsgebiet wurde nicht seiner Souve-
raumlnitaumlt beraubt sondern an seiner Ausuumlbung voruumlbergehend ge-
hindert27 Daher wird die genaue Souveraumlnitaumltslage seit diesem
Zeitpunkt treffend als bdquoVakuumldquo bezeichnet28 Insbesondere
war Palaumlstina inklusive Jerusalem zu diesem Zeitpunkt keine
terra nullius auf dem ein originaumlrer Gebietserwerb durch Ok-
kupation29 moumlglich gewesen waumlre
Nach der Aufloumlsung des Voumllkerbundes uumlbertrug Groszligbritan-
nien die Entscheidungsmacht zur Zukunft Palaumlstinas ndash nicht aber
die Souveraumlnitaumlt ndash an die UNO Der UN-Teilungsplan fuumlr Palaumls-
tina 1947 sah eine Beendigung des britischen Mandats und eine
Aufteilung in arabische und juumldische Gebiete vor ndash Jerusalem
sollte als corpus seperatum unter internationale Kontrolle ge-
stellt werden30 Der Teilungsplan verhinderte die Aufgabe der
Souveraumlnitaumlt im Sinne einer Dereliktion welche Palaumlstina zur
terra nullius gemacht haumltte31 Der Treuhandrat der UNO wurde
mit der Administration Jerusalems betraut Auch diese Admi-
nistration bedeutete lediglich die bdquobesitzendeldquo Gebietshoheit
keine rechtliche Souveraumlnitaumlt32 Dem Teilungsplan kam keine
Legislativwirkung zu33
27 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 6 28 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 13 Draper in Koumlchler The
Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 Hirsch in Israel Law Review Volume 38 Issue 1-2 2005
298 300 29 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 36 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumll-
kerrecht S 331 30 UN ARES181 (II) 31 Draper in Koumlchler The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 32 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 8 33 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 274 Fn 8 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy
Places S 16
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
12
Die Jewish Agency eine Art Vorlaumluferregierung Israels war
mit dem Teilungsplan einverstanden die arabische Seite auf-
grund der Unproportionalitaumlt gemessen an der Bevoumllkerungs-
zahl dagegen nicht34
II Erster Arabisch-Israelischer Krieg
In der Folge des nach der Proklamation des Staates Israels am
14051948 (dem Tag des Mandatsendes) ausbrechenden Kriegs
zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde das haupt-
saumlchlich juumldisch bevoumllkerte West-Jerusalem von Israel und Ost-
Jerusalem wo uumlberwiegend Araber lebten von Jordanien mili-
taumlrisch besetzt35 Die Besetzungen werden teils schon als fakti-
sche Annexionen beider Seiten36 und als stillschweigend von der
UNO akzeptiert angesehen37 Als Annexion wird der einseitige
Akt eines Staates bezeichnet durch den dieser gegen den Willen
eines fremden Staates dessen Staatsgebiet zu seinem eigenen
macht38 Selbst wenn das Schweigen der UNO als Duldung in-
terpretiert wird kann sich diese nur auf das Vorliegen der de
facto Autoritaumlt beziehen und nicht die Anerkennung voll ausge-
reifter Souveraumlnitaumlt begruumlnden39 Die Aufteilung in West- und
Ostjerusalem wurde Teil des Waffenstillstandsabkommens vom
441949 zwischen Israel und Jordanien und als sog bdquogruumlne Li-
nieldquo bekannt40 Sie ist die Grundlage anerkannter politischer
faktischer Souveraumlnitaumlt41 Am 23011950 erklaumlrte Israel Jerusa-
lem zu seiner Hauptstadt und siedelte seine Regierung in West-
jerusalem an42 Damit schafft Israel vollendete Tatsachen mit
der Absicht der Dauerhaftigkeit (fait accompli) was einer de-
facto Annexion gleichkommt43
III Sechstagekrieg
Bei diesem Status der Teilung zwischen Ost- und Westjerusalem
blieb es bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 bei dem Israel
nach einem Uumlberraschungsschlag Ostjerusalem eroberte in
seine Verwaltung eingliederte44 Ob Israel oder seine Gegner
letztlich Aggressor des Sechstagekriegs waren ist bis heute um-
stritten45 Jedoch betont der Sicherheitsrat die Unzulaumlssigkeit
des Gebietserwerbs durch Krieg ohne bei der Formulierung auf
Aggression abzustellen46 Somit spielt es keine Rolle wer letzt-
lich Aggressor war denn klar ist dass die Besetzung Ostjerusa-
lems durch Waffengewalt erreicht wurde47
34 Saperia in Journal of East Asia and International Law Vol 3 Nr 1 2010
175 177 35 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 279 Cattan Palestine and International Law The Le-
gal Aspects of the Arab-Israeli Conflict S 23 f Korman The Right to Con-
quest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 36 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 25 37 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 23 38 HailbronnerKau in Vitzthum Voumllkerrecht 2010 RN 137 39 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 281 40 42 UNTS 303 No 656 41 Korman The Right to Conquest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 42 UN DPI2276 Chapter 12 S 4 43 vgl IGH Wall in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 121 44 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 Cassese The Human Dimension of International Law Sel-ected Papers of Antonio Cassese 2008 272 284
Der UN Sicherheitsrat forderte zur sofortigen Beendigung
aller kriegerischen Aktivitaumlten und zum Ruumlckzug der israeli-
schen Streitkraumlfte aus (den) im juumlngsten Konflikt eroberten Ge-
bieten48 auf Dass auf zuvor besetzte Gebiete kein Bezug ge-
nommen wird wird als de facto Anerkennung der Souveraumlnitaumlt
innerhalb der vor dem Sechstagekrieg bestehenden faktischen
Grenzen gewertet49
IV Die Annexion Ostjerusalems durch Israel
Die de-jure Annexion folgt mit dem sog Jerusalemgesetz50
1980 welches rechtliche Anspruumlche auf die ganze Stadt als
ewige und unteilbare Hauptstadt Israels erhob51 Israel verstoumlszligt
damit gegen das in Art 2 (4) der UN-Charta festgelegte Gewalt-
verbot und gegen die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung52
Der Sicherheitsrat forderte Israel auf vom Festhalten an einer
Politik und an Maszlignahmen abzusehen die sich auf den Status
Jerusalems auswirken53 Als Israel dem nicht Folge leistete er-
klaumlrte der Sicherheitsrat das Jerusalemgesetz fuumlr null und nichtig
und forderte alle Mitgliedstaaten auf bestehende diplomatische
Vertretungen aus der heiligen Stadt abzuziehen54 Die rechtlich
bindende Resolution des Sicherheitsrates verurteilt eindeutig
das Vorgehen Israels als voumllkerrechtswidrig Es bestehen keine
Souveraumlnitaumltsrechte Israels auf Ostjerusalem
V Souveraumlnitaumltsanspruumlche der Palaumlstinenser
Auf der anderen Seite begruumlndeten die Palaumlstinenser ihren An-
spruch auf Jerusalem als Hauptstadt eines zukuumlnftigen unabhaumln-
gigen Staates vor allem damit dass vor der massenhaften Aus-
wanderung vieler Juden aus allen Laumlndern Europas waumlhrend des
Holocaust nach Israel Muslime die groumlszligte Bevoumllkerungsgruppe
im Gebiet des historischen Palaumlstina waren Koumlnig Hussein von
Jordanien erklaumlrte im Juli 1998 den Verzicht Jordaniens auf
Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Jerusalem und das Westjordanland
zugunsten der 1964 gegruumlndeten Palaumlstinensischen Befreiungs-
organisation PLO55 Diese wird seit 1974 von der Generalver-
sammlung als legitime Repraumlsentation des Volkes anerkannt56
45 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 46 SRES233 47 Wright in The Americal Journal of Internatinal Law Vol 64 Nr 2 1970
270 270 48 SRES242 engl from territories frnz des territoires 49 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 252 50 Basic Law Jerusalem Capital of Israel Sefer Ha-Chukkim No 980 of the
23th Av 5740 (5 August 1980) S 186 Englische Fassung unter httpswwwknessetgovillawsspecialengbasic10_enghtm (Stand
24022019) 51 Dawidowitz in Crawford ua The Law of International Responsibility Ox-ford Commentaries on International Law 2010 677 681 52 Randelzhofer in Simma The Charter of the United Nations A Commentary
Art 2 S 74 RN 14 53 SRES476 54 SRES478 55 Paech in Das Argument 321 59 Jahrgang Heft 12017 91 100 56 Shaw International Law 2017 196 ARES3236 (XXIX) APV2282
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
13
Am 15111988 rief die PLO in Algier den Staat Palaumlstina aus57
Die Staatsqualitaumlt Palaumlstinas ist jedoch umstritten Zum einen ist
trotz des jordanischen Verzichts die genaue Territorialhoheit zu
unbestimmt zum anderen ist das Ausuumlben einer effektiven
Staatsgewalt zweifelhaft58 Seit Ende 2012 erkennt die UNO Ge-
neralversammlung Palaumlstina als non-member observer state an
was als Vorstufe zur Vollmitgliedschaft gilt59 In der entspre-
chenden Resolution wird Jerusalem als Hauptstadt zweier Staa-
ten bezeichnet Die Weltgemeinschaft haumllt also am Streben nach
einer Zwei-Staaten-Loumlsung fest Eine Vollmitgliedschaft in der
UNO scheiterte bisher trotz der begruumlszligenden Haltung der Gene-
ralversammlung60 am Veto der USA im Sicherheitsrat61
VI Zwischenfazit
Die Darstellung zeigt dass der Status der Stadt nicht nur um-
stritten sondern noch ungeklaumlrt ist Eine verbindliche einver-
nehmliche Regelung gab es nicht Die exakten Souveraumlnitaumltsver-
haumlltnisse in Jerusalem befinden sich nach wie vor im Schwebe-
zustand Trotzdem ist Jerusalem die de facto Hauptstadt Israels
Israels Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Westjerusalem sind weniger
umstritten als diejenigen auf Ostjerusalem Durch die rechtliche
Anerkennung der Veraumlnderung des Status Ostjerusalems durch
die uumlberwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft oder durch
Organe der UN mit entsprechen Kompetenzen koumlnnte die zu-
naumlchst illegitime Autoritaumlt Souveraumln werden62 Dies meint nicht
die Genese von Staatlichkeit im Sinne der konstitutiven Theorie
sondern die Entstehung von Voumllkergewohnheitsrecht
E Trumps Politik und ihre voumllkerrechtlichen Grenzen
I Hintergruumlnde das Verhaumlltnis der USA und Israel
Die Ambiguitaumlt zwischen dem bisherigen Abstimmverhalten der
USA in der UNO und dem ploumltzlichen Umschwenken durch
Trump hat ihren Ursprung in der Gewaltenteilung63 Waumlhrend
die Exekutive oftmals im Einklang mit Haltung der Staatenge-
meinschaft handelte unternahm die nationale Legislative Ver-
suche sie hieran zu hindern64 Die Anerkennung der Rechtmauml-
szligigkeit des Status quo ist in der US-Politik kein Novum inner-
halb der Exekutive und auf auszligenpolitischer Ebene dagegen ist
Trumps sympathisierende Haltung eine Kehrtwende
Die US-amerikanische auszligenpolitische Haltung laumlsst sich
dahingehend zusammenfassen dass keine entschiedene Position
57 Unabhaumlngigkeitserklaumlrung des Staates Palaumlstina in Algier 15111988 Deut-
sche Fassung abrufbar unter der Webpraumlsenz der diplomatischen Mission Palaumls-
tinas in Deutschland httppalaestinaorguploadsmediaunabhaengigkeitser-klaerungpdf (Stand24022019) 58 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 138 59 ARES6719 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und
Voumllkerrecht Band 30 2016 173 190 60 ARES6719 61 A66371 S2011592 23 62 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 286 63 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 64 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 65 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 2 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
bezuumlglich des Status Jerusalems bezogen wurde denn dieser
solle in kuumlnftigen Verhandlungen der beteiligten Parteien fest-
gelegt werden Die Anerkennung Israels durch US-Praumlsident
Truman begruumlnde keine Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt
uumlber Jerusalem65 Eine Anerkennung Israelischer Souveraumlnitaumlt
unterblieb sogar bezuumlglich West-Jerusalems aufgrund von
Zweifeln an der Faumlhigkeit zur tatsaumlchlichen Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung66 wenngleich die USA Jerusalem als de facto Hauptstadt
Israels anerkannten67
Eine klarere Position vertrat der legislative Zweig Im Kon-
gress herrschte die Auffassung Jerusalem sei die rechtmaumlszligige
Hauptstadt Israels68 was zudem der uumlberwiegenden Auffassung
der US-amerikanischen Bevoumllkerung entspricht69 Diese Sicht-
weise versuchte der Kongress der Exekutive durch eine Reihe
von Gesetzesinitiativen aufzudraumlngen70 Der Jerusalem Em-
bassy Act of 1995 sieht die Verlegung der US-Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem vor71 Jedoch liegt die verfassungsmaumlszligige
Entscheidungshoheit uumlber die Anerkennung beim Praumlsidenten
da nur die Exekutive Zugriff auf alle entscheidungsrelevanten
Informationen hat72 Daher musste der Act mit einer Klausel er-
lassen werden welche die Moumlglichkeit eines Aufschubs durch
den Praumlsidenten zur Wahrung der nationalen Sicherheit um je-
weils sechs Monate vorsieht73 Von diesem Vollstreckungshin-
dernis machten die US-Praumlsidenten seit 1995 Gebrauch Die
Botschaftsverlegung und Anerkennung der Hauptstadt ist eine
politische Entscheidung keine diplomatische Trump beugt sich
dem Druck der Legislative und erfuumlllt ein Wahlkampfverspre-
chen
II Die Vereinbarkeit von Trumps Vorgehen mit dem voumllkerrechtlichen Status Jerusalems
Die Frage nach der voumllkerrechtlichen Vereinbarkeit muss be-
zuumlglich der Anerkennung als Hauptstadt und der Verlegung der
Botschaft getrennt beantwortet werden
1 Die Anerkennung als Hauptstadt
a) Gesamtjerusalem als Gegenstand der Anerkennung
66 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 340 67 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 838 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 68 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839-40 69 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 70 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 71 Jerusalem Embassy Act of 1995 Sec 3a (3) 3b httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 72 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 10 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 73 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 6 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
14
Die Anerkennung von Israels Wahl seiner Hauptstadt ist nicht
gaumlnzlich neu Bereits am 6042017 erklaumlrte Russland Westje-
rusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen Gleichzeitig
wurde das Bestreben bekraumlftig Ostjerusalem solle die Haupt-
stadt eines kuumlnftigen Palaumlstinensischen Staates werden74 Trump
signalisierte ebenfalls seine weiterhin bestehende Unterstuumltzung
der Zwei-Staaten-Loumlsung und betonte keine Position zum fina-
len Status zu beziehen insbesondere nicht bezuumlglich der spezi-
fischen Grenzen israelischer Souveraumlnitaumlt75 Das erscheint je-
doch widerspruumlchlich da er gleichzeitig nicht zwischen Ost-
und Westjerusalem unterscheidet Wenngleich er sich nicht di-
rekt auf das Jerusalem in der israelischen Sichtweise bezieht
handelt er in Ausfuumlhrung des Jerusalem Embassy Act welcher
Jerusalem als bdquowiedervereintldquo durch die Folgen des Sechstage-
krieges bezeichnet76 Ferner bezieht er sich auf die tatsaumlchlich
bestehende Herrschaft Israels welche sich ebenfalls auf die ge-
samte Stadt erstreckt Im Wortlaut seiner Erklaumlrung vom
6122017 findet sich keine Unterscheidung zwischen Ost und
West und schon im Wahlkampf hatte er eine Anerkennung der
ungeteilten Stadt angekuumlndigt77
b) Anerkennung faktischer Souveraumlnitaumlt
Trump betont ndash ebenso wie die Botschafterin der USA bei der
UNO Nikki Haley ndash uumlber den finalen Status der Stadt also auch
uumlber die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse kein Urteil faumlllen zu wol-
len78 Es stellt sich folglich die Frage ob die Anerkennung oder
Akzeptanz der faktischen Situation von der Anerkennung recht-
licher Souveraumlnitaumlt zu unterscheiden ist Jedoch ist die Wahl der
Hauptstadt Ausdruck des inneren Souveraumlnitaumltsrechts Waumlhrend
de facto Herrschaft ohne rechtliche Souveraumlnitaumlt bestehen kann
ist die Wahl der Hauptstadt Ausdruck von Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung braucht daher einen Rechtsgrund Somit kommt eine An-
erkennung faktischer Souveraumlnitaumlt nicht in Betracht ohne zu-
gleich eine anerkennende Haltung bezuumlglich voll ausgereifter
Souveraumlnitaumltsrechte zu treffen
c) Anerkennung rechtlicher Souveraumlnitaumlt
Anknuumlpfend an das Abstellen auf tatsaumlchlich bestehende Herr-
schaftsverhaumlltnisse koumlnnte die Argumentation zur Rechtmaumlszligig-
keit der Anerkennung mit dem aus dem roumlmischen Recht stam-
menden Grundsatz uti possidetis ita possidetis (wie ihr besitzt
so sollt ihr besitzen)79 begruumlndet werden Das Prinzip baut auf
das Vorliegen rechtlicher Eingestaumlndnisse des vormaligen Sou-
74 Foreign Ministry statement regarding Palestinian-Israeli settlement
6 April 2017 httpwwwmidruenforeign_policynews-asset_pub-lishercKNonkJE02Bwcontentid2717182p_p_id=101_INSTANCE_cKNon-
kJE02Bwamp_101_INSTANCE_cKNonkJE02Bw_languageId=en_GB (Stand
24022019) 75 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember
2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-jerusalem (Stand 24022019) 76 Jerusalem Embassy Act Sec 2 (6) httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 77 Dpa Trump wuumlrde ganz Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen Suumld-
deutsche Zeitung Meldung vom 25 September 2016 2207
httpwwwsueddeutschedenewspolitikwahlen-trump-wuerde-ganz-jerusa-lem-als-hauptstadt-israels-anerkennen-dpaurn-newsml-dpa-com-20090101-
160925-99-587350 (Stand 24022019) 78 SC13125 79 Torres Bernaacuterdez FS-Zemanek 1994 417 421
veraumlns zu einem bestimmten entscheidungserheblichen Zeit-
punkt auf80 Im Fall israelischer Gebietsanspruumlche uumlber Ostjeru-
salem fehlt es an diesen beiden Faktoren Bezuumlglich auf Westje-
rusalem begrenzte Souveraumlnitaumltsanspruumlche koumlnnte das Waffen-
stillstandsabkommen von 1949 herangezogen werden81 Die
bdquogruumlne Linieldquo koumlnnte dabei das territoriale Eingestaumlndnis sein
Jedoch wird der uti possidetis Grundsatz von konkreten voumllker-
rechtlichen Vereinbarungen verdraumlngt82 Eine solche besteht fuumlr
Jerusalem durch das Waffenstillstandsabkommen von 194983
Somit schlaumlgt auch die Anwendung des uti possidetis Prinzips
unter Hinzuziehung des Effektivitaumltsgrundsatzes fehl
Waumlhrend Mitte des 20 Jahrhunderts der gewohnheitsrecht-
liche Standard anerkannt war gewaltsame Gebietsaumlnderungen
fuumlr rechtmaumlszligig anzuerkennen laumlsst sich dies heute nicht mit der
Pflicht zur Nichtanerkennung unrechtmaumlszligiger Situationen ver-
einbaren84 Insbesondere bei der Bildung von Voumllkergewohn-
heitsrecht hat das Faktische eine normative Kraft es schafft je-
doch kein Recht85 Dies wird von Trump grundlegend verkannt
Auf die Abkehr von dem Prinzip ex factis ius oritur wurde be-
reits eingegangen86 Rechtliche Wirkung entfalten allein voumllker-
rechtliche Normen Die vorangegangenen Ausfuumlhrungen und
die Untersuchung des voumllkerrechtlichen Status Jerusalems zei-
gen dass es keine entsprechende voumllkerrechtliche Fundierung
fuumlr die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gibt das
Voumllkerrecht dem sogar klar entgegensteht
Es wird diskutiert ob die Pflicht zur Nicht-Anerkennung un-
mittelbar anwendbar ist sobald die ausloumlsenden Tatbestandsvo-
raussetzungen vorliegen oder ob es eines entsprechenden Hin-
weises einer unparteiischen Autoritaumlt bedarf um zu verhindern
dass sich einzelne Staaten als Schiedsrichter aufspielen87 Die
Frage eruumlbrigt sich da entsprechende Resolutionen der UNO
vorliegen Es spielt keine Rolle dass die unrechtmaumlszligige Anne-
xion bereits fast 40 Jahre zuruumlck liegt denn die Pflicht zur
Nichtanerkennung ist in ihrer Dauer unbegrenzt88
Somit konnte zeigt sich im Ergebnis die Unvereinbarkeit ei-
ner Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt uumlber Gesamtjerusa-
lem mit dem Voumllkerrecht
2 Die Verlegung der Botschaft
Davon getrennt ist abschlieszligend noch die Frage zu klaumlren ob
auch die Botschaftsverlegung gegen das Voumllkerrecht verstoumlszligt
Die Nichtigkeitserklaumlrung des Jerusalemgesetzes beinhaltete
80 Nesi in Max Planck Encyclopedia of International Public Law 2011 Uti Pos-
sidetis Doctrine RN 10 81 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumll-
kerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht
Band 30 2016 173 181 82 Blumenwitz FS Wuumlrzburg 2002 377 381 83 42 UNTS 303 No 656 84 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues and uncertainties S 7 85 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumllkerrecht S 69 bezugnehmend auf
Jellineks allgemeine Staatslehre 86 Vgl oben (Fn22) H Lauterpacht Recognition in International Law S 426 87 Vgl Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger
Gebietsaumlnderungen S 146 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contempo-rary international law issues and uncertainties S 12 f 88 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 18
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
15
auch die Aufforderung des Sicherheitsrates an alle Nationen die
diplomatische Missionen in Jerusalem aufgebaut hatten diese
aus der heiligen Stadt abzuziehen89 Daraufhin verlegten alle 13
in Jerusalem diplomatisch vertretenen Nationen ihre Botschaf-
ten nach Tel Aviv90 Jedoch trifft die entsprechende Resolution
keine Aussage uumlber die Dauerhaftigkeit des Ruumlckzugs Somit ist
zu fragen ob es daher grundsaumltzlich ausgeschlossen ist wieder
Botschaften nach Jerusalem zu verlegen Die Pflicht zur Nicht-
Anerkennung umfasst auch die Pflicht Handlungen zu unterlas-
sen die eine Anerkennung implizieren koumlnnten91 In Jerusalem
befinden sich unter anderem Generalkonsulate von Italien Grie-
chenland Groszligbritannien Frankreich und den USA92 Jedoch
geht im Gegensatz zu einer konsularischen Mission von einer
Botschaft eine hohe symbolische Wirkung aus93 Dem konklu-
denten Inhalt dieser Symbolkraft muumlsste explizit widersprochen
werden anderenfalls muumlsste die Verlegung der Botschaft als
konkludente Anerkennungserklaumlrung von Israelischer Souverauml-
nitaumlt uumlber das Gebiet des Botschaftsstandorts verstanden wer-
den94 Wenngleich die meisten diplomatischen Missionen in den
Hauptstaumldten aufgebaut werden enthaumllt die Wahl des Bot-
schaftsstandorts fuumlr sich genommen auch keine Aussage uumlber
den Status einer Stadt als Hauptstadt auch die USA unterhalten
in einigen Laumlndern Botschaften auszligerhalb der anerkannten
Hauptstadt95 Es bestuumlnde die Moumlglichkeit die Botschaft nach
Westjerusalem zu verlegen wo die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
weniger umstritten sind96 Angekuumlndigt ist der Umzug in das be-
reits bestehende Konsulat in Arnona97 Das Viertel wird von der
Grenze zwischen Ost und Westjerusalem durchzogen Das US-
Konsulat befindet sich auf der Waffenstillstandslinie von 1949
Somit wuumlrde nicht inhaumlrent eine Anerkennung uumlber Souveraumlni-
taumltsverhaumlltnisse erfolgen
Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Verlegung der
Botschaft vor allem deshalb so hohe Bedeutung beigemessen
wird weil sie im selben Atemzug angekuumlndigt wird wie die An-
erkennung Gesamtjerusalems als Hauptstadt Israels und diese
somit symbolisch bekraumlftigt Fuumlr sich betrachtet waumlre ein Um-
zug moumlglich ohne die Grenzen des Voumllkerrechts zu uumlberschrei-
ten Dann muumlsste zugleich bekraumlftigt werden dass eine Aner-
kennung der Annexion von 1980 unterbleibt Der von Trump
gewaumlhlte Rahmen der Anordnung der Botschaftsverlegung ent-
haumllt jedoch eine konkludente Anerkennung Israelischer Souve-
raumlnitaumlt und verstoumlszligt damit gegen das Voumllkerrecht
III Internationale Bewertungen und Reaktionen
Als Reaktion auf Trumps Entscheidung sah ein von Aumlgypten
eingebrachter Resolutionsentwurf des Sicherheitsrates vor alle
89 SRES 478 90 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 53 91 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 15 92 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-saumlnderungen S 53 93 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 31 94 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 165 95 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839 Fn 11 96 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The Future of Jerusalem A Symposium 837 839 840
Nationen aufzufordern keine diplomatischen Missionen in Je-
rusalem aufzubauen die Abhaumlngigkeit des finalen Status Jeru-
salems von zukuumlnftigen Verhandlungen zwischen Israelis und
Palaumlstinensern zu betonen und juumlngste Entscheidungen die dem
entgegenstuumlnden zu verurteilen Auszligerdem sollten Trends die
die Zwei-Staaten-Loumlsung gefaumlhrden reversiert werden98 Der
Entwurf scheiterte am 18122017 durch das Veto der USA mit
einer 14-1 Abstimmung
Einen Tag spaumlter verabschiedete die Generalversammlung
mit 128 Ja-Stimmen 9 Nein-Stimmen und 35 Enthaltungen eine
Resolution mit aumlhnlichem Tenor Unter anderem rief sie alle
Mitgliedstaaten dazu auf den Aufbau diplomatischer Missionen
in Jerusalem zu unterlassen99 Eine direkte Erwaumlhnung und Ver-
urteilung der von Trump eingeleiteten Schritte erfolgte gleich-
wohl nicht Die Resolution ist rechtlich nicht bindend hat aber
Symbolcharakter Die Haltung der Staatengemeinschaft laumlsst
sich als Verurteilung des Nichtnachkommens der voumllkerrechtli-
chen Pflicht die Annexion Ostjerusalems von 1980 nicht anzu-
erkennen qualifizieren
Die Reaktionen zeigen zudem dass die internationale Staa-
tengemeinschaft Trumps Entscheidungen fuumlr die weitere Ent-
wicklung des Nahostkonflikts fuumlr nicht friedensfoumlrderlich haumllt
was zumindest zunaumlchst durch die weitere Entwicklung bestaumltigt
wurde In den Tagen nach Trumps Verkuumlndung kam es in Jeru-
salem vermehrt zu Gewalt Palaumlstinensische Extremisten kuumln-
digten bdquoTage des Zornsldquo an100 Am Tag der Botschaftsverlegung
am 15052018 kam es zu Ausschreitungen mit Duzenden Toten
F Fazit
Jerusalems Sonderrolle als heilige Stadt dreier Weltreligionen
bringt eine emotionale Aufladung des Konflikts mit sich und er-
schwert den Friedensprozess da scheinbar wichtigere Werte das
Ziel in den Schatten stellen101 Fuumlr eine Internationalisierung
konnten sich beide Seiten nicht begeistern102 Ein beidseitiger
Verzicht auf Jerusalem als politische Hauptstadt koumlnnte der Son-
derrolle der Stadt als religioumlse Staumltte am besten gerecht werden
den Konflikt durch Vermeidung von Provokationen emotional
entladen und so den Friedensprozess foumlrdern
Die Autorin studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaf-ten an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg mit dem Schwerpunkt bdquoDeutsches Europaumlisches und Internationales Oumlffentliches Rechtldquo Der Beitrag beruht auf einer Studienarbeit im Rahmen des Seminars bdquoGrundlagen und Grenzen staatlicher Souveraumlnitaumlt ndash aktuelle Prob-leme und voumllkerrechtliche Loumlsungenldquo bei Frau Prof Dr Voumlneky im Sommersemester 2018
97 Nauert Heather Press Statement Opening of US Embassy in Jerusalem
23 Februar 2018 httpswwwstategovrpaprsps201802278825htm
(Stand 24022019) 98 S20171060 99 AES-10L22 100 Reuters Israeli minister sees Trump sbquohintlsquo at Jerusalem Partition with Pales-tinians 8 Dezember 2017 httpswwwreuterscomarticleus-usa-trump-is-
rael-partitionisraeli-minister-sees-trump-hint-at-jerusalem-partition-with-pa-
lestinians-idUSKBN1E21OL (Stand 24022019) 101 Wilson in Middle East Journal Vol 23 No 1 1969 1 1 StoverMankaryous
in International Journal on World Peace Vol 25 Nr 4 Dezember 2008 115
129 102 Ben-DrorZiedler in Diplomacy amp Statecraft Volume 26 2015 636 639
Praktikanten Referendare Wissenschaftliche Mitarbeiter (mw)
Eins drauflegenWas gute Juristen noch besser macht
Besondere Talente verdienen besondere Foumlrderung Fuumlr diesen Anspruch steht unsere ReferendarAcademy Als eine der weltweit fuumlhrenden Anwaltssozietaumlten sind wir immer auf der Suche nach hochqualifizierten Nachwuchskraumlften (mw) fuumlr unsere Buumlros in Duumlsseldorf Frankfurt am Main und Muumlnchen Ausgezeichnete Examina und exzellentes Englisch setzen wir dabei voraus Im Rahmen unserer ReferendarAcademy bieten wir Ihnen als Referendar u a in Zusammenarbeit mit dem Repetitorium KAISERSEMINARE Intensivkurse zur Vorbereitung auf das Assessorexamen einen Uumlber blick uumlber unsere Rechts be reiche und eine Einfuumlh rung in relevante Business Skills Fuumlr die stetige Weiter bildung un-serer Anwaumllte sorgt die Clifford Chance Academy
Erfahrene externe und interne Referenten informieren uumlber aktuelle juristische Entwick lungen und ver mitteln Faumlhigkeiten und Kenntnisse die fuumlr eine Berater per-soumln lichkeit entscheidend sind Haben wir Ihr Inter esse ge weckt Wir freuen uns uumlber Ihre Bewerbung per E-Mail an karrierecliffordchancecom Ihre Ansprech partnerin Nicola von Tschirnhaus 069 7199-4477
Career starts with CInformationen zu uns und der ReferendarAcademy wwwclif fordchancecomkarriere
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 17
Die Problematik der europaumlischen Demokratie und
die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGHs
-
von Soma Hegedős
Abstract
Eine Kardinalskritik in Bezug auf die Funktionsweise der
EU ist dass die EU eine bdquoantidemokratischerdquo Institution sei
sowie dass die Buumlrgerschaft der Mitgliedsstaaten ihre
Entscheidungen kaum beeinflussen kann Von diesem kri-
tischen Aspekt ausgehend wird die Beziehung zwischen
Demokratie und der EU unten ndash umfassend - untersucht
Ein zentraler Aspekt dieser Untersuchung ist die genaue
Betrachtung des Status und der Kompetenzen des EuGH
und zwar vor allem aus zweierlei Gruumlnden Zum einen ist
ein entscheidender Punkt der Kritiken die rechtsschoumlp-
fende Taumltigkeit des EuGH seit den Sechzigern bis heute
ohne ausreichende (demokratische) Legitimation Zum
anderen kann man mit der Pruumlfung seiner rechtsfortbilden-
den Taumltigkeit und seinen zur Rechtsschoumlpfung fuumlhrenden
Urteilsfeststellungen auch die Problematik der Demokratie
und der EU im Zeitalter der Globalisierung besser begrei-
fen
A Einleitung
Zahlreiche moderne Theoretiker - beispielsweise der ungarische
Gyula Mooacuter1 - sehen die Demokratie nicht nur als einen bloszligen
politikwissenschaftlichen Begriff oder eine Organisationsme-
thode von Gewalt an sondern als einen komplexeren Ausdruck
der auch die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen erklaumlren
kann Die Theorien die sich auf den pluralistischen Charakter
der Gesellschaften und des politischen Spektrums bzw auf die
Elitebildung fokussieren haben auf viele kritische Punkte hin-
gewiesen und in vielen Faumlllen die Durchfuumlhrbarkeit der Demo-
kratie infrage gestellt Nach ihren Thesen werden gewisse enge
Elitegruppierungen ndash fruumlher oder spaumlter ndash unmittelbaren Ein-
fluss auf die politischen Entscheidungen haben Hier ist die De-
mokratie-Vorstellung von Joseph Schumpeter zu erwaumlhnen in
deren Mittelpunkt der Konkurrenzkampf und der marktwirt-
schaftliche Wettbewerb stehen Schumpeter sieht das von den
Elitetheorien beleuchtete Problem darin so aufgeloumlst dass die
um die politische Macht kaumlmpfenden Eliten auch fuumlr die Voten
der Einzelnen kaumlmpfen muumlssen Und die Individuen koumlnnen
1 Vgl Gyula Mooacuter A demokraacutecia oumlrveacutenyei In Erdei-Fischer-Horvaacuteth
A demokraacutecia Egyetemi Nyomda Budapest 1945 s 96 ff 2 Vgl Schumpeter Joseph A Kapitalismus Sozialismus und Demokra-
tie A Francke Verlag Tuumlbingen 2018 S 365 ff 3 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie In Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 S 237
eben durch diesen um ihre Voten durchgefuumlhrten Wettbewerb
(bdquoKonkurrenzkampfldquo) Einfluss auf das oumlffentlichen Leben er-
werben2 Hans Kelsen hat es so gehalten dass diese Konfronta-
tion der Gerichte sowohl gegenuumlber der Gesetzgebung als auch
gegenuumlber der Regierung nicht stichhaltig sei Die strenge Tren-
nung der Gewalten schraumlnkt eben die Erfuumlllbarkeit des Volks-
willens ein3 Laut Giovanni Sartori sollte die Volksherrschaft
nach wie vor im Fokus einer demokratischen Staatsorganisation
stehen D h man muss auf solche Fragen eine sinnvolle Ant-
wort geben wie Was ist ein Volk uumlberhaupt und wie kann das
Volk den entscheidenden Einfluss auf die Herrschaft behalten4
In der Auffassung von Juumlrgen Habermas kann die Loumlsung dieser
Probleme durch die Institution eines Parlaments verwirklicht
werden5 In der Demokratie-Interpretation von Habermas ist we-
sentlich dass die zivile Gesellschaft eine tatsaumlchliche Kontrolle
uumlber die politische Sphaumlre und Verwaltung ausuumlbt und das Par-
lament ndash als Teil der Zivilgesellschaft - eine zentrale Rolle in
diesem Kontrollmechanismus spielt
Diese oben genannten Beispiele zeigen dass ein lebhafter
Diskurs uumlber die Interpretationsmoumlglichkeit und die Durchfuumlhr-
barkeit von Demokratie stattgefunden hat Das bdquoSortimentrdquo der
Vorstellungen uumlber die institutionelle Realisation der Demokra-
tie bdquoreicht von rousseauistischen uumlber elitenbezogene und plura-
listische sowie partizipationsorientierte Demokratiemodelle bis
hin zu den Spielarten marxistischer Staatstheorierdquo allerdings
darf das Erfordernis der Demokratie nicht ins bdquostaatstheoreti-
sche Ungewisse fuumlhrenrdquo ndash stellt Winfried Veil fest6 Daraus folgt
die Frage was jene festen Gedankengrundlagen sind aus denen
ein demokratisches Institutionsgefuumlge auch auf der europaumli-
schen ndash bzw transnationalen - Ebene konfiguriert werden kann
das zugleich auch uumlber rechtliche Bindekraft verfuumlgt
4 Vgl Sartori Giovanni DemokratietheorieWissenschaftliche Buchg
Darmstadt 1992 16 ff 5 Vgl Juumlrgen Habermas Faktizitaumlt und Geltung Frankfurt am Main
Suhrkamp 1992 S 430 ff 6 Veil Winfried Volkssouveraumlnitaumlt und Voumllkersouveraumlnitaumlt in der EU
Nomos Baden-Baden 2007 43
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 18
B Demokratiedilemma auf der Ebene der EU
I Das Europaumlische Parlament und die europaumlischen
Voumllker
Veil ndash die Situation vor dem in Kraft treten der Lissabon-Ver-
traumlge pruumlfend ndash sieht das so dass die Realisierung der Demokra-
tie auf EU-Ebene unter den heutigen gesellschaftlichen und po-
litischen Umstaumlnden keineswegs moumlglich sei Genauer gesagt
zweifelt er daran ob uumlberhaupt die Moumlglichkeit eines richtigen
europaumlischen repraumlsentativen Systems vorliegen koumlnne bdquo(hellip)
findet demokratische Repraumlsentation durch das Europaumlische
Parlament nicht statt Repraumlsentation erfordert naumlmlich mehr als
die bloszlige Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregelnrdquo7
Das Problem besteht einerseits im Mangel an einem europaumli-
schen bdquoDemosrdquo anderseits ist auch das Europaumlische Parlament
nicht dazu geeignet das Demos zu repraumlsentieren Die europaumli-
schen Voumllker sind nicht einheitlich weder kulturell noch
sprachlich noch politisch so kann der Diskurs der zum Funkti-
onieren der Demokratie unabdingbar notwendig ist nicht statt-
finden Es fehlt im Wesentlichen an der zur demokratischen
Meinungsbildung wichtigen bdquoBuumlhnerdquo zur Diskussion der Ange-
legenheiten auf Unionsebene Die Spannung zwischen dem Eu-
ropaumlischen Parlament und der Demokratie entsteht dadurch
dass die Kompetenzen des Europaumlischen Parlaments sehr be-
grenzt innerhalb der EU sind Aus diesem Grund kann das EP
den vom Demos durch die Wahlen ausgedruumlckten Volkswillen
nur eingeschraumlnkt zur Geltung bringen
Das andere grundlegende Problem ist der Verlauf der Euro-
pawahlen Das Ergebnis der Stimmabgabe spiegelt mehr die in-
neren Beziehungen der einzelnen Staaten den Zustand bdquoRegie-
rung-Oppositionrdquo ndash wieder als das Ergebnis jener gesellschaft-
lichen-politischen Dispute die uumlber die gemeinsamen bdquoeuropaumli-
schenrdquo Themen stattgefunden haumltten ndash eroumlrtert Veil8 Ein wei-
teres Dilemma ist die demokratische Legitimation der Instituti-
onen und Handlungen der EU genauer gesagt deren Mangels an
Legitimation Da die Subjekte des Voumllkerrechtes in erster Linie
die Staaten sind und die demokratische Legitimation von den
von Voumllkern begruumlndeten Staaten abgeleitet werden kann soll
die EU als spezieller sui generis Staatenverbund eine Parallelitaumlt
zwischen ihren Handlungen und dem Volkswillen aufweisen
Allerdings kann diese Parallelitaumlt in Bezug auf alle Hauptorgane
der EU nur schwach oder gar nicht nachgewiesen werden meint
Veil Zwar stellt dieser fest dass die demokratische Legitima-
tion nicht eine bdquoAlles oder Nichtsrdquo Frage sei vielmehr eine
bdquomehr oder wenigerrdquo Relation trotzdem bestreitet er ob uumlber-
haupt der akzeptable Mindestgrad der Legitimation jeglicher
EU-Organe noch vorhanden sei9 Umsonst kann man die insti-
tutionellen Grundlagen der EU mit voumllkerrechtlichen Vertraumlgen
sowie Volksabstimmungen legitimieren wenn die vertraglichen
Fundamente nicht mehr mit dem tatsaumlchlichen politischen Be-
trieb der EU vereinbart werden koumlnnen bdquoDas von den Gemein-
7 Veil aao S 157 8 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 9 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 10 Veil aaO S 273
schaftsvertraumlgen errichtete politische System deckt aber die lau-
fende Willensbildung der Gemeinschaftsorgane in legitimatori-
scher Hinsicht nicht mehr abrdquo ndash schreibt Veil10
II Demokratieverflechtung
Das sogenannte Lissabon-Urteil des deutschen BVerfG hat ver-
sucht auf diese Frage eine Antwort zu geben Ein Bundestagab-
geordneter hat 2008 eine Verfassungsbeschwerde gegen den
von Deutschland ratifizierten Vertrag von Lissabon bzw das
Bundesgesetz zum Vertrag von Lissabon eingereicht Nach der
Verfassungsbeschwerde wird der staatliche Charakter Deutsch-
lands mit dem Vertrag von Lissabon gefaumlhrdet zudem wurde
die Verletzung des Demokratiegebotes und das eigentliche Feh-
len der demokratischen Legitimation der EU moniert Das
BVerfG hat in seiner besonders detaillierten Begruumlndung darge-
legt dass auch der Vertrag von Lissabon das Problem des De-
mokratiedefizites nicht loumlsen koumlnne Paradoxerweise wurde zu-
gleich gesagt dass die EU keine bdquoDemokratiefaumlhigkeitrdquo besitze
und daruumlber hinaus darf sie keinen houmlheren Grad der Demokra-
tie disponieren als ihre Mitgliedstaaten Nach Marcus Houmlreth
wird als eine Folgerung des Urteiles die Problematik der sog
Demokratieverflechtung genannt Er begruumlndet dass die Sub-
jekte der demokratischen Legitimation weiterhin die Voumllker der
Mitgliedstaaten bleiben Die EU kann von der Legitimation
durch die mitgliedstaatlichen parlamentarischen Demokratien
nicht abruumlcken Aus diesem Grund ndash und aus der Gebundenheit
an das deutsche Verfassungsrecht ndash folgt dass der Wirkungs-
kreis der mitgliedstaatlichen Parlamente auf keinen Fall voll-
staumlndig ausgehoumlhlt werden darf Nach der Auffassung des deut-
schen BVerfG ist Demokratie ein Staatssystem in dem der
Mehrheitswille von den Parlamenten die durch die auf den glei-
chen Stimmrechten beruhenden Wahlen gewaumlhlt werden in
Form der Gesetzgebung und der Regierungsbildung kontinuier-
lich zur Geltung kommt Der Rahmen dieses Gefuumlges wird
dadurch gegeben dass es vor allem ein bdquoVolkrdquo gibt sowie eine
oumlffentliche Publizitaumlt die fuumlr das Volk die Diskussionen und den
Wettbewerb zwischen der Regierung und der Opposition trans-
parent abbilden kann Das Parlament kommt durch die mehr-
heitliche Entscheidung waumlhrend der Wahlen zustande was vor
allem den Wahlwillen der Bevoumllkerung abbildet und die Kapa-
zitaumlt hat den Volkswillen zu offenbaren Das deutsche BVerfG
hat sich in seiner Demokratieauffassung auf die parlamentari-
sche Souveraumlnitaumlt fokussiert und ausgesagt dass das Instituti-
onssystem der EU diesen Anforderungen nicht entspreche weil
die bdquoauszligerrechtlichen Voraussetzungenrdquo allzu unterentwickelt
sind Aus diesem Grund kann man die Demokratie auf EU-
Ebene nicht mit der nationalstaatlichen Stufe gleichsetzen ndash
fuumlhrt Houmlreth aus11
11 Marcus Houmlreth Die Demokratieverflechtungsfalle ndash Warum die EU
nach dem Lissabon-Urteil demokratisch defizitaumlr bleiben muss In
Lhotta ndash Ketelhut ndash Schoumlne Das Lissabon-Urteil Springer Fach-medien Wiesbaden 2013 S 48 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 19
III Wirtschaftliche Globalisierung und Demokratie
Auch die Machtstrukturen veraumlndern sich mit der Europaumlisie-
rung der Wirtschaft und der Gesellschaften wo Machtausuumlbung
zum bdquoRegierenrdquo wird das Regieren entterritorialisiert wird so
Richard Muumlnch Die Durchfuumlhrbarkeit der Demokratie er-
schwert sich mit der Relativierung der Machtausuumlbung uumlber
konkretes Gebiet und konkretes Volk Es gibt im Zentrum der
Politik nicht mehr den demokratischen Willen der sich durch
die politischen Dispute ausformt sondern die Entscheidungen
werden vom Wettbewerb determiniert Dementsprechend ndash
nach Muumlnch ndash vollzieht der EuGH das Programm der europaumli-
schen Liberalisierung und Individualisierung d h der Integra-
tion deren zentraler Handlungsbeauftragter er ist12 bdquoDie Insti-
tutionalisierung des transnationalen europaumlischen Rechtsraumes
ist in erheblichem Umfang das Werk des Europaumlischen Ge-
richtshofesldquo ndash meint Muumlnch13
Wegen der steigenden Bedeutung von der EU aumlhnlichen in-
ternationalen wirtschaftlichen Kooperationen beschaumlftigen sich
Wissenschaftler immer mehr mit Moumlglichkeiten der Durchsetz-
barkeit der Demokratie auf internationaler Ebene bdquojenseits des
Staatesldquo Drei wichtige Aspekte sind hier von groszliger Bedeu-
tung Der Mangel einer zentralen Macht (Regierung) und des
Parlamentes und die transnationale Transformation des oumlffentli-
chen Diskurses Diese drei Eckpunkte scheinen auch in Bezug
auf die demokratische Qualitaumlt der EU entscheidend zu sein die
unter den wichtigsten internationalen Zusammenschluumlssen ndash
wegen ihrer breiten Aufgabenbereiche und politischen Einfluumlsse
ndash den groumlszligten Demokratiebedarf hat14
C Richterrecht Juristokratie
Weltkonstitutionalisierung
I Richterrecht der politische Aktivismus des
Richters
Die Problematik des Richterrechts ist eine Achillesferse fuumlr die
demokratische Handlungsweise der unterschiedlichen richterli-
chen Foren (siehe z B bei Dworkin) Die Taumltigkeit der Verfas-
sungsgerichte sowie der internationalen Gerichtshoumlfe wurde
durch die richterliche bdquoRechtsschoumlpfungrdquo nunmehr so wesent-
lich dass man uumlber ein spezielles Phaumlnomen der sog bdquojuristo-
kratischenrdquo Tendenzen sprechen kann
Das Richterrecht ist ein altes Problem fuumlr die Rechts - und
Staatstheorie Fuumlr Friedrich Carl von Savigny der eine wichtige
Rolle in der Deutung des Richterrechtes gespielt hatte wurzelt
das Recht im bdquoVolksgeistrdquo als das Ergebnis einer geschichtli-
chen Entwicklung Der politische Aktivismus richtet sich nach
12 Vgl Muumlnch Richard Die Konstruktion der europaumlischen Gesellschaft
Zur Dialekt von transnationaler Integration und nationaler Desintegra-tion Campus Verlag FrankfurtNew York 2008 S 372 ff
13 Vgl Muumlnch aaO S 108 14 Vgl Dingwerth Klaus - Blauberger Michael - Schneider Christian
Postnationale Demokratie VS Verlag fuumlr Sozialwissenschaften Sprin-
ger Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden 2011 S 23 ff und
204 ff 15 Vgl Ruumlthers Bernd Die unbegrenzte Auslegung Mohr Siebeck
Auffassung von Philipp Heck letztendlich auf die Beeinflussung
der Gesetzgebung Wenn die Rechtsbildung durch die richterli-
che Rechtsprechung geschieht wird dem Richter also quasi eine
bdquopolitische Funktionrdquo verliehen Dies kann fuumlr die modernen
Demokratien wichtige Grundprinzipien verletzen das sind die
Konzeptionen uumlber die RechtssicherheitRechtstaatlichkeit und
das mit der Rechtsstaatsidee verbundene bdquogeschriebene Rechtrdquo
bzw bdquokodifizierte Rechtrdquo und die Idee der Gewaltenteilung Ob-
wohl die Ursachen der Abweichungen grundsaumltzlich historisch
sind kann der wesentliche bdquounuumlberwindbareldquo Unterschied zwi-
schen den Rechtskreisen common lawldquo und bdquocivil lawldquo immer
Sache von theoretischen Disputen sein15 bdquo(hellip) evolution of both
a codified and a judge made system of law is characterized by a
constant interplay between legislative and judicial actionrdquo ndash
schreibt Sauveplanne16 der meint ldquoa system of law must be cre-
ated and developed by the interaction between legislature and
judiciaryrdquo17
Es gibt unterschiedliche Ansichten die Substanz des Richter-
rechtes zu bestimmen Der Richter interpretiert das Recht nach
eigenen Anschauungen oder um es mit den Worten Bernd
Ruumlthers zu sagen bdquoder Richter stellt sich in einen Gegensatz zu
gesetzlichen Wertungenrdquo Die verbreitete Ansicht allerdings ist
dass das Richterrecht nichts anderes ist als Rechtsfortbildung in
einer bdquorechtsleerenrdquo Domaumlne sozusagen bdquounentdeckte Raumlumerdquo
die vom Gesetz noch nicht geregelt wurden Eine dritte bdquoweiter-
entwickelterdquo Auffassung uumlber das Richterrecht ist dass der
Richter die Luumlcken mit Wertungen ausfuumlllen soll wie zB im
Fall von Generalklauseln Mit dieser Ansicht verwandt ist der
vierte Typ ein Begriff der unterschiedliche Bedeutungen (In-
halt) haben koumlnnte und daher vom Richter konkretisiert wird18
II Richterrechttypologie und Luumlckenproblematik
Das Richterrecht bildet sich in allen Rechtsordnungen anders
heraus und ist von anderer Bedeutung In den zwei fuumlr die EU
so wichtigen Rechtsordnungen in der franzoumlsischen und deut-
schen gibt es Diskrepanzen im Vergleich in Bezug auf das
Richterrecht Man kann begrifflich das bdquoInterpretierenrdquo von der
bdquoRechtsfortbildungrdquo (Rechtsschoumlpfung) in der deutschen
Rechtstheorie abtrennen Der grundsaumltzliche Unterschied ist der
bdquoSchoumlpfercharakterrdquo der Rechtsfortbildung D h der Richter
uumlbertritt mit der Rechtsfortbildung die Textrahmen der Rechts-
norm waumlhrend er im Fall des Interpretierens nur den Textinhalt
erkennt Die Problematik der Rechtsluumlcke (siehe dazu mehr un-
ter II A) steht im Zentrum der Rechtsfortbildung d h eine Luuml-
cke die nicht vom Text des geschriebenen Rechts gedeckt ist
Diese Luumlcken koumlnnen verschiedenen Typs sein Einige Luumlcken
sind die Ergebnisse einer bewussten Entscheidung des Gesetz-
gebers der das Ausfuumlllen der Rechtsluumlcken der richterlichen
Rechtsprechung der Judikative uumlberlaumlsst In anderen Faumlllen ist
Tuumlbingen 2017 S 1 ff und 457 ff und JG Sauveplanne Codified
and judge made law The Role of Courts and Legislators in Civil and Common Law Systems North-Holland Publishing Company Amster-
dam Oxford New York 1982 16 Sauveplanne aaO S 25 17 Sauveplanne aaO S 28 18 Vgl Ruumlthers dazu aaO S 458 f und vgl Walter Kondrad Rechts-
fortbildung durch den EuGH Duncker amp Humblot Berlin 2009 S
41 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 20
die Luumlckenhaftigkeit der Regelung uumlberhaupt nicht absichtlich
Der Richter kann die Luumlcken mit seinen Beschluumlssen sozusagen
praeter legem (oder pactum) ausfuumlllen in diesem Fall wird die
Regelung im Endeffekt vom Richter ergaumlnzt Die Entscheidung
des Richters steht nicht gegen den moumlglichen Inhalt des Textes
obwohl sie nicht darauf basiert Der Beschluss geht im Fall der
bdquocontra legem (pactum)rdquo Rechtsfortbildung uumlber den Wortlaut
des Gesetzes (oder des Vertrages) hinaus oder steht im konkre-
ten Fall dem Gesetz diametral gegenuumlber Sowohl die Rechts-
fortbildung als auch die bdquoInterpretationrdquo kann in der franzoumlsi-
schen Rechtsordnung im Rahmen der sog bdquoInterpreacutetationrdquo statt-
finden Zudem ist das ein wesentlicher Unterschied im Ver-
gleich zum deutschen System dass also auch die Interpretation
zur Rechtsschoumlpfung fuumlhren kann Die Praxis des EuGHs fokus-
siert sich auf die bdquoInterpreacutetationldquo-Auffassung er macht also kei-
nen terminologischen Unterschied zum franzoumlsischen Recht
Allerdings ist eine inhaltliche Distinktion moumlglich Die Trennli-
nie befindet sich zwischen der Auslegung und Rechtsfortbil-
dung sodass die Auslegung innerhalb des Rahmens eines moumlg-
lichen Wortsinnes noch zumindest mit einer Sprachfassung bdquoab-
gedecktldquo werden kann Dagegen entspricht die Rechtsfortbil-
dung semantisch nicht mehr dem Wortsinn entweder ergaumlnzt sie
die vertraglichen Vorschriften oder die richterliche rechts-
schoumlpfende Taumltigkeit kann nicht mehr mit dem Vertragszweck
parallelisiert werden Ernsthafte Kritiken richten sich konkreter
auch gegen die richterliche Rechtsetzung des EuGHs teilweise
auch von diesem Gesichtspunkt Nach einigen Stellungnahmen
sollten die Grenzen seiner rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit bzw
seiner speziellen Befugnisse ausdruumlcklich in den Vertraumlgen be-
stimmt werden Man darf daher das bdquoVertragswerkldquo des Unions-
rechtes nur als unvollstaumlndig betrachten und die Rolle des
EuGHs als bdquoLegislativorganldquo nur beschraumlnkt akzeptieren19
III Vom Richterrecht zur Juristokratie
Das Problem ist dass die Rechtsauslegungsbefugnisse der Ver-
fassungsgerichte und der internationalen Gerichte immer staumlrker
mit Skepsis betrachtet werden Das Richterrecht das als Ergeb-
nis der richterlichen Rechtsauslegung entsteht erlangt nach ei-
nigen kritischen Betrachtungen nahezu so groszlige Bedeutung
dass man schon uumlber systemumfassende Veraumlnderungen dh
uumlber den Uumlbergang von Demokratie zur Juristokratie von der
Rechtsstaatlichkeit zur sog juristokratischen Regierungsform
sprechen kann Beacutela Pokol ungarischer Verfassungsrichter hat
diese Tendenz vor allem auf der Ebene der Taumltigkeit des Verfas-
sungsgerichtes nachgewiesen Diese Tendenz hat nach Pokol
politische und rechtstheoretische Gruumlnde Rechtstheoretischer
Grund sei zum Beispiel die Ruumlckkehr des weltlichen Natur-
rechts sowie die Staumlrkung der Auffassung uumlber die auf moral-
philosopischer Argumentation basierenden Menschenrechte ndash
19 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff (45-111) und Mittmann Patrick Die
Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europaumlischen Gemein-
schaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europaumlischen Union Peter Lang GmbH Frankfurt am Main 2000 S 235-244 und
S 269 20 Vgl Beacutela Pokol Der juristokratische Staat die Zerlegung seiner As-
pekte Nemzeti Koumlzszolgaacutelati Egyetem Working papers on state Gov-
ernance and Administration 201611 httparchivuni-nkehuup-
loadsmedia_itemsbela-pokol-der-juristokratische-staat-die-zerlegung-
schreibt Pokol20 Man kann unter anderem auch die Ausbreitung
der Rechtsauslegungsmoumlglichkeiten von den Gerichten her klas-
sifizieren die die starke Bindung der Rechtsprechung an den
Gesetzestext gelockert haben Die Grundlage dieser Wandlung
ist dass die Richter im Laufe der Interpretation nicht mehr das
gesucht haben was die subjektive Absicht der Gesetzgebung ge-
wesen ist sondern das was aufgrund der bdquoobjektiven Rationali-
taumltrdquo Ziel gewesen sein koumlnnte Eine dritte Seite dieser Veraumlnde-
rung ist die strukturelle Staumlrkung der Verfassungsgerichte ge-
genuumlber den Parlamenten Die Verfassungsgerichte konnten mit
actio popularis d h mit den gegen die Parlamente anwendbaren
einem dem Vetorecht aumlhnlichen Mittel Entscheidungen der Par-
lamente revidieren
bdquoAuf diese Weise verwandelt sich die Triple-Struktur der Poli-
tikStaatsverwaltungJustiz in die doppelte Struktur der durchpolitisier-
ten Justiz (mit dem Verfassungsgericht an der Spitze) und der unterwor-
fenen oumlffentlichen Verwaltung Die demokratischen Wahlen und die
durch sie entstehende legislative Mehrheit funktionieren nur als legiti-
mierender Schleier uumlber die tatsaumlchliche Machtausuumlbungrdquo
ndashPokol21
IV Juristokratische Tendenzen auf der
internationalen Buumlhne
Man kann die besondere Bedeutung und die immer staumlrker wer-
dende Tendenz der richterlichen Rechtsschoumlpfung auch auf in-
ternationaler Ebene wahrnehmen Von Bogdandy und Venzke
vertreten den Standpunkt dass die Arbeit der internationalen
Gerichte von bdquointernationaler Gerichtsbarkeitrdquo in einfache
Streitbeilegungsverfahren umbenannt werden sollte22 Der
Grund dafuumlr ist dass diese internationalen richterlichen Foren
wirklich mehr Funktionen erfuumlllen als nur das Schlichten diver-
ser Streitigkeiten zwischen Staaten Diese Funktion besteht zum
einen darin dass das Rechtsgefuumlhl d h die normative Kalkula-
tion und das Rechtsbewusstsein der Staaten und der internatio-
nalen Organisationen staumlrker wird Zu diesem Thema gehoumlrt
gleichermaszligen dass die staatlichen Akte aufgrund der Recht-
sprechung der internationalen Gerichte nach einem voumllkerrecht-
lichen Maszligstab uumlberpruumlft werden und wenn sie dieser Uumlberpruuml-
fung standhalten zugleich legitimiert werden koumlnnen beispiels-
weise dadurch dass sie den internationalen Standards entspre-
chen Dies entspricht der bdquoKontroll und Legitimationrdquo-Funktion
von Von Bogdandy Die wichtigste Rolle der internationalen
Gerichtshoumlfe ist die Rechtsschoumlpfung die mit den zwei anderen
oben genannten Funktionen in einem engen Zusammenhang
steht Zwei Typen der Rechtsschoumlpfung werden von von
Bogdandy unterschieden Der erste Typ ist die richterliche
Rechtsschoumlpfung in konkreten Streitfaumlllen Eine solche ist zum
seiner-aspekte-von-bela-pokoloriginalpdf S 18 Ff (2018 oktoacuteber
12) 21 Pokol aaO S 3 22 Von Bogdandy Armin ndash Venzke Ingo bdquoInternationale Streitbeteili-
gungldquo oder bdquointernationale Gerichtsbarkeitldquo In Arbeitspapiere Goe-
the Universitaumlt Frankfurt am Main 20164 httppublikatio-nenubuni-frankfurtdefrontdoorindexindexdocId39019 (2018 ok-
toacuteber 15)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 21
Beispiel die breitere Interpretation des Verbotes der Gewaltan-
wendung nach Artikel 2 der UNO-Charta im sog Nicaragua-
Urteil des Internationalen Gerichtshofs Der andere Typ der
Rechtsschoumlpfung ist die systemweite und bewusste Taumltigkeit
solcher internationalen meistens bdquoregional taumltigenrdquo sowie spe-
zialisierten Gerichte die das Rechtssystem in der mit Ihnen ver-
bundenen Sphaumlre mit Prospektivitaumlt bestimmen wollen Bei-
spiele dafuumlr sind gewisse Verfahrensregelungen seitens des Eu-
ropaumlischen Gerichtshofes fuumlr Menschenrechte ndash schreibt Von
Bogdandy
Tamara Ehs meint dass diese auf supranationalischer Ebene
erscheinenden juristokratischen Tendenzen auch mit der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH verbunden sind Nach Ehs hat
zwar der EuGH gegen die Politik das Recht bdquodes letzten Wor-
tesldquo aber dem EuGH fehlt das demokratische Moment23 Ehs
stellt fest dass der EuGH zum einen ndash innerhalb der EU ndash ein
europaumlisches Verfassungsrecht schaffen will zum anderen auch
politischen Aktivismus aufzeigt Die wichtigen Mittel dieses po-
litischen Aktivismus sind die Resolutionen in Vorabentschei-
dungsverfahren mit denen der EuGH tief hinter die mitglied-
staatlichen Grenzen reichen kann Allerdings sollte die Rolle des
EuGH auch in den weiteren internationalen Relationen gepruumlft
werden da das nach Ehs kein alleiniger Darsteller einer welt-
weiten Verfassungsordnung ist Solche weiteren bdquoElementeldquo
sind beispielsweise noch das WTO und IMF Im Zentrum dieser
Weltkonstitutionalisierung steht die Errichtung eines Systems
das auf den modernen neoliberalen Grundlagen der Weltwirt-
schaft beruht und das gegen die Ordnung der volksstaatlichen
Nationalwirtschaften gerichtet ist Daruumlber hinaus entspricht es
nicht den Prinzipien der demokratischen Repraumlsentation
D Die Rechtfertigungsversuche der
rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH
I Das Kompetenzdilemma des EuGH bdquoeffet utileldquo
und die Ultra-vires-Handeln
Eines der groumlszligten Dilemmas in Bezug auf den Kompetenzkreis
des EuGH sowie das von ihm geschaffene Richterrecht ist die
Dualitaumlt der Grenzen und des Zwanges der auf Rechtsschoumlp-
fung gerichteten Taumltigkeit des EuGH bdquoDer EuGH balanciert
stets bei seiner Rechtsprechung zwischen Kompetenzgrenze
und Kompetenzpflicht (hellip) Einerseits darf er kompetenzrecht-
lich nur gewisses Richterrecht schaffen anderseits ist er aber
genau berufen das Notwendige und Moumlgliche zu entwickelnrdquo
ndash schreibt Michel daruumlber24 Diese Spannung haumlngt eng mit der
Luumlckenproblematik des Gemeinschaftsrechts zusammen In ers-
ter Linie stellte sich die Frage der Kompetenzen der souveraumlnen
Mitgliedstaaten ob die Luumlckenhaftigkeit der neuen europaumli-
schen Rechtsordnung nicht absichtlich ist Die Antwort des
EuGH auf diese Frage war ua im seinen CostaENEL- und van
23 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 233-247 httpswwwmomentum-quarterlyorgojs2in-
dexphpmomentumarticleview16691333 234 (2018 oktoacuteber 15) 24 Michel Morten Alexander Die Kompetenzentwicklung des Europaumli-
schen Gerichtshofes in seiner juumlngeren Rechtsprechung und ihre Integ-
rationseffekte in den Mitgliedstaaten Shaker Verlag Aachen 2002
159
Gend amp Loos ndash Rechtsspruumlchen angelegt Sein bdquoneinldquo bedeutete
dass das Unionsrecht ein neues komplettes Rechtssystem sogar
bdquoeine neue Voumllkerrechtsordnungldquo ausmachen solle Zwar ist die
Rolle des Integrationsgebotes und seine Auslegunsmittel die
sog bdquoeffet utileldquo-Formel in der Arbeit des EuGH ziemlich um-
stritten sie kann aber ihre Grundkonzeption der Rechtferti-
gungslogik der richterlichen Rechtsschoumlpfung gut darstellen
Mit der Anwendung ndash unter anderem ndash des effet utile-Grund-
satzes hat der EuGH nach dem Muster des franzoumlsischen
Conseil dlsquoEtat versucht die maximal bdquonuumltzliche Wirkungldquo zu
erreichen um diese selbstaumlndige Rechtsordnung ausgestalten zu
koumlnnen bdquoMoreover the fact that within the bdquoschematic effet
utilerdquo orientation of the ECJ the national law surroundings of
EC law are not considered may ultimately lead to the paradoxi-
cal result that the combined application of EC and national law
in a given specific case does not promote the effet utile of the
applicable European legislationrdquo ndash schreibt Schmid uumlber die an-
dere Seite dieser Problematik25 Der Zwang zur Rechtsentwick-
lung des EuGH folgt vor allem aus der Aufgabe der Rechtsaus-
legung und Rechtsanwendung die ihm von den Gruumlndungsver-
traumlgen als Verpflichtungen vorgeschrieben sind D h die
Schaffung des Richterrechtes ist in gewissen Faumlllen ausdruumlck-
lich notwendig Allerdings sollte es wichtige Grenzen geben die
die Grenzen der Verbands- bzw Organkompetenz des EuGH
markieren Ihre Uumlberschreitung bedeutet einen sog Ultra-Vires-
Akt Die richterliche Rechtsfortbildung darf keine sog bdquoKom-
petenz-Kompetenzrdquo-Befugnis bedeuten da die begrenzte Ein-
zelermaumlchtigung sich als ndash wiewohl nicht allgemeine aber ndash
wichtige Gebundenheit meldet D h der EuGH darf solche
Kompetenzen die in den Vertraumlgen nicht festgelegt sind weder
vorschreiben noch entziehen und muss die sog bdquoVerfassungsi-
dentitaumltldquo der Mitgliedstaaten respektieren26 Trotzdem wurden
zahlreiche solche richterlichen Entscheidungen seit den 1960zi-
gern getroffen bei denen die richtige Wahrung dieser Schranken
streitig geworden ist Die Entscheidungen (Franchovich- Bras-
serie du pecheur-Urteile)27 uumlber die Errichtung der sog europauml-
ischen Staatshaftung dienen als gute Beispiele Die Essenz die-
ser EU-Beschluumlsse besteht darin dass die einzelnen Mitglied-
staaten gegenuumlber ihren Staatsbuumlrgern mit der Ermoumlglichung
des Anspruchs auf Schadenersatz bezuumlglich der angemessenen
Uumlbernahme und Anwendung des Unionsrechtes verantwortlich
gemacht wurden Die Errichtung der Institution der Staatshaf-
tung ist wieder ein ernsthafter Schritt in die Richtung der In-
tegration gewesen und die zugleich auch Streit hervorgerufen
hat ob der EuGH uumlberhaupt uumlber angemessene Kompetenzen zu
einem solchen Schritt verfuumlgt Zu einer vollstaumlndigen Pruumlfung
der Kompetenzen des EuGH gehoumlrt die Aufdeckung zahlreicher
weiterer Teilbereiche (Subsidiaritaumlt effet utile usw) jedoch
muumlssen wir uns auf die folgenden Bemerkungen einschraumlnken
Die Schaffung eines solchen Richterrechtes das die der Staats-
haftung aumlhnlichen Rechtsfortbildung folgt kann nach Michel
25 Christoph U Schmid The ECJ as a Constitutional and a Private Law Court Bremen ZERP an der Univ Bremen Bremen 2006 S 24
26 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff und 320 ff und Streinz
EUVAEUV 3 Aufl CHBeck Muumlnchen 2018 S 210 Rn 14-16 und dazu auch Schmid aaO S 22-28
27 (Rechtssachen C-690 und C-990 1991 sowie C-4693 und C-4893
1996)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 22
nur in jenen Faumlllen akzeptiert werden wo sie solchen Zielen
dient die nicht im Gegensatz zu den in den Gruumlndungsvertraumlgen
offenbarten Willen der Mitgliedstaaten stehen Auszligerdem brin-
gen sie die Rechtsstaatlichkeit und die Wirksamkeit des Euro-
parechtes voran Michel sieht das Problem darin dass solche Ur-
teile nur ausnahmsweise vorkommen sollten dagegen ist der
EuGH einerseits ndash mit den Worten von Michel ndash der bdquoWegbre-
cher der Integrationrdquo andererseits bdquoder Notgesetzgeberrdquo der EU
Der EuGH hat nunmehr ein gewisse bdquoquasi Kompetenzldquo die
dadurch legitimiert wird dass die Mitgliedstaaten solche Ent-
scheidungen des EuGH einfach stillschweigend akzeptieren28
bdquoDennoch muss man aus rechtstaatlicher Sicht wie aus Rechts-
sicherheitsgruumlnden die Akzeptanzkompetenz als echte Organ-
kompetenz des EuGH ablehnenrdquo ndash schreibt Michel29
II Die rechtliche Grundlage die bdquoWahrung des
Rechts zu sichernldquo
Die Grundlage des Richterrechtes das im Rahmen der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH geschaffen wird wird von ei-
ner permissiven Interpretation der Wendung bdquosichert die Wah-
rung des Rechtsrdquo in der Fachliteratur gegeben30 und sie umfaumlngt
nach dieser Interpretation auch die richterliche Rechtsfortbil-
dung des Unionsrechtes Diese breite Interpretation wird damit
begruumlndet dass der Richter nicht nur im sog bdquocommon lawldquo
Rechtskreis sondern auch in der europaumlischen Rechtstradition
mehr als bloszlig bdquoder Mund des Gesetzesldquo war Auch das BVerfG
hat sich mit dieser Frage in seinem UStRiL-Urteil beschaumlftigt
und sich auf die Uumlberlieferungen des Gemeinen Rechts des Rouml-
mischen Rechts bzw des englischen common law berufen Es
hat das festgestellt dass die Gruumlndungsvertraumlge auch aus der
Perspektive der europaumlischen rechtsgeschichtlichen Traditionen
interpretiert werden sollen Ein weiteres Auslegungsargument
ist dass die EU vor allem eine bdquoRechtsgemeinschaftldquo ist und
als solche braucht es die aktive integrierende Taumltigkeit des
EuGH damit das die Harmonie des Gemeinschaftsrecht verbuumlr-
gen kann bdquo(hellip) Der EuGH (muss) in gewissen Grenzen zur Ver-
wirklichung des Rechts Normen schaffen duumlrfen um das Recht
zu sichern wenn diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht
zu erreichen ist ndash schreibt Walter31
E Der Versuch der demokratischen Legitimierung
der Taumltigkeit von EuGH
I Die Unabhaumlngigkeit und die juumlngsten Urteile des
EuGH
Die herausragende Bedeutung des EuGH innerhalb der EU
kommt aus seinem umfangreichen Wirkungsbereich sowie aus
sonstigen organisatorischen Umstaumlnden Solch ein bdquoorganisato-
rischer Umstandrdquo ist dass mehrere Mitglieder des Organismus
EU einander in den unterschiedlichen Verfahren ergaumlnzen und
28 Vgl dazu Michel aaO S 157 ff und 162 ff 29 Michel aaO S 170 30 Vgl dazu Michel aa O S 24 ff und Calliess-Ruffert-Blanke EUV-
AEUV das Verfassungsrecht der Europaumlischen Union mit Europaumli-
scher Grundrechtecharta Kommentar 5 Aufl CH Beck Muumlnchen
2016 S 311 ff Rn 12-18 und dazu auch Streinz aaO S 209 f
RN 12-16
kontrollieren ihre Arbeit sich in einer speziellen Wechselwir-
kung verwirklicht Daraus folgt dass die klassische These der
Gewaltenteilung sich in diesem Bezug nicht durchsetzt Der
EuGH verfuumlgt uumlber eine ziemlich groszlige Unabhaumlngigkeit Dazu
wesentliches Kompetenzpotenzial konzentriert sich in seiner
Hand Aus Hinsicht der Mitgliedstaaten ist die Position des
EuGH noch staumlrker Die Judikatur des EuGH schraumlnkt sowohl
die nationalen Parlamente sowie die Verfassungsgerichte als
auch die nationalen Gerichte stark ein Die nationalen (Verfas-
sungs-) Gerichte muumlssen auf das Unionsrecht sowie auf die Ur-
teile des EuGH Ruumlcksicht nehmen und daruumlber hinaus sogar an-
wenden wenn die gerichtliche Rechtsauslegung dem Unions-
recht entsprechen soll Aus diesem Grund verlagert sich das
Machtpotenzial von den Mitgliedstaaten hin zum EuGH Die de-
mokratische Legitimation dieses Machtpotentials wird sowohl
in der organisatorischen Struktur der EU als auch aus Richtung
der Mitgliedstaaten beansprucht
bdquoInsbesondere im Hinblick auf die enorme Bedeutung und Autoritaumlt
des EuGH und EuG im institutionellen Gefuumlge der EU scheint die Frage
nach deren demokratischer Legitimation unausweichlich und von
grundsaumltzlicher Bedeutung zu sein (hellip) Diese beiden Fundamentalprin-
zipien beeinflussen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander
verbunden und bauen ein Spannungsverhaumlltnis zueinander aufrdquo
ndash Kathrin F Baltes32
Die Kritiker des EuGH lassen nach Baltes ein sehr wichtiges
Postulat auszliger Acht die richterliche Unabhaumlngigkeit Die An-
forderung der Unabhaumlngigkeit zieht eine Grenzlinie fuumlr die Er-
weiterung der demokratischen Legitimation des EuGH Das Er-
fordernis der Unabhaumlngigkeit wurde auch in den juumlngsten Urtei-
len33 des EuGH bekraumlftigt Nach der Rechtsprechung des EuGH
ist die richterliche Unabhaumlngigkeit bdquovon grundlegender Bedeu-
tungldquo und ein wichtiger Eckpfeiler der modernen rechtsstaatli-
chen Demokratie und im Vergleich zu den zwei anderen Staats-
gewalten schreibt sie der Judikative spezielle Anforderungen
vor Der Richter der im gegebenen Fall Entscheidungen treffen
soll sollte vollstaumlndig unabhaumlngig von anderen Organisationen
und politischen und sonstigen Einfluumlssen sein Der Richter soll
auf die Gesetze Ruumlcksicht nehmen und darf bei der Ausuumlbung
seines Amtes von niemandem angewiesen werden und seine
Entscheidungen duumlrfen nicht von anderen (nicht gerichtlichen)
Organen uumlberpruumlft werden Der EuGH hat vor kurzem in seinem
Urteil ausgesprochen dass die unabhaumlngige Einrichtung des Ge-
richtes sowohl auf der Ebene der Union als auch auf der mit-
gliedstaatlichen Ebene unerlaumlsslich ist Sehr wichtig ist dass der
EuGH auch den ndash auf der Charta basierenden ndash Grundrecht-
schutz fest mit der richterlichen Unabhaumlngigkeit zusammenge-
bunden hat und zugleich als Bedingung einer bdquoreibungslosenldquo
justiziellen Kooperation bestimmt hat Zu der richterlichen Un-
abhaumlngigkeit gehoumlrt die bdquovoumlllige Autonomieldquo ndash hat der EuGH
31 Walter aaO S 145 32 Baltes Kathrin F Die demokratische Legitimation und die Unabhaumln-
gigkeit des EuGH und des EuG Peter Lang Frankfurt am Main 2011 S 3
33 (Rechtssachen C-6416 EUC2018117 und C-21618 PPU
EUC2018586)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 23
betont Ein entscheidendes Moment ist also die Unabhaumlngigkeit
gegenuumlber nationalstaatlichen Einfluumlssen
II bdquoZeitgemaumlszligeldquo Legitimationsmodelle
Man muss zur umsichtigen Festsetzung der Position des EuGH
die Legitimationsart der EU untersuchen Die Errichtung der mit
den Nationalstaaten analog einhergehenden demokratischen Le-
gitimation ist ndash ohne Zweifel ndash problematisch in Bezug auf die
EU Allerdings betont Baltes gebe es zwar kein einheitliches
bdquoeuropaumlisches Demosrdquo aber das bdquoVolkrdquo ndash im Einklang mit den
europaumlischen gesellschaftlichen Tendenzen - ist nicht monis-
tisch kollektiv sondern soll pluralistisch individuell interpre-
tiert werden34 Dies ist ein entscheidender Punkt weil die EU
auf einer sog dualistischen Legitimationsbasis beruht Der si-
multane Status der mitgliedstaatlichen und europaumlischen Staats-
buumlrgerschaft ermoumlglicht die demokratische Legitimation sowohl
auf EU-Ebene die von der Institution des Europaumlischen Parla-
ments praumlsentiert wird als auch auf der Ebene der Mitgliedstaa-
ten die ndash auszligerhalb des EP ndash vom Ministerrat und dem Europauml-
ischem Rat realisiert wird Waumlhrend nach einigen die mitglied-
staatliche Legitimationsbasis Vorrang hat hat nach anderen die
bdquoeuropaumlischerdquo Legitimationsbasis Der EuGH hat sich schon in
seinen fruumlheren Urteilen (zB 13879 Roquette Freacuteres vs Rat)
eher fuumlr die letztere Variante ausgesprochen mit der Begruumln-
dung dass das EP bdquo(altough limited) it reflects at Community
level the fundamental democratic principle that the people
should take part in the exercise of power through the intermedi-
ary of a representative assemblyldquo Baltes unterstreicht ihre
Gleichwertigkeit als die Entwicklung der EU von Baltes als ein
solcher bdquodynamischer Prozessrdquo bezeichnet wird bdquoder nicht auf
ein konkretes starres und ausnahmsloses Prinzip beschraumlnkt
werden kannrdquo35
Laut der Klassifikation von Baltes kann die demokratische
Relation zwischen der EU und den Staatsbuumlrgern grundsaumltzlich
durch zwei unterschiedlich logische Mechanismen ferner durch
die Kombination derselben geschaffen werden Der erste Me-
chanismus ist die sog bdquoLegitimationsruumlckkopplungrdquo die darauf
fokussiert ob die Machtausuumlbung auf den buumlrgerlichen Willen
bzw auf dessen Initiative zuruumlckgefuumlhrt werden kann Unter-
schiedliche Schemata wurden als Methoden der Ruumlckkopplung
bearbeitet zB die Schemata der bdquoLegitimationskettenrdquo oder
des bdquoKontrollmodellsrdquo Im Fokus der Legitimationsketten steht
das Volk als die staumlndige und kontinuierliche Quelle der Staats-
gewalt Zwar gibt es Abweichungen zwischen den einzelnen un-
terschiedlichen praktischen Formen (institutionelle formelle
persoumlnliche inhaltliche Legitimation usw) aber ndash nach der all-
gemeinen Form des Schemas ndash das Volk soll das Parlament
waumlhlen und dem im Wesentlichen alle anderen oumlffentlich-recht-
lichen Anstalten unterordnen Die Regierungsmacht ist durch
ihre parlamentarische Verantwortlichkeit und auch durch kon-
kretes Weisungsrecht sowie durch Rechtsvorschriften die vom
34 Baltes aaO S 65 35 AaO S 83
Parlament als Legislative konstituiert werden begrenzt Die Le-
gitimationskette beruht auf dieser Dependenz Es ist sichtbar
dass die Jurisdiktion schwerer in die Legitimationskette einge-
fuumlgt werden kann und sie ist daher auch schwerer auf den Volks-
willen zuruumlckzufuumlhren Die Spannung kann schlieszliglich nur in
der Ausgestaltung der strengen Gesetzesbindung von richterli-
chen Amtsbefugnissen in diesem Legitimationsverstaumlndnis auf-
geloumlst werden Diese Verkettung ist deshalb leicht angreifbar
und daruumlber hinaus entsteht ein weiteres Problem die Legitima-
tionskette auf der Ebene der EU kann ungeachtet der Dualitaumlt
der nationalen sowie Unionsstaatsbuumlrgerschaft nur bdquoschwer-
lichrdquo aufgezogen werden Aus dem Loumlsungsversuch dieses Di-
lemmas sind die weiteren Modelle die mehr oder weniger als
Ergaumlnzungen des Schemas der Legitimationskette dienen ent-
standen Die sog personale Legitimation ist daher wichtig in
diesem Themenbereich weil ihre Vertreter meinen dass die Le-
gitimationskette allein eben darum nicht maszliggeblich ist weil
der Bewegungsraum der Richter nie vollstaumlndig eingeschraumlnkt
werden darf zum Beispiel wegen der Notwendigkeit der Ent-
wicklung bzw Interpretation des Unionsrechts Daraus folgt die
Forderung dass die Auswahl der Richter bdquodemokratischrdquo so
zum Beispiel durch Parlamentsausschuumlsse stattfinden sollte
Man muss ndash nach einer anderen bdquoLegitimationsergaumlnzungrdquo ndash
mit fachlichen Vorschriften bzw Standards die Legitimations-
kette verstaumlrken (zB Amtshaftung die Publizitaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens bzw der gerichtlichen Beschluumlsse) Das Kon-
trollmodell basiert ebenfalls auf der derivativen Partizipation
sowie auf der Ruumlckkopplung des Volkswillens aber weicht in-
haltlich von der Auffassung des Legitimationsmodelles ab Der
Entwickler dieses Modelles Axel Tschentscher betont die fach-
lichen und auch persoumlnlichen Faktoren Der entscheidende
Punkt in diesem Modell ist die unabhaumlngige Position des Rich-
ters von anderen Institutionen abzusichern In Tschentschers
Auffassung ist die richterliche Rechtsschoumlpfung bzw die An-
wendung des Richterrechts in einer demokratischen Ordnung
daher nicht problematisch weil die Legislative ein bdquopraktischesrdquo
Revisionsrecht hat Falls das Parlament anders beschlieszligt kann
es eine von der richterlichen Entscheidung abweichende Rechts-
norm schaffen ndash legt Baltes das theoretische System von Tsch-
entscher dar36
F Fazit
Wie man das auch basierend auf dem oben dargestellten
wahrnehmen kann koumlnnenmuumlssen wir den Demokratieldquoindexldquo
der europaumlischen Organisationsstruktur nunmehr auf mehreren
Ebenen analysieren und ndash zu einem authentischen angemesse-
nen Ergebnis ndash die Problematik der WTO-Struktur und der sog
bdquoJuristokratieldquo bzw bdquoWeltkonstitutionalisierungldquo (siehe oben
bei Ehs) das Dilemma des Parlamentarismus (siehe oben bei
Veil) und auch der Mitgliedstaaten (siehe oben z B bei den
Ultra-Vires Handlungen) etc zusammen betrachten und pruumlfen
Es bedarf daher noch weiterer Pruumlfungsschritte Daraus ergibt
sich dass wir uns auf die folgenden Feststellungen beschraumlnken
muumlssen
36 AaO S 86 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 24
Ein wichtiger Punkt ist dass bedeutende Theoretiker das un-
verzichtbare Element der Demokratie im Parlamentarismus
wahrnehmen Das Fehlen eines tatsaumlchlich funktionierenden
Parlamentes kann auf der Ebene der EU festgestellt werden weil
wichtige gesellschaftliche und politische Bedingungen dazu
nicht oder nur mangelhaft vorhanden sind Es ist zu betonen
dass der Mangel an Parlamentarismus daher problematisch ist
weil die europapolitischen richtunggebenden Entscheidungen
nicht vom Volk bzw nicht von den europaumlischen Buumlrgern be-
stimmt werden koumlnnen Wie im zweiten Teil dargestellt wurde
hat der EuGH ndash nach zB Michel - seit den Sechzigern diese
quasi (bdquoersatz- oder not-bdquo) gesetz- und richtunggebende Rolle
des Parlamentes teilweise uumlbergenommen Baltes weist ndash siehe
den dritten Teil der Untersuchung ndash auf die besondere Bedeu-
tung der institutionellen Unabhaumlngigkeit des EuGHs hin aller-
dings unterscheiden sich seine Legitimationskonzepte grund-
saumltzlich von den bdquotraditionellenldquo nationalstaatlichen Demokra-
tievorstellungen d h von der auf der Volkssouveraumlnitaumlt basie-
renden parlamentarischen Demokratie Falls die Befugnisse des
EuGH weiterhin so weitreichend bleiben kann man schwierig
das institutionelle Gefuumlge der EU nicht als juristokratische
Machtstruktur definieren In diesem Bezug scheint Hans Kel-
senrsquos Stellungnahme uumlber die Notwendigkeit der Einheit der
staatlichen Gewalten aus der Hinsicht der Demokratie voraus-
schauend und bemerkenswert zu sein Das Erfordernis der rich-
terlichen Unabhaumlngigkeit und das sehr groszlige Kompetenzpoten-
zial ohne wirklich funktionierende parlamentarische Gegenkon-
trolle bedeuten zusammen auf der Ebene eines sich noch immer
entwickelnden Staatenverbundes eine bedeutsame Machtkon-
zentration in der Hand des EuGH Also was unsere Grundfrage
angeht d h ob die europaumlischen Buumlrger wirklich einen demo-
kratischen effektiven Einfluss auf die Entscheidungen der EU
ausuumlben koumlnnen kann man nicht eindeutig mit bdquojaldquo oder bdquonein
beantwortet werden Muumlnch und auch Baltes schreiben uumlber eine
bdquozeitgemaumlszligeldquo Demokratievorstellung die die Gesellschaft plu-
ralistisch und individualistisch betrachtet Die sog bdquoOutputldquo-
oder Ergebnislegitimationsmodelle koumlnnen sich zwar als sehr
wichtige Bestandteile eines demokratischen Gefuumlges des EuGH
bzw der EU erweisen allerdings ersetzen sie nicht die demo-
kratische Funktion des zur Zivilgesellschaft gehoumlrenden (siehe
oben bei Habermas) Parlamentes Daruumlber hinaus liegt auch ein
weiteres Problem mit der Ergebnislegitimation vor Wie schon
im ersten Kapitel dargestellt wurde bedeutet die sog Elitebil-
dung immer eine ernsthafte Gefahr fuumlr die Demokratie Sofern
die Einzelnen als bdquoVolkldquo ihren Willen durch das Parlament nicht
zu validieren vermoumlgen und so auch Schumpeterrsquos Wettbe-
werbsmodell uumlber die bdquoHerrschaft der Politikerldquo marginalisiert
wird wird das Risiko der Herausbildung von Elitegruppierun-
gen noch beachtlicher Eine Demokratie muss den Rahmen des
politischen Kampfes (bdquoWettbewerbesldquo) der Mehrheits- und
Minderheitsansichten immer gewaumlhrleisten ferner das eine
Minderheitsmeinung zu einer Mehrheitsmeinung werden kann
Daraus folgt dass man unbedingt pruumlfen muss wie die Effizienz
des Parlamentarismus auch auf der Ebene der EU aussieht wie
die europapolitischen Auseinandersetzungen fuumlr die mitglied-
staatlichen Buumlrger wirksamer verdeutlicht werden koumlnnen und ndash
vor allem ndash wie die Kompetenzverteilung zwischen dem EP und
dem EuGH noch effektiver zugunsten der Prinzipien des Parla-
mentarismus ausgestaltet werden kann
Die Autorin hat bereits das erste juristische Staatsexa-men abgelegt und befindet sich derzeit im Masterstu-dium an der Universitaumlt zu Koumlln (Staatsrecht mit Bezuuml-gen zum Europa- und Voumllkerrecht)
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 25
Conditional consent as a valid legal ground for data processing
- a misbelief
-
Sonja Buumlhler
A Introduction
An inflationary use of personal data due to internet-con-
nected devices such as smart-TVs smartwatches fitbits
or smartphones and online services such as Spotify or
Netflix is taking place forming a valuable economic asset1
To counter this development there is a need to effectively
protect personal data of users Consumers often find
themselves in situations where they have no choice but to
agree to the processing of personal data if they want to
use a certain device or service
This article examines whether a term of use clause mak-
ing use of a device or service conditional on consenting to
data collection through the device is compatible with Arti-
cle 7(4) GDPR (II)2 Therefore it recalls the principle of
consent as a legal ground for processing (II1) and con-
siders under which conditions conditional consent is
freely given (II2) Thereby the article takes into account
the question whether a real choice of the user is denied
due to an imbalance of power I will argue that the imbal-
ance of power arises due to the form of the contract which
gives no opportunity for renegotiation (II21) I argue that
positive incentives to give consent cannot be considered
inadmissible force (II22) whereas factual dependency
and a lack of alternatives prevent free consent (II23)
Further I argue that withdrawing consent will most likely
lead to detriment and thus consent is invalid (II24) This
article will also show that data processing often is not nec-
essary for the contract and thus consent is very likely to
be invalid (II25) I will conclude that in many situations
conditional consent is not freely given under Art 7(4)
(II3)
In a second step I will discuss other safeguards of the
GDPR applying in this scenario (III) Those are especially
the principles of data processing namely the principle of
1 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regulation
(GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 2 All articles cited in the following are articles of the GDPR if not indicated
otherwise 3 Art 6(1) GDPR 4 Art 6(1)(a) GDPR For general information about consent as a justifica-
tion see D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford and Portland Oregon (2007) p 61 ff
purpose limitation (III1) data minimisation (III2) and ac-
countability (III3) I will conclude that consumers are not
always sufficiently protected by those safeguards from a
situation where they might be ldquoselling their soul for Netflixrdquo
(III4)
Hence the article considers other regulatory constraints
such as strengthening the rights of the user through con-
sumer protection law that are necessary in order to protect
users (IV)
After all I will find most of the conditional consents are
probably invalid and thus do not constitute a legal ground
for processing Currently the situation of the data subjects
in practice is not enhanced by the invalidity but the legal
situation has to be improved (V)
B Consent - when can conditional consent be
considered freely given
I Principle of consent as a legal ground for
processing data
Following the rule and exception doctrine of the GDPR pro-
cessing data is always considered unlawful except if one of the
legal grounds of Art 6 applies3 The legal ground considered in
this article is consent Data processing is lawful when the data
subject gave consent to it4 Very often consent will be given by
accepting privacy policies5 It is questionable if and under
which circumstances processing of personal data can be based
on consent in the special situation when consent is a condition
for using a device or service such as smart TVs Fitbits or Net-
flix
To illustrate the findings of this article I will use the online
service Netflix as an example Nevertheless the general find-
ings made in this article can be applied to any other kind of in-
ternet-connected device or online service if its use is conditional
on giving consent6
5 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 They state
The controller can achieve this either by way of contractual means (by
stating in the contract that it will only be performed if consent for certain processing is provided) or through technical means (eg through an app
which does not install or function if consent is not provided) 6 The problem of conditional consent arises also in context with tracking
walls when consent has to be given in order to be able to get access to a
website See therefore F J Zuiderveen Borgesius S Kruikemeier S C
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 26
II Freely given conditional consent - nearly
impossible due to imbalance of power
Consent is any freely given specific informed and unambigu-
ous indication of the data subjectrsquos wishes by which he or she
by a statement or by a clear affirmative action signifies agree-
ment to the processing of personal data relating to him or her7
This definition confirms that giving consent is an expression of
self-determination8 Out of those requirements for valid consent
the words freely given are of special interest in cases where
consent is conditional for the performance of a contract or for
providing a service
In those constellations the user is in an especially vulnerable
position and extremely likely to give consent to the use of per-
sonal data Whether consent that is conditional for the perfor-
mance of a contract or providing the service is really given
freely has to be considered carefully with special relevance9
As Recital 43 lines out consent should not provide a valid legal
ground for the processing of personal data in a specific case
where there is a clear imbalance between the data subject and
the controller10 The purpose of Art 7(4) is to ensure that con-
sent to the processing of personal data which is necessary for
conducting the contract or service is not bundled with consent
to data processing which is not necessary for the contract11
Nevertheless it does not contain an absolute ban that condi-
tional consent can be given freely but it has to be considered
with the utmost scrutiny for each case depending on the con-
text and circumstances
So to come back to our case the question arises whether
there is an imbalance of power between the user and the control-
ler (eg Netflix) that could preclude free consent A clear imbal-
ance is assumed in relation with public authorities and employ-
ers12 In this case the imbalance of power due to subordination
is apparent The question is whether the same degree of imbal-
ance can be established between the producers of smart devices
or providers of online services and their users
1 Imbalance expressed by form contract
First of all it has to be considered that the terms of contract usu-
ally cannot be renegotiated as they are part of a form contract
The two contracting parties are not at eye level but the user is
Boerman N Helberger Tracking Walls Take-It- Or-Leave-It Choices the GDPR and the ePrivacy Regulation (2017) European Data Protec-
tion Law Review pp 353-368 7 GDPR Art 4(11) Relevant Recitals of the GDPR are Recital 32 and 33 8 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 169 9 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 218 10 Recital 43 GDPR 11 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 B Kostić E Vargas Penagos The freely given
consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computer-
recht p 218 12 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 7 Recital 43 S 1 GDPR 13 See for this opinion also M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data
Protection through Consumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Re-
view Vol 5 Issue 1
in a weaker bargaining position and does in fact not have the
possibility to introduce his own interests into the contract The
user only has the possibility to accept the terms or not to con-
clude the contract13 This so called structural power of the con-
troller limits the private autonomy of the user14 Thus it appears
that the form of the contract and the way by with the contract is
concluded (namely without any possibility to negotiate or adjust
it) already implies an imbalance of power15
2 Imbalance due to lack of real choice - Impact of
negative and positive forces
Secondly an imbalance exists when the user has no real choice
whether or not to give consent Only if such a real choice exists
the consent is valid
For having a genuine and free choice consent has to be given
without external force Force can be negative in the form of
threat making a consent invalid but there is also positive force
which is an act of force that intends to influence the individual
in a positive way such as an inducement16 Positive force does
not itself make consent invalid and can be considered a weaker
kind of force Those influences can eg be of financial emo-
tional or practical nature17 Consent is still freely given even
when a small degree of positive pressure is exercised on the in-
dividual18 This is rather a resistible offer than an actual
threat19 An example is a shopping discount in return to using a
bonus card collecting user information It can be hard to draw a
line between a simple incentive and a real influence on the free-
dom of choice of the data subject20
But in the case of smart devices or online services the pres-
sure exerted on users to consent is not negative force but rather
positive force as the consent establishes the possibility to gain
access to a service or use a special device It expands the free-
dom of action of each user by giving the opportunity to use the
device or service There is an incentive to give consent in order
to use the device which is making life easier but that could also
be resisted This positive force as such does in my opinion not
amount to a limitation of the freedom of will and does not estab-
lish an imbalance of power
3 Imbalance due to lack of choice - Impact of factual
14 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
3 15 The article comes back to this issue and gives an answer how this prob-
lem could be tackled through consumer law See below at V 16 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 172 On unforced choice see also D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford
and Portland Oregon (2007) pp 131 f 17 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14 18 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 173 19 R R Faden T L A Beauchamp A History and Theory of Informed Con-
sent (1986) p 340 20 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 27
dependency and lack of alternatives
But even without negative force consent can still be unfree if
there is a factual dependency on the device or service and a lack
of alternatives If the service or device it is indispensable it is
likely that there is a relationship of dependency between the
controller and the data subject and thus there is no balance of
power21 This is even more likely if a controller does have a
monopoly22
Users clearly always have the choice not to use the device or
service at all Many modern electronic devices such as smart
watches Fitbits or smart TVs can (still) be replaced by devices
not connected to the internet and thus not requiring personal data
(like traditional watches TVs DVDs) In the current status of
the society people are not completely relying on internet-con-
nected devices So if there is an alternative on the market that
does not require personal data a free choice might be given23
Maybe this changes within the next centuries but right now
there is no dependency on smart devices or online services com-
parable to the dependency to your employee or public authori-
ties So from this point of view the data subject has a free
choice whether or not to give consent
But the question is how realistic it is that this choice can be
made against the use of smart devices or services It has to be
seen that in our modern society users are largely depending on
the use of electronic devices and services (such as laptops
smartphones or tablets) for example for school university and
work but also for their social and private life Choosing not to
use certain devices or services means excluding oneself from
many advantages benefits and possibilities The everyday use
of data processing devices will even increase in the future24
However the Article 29 Working Party in contrast takes a
different starting point It asks for a data-processing-free
choice within one controller and not a choice between different
market players25 The performance or conduct of a contract must
not depend on consent to data processing even if the user could
have access to an equivalent and reasonable service somewhere
else at the market where the user does not need to give consent
to data processing26 This seems convincing as otherwise the
freedom of choice would depend on the existence of equivalent
services or devices by other market players which is outside the
area of influence of the controller27 The choice is not between
21 A Golland Das Kopplungsverbot in der Datenschutz-Grundverordnung
Anwendungsbereich oumlkonomische Auswirkungen auf Web 20-Dienste
und Loumlsungsvorschlag (2018) Multimedia und Recht p 132 22 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 43 23 See for this view the example 31 on External choice in B Kostić E
Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision
under the GDPR (2017) Computerrecht p 222 24 See for more information and examples C Storr P Storr New Technol-
ogy Big Data and the Law The internet of things Right to Data from a
European Perspective (2017) pp 65 - 96 25 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9 f 26 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 45 27 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9
use or not use the device or service but between use one and
the same device or service with or without data processing28
This more user-friendly approach would require each control-
ler to offer an alternative to the conditional use of data So if
two versions of a product or service are offered eg a more ex-
pensive version where you do not have to give consent to data
processing the data subject has a real choice whether he or she
wants to pay with their data or not29
This approach can be criticized as consent in those cases
would technically speaking not be conditional anymore as the
service or device can also be used without the consent30 Offer-
ing two options would make conditional consent obsolete But
in my opinion this criticism mistakes that each of the two pos-
sible choices (pay more without data processing or pay less with
data processing) has to be considered separately When the user
decides not to pay money for the use of a service but to give
consent to the use of its data the consent in this particular situ-
ation is conditional But the user has a free and genuine choice
to get the same service without giving consent to data pro-
cessing
I conclude that in many cases a real choice has to be doubted
There might in some cases be a factual dependency on the de-
vice or service But even if there is no factual dependency there
is often a lack of real choice if the controller does not an offer
data-processing-free alternative
4 No free will due to detriment when withdrawing the
consent
Furthermore consent is only valid if it can be refused or with-
drawn without detriment31 Vice versa it is unfree if the user is
penalised or suffers detriment when withdrawing consent Pos-
sible detriment can be deception intimidation coercion or sig-
nificant negative consequences32
For better clarity Art 29 Working Party gives an example
constituting detriment33 In this example a lifestyle phone app
wants to get information about the movements of its users using
the accelerometer of the phone This data is not necessary for
the app to work Once the consent to use the accelerometer is
withdrawn the app only works to a limited extend This amounts
to detriment under Recital 42 GDPR and thus consent was not
valid
28 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 with further references 29 This opinion is also shared by L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU Gen-
eral Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 30 See for this criticims L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General Data
Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 31 Recital 42 last sentence 32 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 10 already Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition of Consent p 12 regarding consent
under Art 2 h DPD Art 2 lit h DPD stated Consent can only be valid if
the data subject is able to exercise a real choice and there is no risk of de-ception intimidation coercion or significant negative consequences if
heshe does not consent 33 See Example 8 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p 11
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 28
So in the case of smart devices and services their restriction
in use after withdrawing consent amounts to detriment If a user
does not give consent to data processing by his or her internet-
connected TV the TV cannot be used in the first place This
means the owner cannot use his or her property thoroughly And
if the consent is withdrawn later the TV can most probably not
be used anymore It is thus very likely that in most cases of con-
ditional consent detriment (eg regarding the usage of their
property) will happen meaning that the consent is not freely
given
5 Is consent not freely given when data processing
(or consent) is not necessary for performing the
contract
Art 7(4) states that for considering whether consent has been
given freely ldquoutmost account shall be taken of whether (hellip) the
performance of a contract (hellip) is conditional on consent to the
processing of personal data that is not necessary for the perfor-
mance of the contract Additionally Recital 43 S 2 GDPR pre-
sumes that consent is not given freely when consent is not nec-
essary for the performance34 The burden of proof to disprove
this assumption lies with the controller35
Considering the wording of Art 7(4) it is somewhat unclear
whether the words ldquothat is not necessaryrdquo relate to ldquoconsentrdquo or
to ldquothe processing of personal datardquo Comparing the English and
the German versions of the GDPR it catches the readerrsquos eye
that the German version quite explicitly relates the necessity-
requirement to the processing of personal data that is not nec-
essary for the performance of the contract (the translation would
literally be whether ldquoit is conditional on consent to the pro-
cessing of various36 personal data that are not necessary for the
performance of the contractrdquo)37 This difference in the German
version is regarded as being a translation error by some authors
claiming that the validity of consent should be considered de-
pending on whether consent is necessary for the performance of
the contract38 This finding also seems to be supported by Re-
cital 43 S 2 Recital 43 S 2 assumes that consent is not freely
34 Recital 43 sentence 2 GDPR Consent is presumed not to be freely given
() if the performance of a contract including the provision of a service
is dependent on the consent despite such consent not being necessary for
such performance 35 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 219 f 36 various was added by the author to clarify that personal data is in the
form of plural in the German text 37 Art 7(4) DSGVO bdquoBei der Beurteilung ob die Einwilligung freiwillig
erteilt wurde muss dem Umstand in groumlszligtmoumlglichem Umfang Rechnung getragen werden ob unter anderem die Erfuumlllung eines Vertrags ein-
schlieszliglich der Erbringung einer Dienstleistung von der Einwilligung zu
einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhaumlngig ist die fuumlr die Erfuumlllung des Vertrags nicht erforderlich sindldquo
38 This opinion is taken in L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General
Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 39 This is also the leading opinion in literature see eg P Voigt A von dem
Bussche The EU General Data Protection Regulation (GDPR) A Practi-
cal Guide (2017) p 96 40 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 41 This conclusion is also in line with the interpretation of Art 29 Data Pro-
tection Working Party Guidelines on Consent under Regulation 2016679
p 9
given if the performance of a contract including the provision
of a service is dependent on the consent despite such consent
not being necessary for such performance
However to base an interpretation on an alleged translation
error is not convincing Following a teleological approach in-
stead it is more likely that it plays a role whether data pro-
cessing is necessary and not whether consent is necessary39 The
purpose of Art 7(4) is to ensure that personal data processing is
not disguised nor bundled with the provision of a contract of a
service for which these personal data are not necessary40 Vice
versa if data processing is indeed necessary to perform the con-
tract or service Art 6(1)(b) will already be a legal ground for
processing So Art 7(4) in fact only applies to data processing
that is not necessary for the contract or service41
It is thus decisive whether the data processing is necessary
for the performance of the contract42
The meaning of necessary in Art 7(4) could be the same as
in Art 6(1)(b)43 Thereby a strict interpretation should be ap-
plied excluding everything that is ldquonot genuinely necessary for
the performance of a contract but rather unilaterally imposed on
the data subject by the controllerrdquo44 There needs to be a direct
and objective link between the processing itself and the purposes
of the contractual performance expected from the data45 So in
order to assess what is necessary the scope of the substance
and fundamental objective of the contract has to be consid-
ered46 This does not mean that processing is necessary for the
contract just because it is mentioned in the contract47 But pro-
cessing is necessary if it is a targeted and proportionate way of
achieving the purpose of the contract and it is not necessary if
the controller can reasonably achieve the purpose by some
other less intrusive means48 An example for necessary data
processing eg is the processing of credit card details in order to
conduct payments49
But let us take a closer look to the example of Netflix50 Net-
flix uses a lot of information such as demographics location
42 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7 subparagraph 41
43 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 44 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 45 Art 29 Data Protection Working Party Opinion on recent developments
on the Internet of Things p 15 46 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 47 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 48 ICO Guide to the General Data Protection Regulation (GDPR) Lawful
basis for processing August 2018 p 5 49 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 50 The information used here is taken from Netflix Privacy Policy available
at httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policy last access on
141218
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 29
language movie queues made by users ratings but also inter-
actions of the users such as scrolls mouse-overs clicks or the
time spent on a given page51 All this data is used to optimize
the user experience and give custom-fit recommendations in or-
der to make the user spend more time on Netflix The recom-
mendation system Netflix has is one of its main business driv-
ers52 But data is also shared with processing partners for adver-
tisement purposes53 It can be argued that the recommendation
of movies is also part of the contract between the user and Net-
flix This would be the case if the user and Netflix agree that
the recommendation is part of the service offered by Netflix In-
deed many users might appreciate the recommendations If this
is the case then the right legal ground for data processing would
not be consent but contract54
Following Art 29 Working Party building a profile of the
users tastes (hellip) based on his clickstream on a website is not
covered by the contract on delivering a certain good or service55
The purpose of the service (Netflix) is to offer access to movies
and series in return for a monthly payment Netflix can also offer
videos without knowing the personal preferences viewing hab-
its or location of the user All additional data that is eg used for
advertisement purposes is not needed for the contractual obli-
gations Thus a lot of data that Netflix processes is not neces-
sary and thus consent is presumed to be not freely given and thus
invalid56
III Conclusion
It has been shown that conditional consent has to overcome
many obstacles in order to be valid It is very likely that condi-
tional consent under Art 7(4) is not valid due to an imbalance
of power due to the form of the contract and the lack of a real
choice This is not only the case when a user depends on the
devices or services A lack of choice also exists if within one
market player there is no data-processing-free option Addi-
tionally when the withdrawal of consent for data processing that
is not necessary for the contract leads to a restriction of the use
of the device or the service consent is not freely given
In the end there is the presumption that conditional consent
to processing that is not necessary for the contract is unfree The
processing consented to is most of the time not necessary for the
contract Then consent is invalid meaning the processing bears
a legal ground and thus is illegal
51 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p4 52 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p2 53 see Netflix Privacy Policies available at httpswwwwhats-on-net-
flixcomprivacy-policygdpr-information last access on 141218 54 Art 6(1)(b) GDPR 55 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 56 Recital 43 S2 GDPR 57 Art 5 GDPR 58 Art 5(1)(b) GDPR
C Other safeguards of the GDPR
Nevertheless if data is processed by the controller there are still
other safeguards protecting personal data namely the principles
for data processing57 Those are the principles of lawfulness
fairness and transparency purpose limitation data minimisa-
tion accuracy storage limitation integrity and confidentiality
and accountability Of special interest regarding conditional
consent are the principles of purpose limitation data minimisa-
tion and accountability
I The principle of purpose limitation
The principle of purpose limitation stipulates that data can only
be collected for specified explicit and legitimate purposes and
shall not be further processed in a manner that is incompatible
with those purposes58 The aim of this principle is that the us-
ers know what the data is used for Only than they can make an
informed decision whether to give consent to data processing59
There is a close connection to the necessity requirement of Art
7(4) because there the purpose of the contract has to be consid-
ered as well60
The purpose of data processing has to be specified whereby
the level of detail should be considered on a case-to-case basis
in order to tell the user why the data is processed and what is
intended to be done with it61
As a result of the purpose limitation principle many services
have published their purposes in their privacy policies It has to
be examined critically whether the outlines purposes are de-
tailed enough Controllers will tend do give as little detail as
possible Eg in the case of Netflix you will find some cryptic
purposes like to enhance costumer experience and to fulfil an
obligation under law or contract62 So in theory purpose limita-
tion seems to be a good safeguard which in practice might easily
fail
Further purpose limitation might not be enough of protec-
tion as it is limited itself If data shall be reused then the con-
troller shall take into account various factors eg the terms of
contract (Art 6(4)(b)) But shall is not giving the same level
of protection as if the controller must take those into ac-
count63
II The principle of Data minimisation and right to be
forgotten
The principle of data minimisation64 means that the amount of
collected personal data must be adequate relevant and limited
59 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 032013 on purpose limi-
tation p 46 at the end 60 Art 29 Working Party 2014 Opinion 062014 on the notion of legitimate
interests of the data controller under Art 7 of Directive 9546EC p 17 61 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 89 62 Netflix Privacy Policy How we use your personal data availabe at
httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policygdpr-processing last accessed 141218
63 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review p 5 64 Art 5(1)(c) GDPR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 30
to what is necessary in relation to the purpose for which they are
processed65 Personal data should be processed only if the pur-
pose of the processing could not reasonably be fulfilled by other
means66 What is adequate and relevant depends on the specific
purpose for processing so this principle is linked to the principle
of purpose limitation
Consent for processing that is not necessary for the perfor-
mance of the contract has to be scrutinized67 Whether pro-
cessing is necessary depends on whether it is adequate relevant
and limited to what is needed to achieve the determined purpose
Art 7(4) thus enforces the principle of data minimisation by its
necessity-requirement
Additionally data processing that cannot be consented to due
to Art 7(4) and thus has no legal ground The data subject
whose data have been processed without a valid legal ground as
a consequence of has the right to be forgotten68 which means
that the data has to be deleted
The principle of data minimisation thus is already inherent in
Art 7(4) As an infringement of this principle in context with
Art 7(4) will probably make the legal ground of consent invalid
controllers are well advised to be in compliance with this prin-
ciple
III Principle of accountability
The principle of accountability means that the controller is
responsible for compliance with data processing under the
GDPR69 It also includes a material obligation to demonstrate
compliance70 One expression of this obligation is that the bur-
den of proof whether free consent has been given lies with the
controller71
In the case of conditional consent consent is presumed not to
be freely given if it is not necessary for the performance of the
contract72 This means that the burden of proof in cases of con-
ditional consent is on the controller It has to proof that consent
was freely given and is thus valid The controller will only be
able to proof this that consent is valid if the consent is neces-
sary for the contract
IV Conclusion - are consumers sufficiently
protected from a situation where they might be
ldquoselling their soul for Netflixrdquo
This article has discussed the different scenarios in which con-
ditional consent is not valid due to Art 7(4) The data processing
65 Art 5 (1)(c) GDPR and also Recital 39 GDPR ICO Guide to the General
Data Protection Regulation (GDPR) Principle Data minimisation availa-ble at httpsicoorgukfor-organisationsguide-to-the-general-data-protec-
tion-regulation-gdprprinciplesdata-minimisation last access on
141218 66 Recital 39 GDPR 67 Art7(4) GDPR 68 Developed by ECJ ruling of 13 May 2014 Google Spain C-13112 Now
also in Art 17 Sec 1 lit a-f GDPR 69 Art 5(2) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010
on the principle of accountability p4 70 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010 on the principle of
accountability at Nr 41
principles shall give additional protection As Art 7(4) already
includes a lot of those principles indirectly I conclude that they
hardly add a higher level of protection
Even though the consent is invalid in many cases of condi-
tional consent and controllers thus have no legal ground for pro-
cessing this does not stop controllers from using consent as a
legal basis for a lot of data processing Due to the overwhelming
power of large companies acting as controllers users do not
have a choice and often feel like they have to give their consent
even though the consent is invalid Eg it has been shown that
from the perspective of the majority of people in Europe there
is no alternative than to provide personal information if you
want to obtain products or services73 Users will probably not
even be aware that their consent is invalid The asymmetry in
power of the user and the controllers hinders an uproar of the
users against this practice Also it is in the interest of the users
to have access to the service or use the device It does not serve
their interests that the law just declares the consent invalid with-
out any further actions following
D Lack of consumer protection - what other
regulatory safeguards should be considered
But how could this lack of consumer protection be tackled One
could argue that market forces themselves will develop a higher
level of protection of personal data meaning that users would
prefer services that use less data But this is a very unlikely sce-
nario as many different factors come into play when a user
chooses a certain device (such as prize availability personal
preferences)74 Also reality has shown that the market fails to
protect privacy So there is an urgent need for the legislator to
increase consumer protection
A possible regulatory constraint could be that controllers are
obliged to offer two versions of a service or device of which
one does not process unnecessary data but charging a fee75 But
a legal obligation to offer two versions would be an interfer-
ence with the principle of party autonomy and freedom of con-
tract of the controller and thus would has to be justified76
A different legal constraint could be to combine EU con-
sumer protection and data protection law forming a data con-
71 Art 7(4) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p9 72 Recital 43 GDPR 73 Special Eurobarometer 431 Data Protection June 2015 p 30 available
at eceuropaeucommfrontofficepublicopinionar-chivesebsebs_431_enpdf last access 141218
74 J Rauhofer Judith ldquoOne Step Forward Two Steps Back Critical observa-
tions on the proposed reform of the EU data protection frameworkldquo Jour-nal of Law and Economic Regulation (2013) Vol 6 No 1 2013 p 69
75 W Kerber Digital markets data and privacy competition law consumer
law and data protection (2016) Journal of Intellectual Property Law amp Practice p 862
76 Art 8 ECHR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 31
sumer law which could be beneficial especially as the con-
sumer market is more and more data driven77 Data protection
law deals with fair processing and protection of fundamental
rights and consumer protection law shall empower consumers
in situations where they have low bargaining power78 The lack
of power is the reasons why the users rights are not sufficient
to protect their privacy in practice A stronger interplay of data
protection and consumer law could strengthen the autonomy of
the users
As noted above it is not very helpful for the user if the data
processing is unlawful but no consequences follow This would
be different if the unlawfulness would result in concrete rights
for the user If a Smart-TV unlawfully processes data (eg be-
cause the consent is invalid) or cannot be used because the user
refuses to give consent an effective solution for the user would
be to have the right to return the TV79 Consumer law could in-
crease the options of users by offering remedies and strengthen
their market power80
Consumer law could further be used to assess the fairness of
terms and conditions on personal data and limit the possibility
of the controller to impose terms on the users81 This would be
possible as processing data is not considered the main subject
matter of the contract82 The conditions of the contract could be
assessed and conditional consent is probably likely to lead to
an unfair situation as the lack of real choice would be against
good faith83 As a consequence controllers cannot impose un-
fair terms on their users
E Conclusion and Prospect
I conclude that in the case of smart devices or online services
where consent is conditional to use them the consent is likely to
be invalid for various reasons It has been shown that the user
has no real choice due to an imbalance of power between him or
her and the controller This imbalance arises from the lack of the
possibility to renegotiate terms and conditions and from the lack
of data-processing-free alternatives Further consent is not free
as withdrawing will lead to detriment And consent is presumed
not to be valid in the many cases where data processing is not
necessary for the contract Other safeguards namely the data
processing principles of purpose limitation data minimisation
and accountability fail to add any additional protection as they
are already included in Art7(4) I also conclude that the effect
of invalidating the consent is of very little help for the data sub-
ject
77 This is eg suggested by N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1428 78 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-
tion law (2017) Common Market Law Review p 1436 79 See for this example N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-
sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1440 80 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
It is therefore essential having in mind the importance of data
protection as a fundamental right84 and the exploding amount of
data processed to consider other legal constraints for the future
The weak point of data protection and the GDPR in my view is
the lack of remedies that are really useful for the data subject
A combination with consumer law could help to protect the data
subjects rights more efficiently The article has exemplified two
points Consumer law could be used to apply its fairness test to
the contract involving data processing between the data subject
and the controller limiting the possibilities of the controller and
thus balancing the difference in power And it could be used to
create remedies such as a right to return a device that cannot be
used without illegal data processing
Overall Art 7(4) has the best intentions to protect data sub-
jects but further steps need to be taken to transfer those good
intentions into the reality of data subjects
Die Autorin hat im Fruumlhjahr 2018 die erste juristische Staatspruumlfung an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau abgelegt Derzeit absolviert sie ein LLM-Studium in Intellectual Property Law an der University of Edinburgh Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Seminares Data Protection and Information Privacy auf Grundlage einer dort gestellten Essay-Frage entstanden
7 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1449
81 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1451 Monopolkom-
mission Competition Policy The challenge of digital markets Special Re-
port No 56 at para 341 82 This is at least the case in the Digital Content Directive 83 Art 3(1) of the Unfair Contract Terms Directive 84 Art 7 Charter of Fundamental Rights
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 32
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo
-Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK-
-
Sarah Baukelmann
Abstract
Der Fall Gaumlfgen hat die deutsche sowie die europaumlische
Rechtsprechung vor eine Herausforderung gestellt Die
abweichenden Meinungen der einzelnen RichterInnen1 in
den zwei ergangenen Urteilen zeigt das Dilemma mit dem
sich die fuumlnfte Kammer und die Groszlige Kammer des
EGMR konfrontiert sahen In diesem Fall wurde der Taumlter
zum Opfer der polizeilichen Vernehmungsmethode Frag-
lich ist unter welchen Voraussetzungen ein Straftaumlter sich
selbst als Opfer der Justiz bezichtigen kann Und wie geht
der Gerichtshof mit diesem Fall um der methodologisch
normativ und moralisch an die Grenzen des Rechts und
der bisherigen Rechtsprechung stoumlszligt Vorweg sei gesagt
nicht einheitlich
Diese Arbeit hat zum Ziel den Umgang die Methodik und
das Ergebnis zu beleuchten
A Einleitung I Fakten
Gefasst wurde der 27-jaumlhrige Student der Rechtswissenschaften
Magnus Gaumlfgen am Nachmittag des 30 Septembers als er ei-
nen mit Loumlsegeld bezahlten gemieteten Mercedes abholen
wollte2 Die Polizeibeamten die unter der irrtuumlmlichen An-
nahme standen dass das Entfuumlhrungsopfer Jakob noch am Le-
ben sei befragten den mutmaszliglichen Taumlter bis 1Uhr nachts
Am Morgen des 01Oktobers 2002 bevor der leitendende
Hauptkommissar seinen Dienst antrat fuumlhrte der Kriminal-
hauptkommissar Ennigkeit das Verhoumlr Zu diesem Zeitpunkt
wurde der Elfjaumlhrige schon seit vier Tagen vermisst Er drohte
Gaumlfgen auf Anordnung des Vizepraumlsidenten der Frankfurter Po-
lizei Daschner mit der Zufuumlgung von massiven Schmerzen von
1 In dieser Arbeit wird wenn es sich um Maumlnner und Frauen handelt die ver-
kuumlrzte Form der Beidnennung verwendet um geschlechtersensibler und in-klusiver Sprache gerecht zu werden
2 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 82 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 3 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 96 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018)
einer speziell fuumlr diese Zwecke ausgebildeten Person wenn er
den Aufenthaltsort des Kindes nicht preisgebe3 Von Angst mo-
tiviert nannte der Beschuldigte nach etwa zehn Minuten die
Fundstelle der Leiche
Magnus Gaumlfgen wurde am 28072003 wegen Mordes in Tat-
einheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und
wegen falscher Verdaumlchtigung in Tateinheit mit Freiheitsberau-
bung in zwei Faumlllen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamt-
strafe verurteilt Zudem wurde die besondere Schwere der
Schuld festgestellt4
Die Polizeibeamten wurden wegen Noumltigung im Amt und
wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Noumltigung im
Amt fuumlr schuldig befunden und gegen beide Angeklagte eine
Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen Geldstrafen von
60 bzw 90 Tagessaumltzen zu je 60 Euro fuumlr Ennigkeit und 120
Euro fuumlr Daschner wurden hinsichtlich der Verurteilung ver-
haumlngt5
II Was und Warum
Die folgenden gerichtlichen Verfahren stellen in nur mehr als
einer Hinsicht bdquoGrenzfaumllleldquo sowohl fuumlr die deutsche als auch
die europaumlische Justiz dar die Exekutive uumlberschreitet ihre
rechtlichen Grenzen die Strafprozesspflege stoumlszligt an die Gren-
zen des Beweisverwertungsverbots und dessen Fernwirkung
der europaumlische Gerichtshof fuumlr Menschenrechte sieht sich mit
der Grenze des Grundrechtsschutzes insbesondere dem Verbot
der Folter und der Verfahrensgarantie des fairen Verfahrens
konfrontiert Kontrovers wird die Causa Gaumlfgen nicht nur in den
allgemeinen Medien diskutiert sondern ebenso im rechtswis-
senschaftlichen Diskurs6 Besonders deutlich wird dies anhand
der abweichenden Meinungen in den Urteilen des EGMR
III Wie
Die Disparitaumlt der Urteile sowie die -herrschenden und abwei-
chenden- Meinungen bezuumlglich der Rechtsfrage um den Entfall
4 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Tenor abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 5 LG FrankfurtM Urt v 20122004 ndash 527 KLs 7570 Js 20381403 (404) in
NJW 2005 S 692 (693) 6 Vgl aus dem umfangr Schrifttum zit nach Heinrich Goumltz Das Urteil gegen
Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes in NJW 2005
S 953 (953)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 33
der Opfereigenschaft und der Fairness des Verfahrens gilt es in
der Ausarbeitung dazustellen Zur Erreichung dessen ist es not-
wendig die Hintergruumlnde zu beleuchten und den Ablauf der
Verfahren auf deutscher Seite wiederzugeben
Daruumlber hinaus ist im anschlieszligenden Vergleich unter Her-
anziehung vergangener Rechtsprechung des EGMR der Ver-
fahrensgang nach Straszligburg zu beleuchten und zu erlaumlutern
Durch eine tripartitaumlre Darstellung (bisherige Rspr-EGMR I-
EGMR II) laumlsst sich das Urteil der Groszligen Kammer besser ta-
xieren und ein Gesamtergebnis zusammenfassen
B Hauptteil
I Deutscher Verfahrensgang 1 Urteil des LG Frankfurt
Anfaumlnglich erklaumlrte Gaumlfgen den Tod Jakobs nicht geplant zu
haben Nach eingehender Belehrung uumlber die Konsequenzen ei-
ner Aussage hat Gaumlfgen sich in der Hauptverhandlung aus freien
Stuumlcken erneut umfaumlnglich eingelassen und raumlumte letztlich je-
doch ein dass er bereits von Anfang an geplant hatte das Kind
zu toumlten und in dieser Absicht gehandelt habe Er umschrieb
sein Gestaumlndnis dann als den einzigen Weg seine schwere
Schuld zu akzeptieren und als die groumlszligtmoumlgliche Entschuldi-
gung fuumlr den Mord an dem Kind
Das Gericht stellte fest dass sich Gaumlfgen des Mordes schul-
dig gemacht hat und dabei mit direktem Vorsatz gehandelt hat
Ferner folgte die Feststellung von drei Mordmerkmalen Heim-
tuumlcke Habgier und Verdeckungsabsicht Der Taumlter wollte sich
die Maske seines luxurioumlsen Lebens aufrechterhalten Seine Op-
ferauswahl basierte auf der Vermoumlgenslage der Eltern sodass
eine hohe Loumlsegeldforderung realistisch blieb Hauptmotiv war
damit ein Gewinnstreben mit dem der Angeklagte ruumlcksichtslos
die Existenz eines Menschen opferte welches nur als abstoszligend
gewertet werden kann Auch ging es Gaumlfgen darum zu verde-
cken dass er sich des erpresserischen Menschenraubs strafbar
gemacht hat Daher toumltete er den einzigen Zeugen und Opfer die-
ser Straftat Das Fehlverhalten der Exekutive also der Polizei-
beamten koumlnne die rechtsprechende Gewalt nicht daran hin-
dern die Tatsachenfeststellungen nach Recht und Gesetz zu be-
werten und zu beurteilen
Die Kammer hat die Schwere der Schuld aufgrund einer zu-
sammenfassenden Wuumlrdigung von Tat und Taumlterpersoumlnlichkeit
unter Abwaumlgung der fuumlr und gegen den Angeklagten sprechen-
den Gesichtspunkte bejaht Als Gesamtstrafe ist eine lebens-
lange Freiheitsstrafe anzuerkennen
7 BGH Urt v 21052004 ndash 2 StR 3504 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrr2042-35-04php (Abrufdatum 09082018) 8 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (656) 9 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 10 Vgl BVerfG Beschl v 2742000 ndash 2 BvR 7594 in NJW 2000 S 3557
2 Verfahren Bundesgerichtshof
Gaumlfgen legte daraufhin Revision beim BGH in Karlsruhe ein
der diese jedoch mit der Begruumlndung dass die Nachpruumlfung kei-
nen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe7
als unbegruumlndet ablehnte
3 Verfahren Bundesverfassungsgericht
Es folgte eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen die Ent-
scheidungen des LG und des BGH wandte in der Gaumlfgen die
Verletzung von Art 1 I GG sowie Art 104 I 2 GG ruumlgte da die
Behandlung der Polizei in Anbetracht seiner damaligen psychi-
schen und physischen Verfassung sowie des planmaumlszligigen
durch die Polizeihierarchie abgesicherten und von dem ernsthaf-
ten Willen zur (spurenlosen) Umsetzung getragenen Vorgehens
Folter iS des Art 3 EMRK gewesen sei8
Das BVerfG entschied dass die Begruumlndung nicht den An-
forderungen des Vorbringens gem sectsect 23I 2 92 BVerfGG ent-
spreche da es zum einen an der Darlegung der Grundrechtsver-
letzung durch die angegriffenen Maszlignahmen mangele und dass
die geltend gemachten Folge verfassungsrechtlich zwingend
sei9 Inwiefern die Ablehnung eines Verfahrenshindernisses die
verfassungsrechtlich verbuumlrgten Rechte des Beschwerdefuumlhrers
verletze10 hielt das BVerfG nicht fuumlr ausreichend dargestellt da
sich der Beschwerdefuumlhrer ausschlieszliglich gegen seine Verurtei-
lung durch das LG und auf die Verwerfung seiner Revision
durch den BGH11 beschraumlnke Die Verwertbarkeit der Beweis-
mittel betreffend wurde von beiden Gerichten das Beweisver-
wertungsverbot hinsichtlich der Aussagen gem sect 136a StPO an-
erkannt bzw die Fernwirkung desselbigen bzgl der Beweismit-
tel abgelehnt Die Verfassungsbeschwerde wurde mangels Zu-
laumlssigkeit abgelehnt
4 Amtshaftungsklage
Mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg lehnte das LG
Frankfurt den Anspruch auf Schadensersatz gegen das Land
Hessen ab Das OLG Frankfurt hat mit einem Beschluss v
2822007 die Ablehnung der Prozesskostenhilfe bestaumltigt12
II Europaumlische Rechtsprechung
Gaumlfgen als Beschwerdefuumlhrer hat sich an den EGMR gem Art
34 S 1 EMRK13 gewandt und behauptet dass er bei seiner poli-
zeilichen Vernehmung unter Verstoszlig gegen Art 3 gefoltert wor-
den sei Auszligerdem sei er in seinem durch Art 6 I garantierten
Recht auf ein faires Verfahren das ein Recht sich nicht selbst
zu bezichtigen einschlieszlige verletzt worden14 Sein Recht auf
Verteidigung sei ihm durch die Verwertung der Beweismittel
und des Gestaumlndnisses entzogen worden
11 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 12 OLG FrankfurtM Beschl v 2822007 ndash 1 W 4706 in NJW 2007 S 2494 13 Folgende Artikel ohne Kennzeichnung sind solche der EMRK 14 EGMR (V Sektion) Entschv 10042007 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland)
in NJW 2007 S 2461 (2462)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 34
1 Zulaumlssigkeit
Die Beschwerde ergibt fuumlr den Gerichtshof mit Hinblick auf
seine bisher erarbeiteten Rechtsprechungskriterien dass diese
Ruumlge nicht offensichtlich unbegruumlndet iS von Art 35 III ist
2 Verletzung von Art 3
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Schutz von Art 3 ist einer der wichtigsten und grundle-
gendsten Werte unserer demokratischen Gesellschaft15 Art 3
ist nicht einschraumlnkbar und gehoumlrt zu den Bestimmungen von
denen auch im Notstandsfall nicht abgewichen werden darf16
Auch wenn immer mal wieder die Frage der Abwaumlgung zwi-
schen den Risiken fuumlr die betroffene Person und der nationalen
Sicherheit auftauchte lehnte der Gerichtshof eine implizite Be-
grenzung strikt ab17 Selbst in den schwierigsten Umstaumlnden
wie im Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen
verbietet die Konvention Folter und unmenschliche oder ernied-
rigende Behandlung oder Bestrafung absolut ohne jede Aus-
nahme18 Daher hat es fuumlr Art 3 keine Bedeutung welche Straf-
tat dem Betroffenen vorgeworfen wird19
Um von Art 3 erfasst zu werden muss eine Misshandlung ein
Mindestmaszlig an Schwere erreichen Die Beurteilung dieses Min-
destmaszliges ist der Natur der Dinge nach relativ es ist abhaumlngig
von saumlmtlichen Umstaumlnden des Einzelfalls20 Der Zweck sowie
die Absicht und die Beweggruumlnde bilden Faktoren fuumlr die Ein-
ordnung der Behandlung21 So zum Beispiel die Erlangung eines
Gestaumlndnisses22 und der Kontext der fraglichen Behandlung23
Der Gerichtshof hat eine Behandlung als erniedrigend erach-
tet wenn sie dazu angetan ist bei den Opfern Gefuumlhle der Angst
Beklemmung und Unterlegenheit hervorzurufen die geeignet
sind sie zu demuumltigen zu entwuumlrdigen und moumlglicherweise ih-
ren koumlrperlichen oder geistigen Widerstand zu brechen24 Bei
der Beurteilung ob eine Bestrafung oder eine Behandlung er-
niedrigend iS des Art 3 ist wird das Gericht auch pruumlfen ob es
dem Zweck dient die betreffende Person zu erniedrigen und zu
benachteiligen und ob sie in Bezug auf die Folgen ihre Persoumln-
lichkeit in einer Weise beeintraumlchtigt die mit Art 3 unvereinbar
ist mit einer Behandlung die Gefuumlhle von Angst Angst und
Minderwertigkeit hervorruft die geeignet sind das Opfer zu er-
niedrigen oder zu entwerten und moumlglicherweise seinen physi-
schen oder moralischen Widerstand zu brechen oder das Opfer
15 EGMR Urtv 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 119 abrufbar unter
httphudocechrcoeintengi=001-58559 (Abrufdatum 2882018) 16 EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ 1997 S
1078 17 Vgl EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ
1997 S 1078 18 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 wwwhu-
docechrcoeintengitemid[001-58559] (Abrufdatum 15082018) 19 EGMR Urtv 2822008 - 3720106 (SaadiItalien) Rn 139-140 in NVwZ
2008 S 1330 20 EGMR Urt v 1811978 Rn 162 in EuGRZ 1979 Seite 149 21 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 88 (Abrufdatum 21082018)
22 EGMR Urtv 8121996 - 2198793(AksoyTuumlrkei) Rd 64 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-58003 (Abrufdatum 28082018) 23 EGMR Urtv 20122000 - 3087396 (EgmezZypern) Rd 78 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59100 (Abrufdatum 28082018)
zu veranlassen gegen seinen Willen oder Gewissen zu han-
deln25 Art 1 UN-Antifolterkonvention postuliert dass bdquowenn
eine Behandlung erfolgt um () ein Gestaumlndnis zu erlangen oder
um zu bestrafen einzuschuumlchtern oder zu noumltigenldquo es sich um
Folter handelt Die bloszlige Bedrohung mit einem durch Art 3 ver-
botenen Verhalten kann mit dieser Bestimmung in Konflikt ge-
raten Die Bedrohung eines Menschen mit Folter koumlnnte demge-
maumlszlig unter bestimmten Umstaumlnden zumindest eine bdquounmensch-
liche Behandlungldquo darstellen26 Hat jedoch ein innerstaatliches
Verfahren stattgefunden so ist es nicht Aufgabe des Gerichts-
hofs anstelle der innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt zu
wuumlrdigen und es obliegt in der Regel diesen Gerichten die
ihnen vorliegenden Beweise zu wuumlrdigen27
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die angedrohte Bedrohung
wenn sie erfolgt waumlre als Folter anzusehen waumlre und ist vor die-
sem Hintergrund der Auffassung dass der Bf waumlhrend der Be-
fragung am 1102002 einer nach der Konvention verbotenen
unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war28
c) EGMR II
Unter Beruumlcksichtigung der fuumlr die Beurteilung wesentlichen
Gesichtspunkte haben die gegen den Bf ausgesprochenen realen
und direkten Drohungen das Mindestmaszlig an Schwere erreicht
um das umstrittene Verhalten der Polizeibeamten in den Anwen-
dungsbereich von Art 3 zu bringen Das durch die Androhung
ausgeloumlste psychische Leiden dem der Bf ausgesetzt war ist
schwerwiegend genug um als eine nach Art 3 verbotene und
unmenschliche Behandlung gewertet zu werden aber nicht das
Niveau der Grausamkeit erreicht um sie als Folter zu bezeich-
nen29
d) Fazit
Die Verletzung von Art 3 wurde bereits von den innerstaatli-
chen Gerichten und der Kammer anerkannt Die Anwendbarkeit
von Art 3 insgesamt mithin das Vorliegen einer Behandlung
die dessen Tatbestand erfuumlllt begruumlndet die Groszlige Kammer aus-
fuumlhrlich und eng an den Kriterien der bisherigen Rspr ange-
lehnt30 Die Groszlige Kammer weicht mit dieser Einschaumltzung
nicht von ihrem vorherigen Rechtskurs ab31
24 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 abrufbar unter wwwhudocechrcoeintengitemid[001-58559 (Abrufdatum
15082018) 25 EGMR 342001 - 2722995 (KeenanUK) Rd 110 abrufbar unter wwwhu-
docechrcoeintengi=001-59365 (Abrufdatum 28082018) 26 EGMR Urtv 2521982 - 751176 (Campbell CosansUK) Rd 23 abrufbar
unter httphudocechrcoeintengi=001-57455 (Abrufdatum 28082018)
27 EGMR Urtv 2291993 - 1547389 (KlaasDeutschland) Rd 29 Serie A Bd
269 28 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 69 ff 29 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3146) 30 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 31 Fuumlr Beispiele als Einordnung von Folter siehe Christoph Grabenwarter Ka-
tharina Pabel Europaumlische Menschenrechtskonvention ein Studienbuch
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 35
3 Opfereigenschaft
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Gerichtshof verlangt fuumlr den Fortfall der Opfereigenschaft
1 dass der beklagte Staat den Eingriff aufhebt und anerkennt
dass eine Konventionsverletzung vorgelegen hat und 2 dass er
die Konventionsverletzung angemessen wiedergutmacht32 Eine
angemessene Wiedergutmachung der Konventionsverletzung
kann durch unterschiedliche Rechtsbehelfe bewirkt werden33
Im Zuge dessen hat der Gerichtshof festgestellt dass es nicht um
die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten
sondern um die voumllkerrechtliche Verantwortung des Staates
ginge34 Die Zustaumlndigkeit des Gerichtshofs beschraumlnkt sich auf
Letztere In sbquovergleichbarenlsquo Faumlllen wurde beanstandet dass
keinerlei disziplinarischen Maszlignahmen gegen die Staatsbe-
dienstete eingeleitet wurden35 sowie das Unterlassen einer Sus-
pendierung oder die Entlassung bei Verurteilung36
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die deutschen Gerichte die Kon-
ventionsverletzung ausdruumlcklich und der Sache nach anerkannt
haben37Zur Wiedergutmachung ist der Schuldspruch vom
20122004 gegen die Polizeibeamten zu nennen Unter Beruumlck-
sichtigung aller Umstaumlnde stellte der Gerichtshof fest dass der
Verstoszlig gegen Art 3 in der Androhung einer Misshandlung be-
steht (im Unterschied zu einer tatsaumlchlichen koumlrperlichen Miss-
handlung die die Schwelle fuumlr die Anwendbarkeit von Art 3
erreicht) Eine Wiedergutmachung fuumlr die Verletzung wurde
durch die wirksame Strafverfolgung und Verurteilung der ver-
antwortlichen Polizeibeamten mit der unzweifelhaft der Un-
rechtsgehalt der Misshandlung festgestellt wurde38 anerkannt
Diese Uumlberlegungen fuumlhren dazu dass der Bf nicht mehr be-
haupten kann Opfer einer Verletzung von Art 3 zu sein da die
innerstaatlichen Gerichte hinreichend Wiedergutmachung fuumlr
die gegen Art 3 verstoszligene Behandlung geleistet haben
c) EGMR II
Die Verletzung von Art 3 wurde durch die innerstaatlichen Ge-
richte ausdruumlcklich anerkannt Jedoch sei die Verurteilung zu
Geldstrafen iHv 60 bzw 120 Euro zu je 60 bzw 90 Tagessaumlt-
zen die auch noch zur Bewaumlhrung auszusetzen sind keine an-
gemessene Reaktion auf einen Verstoszlig gegen Art 3 Eine solche
bdquooffensichtlich unverhaumlltnismaumlszligigeldquo Strafe fuumlr die Verletzung
eines der wesentlichen Grundrechte der Konvention hat nicht
die abschreckende Wirkung die notwendig ist um neuen Ver-
stoumlszligen gegen das Verbot von Misshandlungen in kuumlnftig moumlgli-
6Aufl 2016 sect20 Rn 42 Maureen Spencer und John Spencer Human
Rights in a Nutshell 3 Aufl S89 32 Meyer-LadewigKulick Europaumlische Menschenrechtskonvention Handkom-
mentar 4 Auflage Art 34 Rd 31 33 EGMR Urt v 2932006 ndash 3681397 (ScordinoItalien) Rd 186 in NJW
2007 S1259 34 EGMR Urt v 1042001 - 2612995 (TanliTuumlrkei) Rd 111 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59372 (Abrufdatum 2882018) 35 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 63 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 36 EGMR Urtv 2112004 - 3244696 (AbduumllsametTuumlrkei) Rd 55 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-67228 (Abrufdatum 2882018)
chen schwierigen Situationen vorzubeugen39 Die von den deut-
schen Gerichten ergriffenen Maszlignahmen entsprechen keiner
Widergutmachung die jemand bekommen sollte wenn Art 3
verletzt worden ist Mangels ausreichender Wiedergutmachung
ist der Bf nach wie vor Opfer der Verletzung von Art 3
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die bulgarische Richterin Kalaydjieva konnte sich den Ausfuumlh-
rungen der Mehrheit (mit sechs zu einer Stimme) des Entschlus-
ses der Kammer nicht anschlieszligen Sie begruumlndet ihre Auffas-
sung damit dass die Verletzung von Art 3 bereits festgestellt
worden ist und dass die Opfereigenschaft nicht durch Entschauml-
digung wegfalle Vielmehr wuumlrde dies den Weg ebnen fuumlr die
Legitimierung von Zwang als Methode zur Beschaffung von Be-
weismitteln in Strafverfahren in denen bei wichtigen Faumlllen
die Devise Zahlen und Foltern gelte Danach koumlnnten Ver-
stoumlszlige gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung im Namen der Gerechtigkeit begruumln-
det und beguumlnstigt werden40
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen stimmen mit der Mehrheit der GK uumlberein
weichen jedoch bei der Begruumlndung der Opfereigenschaft ab
Die innerstaatlichen Behoumlrden die uumlber die Erschoumlpfung aller
innerstaatlichen Rechtsbehelfe entscheiden haben die Verlet-
zung von Art 3 anerkannt Die GK hat bereits festgestellt dass
eine Widergutmachung nicht stattgefunden hat da die Wirkung
der Strafen keine ausreichende abschreckende Wirkung hatte
Fraglich ist allerdings ob die Waffe der Bestrafung als Abschre-
ckungswirkung der einzige Weg der Wiedergutmachung gewe-
sen waumlre Nach Auffassungen der drei RichterInnen unter Be-
ruumlcksichtigung der Gesamtumstaumlnde des Falls waumlre fuumlr die
festgestellte und anerkannte Verletzung von Art 3 ein Verwer-
tungsverbot fuumlr die konventionswidrig erlangten Beweise eine
angemessene und hinreichende Widergutmachung gewesen41
cc) Richter Casadevall ua
Die abweichende Meinung von Richter Casadevall der sich die
Richter Kovler Mijović Jaeger Jočiene und Loacutepez Guerra an-
geschlossen haben negiert die Opfereigenschaft des Bf sowie
die Feststellung der Verletzung von Art 3 Der andorranische
Richter schlieszligt sich der Rspr der Kammer an dass die Andro-
hung von Gewalt eine unmenschliche Behandlung darstellt
Dies wurde jedoch bereits von den deutschen Gerichten foumlrm-
lich anerkannt Die Begruumlndung des Gerichtshofs die Opferei-
Vgl Conclusions and Recommendations of the United Nations Committee
against Torture Turkey 27 May 2003 CATCCR305 37 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 77 38 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 80 39 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3147) 40 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 118-119 (Abrufdatum
16082018) 41 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 7 der abw Meinung (Ab-
rufdatum 17082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 36
genschaft nicht abzuerkennen war die milde Bestrafung der Po-
lizeibeamten obwohl es nicht seine Aufgabe ist uumlber die
Schwere der Schuld des Einzelnen zu entscheiden denn es han-
delt sich hierbei um Angelegenheiten die in die ausschlieszligliche
Zustaumlndigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte fallen42 Die
Opfereigenschaft des Bf ist nicht abhaumlngig von der Houmlhe der ge-
gen die Polizeibeamten verhaumlngten Strafen Ebenso ist die Frage
der Houmlhe der Strafen willkuumlrlich denn wird die Houmlhe der Strafe
zum Maszligstab gemacht so kann man sich fragen welches Straf-
maszlig fuumlr die Mehrheit wohl genuumlgt haumltte um die Feststellung
treffen zu koumlnnen dass die Opfereigenschaft des Bf entfalle Der
Richter erhebt Zweifel an dem Erfordernis einer Entschaumldigung
und an der Amtshaftungsklage die nicht einmal eine Entschaumldi-
gung zum Ziel hat sondern ein neues Verfahren und die erst drei
Jahre nach Eintritt des Schadens versucht wurde geltend zu ma-
chen Zweifelhaft ist auch der Tenor des Urteils denn letztlich
bestaumltigt der Gerichtshof das was die innerstaatlichen Behoumlrden
bereits anerkannt haben die Verletzung von Art 3
e) Fazit
Die GK verweist auf die Verfolgung der fuumlr die unmenschliche
Behandlung Verantwortlichen Beamten Die in der Rechtspre-
chung -uumlberwiegend in Urteilen uumlber Beschwerden gegen die
Tuumlrkei und Russland-43 verfestigten Kriterien fuumlr eine gruumlndli-
che und effektive Untersuchung bringt der EGMR auch hier zur
Anwendung Raschheit Verfahrensdauer Ergebnisse der Un-
tersuchung und anschlieszligender Strafverfahren einschlieszliglich
disziplinaumlrer Maszlignahmen44 Dies erscheint auf dem ersten Blick
auch angemessen da mit der Verletzung von Art 3 eine Verlet-
zung des garantierten Rechtsschutzes vorliegt Jedoch weisen
die Urteile vorheriger Faumllle Unterschiede in der Schwere der
Misshandlung auf die bis hin zu Folter und zu einer Verletzung
von Art 2 durch Staatsbedienstete gehen Im vorliegenden Gaumlf-
gen Fall handelt es sich um eine 10-minuumltige unmenschliche Be-
handlung Die Faumllle NiklovaBulgarien TanliTuumlrkei und Ab-
duumllsametTuumlrkei bei denen die Opfer in Polizeigewahrsam auf-
grund von Folter gestorben sind gleichzusetzen mit der Andro-
hung von Gewalt uumlberzeugt nicht Die Grundsaumltze sind in der
bisherigen Rspr entwickelt worden in Faumlllen in denen gegen
die verantwortlichen Polizeibeamten keinerlei disziplinarische
Sanktionen eingeleitet worden sind Die vermeintliche Kritik
dass Daschner und Ennigkeit nicht suspendiert wurden schlaumlgt
ebenfalls fehl da beide bereits waumlhrend der Untersuchungen
und des Strafverfahrens von Positionen entfernt wurden in de-
nen sie in direkter Verbindung mit der Untersuchung von Straf-
taten standen45 Wenn die Beurteilung des Mindestmaszliges fuumlr die
42 Vgl EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 123 (Abrufdatum 17082018)
43 Vgl EGMR Urtv 3092004 ndash 5022299 (Krastanov) Rd 48 EGMR
Urtv1772008 ndash 284330202 (Camdereli) Rd 28 44Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 45 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 46 EGMR Urt v 1811978 - 531071 (IrlandUK) Rn 162 in EuGRZ 1979
S149 47 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129)
Schwere einer Behandlung also relativ ist abhaumlngig von saumlmtli-
chen Umstaumlnden des Einzelfalls wie die Dauer der Behandlung
ihre physischen und psychischen Folgen46so scheint die Frage
die Richter Casadevall aufgeworfen hat wann die Schwere der
Bestrafung ausreichend gewesen waumlre fuumlr einen Entfall der Op-
fereigenschaft unbeantwortet zu bleiben Trotz Erfuumlllung aller
formalistischen Voraussetzungen entscheidet die GK uumlber die
general-praumlventive Eignung der Strafe einen Anspruch des Fol-
teropfers auf eine bestimmte Mindestbestrafung die die Verlet-
zung beseitigt47Dem Gerichtshof obliegt es nicht uumlber inner-
staatliches Recht zu fuumlr die verurteilten Polizeibeamten zu urtei-
len Die Schutzrichtung des Art 3 zielt nach erfolgtem Fehlver-
halten darauf ab das Entstehen einer Gleichguumlltigkeit zu verhin-
dern nicht aber auch entscheiden48 so seine eigene Rspr im Jahr
2007
4 Verletzung Art 6
a) Bisherige Rechtsprechung
Das Recht zu Schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen ist
nicht ausdruumlcklich in Art 6 erwaumlhnt ergibt sich aber aus dem
Grundsatz eines fairen Verfahrens und entspricht allgemein an-
erkannten internationalen Standards49 Wird eine strafrechtliche
Verurteilung ausschlieszliglich auf ein durch Verletzung von Art 3
gewonnenes Beweismittel gestuumltzt kann darin eine Verletzung
von Art 6 liegen50 Wenn es sich um Beweise handelt die nur
indirekt durch den Art3 verletzende Methoden erlangt wurden
ist es in der Regel zwar erforderlich dass diese Beweise in ei-
nem Strafverfahren nicht verwendet werden51 Eine Frage nach
Art6 I kann aufgeworfen werden wenn es sich um Beweise
handelt die unter Verletzung von Art3 erlangt worden sind
selbst wenn die Zulaumlssigkeit solcher Beweise bei der Verurtei-
lung des Beschuldigten nicht ausschlaggebend gewesen ist52
Wird das Recht zu schweigen durch eine Maszlignahme verletzt
die gegen Art3 verstoumlszligt so sind in der Folge dann wenn ein
Fall der Folter vorliegt auch koumlrperliche Beweismittel die auf-
grund der Folterung erlangt werden koumlnnen unverwertbar ohne
dass es auf eine Abwaumlgung ankaumlme53 Die Verwertung rechts-
widrig erlangter Beweise kann zu einer Verletzung des Art 6 I
1 fuumlhren eine solche wird aber selbst bei Verletzung anderer
Konventionsrechte nur nach Umstaumlnden des Falles nicht aber
per seacute anerkannt soweit die Beweise unter Beachtung der Natur
der Verletzung in der adversatorischen Hauptverhandlung unbe-
hindert angefochten werden koumlnnen54
48 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 163 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 49 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 129 50 EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006 S
3117 (3123) 51 Grabenwarter und Pabel Fn 80 sect24 Rn 71 52 EGMR Entschv912003 - 5491900 (Iccediloumlk Tuumlrkei) Rd 3 abrufbar unter
www httphudocechrcoeintengi=001-22982 (Abrufdatum 28082018)
53 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 133 54 Karsten Gaede Fairness als Teilhabe ndash Das Recht auf konkrete und wirksame
Teilhabe durch Verteidigung gemaumlszlig Art 6 EMRK S322
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 37
b) EGMR I
Die wesentliche Grundlage fuumlr das Urteil des LG ist allein das
neue und umfassende Gestaumlndnis das er nach qualifizierter Be-
lehrung in der Hauptverhandlung als erwiesen ansah waumlhrend
alle anderen Beweismittel einschlieszliglich der beanstandeten
sachlichen Beweismittel eine Nebenrolle spielten und nur ver-
wertet wurden um den Wahrheitsgehalt dieses Gestaumlndnisses zu
uumlberpruumlfen55
Folglich kommt das Gericht zu dem Ergebnis dass keine der
beanstandeten Beweismittel bei der Uumlberpruumlfung der Schuld
eine Rolle spielten und dass die Verteidigungsrechte des Bf in-
folge ihrer Zulassung nicht beeintraumlchtigt wurden Im Ergebnis
liegt durch die Verwertung kein Verstoszlig gegen das Gebot des
fairen Verfahrens gem Art 6 I und III vor
c) EGMR II
Der Bf behauptet dass die Verwertung der Beweismittel in dem
gegen ihn gefuumlhrten Strafverfahren eine erhebliche Rolle bei sei-
ner Verurteilung gespielt haumltte
Problematisch ist der Anwendungsbereich der Ausschlussre-
gel von Beweismitteln die durch eine Verletzung von Art 3 ge-
wonnen wurden Bisher besteht keine gaumlngige Rspr weder bei
den Konventionsstaaten noch den Gerichten anderer Staaten o-
der Institutionen die uumlber die Wahrung von Menschenrechten
zu wachen haben
Ein Ausschluss so erlangter Beweismittel wuumlrde die Strafver-
folgung erheblich in ihrer Wirksamkeit beeintraumlchtigen Auf der
anderen Seite stehen die Opfer oder Familienangehoumlrigen der
Opfer die Interesse an der Aufklaumlrung der Straftat haben wie es
im vorliegenden Fall auch der Fall ist Ein von Wesentlichkeit
gepraumlgtes oumlffentliches Interesse an der Integritaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens das die Werte unserer zivilisierten Gesell-
schaft schuumltzt ist vorhanden damit die erarbeiteten Grundsaumltze
nicht an Bodenhaftung verlieren Eine Zulassung der illegal er-
worbenen Beweismittel koumlnnten eine Veranlassung sein das ab-
solute Verbot des Art 3 zu umgehen oder bei wirksamem
Schutz des Einzelnen gegen solche Methoden ein Verbot der
Zulassung
Im vorliegenden Fall ist zu beachten dass die rechtswidrige
Vernehmungsmethode angewandt wurde um das in Art 2 ma-
nifestierte Grundrecht des Kindes auf Leben zu retten Die Kon-
vention verpflichtet die Vertragsstaaten auch das Recht auf Le-
ben zu schuumltzen56 Jedoch kann weder der Schutz menschlichen
Lebens noch eine strafrechtliche Gefaumlhrdung um den Preis einer
Gefaumlhrdung der Garantie des absoluten Rechts von Art 3 aus-
gesetzt werden ohne die Werte zu opfern und die Justiz in Verruf
zu bringen Die Fairness des Verfahrens ist hingegen nur betrof-
fen wenn feststeht dass sich der Verstoszlig gegen Art 3 auf den
Ausgang des Verfahrens gegen den Angeklagten ausgewirkt hat
anders gesagt wenn er die Entscheidung uumlber seine Schuld und
die Strafe beeinflusst hat57
55 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (701) Rd 106 56 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) EGMR Urt v 28101998 - 2345294 (OsmanUK) in Slg
1998-III S3159-3160 Nr 115-116 57 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Fuumlr das LG Frankfurt waren nicht die Beweismittel ein-
schlieszliglich der beanstandeten koumlrperlichen Beweismittel we-
sentliche Grundlage fuumlr das Urteil sondern allein das neue und
umfassende Gestaumlndnis das nach qualifizierter Belehrung in der
Hauptverhandlung abgelegt wurde Die umstrittenen bdquoeinge-
faumlrbtenldquo Beweismittel waren nicht notwendig und haben nicht
dazu gedient die Schuld des Bf zu beweisen oder die Strafe fest-
zustellen
Dass der Bf in der Hauptverhandlung keine andere Wahl ge-
habt haben soll ist der erneuten qualifizierten Belehrung und
dem Hinweis des Gerichts dass seine bisher getaumltigten Gestaumlnd-
nisse nicht gegen ihn verwertet werden koumlnnen entgegenzustel-
len Zumal er zugegeben hat sein Gestaumlndnis aus Reue abzuge-
ben
Die GK ist nicht der Meinung dass die Verletzung von Art
3 im Ermittlungsverfahren Einfluss auf das in der Hauptver-
handlung abgelegte Gestaumlndnis hatte Die Rechte der Verteidi-
gung und das Recht sich selbst zu bezichtigen wurden ebenfalls
beachtet Folglich ist Art 6 I iVm III nicht verletzt
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die Absolutheit von Art 3 ziehe eine Verletzung der Selbstbe-
lastungsfreiheit nach sich und somit einen Verstoszlig gegen Art 6
Der Gerichtshof unterscheide nicht zwischen durch Zwang er-
worbene Aussagen und durch von Zwang erworbene Beweis-
mittel Die Verwertung der Beweismittel im vorliegenden Fall
und der angebliche Verlust der Opfereigenschaft stellt einen ge-
faumlhrlichen Ansatz dar der zu einer illegalen Beschaffung von
Beweismitteln solange das Verhaumlltnis zwischen Nutzen und
Schaden vertretbar ist verleite
Ob die Beweismittel ggf zu einem spaumlteren Zeitpunkt aufge-
funden worden waumlren ist nicht ob dem Gericht daruumlber zu spe-
kulieren Die Frage ist ob das Recht auf die Selbstbelastungs-
freiheit wirksam ausgeuumlbt wurde ohne sich dabei auf illegal er-
langte Beweismittelverwertung zu stuumltzen Angeblich so das in-
nerstaatliche Gericht sei der Umfang der Beweisverwertung nur
auf die Uumlberpruumlfung des Gestaumlndnisses beschraumlnkt Tatsche je-
doch ist dass ohne die Beweismittelverwertung die nach inner-
staatlichem Recht das Gestaumlndnis nicht haumltten uumlberpruumlfen koumln-
nen die Qualifizierung von erpresserischen Menschenraub zu
Mord nicht haumltte stattfinden koumlnnen58
Die Frage der Verfahrenseinstellung ist keine Abwaumlgung
zwischen der Gefahr oder Schwere einer Misshandlung gegen
die Gefaumlhrlichkeit fuumlr die Gemeinschaft denn dies kommt
der Feststellung gleich dass der Schutz der nationalen Sicher-
heit es rechtfertigt die Gefahr einer Misshandlung des Betroffe-
nen eher in Kauf zu nehmen59 Festzustellen ist ob zur Schuld-
feststellung ein Zugriff auf die durch Androhung von Zwang er-
langten Beweismittel hinzugezogen wurden selbst wenn es nur
zur Uumlberpruumlfung eines Gestaumlndnisses galt Durch den Ruumlckgriff
58 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 124 (Abrufdatum 16082018)
59 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 117 (Abrufdatum 16082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 38
auf die illegal erlangten Beweismittel ist die Unschuldsvermu-
tung und damit die Fairness des Verfahrens eingeschraumlnkt
Die einzige Heilung fuumlr den Verstoszlig gegen Art 6 und die Ab-
sprache der Opfereigenschaft sei ein neues Verfahren
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen weichen von der mehrheitlichen Meinung ab
dass keine Verletzung von Art 6 Abs I und III stattgefunden
hat Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ergebe
sich aus der Zulassung der Beweismittel die unmittelbar aus
Art 3 sichergestellt worden sind und unter selbstbelastenden
Umstaumlnden erlangt worden sind Deren Zulassung ist eine fun-
damentale und auszligerordentlich wichtige Grundsatzfrage die die
Fairness iSv Art 6 betrifft Die bisherige Rspr habe Gestaumlnd-
nisse die unter einer Verletzung von Art 3 gewonnen wurden
als immer unzulaumlssig betrachtet Uneindeutig war bisher der
Umfang des Verwertungsverbots fuumlr sachliche Beweismittel
Nach Auffassung der RichterInnen kann ein Strafverfahren in
dem Beweismittel die infolge eines Verstoszliges gegen eine derart
absolute Konventionsvorschrift erlangt wurden zugelassen und
bdquoin welchem Umfang auch immerldquo zur Entscheidung herange-
zogen werden nicht fair sein60 Unfair sei selbst wenn unter an-
gemessenen Verfahrensgarantien erlangt Beweismittel verwer-
tet werden denen auch nur der Makel von Druck oder Zwang
anhaftet Die Diskrepanz zwischen der Zulaumlssigkeit der Aussa-
gen und der Zulaumlssigkeit der Beweismittel gefaumlhrde durch deren
Begruumlndung das absolute Rechte Der angeblichen Unterbre-
chung der Kausalkette koumlnnen sich die RichterInnen nicht an-
schlieszligen Die Trennung die der Gerichtshof vornimmt zwi-
schen der Verurteilung wegen Mordes und dem bdquoeingeschlage-
nen Wegldquo im Rahmen der Beweisverwertung sei unrealistisch
und formalistisch Die in der Ermittlungsphase geschehene Ver-
letzung ziehe seine nachteiligen Folgen in dem sich ergebenden
Verfahren da die Bedeutung der Ermittlungsphase einen Rah-
men bestimmen kann fuumlr den Ansatz eines Gerichts Die nach-
teiligen Folgen haumltten fuumlr eine Wiedergutmachung komplett be-
seitigt werden koumlnnen durch ein Beweisverwertungsverbot und
einer bdquosauberen Durchfuumlhrungldquo des Verfahrens Die StA haumltte
den Bf wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge
anklagen und damit den wirksamen Schutz aufrechterhalten
koumlnnen Fraglich erscheint jedoch die Unterscheidung zwischen
Beweismitteln Zumal sich die Frage stellt warum wenn die
bdquounsauberen Beweismittelldquo nicht zur Verurteilung dienten sie
uumlberhaupt zugelassen werden mussten Nach Einschaumltzung der
teilweise abweichenden Meinung hatten die Beweismittel Ein-
fluss auf den Ausgang des Verfahrens und eine Heilung durch
die Unverwertbarkeit der Gestaumlndnisse des Bf nuumltzte ihm wenn
uumlberhaupt nur wenig Im Gegenteil da die Zulaumlssigkeit derer
60 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 2 der abw Meinung (Ab-rufdatum 17082018)
61 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) 62Vgl EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006
S 3117 (3123) 63 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131)
die Freiheit sich zu verteidigen erheblich oder gar voumlllig ein-
schraumlnkt ist eine Verurteilung nahezu unausweichlich Die
Amtstraumlger handelten zwar in einer schwierigen und sehr ange-
spannten Situation doch gerade in kritischen Zeiten duumlrfen ab-
solute Werte nicht aufs Spiel gesetzt werden Die Umstaumlnde aumln-
dern nichts an der Tatsache dass sie durch einen Verstoszlig gegen
Art 3 sachliche Beweismittel erlangten die spaumlter in dem Straf-
verfahren gegen den Beschwerdefuumlhrer verwertet und zur Be-
gruumlndung herangezogen wurden Da es sich um ein absolutes
Recht handelt sind alle Verstoumlszlige dagegen schwerwiegend und
die wirksamste Moumlglichkeit dieses absolute Verbot durchzuset-
zen ist eine strenge Anwendung des Verwertungsverbots im
Hinblick auf Art 6
e) Fazit
Die GK schlieszligt sich in ihrem Urteil im Wesentlichen dem an
was die Kammer in ihrem Entschluss bewertete Der Bf hatte
die Moumlglichkeit der Bekaumlmpfung der bdquovergiftetenldquo Beweise vor
dem LG deren Ausschluss er auch in seinem Antrag vor der
Hauptverhandlung beantragte Durch die qualifizierte Beleh-
rung uumlber das Schweigerecht und den Umstand dass keine sei-
ner fruumlheren Aussagen als Beweis gegen ihn verwendet werden
duumlrfe wurde der Bf in den Status quo ante versetzt61 Jedoch
stimmt das Argument der bulgarischen Richterin Kalaydjieva
nachdenklich In seiner vorherigen Rspr hat der EGMR keine
Unterscheidung zwischen Aussagen und koumlrperlichen Beweisen
gemacht Im Gegenteil in Urteilen wie Jalloh als einem Dro-
gendealer seine Beute durch die Zufuumlhrung von Brechmitteln
entwendet wurde wurde die Zulassung der illegal erworbenen
Beweismittel als moumlgliche Verletzung von Art 6 I gewertet62
Dem koumlnnte das oumlffentliche Interesse der Verurteilung von Gaumlf-
gen entgegenstehen die es im oben genannten Beispiel nicht
gab63 Man gewinnt den Eindruck dass der EGMR etwas hin-
und hergerissen ist zwischen der Absolutheit des Art3 und dem
bdquoweicherenldquo Fairnessgebot bis er sich zur Abwaumlgung iRv Art6
durchringt64
Einen Ausweg scheint der EGMR in der Schuldbegruumlndung
zu finden Dies erscheint jedenfalls schon beinahe konstruiert
und uumlberzeugt wenig da auf der einen Seite die koumlrperlichen
Beweise keine Rolle spielen und auf der anderen Seite genau
dieselben den Wahrheitsgehalt des Gestaumlndnisses uumlberpruumlfen
sollen Die in Jalloh offen gelassene Frage der indirekten Ver-
wertbarkeit ist nun beantwortet und laumlsst insofern eine bdquoHinter-
tuumlrldquo offen65 indem ein Ausschluss von Beweisen erforderlich
sein koumlnnte aber nur fuumlr den Fall des Einflusses auf das Ge-
staumlndnis oder die Strafe66
65 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 66 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 39
5 Ergebnis
Das endguumlltige Urteil aus Straszligburg uumlberrascht Der Gerichtshof
bleibt sich den Grundsaumltzen des Art 3 treu Umso mehr uumlber-
rascht die Bewertung der innerdeutschen Strafprozesspflege und
die Verhaumlngung der Strafen Um die Absolutheit von Art 3 zu
schuumltzen bestimmt sich der Gerichtshof selbst als Kontrol-
linstanz fuumlr die Schwere von Strafen Aus Angst Art 3 wuumlrde
unterwandert beschlieszligt die GK dass sich Gaumlfgen weiter als
bdquoOpferldquo der Justiz iSv Art 34 I bezeichnen darf Es finden sich
in dem endguumlltigen Urteil Abweichungen der bisherigen Rspr
die sich weniger rechtlich als moralisch erklaumlren lassen Eine
Abwaumlgung fuumlr eine Beweisverwertung ist kritisch zu betrach-
ten67 Die abweichenden Meinungen streuen begruumlndete Zweifel
in die zugebenermaszligen neue Leitlinie des EGMR
III Gesamtfazit
Die moralische und rechtliche Problematik wird deutlich an der
scharfen Meinungsspaltung der Jurisprudenz Die Mehrheit der
5 Kammer und die Minderheit der GK sowie die innerdeut-
schen Gerichte stimmen uumlberein dass die milde Strafe der Poli-
zisten die Verletzung von Art3 kompensiere Vorherzusehen
war es nicht dass der EGMR der Rspr der deutschen Gerichte
zustimmt und Einigkeit herrscht Der absolute Schutz von Art3
bleibt bewahrt und der Umfang des Beweisverbots ist nach wie
vor -wenn auch etwas weniger- ungeklaumlrt
C Ausleitungsteil
Anknuumlpfend an die anfangs aufgestellten Herausforderungen
und die Ausgangsproblematik dieser Arbeit laumlsst sich folgendes
sagen der EGMR hat neues Terrain betreten
Methodologisch bestand die Grenzerfahrung in der Erhaltung
des Rechtsschutzes fuumlr Gaumlfgen als Rechtssubjekt und Grund-
rechtstraumlger Die objektive Bewertung stellt sich bereits als her-
ausfordernd dar
Normativ war zu entscheiden ob die Androhung von Gewalt
unter Folter fiel und ob die Androhung vergleichbar mit brutalen
und gewaltsamen Vernehmungsmethoden war Die Herausfor-
derung bestand darin zu entscheiden ob dies nicht das ganze
Strafverfahren Gaumlfgens gefaumlhrdete und seine Verurteilung
Moralisch ist zu unterscheiden zwischen dem Unrechtsgehalt
der Tat und dem Unrechtsgehalt der Behandlung Strafe sollte
nicht dem Zweck der Vergeltung dienen Fuumlr die begangene Tat
wurde Gaumlfgen zu lebenslanger Haft verurteilt Seine Rechte als
Grundrechtstraumlger stehen ihm ebenso zu wie die Anspruumlche Ver-
letzungen geltend zu machen Die Grundsaumltze unseres Rechts-
staates wurden uumlber Jahrhunderte lang erarbeitet und erkaumlmpft
und sind gerade in Anbetracht unserer Historie unumstoumlszliglich
Der zu behandelnde Fall ist nicht nur von juristischer Schwie-
rig- und Spitzfindigkeit sondern auch von moralischer Unwei-
gerlich stellen wir die Uumlbereinstimmung unseres Rechts und un-
seres Rechtsempfindens in Frage Damit scheinen wir jedoch
nicht alleine zu sein denn auch die RichterInnen in Straszligburg
stehen vor dem Menschenwuumlrdedilemma zwischen Opfer und
67 Naumlher dazu Karsten Gaede Fairness als Teilhabe 2007 S810 ff
Taumlter Die Schwierigkeit in diesem besonderen Fall war es den
Taumlter einer Straftat als Opfer der Polizei und des Rechtsstaates
zu betrachten was auf den ersten Blick schon fast antagonistisch
wirkt Der schuldig gesprochene Gaumlfgen hat alle Rechtsmittel
auf deutscher und europaumlischer Ebene ergriffen Es faumlllt schwer
zuzugeben seine Penetranz und sein Kampf um das Recht auch
als bdquorechtensldquo zu bewerten In Rechtsfragen die der EGMR zum
ersten Mal anders interpretiert hat fragt man sich in diesem Zu-
sammenhang was uumlberhaupt Recht-sprechen bedeutet Somit er-
reicht der Fall nicht nur die Grenze des Strafrechts und des Oumlf-
fentlichen Rechts sondern auch der Rechtsphilosophie in der
die Trennung von Recht und Moral ein zentrales Thema dar-
stellt Es reicht hin bis zu der Frage ob es unrichtiges Recht
gesetzliches Unrecht gebe und was das bdquoRechtldquo uumlberhaupt sei68
bdquoWas rechtens sei (quid sit iuris) das ist was die Gesetze an einem
gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben kann
der Rechtsgelehrte noch wohl angeben aber ob das was sie wollten
auch recht sei und das allgemeine Kriterium woran man uumlberhaupt
Recht sowohl als Unrecht (istum et iniustum) erkennen koumlnne bleibt
(ihm) wohl verborgenhellipldquo
ndash Immanuel Kant
Der Fall Magnus Gaumlfgen bleibt in vielerlei Hinsicht
-juristisch sowie moralisch- grenzwertig
Die Autorin studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau im achten Semester Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus der Seminararbeit die im WS 201819 im Rahmen des trinationalen Eucor-Seminars ge-schrieben und verteidigt wurde Das Seminar wurde angebo-ten von Prof Dr Jestaedt (Freiburg) unter dem Namen bdquoRechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der Eu-ropaumlischen Grundrechtecharta und der Menschenrechtskon-ventionldquo Die Autorin ist seit 2014 Mitglied der Freilaw-Re-daktion und leitet seit 2017 die Chefredaktion Sie befindet sich derzeit in der Examensvorbereitung
68 Christian Fahl Angewandte Rechtsphilosophie ndash bdquoDarf der Staat folternldquo in
JR 2004 S 182 (185)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
40 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Der Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen
-
Samuel Hahn
A Einleitung
Es ist eine dem liberalen Gedankengut des 19 Jahrhun-
derts entstammende Idee dass der Mensch nicht nur Buumlr-
ger ist sondern der Staatsverband lediglich einen Teil der
Persoumlnlichkeit absorbiert Neben der oumlffentlichen Rolle als
Staatsbuumlrger existiert noch eine private Rolle in der sich
der Mensch ganz individuell ausleben kann Diese Privat-
heit sichert ein ungestoumlrtes Zu-sich-selbst-Verhalten der
Person ohne das ein Herausbilden einer authentischen
Identitaumlt unmoumlglich ist1 Nun hat jedoch der Staat haumlufig
ein Interesse daran in den privaten Bereich der Buumlrger
vorzudringen Gerade im Rahmen strafprozessualer Er-
mittlungen ist dies der Fall da Straftaumlter ihre Verfehlungen
selten publik machen sondern diese so weit wie moumlglich
vor der Oumlffentlichkeit verbergen Dem Staat bleibt bei der
Strafverfolgung also nichts anderes uumlbrig als die private
Sphaumlre seiner Buumlrger auszuforschen Waumlhrend dies fruuml-
her mehr oder minder offen in Form von Haus- und Perso-
nendurchsuchungen geschah ermoumlglicht die heutige
Technik heimliche Uumlberwachungsmaszlignahmen die es
dem Buumlrger unmoumlglich machen seine innersten Vorgaumlnge
in einer fuumlr ihn kontrollierbaren Sphaumlre zu bewahren Da
diese innersten Vorgaumlnge fuumlr eine autonome Charakter-
entwicklung unentbehrlich sind gebietet es die Men-
schenwuumlrde dass der Staat dem Buumlrger ein Herzstuumlck der
Privatheit einen Kernbereich der privaten Lebensgestal-
tung ganz selbst uumlberlaumlsst und ihn nicht staatlichen Inte-
ressen unterordnet Die vorliegende Arbeit widmet sich
der Entstehung dieser Rechtsfigur und dem Schutz der
sich aus ihr ergibt
I Terminologie
Das BVerfG an dessen Rechtsprechung sich diese Arbeit orien-
tiert hat hinsichtlich der Benennung des absolut geschuumltzten
Bereichs keine klare Nomenklatur entwickelt Es bezeichnet ihn
uneinheitlich als bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo2 bdquoIntim-
sphaumlreldquo3 bdquounantastbaren Bereich privater Lebensgestaltungldquo
4
bdquoabsolut geschuumltzten Kernbereich privater Lebensgestaltungldquo5
1 Roumlssler Der Wert des Privaten S 275 2 BVerfGE 6 S 55 (81) 3 BVerfGE 32 S 373 (379) 4 BVerfGE 27 S 1 (6) 5 BVerfGE 80 S 137 (153)
und bdquoKernbereich der Persoumlnlichkeitldquo6 Die Terminologie in
dieser Arbeit wird daher ebenso variieren Einzig auf die Ver-
wendung des Terminus der Intimsphaumlre wird verzichtet da es
unklar ist ob das BVerfG diese begriffliche Identitaumlt konsequent
aufrechterhaumllt7
II Untersuchungsgegenstand
Gegenstand dieser Arbeit ist anhand der Rechtsprechung des
BVerfG den Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
strafprozessualen Ermittlungsverfahren zu untersuchen Dabei
wird im Besonderen auf Widerspruumlche in den Entscheidungen
des Gerichts eingegangen und gepruumlft was diese fuumlr den Kern-
bereichsschutz bedeuten Die Untersuchung beschraumlnkt sich da-
bei auf den fuumlr die Strafverfolgung besonders bedeutungsvollen
Schutz vor Informationserhebung aus dem Kernbereich privater
Lebensgestaltung Aufgrund seiner engen Verbindung zur Men-
schenwuumlrdegarantie hat jeder Schutz vor staatlichen Maszlignah-
men eine gewisse Kernbereichsrelevanz Zum Zwecke einer
Analyse des reinen von anderen Grundrechten losgeloumlsten
Kernbereichsschutzes sollen in dieser Arbeit andere Konstella-
tionen mit Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung
wie der Schutz der Kommunikation mit zeugnisverweigerungs-
berechtigten Personen auszligen vor bleiben
III Gang der Untersuchung
Im Folgenden wird zuerst die Entwicklung der Kernbereichs-
rechtsprechung durch das BVerfG dargestellt und analysiert
Anhand der auftretenden Diskrepanzen wird anschlieszligend eine
moumlgliche Relativierung des Kernbereichsschutzes gepruumlft und
schlieszliglich wird die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
anhand seines juumlngsten Urteils neu interpretiert
B Entwicklung des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung durch das BVerfG
Der Gedanke eines Kernbereichs der Persoumlnlichkeit auf den der
Staat nicht zugreifen kann hat in der Rechtsprechung der deut-
schen Verfassungsgerichtsbarkeit lange Tradition8
6 BVerfGE 34 S 238 (245) 7 Dies bejahend Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
S 14 kritisch Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 256 8 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (161) Dammann Der Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung S 23
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 41
Bereits 1957 sprach das BVerfG in der sog Elfes-Entscheidung
erstmals von einer bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo die dem
einzelnen Buumlrger verfassungskraumlftig vorbehalten sei9 Es leitet
dies aus der Menschenwuumlrde ab Der Gesetzgeber darf die buumlr-
gerlichen Freiheitsrechte bei entsprechenden entgegenstehen-
den Interessen zwar einschraumlnken die Menschenwuumlrde aller-
dings ist unantastbar woraus folgt dass bdquoein letzter unantastba-
rer Bereich menschlicher Freiheit besteht der der Einwirkung
der gesamten oumlffentlichen Gewalt entzogen istldquo10
Diesen absolut geschuumltzten Bereich sah das BVerfG lange al-
lein in der nichtkommunikativen Sphaumlre11
Er war gekennzeich-
net durch Gedanken die der Buumlrger allein sich selbst anver-
trauen wollte ein forum internum in dem er bdquosich selbst besitztldquo
und zu dem bdquodie Umwelt keinen Zutritt hatldquo12
Ein Raum in
welchem die innere Daseinsbewaumlltigung die Auseinanderset-
zung mit sich selbst und die Rechenschaftsablegung gegenuumlber
sich selbst stattfinden13
Nach der damaligen Rechtsprechung
war der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung grundsaumltz-
lich nicht beruumlhrt sobald die Handlung einen Sozialbezug auf-
wies also die Persoumlnlichkeitssphaumlre eines anderen Menschen
beruumlhrte14
Damit waren auch intime zwischenmenschliche Be-
ziehungen vom absoluten Schutz der Persoumlnlichkeit ausge-
schlossen15
In seinem Tagebuchurteil16
relativierte das BVerfG dieses
harte Exklusionskriterium dahingehend dass nicht entscheidend
sei ob uumlberhaupt ein Sozialbezug bestehe sondern vielmehr
dessen bdquohoumlchstpersoumlnlicher Charakterldquo und bdquoin welcher Art und
Intensitaumlt aus sich heraus die Sphaumlre anderer und die Belange
der Gemeinschaft beruumlhrtldquo werden bdquoDer Mensch als Person
auch im Kernbereich seiner Persoumlnlichkeit verwirklicht sich
notwendig in sozialen Bezuumlgenldquo17
Zugleich schraumlnkt das Ge-
richt den Umfang des Schutzes dahingehend ein dass bdquoGesprauml-
che die Angaben uumlber begangene Straftaten enthalten [hellip] dem
Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Le-
bensgestaltungldquo zuzuordnen und deshalb auch nicht von dessen
absolutem Schutz erfasst sind18
C Urteil groszliger Lauschangriff
Zwar hatte das BVerfG in den vorangegangenen Entscheidun-
gen seine Rechtsprechung zu einem absolut geschuumltzten Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit stetig fortgefuumlhrt einen staatlichen
Eingriff in denselben jedoch nie bejaht Die Entscheidung fiel
stets auszligerhalb des Kernbereichs naumlmlich im Bereich der Ab-
waumlgung zwischen Individualschutz und Gemeinwohlinteresse
nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes19
Dies aumln-
derte sich im Urteil zum groszligen Lauschangriff20
dem in der
9 BVerfGE 6 S 32 (41) 10 BVerfGE 6 S 32 (41) 11 BVerfGE 27 S 1 (6) BVerfGE 33 S 367 (377) 12 BVerfGE 27 S 1 (6) 13 Warntjen Heimliche Zwangsmaszlignahmen und der Kernbereich S 54 14 BverfGE 6 S 389 (433) 15 Benda Gefaumlhrdungen der Menschenwuumlrde S35 16 BVerfGE 80 S 367 17 BVerfGE 80 S 367 (374) 18 BVerfGE 80 S 367 (374) 19 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (14) Hervorhebung
hier
Entwicklung der Kernbereichsrechtsprechung besondere Be-
deutung zukommt21
Erstmals stellte das Gericht eine Verlet-
zung des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit fest22
Es skizziert
sorgfaumlltig und wesentlich detaillierter als in fruumlheren Entschei-
dungen sein Kernbereichskonzept entwickelt Schutzvorkehrun-
gen und zeigt Konsequenzen eines Eingriffs auf
I Bestimmung des Kernbereichs
Entscheidend fuumlr eine Einbeziehung des Sachverhalts in den
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist das Kriterium der
Houmlchstpersoumlnlichkeit23
Gespraumlche und Aumluszligerungen sind dann
vom Kernbereich erfasst wenn es um bdquoausschlieszliglich innere
Eindruumlcke und Gefuumlhleldquo geht der bdquoBereich des Houmlchstpersoumlnli-
chenldquo betroffen ist und ein bdquoBezug des konkreten Gespraumlchs
zum Persoumlnlichkeitskernldquo nicht fehlt24
Konsequent nimmt das
Gericht eine Kernbereichsverletzung auch bei umfassenden
Uumlberwachungen an deren Ergebnisse bdquozur Grundlage eines Per-
soumlnlichkeitsprofils werden koumlnnenldquo25
Auch hinsichtlich des
Straftatenbezugs lockerte das Gericht seine Exklusionskriterien
Waumlhrend das entscheidungstragende Votum im Tagebuchbe-
schluss bereits einen mittelbaren Straftatenbezug genuumlgen lieszlig
um eine Kernbereichsrelevanz zu verneinen26
scheint sich der
Senat im Urteil zum groszligen Lauschangriff dem abweichenden
Votum des Tagebuchbeschlusses27
anzuschlieszligen28
bdquoAuf-
zeichnungen oder Aumluszligerungen im Zwiegespraumlch die zum Bei-
spiel ausschlieszliglich innere Eindruumlcke und Gefuumlhle wiedergeben
und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten gewinnen
nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug dass sie Ursa-
chen oder Beweggruumlnde eines strafbaren Verhaltens freizulegen
vermoumlgenldquo29
Das heiszligt lediglich Aumluszligerungen mit unmittelbarem Bezug zu
einer geplanten oder begangenen Tat sind nicht vom Kernbe-
reich erfasst30
Nicht beruumlhrt sei der Kernbereich allerdings
wenn der Betroffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssach-
verhalts selbst keinen Wert lege wobei nicht jede Kundgabe an
einen anderen Menschen auf das Fehlen eines Geheimhaltungs-
willen schlieszligen lasse es kaumlme vielmehr auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation an31
II Schutz des Kernbereichs
Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist unantastbar
und jeglichem staatlichen Zugriff entzogen Die inhaltsbezo-
gene Kernbereichsdefinition des BVerfG schafft das Dilemma
dass Strafverfolgungsbehoumlrden vor der Uumlberwachung gar nicht
wissen koumlnnen ob der Kernbereich des Uumlberwachten betroffen
ist Erst durch die Spaumlhmaszlignahme selbst laumlsst sich anhand des
20 BVerfGE 109 S 279 21 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (13) bdquogroszliges Urteilldquo 22 BVerfGE 109 S 279 (311) 23 BVerfGE 109 S 279 (313 320) 24 BVerfGE 109 S 279 (319 320) 25 BVerfGE 109 S 279 (323) 26 BVerfGE 80 S 367 (377) 27 BVerfGE 80 S 367 (381) 28 So auch SK-StPOWolter sect 100c Rn 60 29 BVerfGE 109 S 279 (319) 30 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 43 31 BVerfGE 109 S 279 (319)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
42 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Inhalts der Aumluszligerung oder Aufzeichnung das Vorliegen einer
Kernbereichsrelevanz feststellen Dann aber wurden die houmlchst-
persoumlnlichen Informationen bereits von den Behoumlrden wahrge-
nommen Das BVerfG stellt deswegen folgendes fest bdquoDie
Uumlberwachung muss in Situationen von vornherein unterbleiben
in denen Anhaltspunkte bestehen dass die Menschenwuumlrde
durch die Maszlignahme verletzt wirdldquo32
Damit loumlst das BVerfG das Dilemma dahingehend auf dass
die allein uumlber die Betroffenheit des Kernbereichs Gewissheit
verschaffende dabei aber zugleich denselben potentiell verlet-
zende Maszlignahme bereits dann unterbleiben muss wenn sie
wahrscheinlich den Kernbereich verletzen wuumlrde Zu vermuten
sei dies beispielsweise beim groszligen Lauschangriff auf Privat-
wohnungen oder wenn der Uumlberwachte mit Personen des
houmlchstpersoumlnlichen Vertrauens kommuniziere33
Diese Vermu-
tungswirkung kann jedoch widerlegt werden wenn Indikatoren
dafuumlr vorliegen dass der Kernbereich nicht betroffen ist34
Auch
dann darf lediglich bdquoeine fuumlr die Bewertung des Gespraumlchsin-
halts unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschen-
wuumlrde erforderliche erste Sichtungldquo durchgefuumlhrt werden bei
der groumlszligtmoumlgliche Zuruumlckhaltung geboten ist35
Diese Vorkehrungen koumlnnen letztendlich aber eine Erhebung
kernbereichsrelevanter Daten nicht ausschlieszligen sondern nur
das Risiko minimieren36
Deswegen fuumlhrt das BVerfG weiter
aus bdquoFuumlhrt die akustische Wohnraumuumlberwachung im Uumlbrigen
unerwartet zur Erhebung von absolut geschuumltzten Informatio-
nen muss sie abgebrochen werden und die Aufzeichnungen
muumlssen geloumlscht werden jede Verwendung solcher im Rahmen
der Strafverfolgung erhobener absolut geschuumltzter Daten ist aus-
geschlossenldquo37
Das Verwertungsverbot kernbereichsrelevanter
Daten erstreckt sich damit nicht nur auf die Verwendung als Be-
weismittel im Hauptverfahren sondern auch auf die Verwen-
dung als Spurenansatz fuumlr weitere Ermittlungen38
Dieses zweistufige Schutzkonzept der Vermeidung der Erhe-
bung kernbereichsrelevanter Daten auf der ersten Ebene zusam-
men mit der Loumlschpflicht und des umfassenden Verwertungs-
verbots auf der zweiten Ebene wird vom BVerfG seither in staumln-
diger Rechtsprechung als notwendige Voraussetzung fuumlr den
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aufrecht erhalten39
D Widerspruumlche in der Kernbereichsrechtsprechung
des BVerfG
Umso mehr uumlberrascht es dass das BVerfG seither in mehreren
Urteilen Eingriffe in den Kernbereich faktisch gebilligt hat So
hat es beispielsweise die Telekommunikationsuumlberwachung
32 BVerfGE 109 S 279 (318) 33 BVerfGE 109 S 279 (321) 34 BVerfGE 109 S 279 (332) 35 BVerfGE 109 S 279 (332) 36 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (168) 37 BVerfGE 109 S 279 (318) 38 Ausdruumlcklich BVerfGE 109 S 279 (318) 39 BVerfGE 113 S 348 (391f) BVerfGE 120 S 247 (388f) BVerfGE 129
S 208 (245f) 40 So auch Reiszlig StV 2008 S 539 (542) 41 BVerfG NJW 2012 S 833 (837) 42 BVerfG NJW 2012 S 833 (837)
gem sect 104a StPO fuumlr verfassungsmaumlszligig erklaumlrt obwohl dort
keinerlei Prognose notwendig ist ob in der abzuhoumlrenden Kon-
versation kernbereichsrelevante Aumluszligerungen zu erwarten sind
Dies steht in direktem Widerspruch zum zweistufigen Schutz-
modell des BVerfG das Uumlberwachungsmaszlignahmen nur dann
zulaumlsst wenn eine Kernbereichsverletzung zumindest unwahr-
scheinlich ist40
In Faumlllen in denen es bdquopraktisch unvermeidbarldquo
ist dass Ermittlungsbehoumlrden kernbereichsrelevante Informati-
onen zur Kenntnis nehmen sei es bdquoverfassungsrechtlich nicht
gefordert den Zugriff wegen des Risikos einer Kernbereichs-
verletzung auf der Erhebungsebene von vornherein zu unterlas-
senldquo41
Selbst bei konkreten Anhaltspunkten dass der Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung von einer Maszlignahme beruumlhrt
werden wird hat diese nur bdquogrundsaumltzlichldquo zu unterbleiben42
Mit dieser Rechtsprechung schlieszligt das BVerfG an sein 2008
ergangenes Urteil zur Online-Durchsuchung43
an Feststellend
dass die Datenerhebung bei der Online-Durchsuchung aus tech-
nischen Gruumlnden automatisiert erfolgt und damit eine vorherige
Unterscheidung zwischen Daten mit und ohne Bezug zum Kern-
bereich quasi unmoumlglich ist forderte es bereits dort von den ent-
sprechenden gesetzlichen Ermaumlchtigungen lediglich bdquodarauf
hinzuwirken dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten
soweit wie informationstechnisch und ermittlungstechnisch
moumlglich unterbleibtldquo44
Es genuumlge dann bdquofuumlr hinreichenden Schutz in der Auswer-
tungsphase zu sorgenldquo und bdquodurch geeignete Verfahrensvor-
schriften sicherzustellen dass dann wenn Daten mit Bezug zum
Kernbereich privater Lebensgestaltung erhoben worden sind
die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung und ihre Auswirkun-
gen fuumlr die Persoumlnlichkeit und Entfaltung des Betroffenen so ge-
ring wie moumlglich bleibenldquo45
Damit wandeln sich so die zu-
naumlchst als Ergaumlnzung konzipierten Verfahrensvorschriften der
zweiten Stufe zum einzigen Stuumltzpfeiler des Kernbereichsschut-
zes46
Besonders irritiert dass das BVerfG sich sowohl im Urteil
zur Online-Durchsuchung47
als auch bei der Billigung des sect
100a Abs 448
auf seine Kernbereichsrechtsprechung im Abhoumlr-
Urteil bezieht Waumlhrend es damals aber noch Maszlignahmen fuumlr
unzulaumlssig erklaumlrte die wahrscheinlich in den Kernbereich ein-
dringen49
laumlsst es nun Uumlberwachungen zu obwohl eine Erfas-
sung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unvermeidbar
ist50
Diese Urteile stehen in einem starken Widerspruch sogar
gegenteilig zur fruumlheren Rechtsprechung sodass die Frage be-
rechtigt ist ob das BVerfG nicht laumlngst von dem Konzept eines
absolut geschuumltzten Kernbereichs der Persoumlnlichkeit abgewi-
chen ist
43 BVerfGE 120 S 274 44 BVerfGE 120 S 274 (338) 45 BVerfGE 120 S 274 (338) 46 Schwabenbauer Heimliche Eingriffsmaszlignahmen S 283 mit Verweis auf
BVerfG 113 S 348 (392) bdquoHinzu muumlssen Vorkehrungen kommen die si-
chern dass Kommunikationsinhalte des houmlchstpersoumlnlichen Bereichs nicht
gespeichert und verwertet werden duumlrfenldquo 47 BVerfGE 120 S 274 (338) 48 BVerfGE NJW 2012 S 833 (837) 49 BVerfGE 109 S 279 (318) 50 BVerfGE 120 S 274 (338)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 43
E Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Diesen Schluss ziehen viele Stimmen in der Literatur51
Teil-
weise wird vermutet dass dies eine Reaktion auf den nach der
Entscheidung zum groszligen Lauschangriff erhobenen Vorwurf
der Praxisuntauglichkeit darstellt52
Vor diesem Hintergrund
gibt es auch Unterstuumltzer fuumlr die vermeintliche Entscheidung des
BVerfG den Kernbereich nun doch der Abwaumlgung mit oumlffentli-
chen Interessen zugaumlnglich zu machen53
Im Folgenden soll nun gepruumlft werden ob das BVerfG seinen
vormals absoluten Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
tatsaumlchlich aufgegeben und zugunsten staatlicher Strafverfol-
gungsinteressen relativiert hat
I Prozessuale Relativierung infolge der Disponibilitaumlt
des Verwertungsverbots
Hauck54
meint eine Relativierung des Kernbereichsschutzes
darin zu erkennen dass der BGH es Beschuldigten eroumlffnet auf
das Verwertungsverbot von Beweismitteln mit Kernbereichsre-
levanz zu verzichten und ihnen so zur Zulaumlssigkeit zur verhel-
fen55
Er vertritt dies mit der Begruumlndung dass wenn sich der
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aus der Menschen-
wuumlrde herleite welche unstreitig indisponibel sei somit auch
der Kernbereichsschutz selbst indisponibel sein muumlsse56
Unab-
haumlngig davon ob die Menschenwuumlrde tatsaumlchlich indisponibel
ist57
schuumltzt der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
aber nicht unmittelbar die Menschenwuumlrde selbst sondern eine
sich aus der Menschenwuumlrde ergebende Sphaumlre der Privatheit
die dem Buumlrger auch bei uumlberragenden entgegenstehenden staat-
lichen Interessen zugestanden werden muss Was von diesem
Kern der Privatheit umfasst ist bestimmt sich anhand von zwei
Faktoren der Houmlchstpersoumlnlichkeit und dem Sozialbezug
Wenn mangels Sozialbezug bdquoallein [hellip][die] eigene Sphaumlre tan-
giert istldquo58
kann der Buumlrger Elemente seiner houmlchstpersoumlnli-
chen Sphaumlre beliebig aus dem geschuumltzten Kernbereich der Pri-
vatheit entlassen indem er sie freiwillig der Oumlffentlichkeit zu-
gaumlnglich macht Dieser Ansicht ist auch das BVerfG wenn es
ausfuumlhrt der Kernbereich sei nicht betroffen wenn der Be-
troffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssachverhalts selbst
keinen Wert lege59
Dieses Ergebnis ist auch dahingehend sinn-
voll dass Beweisverwertungsverbote regelmaumlszligig Schutzinteres-
sen des Beschuldigten dienen60
Es waumlre deshalb widerspruumlch-
lich dem Beschuldigten die Einbringung von entlastenden Be-
weisen mit dem Argument zu verwehren sie unterfielen seinem
Kernbereich privater Lebensgestaltung obwohl offensichtlich
kein Geheimhaltungswille besteht Insofern unterscheidet sich
51 Hoffmann-Riem JZ 2008 S 1009 (1021) Dammann Der Kernbereich der
privaten Lebensgestaltung S 51 Schwabenbauer Heimliche Zwangsmaszlig-
nahmen S 283 Sachs JuS 2012 S 374 (375) Baldus JZ 2008 S 218
(224) 52 Volkmann AnwBl 2009 S 118 (123) 53 So bspw Boumlckenfoumlrde JZ 2008 S 925 (932) 54 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 55 BGHSt 51 S 1 (4) bdquoAuch uumlber ein derartiges Verwertungsverbot kann der
Angeklagte disponieren soweit allein seine eigene Sphaumlre tangiert istldquo 56 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 57 So naumlmlich MKS-GGStarck Art 1 Rn 114 58 BGHSt 51 S 1 (4)
das disponible absolute Verwertungsverbot des Kernbereichs-
schutzes von dem indisponiblen absoluten Verwertungsverbot
des sect 163a Abs 3 S 2 welches seinen Grund darin hat dass
Aussagen die unter den dort genannten Umstaumlnden hervorge-
bracht worden sind auch in ihrem Beweiswert zweifelhaft er-
scheinen61
Eine Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung daran festzumachen
dass der BGH das absolute Beweisverwertungsverbot des Kern-
bereichsschutzes zur Disposition gestellt hat ist somit nicht ge-
rechtfertigt
II Materielle Relativierung durch funktionale
Auslegung des Kernbereichsbegriffs
Ein haumlufiger Vorwurf ist auch das BVerfG relativiere den abso-
luten Schutz des Kernbereichs indem es Aumluszligerungen die einen
unmittelbaren Bezug zu konkreten Straftaten haben vom
Schutzbereich ausschlieszligt62
Viele meinen darin zu erkennen
dass das Gericht beim Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlich-
keit entgegen seiner Proklamation63
doch auf Abwaumlgungsuumlber-
legungen zuruumlckgreift ndash nur eben nicht erst bei der tatsaumlchlichen
Anwendung des Kernbereichsschutzes sondern bereits bei der
Bestimmung der Reichweite desselben64
Absolut geschuumltzt
waumlre demnach nur was diesen Abwaumlgungsvorgang mit staatli-
chen Interessen erfolgreich durchlaufen hat65
Dieser Vorwurf
wird damit begruumlndet dass es anders nicht erklaumlrbar sei Aumluszlige-
rungen mit Straftatenbezug vom Schutzbereich auszunehmen
Fraglich ist ob dies zutrifft Das Kriterium das das BVerfG zur
Bestimmung des absolut geschuumltzten Kernbereichs des Privaten
heranzieht ist die Houmlchstpersoumlnlichkeit des Inhalts und in wel-
cher Art und Intensitaumlt er aus sich heraus die Belange der Ge-
meinschaft beruumlhrt66
Dabei ist klar dass bloszlige Erzaumlhlungen o-
der Prahlereien uumlber die Begehung von Straftaten sowie deren
Planung schon mangels Houmlchstpersoumlnlichkeit nicht in den
Schutzbereich fallen Relevant wird das Ausschlusskriterium
des Straftatenbezugs erst bei Aumluszligerungen houmlchstpersoumlnlicher
Art beispielsweise dem vielzitierten Mordgestaumlndnis unter Ehe-
leuten67
Eine Straftat selbst kann weil sie gegen Regeln ver-
stoumlszligt die fuumlr ein gemeinsames Zusammenleben in einer Gesell-
schaft unerlaumlsslich sind niemals ein privater Akt sein68
Da je-
der Buumlrger der Gesellschaft die Einhaltung dieser Normen
schuldet beruumlhren Aussagen bezuumlglich der Nichteinhaltung der
strafrechtlichen Verbote stets die Belange der Gemeinschaft
Somit haben Aussagen mit Straftatenbezug auch immer einen
Sozialbezug und sind damit nie nur houmlchstpersoumlnlich Das
BVerfG schlieszligt jedoch nicht (mehr) alle Aumluszligerung mit sozial-
bezogenem Inhalt kategorisch vom Schutz des Kernbereichs
59 BVerfG 109 S 279 (318) 60 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 492 61 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 491 62 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 51 63 BVerfG 109 S 279 (314) 64 Baldus JZ 2008 S 218 (224) Lindemann JR 2006 S 191 (198) LR-
StPOHauck sect 100a Rn 138 65 Baldus JZ 2008 S 218 (224) 66 BVerfGE 109 S 279 (314) 67 Meyer-GroszlignerSchmidt sect 100c Rn 16 68 Vgl LR-StPOHauck sect 100a Rn 151 auch Rogall FS-Fezer S 61 (67)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
44 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
aus er differenziert nach Art und Intensitaumlt Ebendieser Diffe-
renzierung ist es geschuldet wenn es feststellt dass Aumluszligerun-
gen die bdquoUrsachen und Beweggruumlnde eines strafbaren Verhal-
tens freizulegen vermoumlgenldquo69
trotz Straftatenbezugs vom Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit erfasst sind
Insofern findet tatsaumlchlich eine Abwaumlgung statt jedoch nicht
in der Art dass aufgrund des Strafverfolgungsinteresses Aumluszlige-
rungen die zur Aufklaumlrung von Straftaten fuumlhren koumlnnen vom
absoluten Kernbereich ausgeschlossen sind sondern schlicht
ob eine Aumluszligerung der houmlchstpersoumlnlichen Privatsphaumlre zuzu-
rechnen ist oder nicht Dies bemisst sich auf der einen Seite am
selbstreflektierenden Charakter der Aumluszligerung also in welchem
Maszlig sie bdquosich als individuelle Entfaltung im Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung darstelltldquo70
und auf der anderen Seite bdquoin
welcher Art und Intensitaumlt sie aus sich heraus die Belange der
Gemeinschaft beruumlhrtldquo71
also wie unmittelbar und konkret sie
Bezug auf den oumlffentlichen Akt der Straftatbegehung nimmt
Dass das BVerfG eine Abwaumlgung mit dem Strafverfolgungsin-
teresse nicht vornimmt zeigt sich auch daran dass die Schwere
der konkreten Straftat auf die sich die Aumluszligerung bezieht fuumlr den
Straftatenbezug keine Rolle spielt72
Es liegt in der Natur einer inhaltsbezogenen Kernbereichsde-
finition nicht operationalisierbar zu sein maszliggebend sind im-
mer die Besonderheiten des jeweiligen Falles73
Uumlber den Straf-
tatenbezug gibt das BVerfG den Entscheidungstraumlgern ein star-
kes Indiz fuumlr einen Sozialbezug an die Hand so wie das Selbst-
gespraumlch ein starkes Indiz fuumlr die Houmlchstpersoumlnlichkeit der Aumlu-
szligerungen ist Ob eine Aumluszligerung in den Kernbereich der Persoumln-
lichkeit faumlllt wird sich immer anhand des Zusammenspiels die-
ser beiden Faktoren bestimmen So koumlnnen selbst Aumluszligerungen
die sich unzweifelhaft unmittelbar auf eine Straftat beziehen und
damit Belange der Gemeinschaft betreffen aber in einem
Selbstgespraumlch getaumltigt wurden aufgrund des uumlberragend
houmlchstpersoumlnlichen Charakters des Selbstgespraumlchs unter den
absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
fallen74
In der Regel75
werden solche Aumluszligerungen aber die Be-
lange der Gemeinschaft in einer Art und Intensitaumlt beruumlhren
dass sie nicht dem Kernbereich zugerechnet werden koumlnnen
Hinter dieser Wertung steckt aber keine heimliche Abwaumlgung
mit Strafverfolgungsinteressen sondern lediglich eine konse-
quente Anwendung der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchst-
persoumlnlichkeit von Aumluszligerungen
III Widerspruumlchlichkeit des Gestattens von Eingriffen
in den absolut geschuumltzten Bereich
Es stellt sich also die Frage wie es mit dem absoluten Schutz
des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit zusammenpasst dass das
BVerfG in seinen juumlngeren Entscheidungen Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen auch dann zulieszlig wenn Eingriffe in den Kernbereich
69 BVerfGE 109 S 279 (319) 70 BVerfGE 109 S 279 (314) 71 BVerfGE 109 S 279 (314) 72 Vgl BVerfGE 109 S 279 (319 343) das die Schwere der Tat als nur fuumlr
die Verhaumlltnismaumlszligigkeit relevant betrachtet siehe auch Schwabenbauer
Heimliche Grundrechtseingriffe Fn 470 73 BVerfGE 109 S 279 (314) 74 Vgl BGHSt 50 S 206 (213)
praktisch unvermeidbar waren Zwar werden die Konsequenzen
dieser Eingriffe die kernbereichsrelevanten Daten geloumlscht und
nicht weiter verwertet dies aumlndert jedoch nichts daran bdquodass
stets ein Eingriff in diesen Kernbereich zunaumlchst hingenommen
wirdldquo wie sich bereits in der noch sehr kernbereichsschutz-
freundlichen Entscheidung zum groszligen Lauschangriff die Rich-
terinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt in einer abweichen-
den Meinung aumluszligerten76
Wie kann es also sein dass das
BVerfG in einem Satz den absolut geschuumltzten Kernbereich pri-
vater Lebensgestaltung proklamiert der jedem staatlichen Ein-
griff entzogen ist und im naumlchsten Satz Eingriffe in diesen
Kernbereich ausdruumlcklich zulaumlsst wenn sie nicht vermeidbar
sind
1 Exkurs Demontierung der Unantastbarkeit der
Menschenwuumlrde
Dieser augenscheinliche Widerspruch in der Rechtsprechung
des BVerfG hat mehr Sprengkraft als es auf den ersten Blick
scheint Manche folgern aus den Diskrepanzen dass das
BVerfG offensichtlich nicht willens sei den Kernbereich der
Persoumlnlichkeit tatsaumlchlich absolut zu schuumltzen77
Andere jedoch
gehen noch weiter und argumentieren dass wenn sich der aus
der Menschenwuumlrde herleitende Kernbereich privater Lebens-
gestaltung als abwaumlgungs- und relativierungsoffen erweise
auch der Absolutheitsanspruch der Menschenwuumlrdegarantie aus
Art 1 Abs 1 GG selbst in Zweifel zu ziehen sei78
Das BVerfG
sei bei dem Versuch die Wuumlrdegarantie in konkreten grund-
rechtlichen Problemlagen nutzbar zu machen gescheitert79
Die
Folge daraus sei dass es keine absolut geschuumltzten Rechtsguumlter
geben koumlnne nicht einmal im Bereich der Menschenwuumlrde80
Anhand der Rechtsprechung zum Kernbereichsschutz soll die
Menschenwuumlrdegarantie insgesamt gegenuumlber Abwaumlgungen mit
staatlichen Sicherheits- bzw Strafverfolgungsinteressen geoumlff-
net werden Wenn dies aber zutrifft was bedeutet dies fuumlr die
verbotenen Vernehmungsmethoden aus sect 136a StPO Fuumlr das
Folterverbot Hat das BVerfG tatsaumlchlich klammheimlich diese
Buumlchse der Pandora geoumlffnet
a) Menschenwuumlrde als Achtungsgebot
Den obigen Uumlberlegungen liegt die Vorstellung zugrunde dass
jede staatliche Wahrnehmung von Informationen die dem Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit zuzurechnen sind eine Menschen-
wuumlrdeverletzung darstellt Poscher bietet eine andere Interpre-
tation der Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung Fuumlr ihn wurzeln die oben gezeigten teil-
weise dramatischen Konsequenzen die ein Teil der Literatur aus
der Kernbereichsrechtsprechung zieht in einem tiefer liegenden
Missverstaumlndnis des Menschenwuumlrdeschutzes dass sich auch in
der Verraumlumlichung des Kernbereichsschutzes zeige81
Die
75 BT-Drucksache 154533 S 14 76 BVerfG 109 S 279 (383) 77 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 265 78 So Baldus JZ 2008 S 218 (224) 79 Baldus JZ 2008 S 218 (225) 80 MaunzDuumlrig-GGHerdegen Art 1 Rn 50 Rogall FS-Fezer S 61 (86) 81 Poscher JZ 2009 S 269 (274)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 45
Menschenwuumlrde sei aber kein ideeller Raum der durch einen
Eingriff in den Kernbereich privater Lebensfuumlhrung verletzt
werden koumlnne so wie ein Eindringen in die Wohnung das Recht
aus Art 13 Abs 1 GG verletze Vielmehr sei der Satz aus Art 1
Abs 1 GG woumlrtlich gemeint bdquoDie Wuumlrde des Menschen ist un-
antastbarldquo ist demnach keine Forderung sondern eine Feststel-
lung Der Staat koumlnne die Wuumlrde des Menschen nie verletzen
verletzbar sei lediglich der Achtungsanspruch der sich aus ihr
ergibt82
Dieser Achtungsanspruch wuumlrde aber nicht bereits
dadurch verletzt dass der Staat in bestimmte Freiheitsraumlume
eindringe im Extremfall koumlnne der Staat einen Angreifer sogar
toumlten ohne seine Wuumlrde zu verletzen indem er ihn zumindest
als einen Feind achte83
Der aus der Menschenwuumlrde flieszligende
Achtungsanspruch sei erst dann verletzt wenn in der Rechtsver-
letzung gerade eine Missachtung der Wuumlrde zum Ausdruck
komme so beispielsweise bei der Folter wo die Verletzung der
koumlrperlichen Unversehrtheit gerade darauf gerichtet ist die ver-
nuumlnftige Willensbildung und damit das zu negieren was den
Menschen als Gattung auszeichnet Poscher macht damit die In-
tention des Staates zum wesentlichen Kriterium der Verletzung
der Wuumlrdegarantie aus Art 1 Abs 1 GG Wenn ein Polizist auf
Streife zufaumlllig aufgrund eines geoumlffneten Fensters intime De-
tails wahrnehme liege darin keine Menschenwuumlrdeverletzung
und auch nicht wenn Beamten bei der Durchsuchung der Woh-
nung eines Drogenhaumlndlers in einer Schublade auf intime Pho-
tographien desselben stoszligen84
Eine Verletzung des Achtungs-
anspruchs bestehe erst dann wenn der Staat (gezielt) auf den
Kernbereich zugreift um Daten aus dem Kernbereich fuumlr seine
Zwecke zu nutzen denn damit zeige er dass er alle Bereiche der
Persoumlnlichkeit instrumentalisiert und seinen Zwecken unterord-
net85
Die Achtung der Menschenwuumlrde verlange demnach dass
die nicht-intendierte Erfassung von kernbereichsrelevanten Da-
ten so weit als moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen
erfolgende nicht-intendierte Kenntnisnahmen umgehend unter-
brochen werden anfallende Kernbereichsdaten sofort vernichtet
und besonders in keiner Weise verwendet werden
b) Zwischenergebnis
Mit der Ruumlckbesinnung auf die Menschenwuumlrdegarantie als
Achtungsanspruch laumlsst sich der Widerspruch in der Kernbe-
reichsrechtsprechung des BVerfG zumindest insoweit erklaumlren
als dass er nicht mehr als Beweis fuumlr die offizielle Aufgabe des
Absolutheitsanspruches der Menschenwuumlrdegarantie angefuumlhrt
werden kann Das Konzept des Gerichts beruhe demnach nicht
auf einer relativierenden Abwaumlgung der Menschenwuumlrde gegen
staatliche Sicherheitsinteressen sondern auf einem Urteil uumlber
das was der aus der Menschenwuumlrde folgende Achtungsan-
spruch gegenuumlber nicht-intendierten Folgen staatlichen Han-
delns gebietet86
2 Kernbereich der Persoumlnlichkeit als
82 Poscher JZ 2009 S 269 (274) auch BVerfGE 96 S 375 (399) 83 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 84 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 85 Poscher JZ 2009 S 269 (275)
Achtungsgebot
Den moderateren Vorwuumlrfen das BVerfG halte unabhaumlngig da-
von ob darin eine Relativierung des Absolutheitsanspruches der
Menschenwuumlrdegarantie zu sehen ist oder nicht zumindest sei-
nen absoluten Schutz des Kernbereichs nicht konsequent durch
schafft diese Interpretation jedoch noch keine Abhilfe Poscher
geht indessen noch einen Schritt weiter indem er das Achtungs-
gebot der Menschenwuumlrde auf den Kernbereich der Persoumlnlich-
keit uumlbertraumlgt
bdquoDer aus der Menschenwuumlrdegarantie abgeleitete Kernbe-
reichsschutz gilt nicht der Abdichtung eines physischen oder
ideellen Raums sondern der Achtung vor bestimmten Lebens-
aumluszligerungen von hoher Relevanz fuumlr die psychologische und so-
ziale Integritaumlt eines Grundrechtstraumlgers in welchen Raumlumen
auch immer sie sich ereignenldquo87
Diese Theorie die in der Literatur als Konstruktion kritisiert
wurde88
im Hinterkopf behaltend soll im Folgenden ein Blick
in die aktuellste Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung geworfen werden
F Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016
Am 20 April 2016 entschied das BVerfG89
anlaumlsslich einer
Verfassungsbeschwerde dass die Ermaumlchtigung des Bundeskri-
minalamts zum Einsatz von heimlichen Uumlberwachungsmaszlignah-
men zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus
zwar im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar ist die der-
zeitige Ausgestaltung von Befugnissen aber in verschiedener
Hinsicht dem Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatz nicht genuumlgt Teil
des Urteils waren dabei die Ausfuumlhrungen zu den verfassungs-
rechtlich vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen fuumlr den Kern-
bereich privater Lebensgestaltung Diese Ausfuumlhrungen sollen
nun daraufhin analysiert werden ob sie neue Erkenntnisse zu
den augenscheinlichen Diskrepanzen in der Kernbereichsrecht-
sprechung des BVerfG bieten koumlnnen
I Untermauerung der Uumlberlegungen zur Exklusion
des Straftatenbezugs
In den obigen Uumlberlegungen zur Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung wurde
der Versuch unternommen zu erlaumlutern warum dieses Krite-
rium kein Beweis fuumlr die Relativierung des absoluten Schutz des
Kernbereichs ist sondern lediglich die konsequente Anwendung
der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchstpersoumlnlichkeit von Aumlu-
szligerungen Demnach koumlnnen auch Aumluszligerungen mit konkretem
Straftatenbezug in den Kernbereich der Persoumlnlichkeit fallen
wenn die Elemente der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Gewissen und der Selbstreflexion die fuumlr eine individuelle Ent-
faltung unerlaumlsslich sind den Gesamtinhalt der Aumluszligerung stark
genug praumlgen Nach dem BGH der ein Selbstgespraumlch trotz
konkretem Straftatenbezug zum Kernbereich der Persoumlnlichkeit
86 Poscher JZ 2009 S 269 (276) 87 Poscher JZ 2009 S 269 (276) Hervorhebung hier 88 So Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270 89 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 -
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
46 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
zaumlhlte bestaumltigt nun auch das BVerfG in seiner juumlngsten Ent-
scheidung diese Interpretation indem es in aller Deutlichkeit
ausfuumlhrt
bdquoAuch koumlnnen trotz Straftatenbezugs Situationen in denen
Einzelnen gerade ermoumlglicht werden soll ein Fehlverhalten ein-
zugestehen oder sich auf dessen Folgen einzurichten wie
Beichtgespraumlche oder vertrauliche Gespraumlche mit einem Psy-
chotherapeuten oder einem Strafverteidiger der houmlchstpersoumlnli-
chen Privatsphaumlre unterfallen die dem Staat absolut entzogen
istldquo90
Damit laumlsst das BVerfG nun auch Aumluszligerungen mit unmittel-
baren Bezug zu konkreten Straftaten in den Kernbereich privater
Lebensgestaltung fallen Bei der in fruumlheren Entscheidungen91
noch so kategorisch anmutenden Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung han-
delt es sich somit um eine Vermutung die ihre Ausnahme in
Aumluszligerungen findet die in besonders hohem Maszlige der individu-
ellen Reflektion und Selbstentfaltung dienen und damit den So-
zialbezug des straftatbezogenen Inhalts uumlberwiegen
II Bestaumltigung des Achtungsgebots der
Menschenwuumlrde
Seit das BVerfG Uumlberwachungsmaszlignahmen zulieszlig obwohl
eine Erfassung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unver-
meidbar war musste es viel Kritik einstecken Der schaumlrfste
Vorwurf war mit der Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs auch die Menschenwuumlrde selbst Abwaumlgungsuumlber-
legungen zugaumlnglich zu machen Vermutlich um diesen Ten-
denzen ein Ende zu setzen stellte das Gericht in seinem neuen
Urteil klar
bdquoDer Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist
strikt und darf nicht durch Abwaumlgung mit den Sicherheitsinte-
ressen nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes re-
lativiert werden [hellip] Dies bedeutet jedoch nicht dass jede tat-
saumlchliche Erfassung von houmlchstpersoumlnlichen Informationen stets
einen Verfassungsverstoszlig oder eine Menschenwuumlrdeverletzung
begruumlndetldquo92
Damit scheint das Gericht Poschers Interpretation der Men-
schenwuumlrdegarantie als Achtungsanspruch zu bestaumltigen Indem
es feststellt dass zum Schutz des Kernbereichs Vorkehrungen
zu treffen sind bdquodie eine unbeabsichtigte Miterfassung von
Kernbereichsinformationen nach Moumlglichkeit ausschlieszligenldquo93
orientiert es sich nicht nur stark an der Formulierung Po-
schers94
sondern erwaumlhnt uumlberhaupt erstmals das Kriterium der
90 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
122 91 BVerfGE 80 S 367 (374) BVerfGE 109 S 279 (319) 92 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 93 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
126 Hervorhebung hier 94 Poscher JZ 2009 S 269 (275) bdquo[hellip] dass das nicht-intendierte Eindringen
[in den Kernbereich] soweit als moumlglich vermieden wirdldquo 95 Kant Die Metaphysik der Sitten Teil 2 sect 38 96 BVerfGE 109 S 279 (313)
staatlichen Intention im Zusammenhang mit der Kernbereichs-
rechtsprechung und laumlsst damit den Schluss auf eine sich auf das
Kantlsquosche Instrumentalisierungsverbot95
beziehende Interpreta-
tion der Menschenwuumlrde zu Dies ist insoweit wenig uumlberra-
schend da das BVerfG bereits im Abhoumlrurteil von einem abso-
lut geschuumltzten Achtungsanspruch der Menschenwuumlrde
sprach96
Ausdruumlcklich bdquoDie akustische Wohnraumuumlberwa-
chung zu Strafverfolgungszwecken verstoumlszligt dann gegen die
Menschenwuumlrde wenn der Kernbereich privater Lebensgestal-
tung nicht respektiert wirdldquo97
III Bestaumltigung des Achtungsgebots des
Kernbereichs
Erstaunlich am juumlngsten Urteil des BVerfG zum Kernbereichs-
schutz ist dass es diesen Achtungsanspruch auf den Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung uumlbertraumlgt Absolut geschuumltzt ist
demnach nicht der Kernbereich selbst sondern das Achtungsge-
bot des Kernbereichs Wie bei der Menschenwuumlrde liegt dem-
nach nur dann eine Verletzung des Kernbereichs bzw des Ach-
tungsgebots desselben vor wenn der Kernbereich missachtet
wird also der Staat bewusst auf den Kernbereich zugreift um
die houmlchstpersoumlnlichen Inhalte fuumlr Strafverfolgungszwecke zu
instrumentalisieren So schreibt das BVerfG
bdquoDer Kernbereich privater Lebensgestaltung beansprucht ge-
genuumlber allen Uumlberwachungsmaszlignahmen Beachtungldquo98
und kurz darauf noch deutlicher
bdquoDie Verfassung verlangt [hellip] fuumlr die Ausgestaltung der
Uumlberwachungsbefugnisse die Achtung des Kernbereichs als eine
strikte nicht frei durch Einzelfallerwaumlgungen uumlberwindbare
Grenzeldquo99
Ausdruumlcklich wird hier als Eingriffsgrenze staatlicher Uumlber-
wachungsmaszlignahmen nicht der Kernbereich privater Lebensge-
staltung selbst sondern die Achtung vor demselben angefuumlhrt
Uumlberraschend distanziert sich das BVerfG damit von einem
raumlumlich-gedachten Kernbereich der bei einem Eingriff verletzt
ist obwohl Formulierungen in fruumlheren Urteilen noch auf ein
solches Verstaumlndnis hindeuten100
Bei genauerer Betrachtung
jedoch taucht die Rhetorik von der Achtung des Kernbereichs
bereits in der Entscheidung zur akustischen Wohnraumuumlberwa-
chung auf Dort ist die Rede von einem bdquoverfassungsrechtlichen
Gebot unbedingter Achtung einer Sphaumlre des Buumlrgers fuumlr eine
ausschlieszliglich private ndash eine houmlchstpersoumlnliche ndash Entfal-
tungldquo101
Auch im Urteil zur Online-Durchsuchung spricht das
Gericht von einer bdquoverfassungsrechtlich gebotenen Achtung des
Kernbereichs privater Lebensgestaltungldquo102
97 BVerfGE 109 S 279 (314) 98 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
123 99 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 100 Bspw BVerfGE 120 S274 (338) bdquoDer Gesetzgeber hat [hellip] sicherzustel-
len dass [hellip] die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung [hellip] so gering wie
moumlglich [bleibt]ldquo ndash scheinbar Verletzung des Kernbereichs durch Eingriffe 101 BVerfGE 109 S 279 (313) 102 BVerfGE 120 S 274 (339)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 47
Es scheint als haumltte Poscher mit seiner Interpretation der
Menschenwuumlrde und der vorsichtigen Uumlbertragung dieses Kon-
zepts auf den Kernbereichsschutz ins Schwarze getroffen Legt
man dieses Verstaumlndnis uumlber die Urteile zum Kernbereichs-
schutz die bei einer Interpretation des Kernbereichs als absolut
geschuumltzten Raum so widerspruumlchlich erscheinen loumlsen sich die
Diskrepanzen in der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
in Luft auf Eine versehentliche Wahrnehmung kernbereichsre-
levanter Informationen stellt demnach noch keine Kernbereichs-
verletzung dar sondern erst wenn der Staat damit seine Miss-
achtung zum Ausdruck bringt Letztendlich ist diese Interpreta-
tion recht naheliegend denn wenn sich der Kernbereich der Per-
soumlnlichkeit aus der Menschenwuumlrde ergibt dann ist es logisch
dass der Staat zum Kernbereich das gleiche Verhaumlltnis hat wie
zur Menschenwuumlrde naumlmlich dass er sie zu achten hat
IV Konsequenz eines Achtungsgebots des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Die Frage die sich nun stellt ist Was verlangt das Achtungsge-
bot des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Genau dies ist
es was das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Kernbe-
reichsschutz herausgearbeitet hat und im oberen Teil der Arbeit
dargestellt wurde Die Schutzvorkehrungen sind damit keine
Kriterien die einen absoluten Schutz garantieren sollen sondern
das was das BVerfG fuumlr notwendig haumllt um die staatliche Ach-
tung vor dem Kernbereich der Persoumlnlichkeit auszudruumlcken
Dass er Eingriffe zulaumlsst obwohl die Erfassung kernbereichsre-
levanter Daten praktisch unvermeidbar ist basiert auf der Wer-
tung dass der Achtung des Kernbereichs genuumlge getan ist wenn
das nicht-intendierte (denn gezielt kernbereichsausforschende
Maszlignahmen waumlren zweifellos eine Missachtung) Eindringen
soweit wie moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen er-
folgende unbeabsichtigte Kenntnisnahmen umgehend zu unter-
brechen anfallende Kernbereichsdaten sofort zu vernichten und
in keiner Weise zu verwenden
Nun koumlnnte man diese Wertung mit dem Standpunkt anzwei-
feln dass die einzige Form mit der die Achtung des Kernbe-
reichs ausgedruumlckt werden kann darin besteht die Eingriffe die
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu unbeabsichtigten
Wahrnehmungen kernbereichsrelevanter Daten fuumlhren grund-
saumltzlich zu unterlassen103
Wenn der Staat Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen durchfuumlhrt obwohl eine Erfassung kernbereichsrele-
vanter Daten praktisch unvermeidbar ist ist dies nicht anders
als wenn gezielt auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung
zugegriffen wird schlieszliglich sind zwangslaumlufige Folgen einer
Handlung von der Handlungsintention stets miterfasst104
Letz-
teres Argument laumlsst sich zumindest dogmatisch dadurch ent-
kraumlften dass Uumlberwachungsbeamte regelmaumlszligig darauf hoffen
werden gerade keine kernbereichsrelevanten Daten zu erheben
um die Ergebnisse ihrer Uumlberwachung uumlberhaupt verwerten zu
koumlnnen Den Ansatz die Achtung vor dem Kernbereich gebiete
es Maszlignahmen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der
Kernbereichsberuumlhrung kategorisch zu unterlassen strikt durch-
103 So bspw SachsKrings JuS 2008 S 481 (485f) 104 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270
zusetzen wuumlrde bedeuten dass etliche Strafverfolgungsmaszlig-
nahmen wie beispielsweise die klassische Wohnungsdurchsu-
chung in Privatwohnungen ebenfalls unzulaumlssig waumlren Letzt-
endlich genuumlgt es jedoch nicht dem BVerfG vorzuwerfen seine
Kriterien wuumlrden dem Achtungsgebot des Kernbereichs der Per-
soumlnlichkeit nicht gerecht Es muumlsste vielmehr gezeigt werden
inwiefern ein Staat der alles praktisch und technisch Moumlgliche
unternimmt um den Kernbereich der Persoumlnlichkeit seiner Buumlr-
ger vor Wahrnehmungen zu schuumltzen der sich jede Verwertung
versagt und zudem eine unabhaumlngige Uumlberwachung einrichtet
trotz dieser Anstrengungen seine Missachtung zum Ausdruck
bringt105
G Fazit
Anhand der Interpretation des absolut geschuumltzten Kernbereichs
als Achtungsgebot ist es moumlglich die Kernbereichsrechtspre-
chung des BVerfG mit sich selbst in Einklang zu bringen Die
Aufloumlsung der oben diskutierten augenscheinlichen Widerspruuml-
che duumlrfte das Verstaumlndnis fuumlr die bundesverfassungsgerichtli-
che Judikatur foumlrdern und die zukuumlnftige Diskussion um den
Schutz des Kernbereichs erleichtern Ob der faktische Kernbe-
reichsschutz davon ebenso profitiert ist fraglich Die Verlage-
rung der Debatte auf die Wertung was die Achtung vor dem
Kernbereich gebiete laumlsst dem BVerfG bei seiner Rechtspre-
chung wesentlich mehr Wuumlrdigungsspielraum und gibt Kriti-
kern weniger handfeste Argumente an die Hand als eine raumlum-
lich-gedachte absolute Grenze Die Kernbereichsklausel des sect
100a Abs 4 StPO bleibt jedoch auch bei dieser Interpretation
mangelhaft denn wenn den Behoumlrden erlaubt wird auch bei An-
haltspunkten auf eine Beruumlhrung des Kernbereichs abzuhoumlren
kann von einer Achtung desselben keine Rede sein Unzweifel-
haft hat die Rechtsfigur des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
Vergleich zum Abhoumlrurteil an Wert verloren sie aumlhnelt nun eher
einer Konkretisierung der Menschenwuumlrdegarantie bei informa-
tionserhebenden Maszlignahmen Zwar ist die Nutzbarmachung der
Menschenwuumlrde in dieser Form eine begruumlszligenswerte Entwick-
lung die Idee eines tatsaumlchlich absolut geschuumltzten Bereichs
menschlicher Freiheit in den der Staat um keinen Preis eindrin-
gen kann war jedoch ein erfrischender Gegentrend zu der Ten-
denz Individualinteressen prinzipiell dem kollektiven Nutzen
unterzuordnen Die Scheu vor dieser Entwicklung wird es auch
sein was das BVerfG bis heute dazu bewegt in jedem Urteil
wieder die Unantastbarkeit des Kernbereichs zu proklamieren
und diese dem liberalen Verfassungsstaat entstammende Idee
des jedem staatlichen Zugriff entzogenen Freiheitsraumes am
Leben zu erhalten
Der Autor hat sein erstes juristisches Staatsexamen an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg 2018 abgelegt Des Weiteren war er seit 2015 am Max-Planck-Institut ebenfalls in Freiburg taumltig und war wissenschaftlicher Mitarbeit beim Lehrstuhl Prof Dr Perron (Frei-burg) bis er im April 2019 sein Referendariat am LG Freiburg begon-nen hat Die Arbeit entstand im Rahmen eines interdisziplinaumlren Se-minars zum Thema Cybercrime digitale Ermittlungen und Daten-schutz im WS 20162017
105 Poscher JZ 2008 S 269 (275)
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
48 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Buchrezension bdquoFamilienrechtldquo
-
Prof Dr Nina Dethloff
Tino Haupt
Das Familienrecht hat insbesondere in den letzten Jahren
stark im oumlffentlichen Interesse gestanden Beispielhaft ge-
nannt sei hier die sogenannte bdquoEhe fuumlr alleldquo Nach mona-
telangen emotional in der Oumlffentlichkeit gefuumlhrten Debat-
ten hat der Bundestag sich am 30 Juni 2017 mit einer
deutlichen Mehrheit fuumlr den Bundesratsentwurf und somit
die Eheoumlffnung entschlossen
Hervorzuheben sind auszligerdem die in letzter Zeit erfolgten
Aumlnderungen zur Bekaumlmpfung von Kinderehen und stetige
Entwicklungen im Abstammungsrecht
Gut geeignet fuumlr das Erlernen all dieser Gebiete ist das
Werk von Nina Dethloff zum Familienrecht
I Allgemeines zur Autorin und zum Lehrbuch
Nina Dethloff ist Professorin an der Universitaumlt Bonn und dort
Inhaberin des Lehrstuhls fuumlr Buumlrgerliches Recht Internationales
Privatrecht Rechtsvergleichung und Europaumlisches Privatrecht
Zuletzt war sie unter anderem Vorsitzende der Abteilung fuumlr
Familienrecht bei dem 72 Deutschen Juristentag in Leipzig
(Thema Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach
Trennung und Scheidung ndash Reformbedarf im Sorge- Umgangs-
und Unterhaltsrecht)
Das hier behandelte Lehrbuch zum Familienrecht wurde von
Guumlnther Beitzke begruumlndet und in der 26 und 27 Auflage von
Alexander Luumlderitz bearbeitet Mit der 28 Auflage wurde die
Bearbeitung von Nina Dethloff uumlbernommen Im Jahr 2018 ist
das Werk in der 32 Auflage im Verlag CH Beck erschienen
und ist fuumlr einen Preis von 3290 euro im Buchhandel erhaumlltlich
II Zum Inhalt
Die Autorin gliedert 548 Seiten Lehrbuchtext in eine Einleitung
sowie drei Kapitel und diese in insgesamt 17 Paragraphen Die
drei Kapitel des Werkes tragen die Titel bdquoEhe und Partner-
schaftldquo bdquoFamilieldquo und bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo
Vor dem Einstieg in die eigentliche Materie erlaumlutert die
Autorin in einer Einleitung von 25 Seiten die Hintergruumlnde des
Rechtsgebietes bdquoFamilienrechtldquo Deutlich wird hierbei die hohe
praktische Relevanz des Familienrechts aufgrund der enormen
Anzahl an familienrechtlichen Streitigkeiten Dargestellt wird
auszligerdem der Zusammenhang des Familienrechts mit dem
Verfassungsrecht sowie dem internationalen Recht Auch eine
Erlaumluterung der wichtigsten Reformgesetze und der elementaren
Begriffe erfolgt
Mit diesem Grundwissen ausgeruumlstet stellt die Autorin im 1
Kapitel (bdquoEhe und Partnerschaftldquo) den Gang der Ehe dar der mit
dem Verloumlbnis beginnt und haumlufig mit der Ehescheidung endet
Dargestellt wird auszligerdem die eingetragene Lebenspartner-
schaft (wobei diese mit der erfolgten Oumlffnung der Ehe erheblich
an Relevanz verloren hat) und die praktisch auszligerordentlich
relevante faktische Lebensgemeinschaft das heiszligt Lebensge-
meinschaften die ohne Eheschlieszligung oder Begruumlndung einer
Lebenspartnerschaft erfolgen Etwas zu kurz geraten hier die
Ausfuumlhrungen zu den vermoumlgensrechtlichen Anspruumlchen bei
Beendigung der Gemeinschaft Um der Bedeutung insbesondere
in Klausuren gerecht zu werden koumlnnte vor allem die
Darstellung des Bereicherungsrechts in diesem Zusammenhang
ausfuumlhrlicher erfolgen
Neben dem Eherecht ist das Verwandtschaftsrecht das zweite
groszlige Gebiet welches im familienrechtlichen Teil des BGB ge-
regelt ist Die Autorin behandelt diese Aspekte im 2 Kapitel
welches den Titel bdquoFamilieldquo traumlgt Uumlberzeugend ist hier das auch
immer wieder klausurrelevante Abstammungsrecht Neben der
Darstellung der Abstammung von der Mutter und dem Vater
werden auch kontrovers diskutierte Themen wie Leihmutter-
schaft und Babyklappen anschaulich und zum weiteren
Nachdenken anregend behandelt Die weiteren Ausfuumlhrungen
betreffen unter anderem den Unterhalt und die elterliche Sorge
aber auch die Thematik der Pflegefamilie und der Adoption
Abschlieszligend behandelt die Autorin in einem 3 Kapitel wel-
ches den Titel bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo traumlgt Fragestellungen die
im Zusammenhang mit Vormundschaft Rechtlicher Betreuung
und Pflegschaft entstehen
Im Anhang findet sich auszligerdem die Duumlsseldorfer Tabelle
mit Stand zum 112018 welche eine Richtlinie fuumlr den durch
den Barunterhaltspflichtigen an das Kind zu zahlenden Unter-
halt gibt
Hinsichtlich des inhaltlichen Aufbaus laumlsst sich feststellen dass
die einzelnen Paragraphen mit teils kurzen manchmal auch laumln-
geren Faumlllen eingelaumlutet werden die dann im Laufe der jeweili-
gen Darstellung geloumlst werden Das Buch erfuumlllt somit auch teil-
weise die Funktion von Fallbuumlchern und kann diese deshalb
ersetzen Hinzu kommen am Ende eines jeden Paragraphen
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen welche das gerade
Erlernte noch einmal abfragen und somit vertiefen Die
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 49
Loumlsungen zu diesen Fragen finden sich erst gesammelt am Ende
des Buches sodass die Motivation groumlszliger ist zunaumlchst einmal
selbst uumlber die Loumlsung nachzudenken anstatt sofort die Muster-
loumlsung nachzulesen Zudem finden sich immer wieder Angaben
zum relevanten Schrifttum
III Stellungnahme
Die Neubearbeitung des Lehrbuchs zum Familienrecht ist auch
in der 32 Auflage erfolgreich verlaufen
Alle relevanten Gesetzesaumlnderungen und die Entwicklungen
in der Rechtsprechung und der Literatur sind angemessen verar-
beitet Fuumlr eine schnelle Wiederholung des Familienrechts kurz
vor der Klausur eignet sich das Werk aufgrund des nicht gerade
geringen Umfangs nicht unbedingt Hier bieten sich kompaktere
Darstellungen zum Familienrecht an Gerade bei der Erstellung
von Haus- und Seminararbeiten sowie der tiefergehenden Vor-
bereitung auf die Klausur im Familienrecht etwa fuumlr das Erste
Juristische Staatsexamen oder den Schwerpunktbereich kommt
einem die ausfuumlhrliche Darstellung jedoch zugute Auszligerdem
kann durch die uumlbersichtliche Aufteilung in Kapitel und Para-
graphen schnell das Gesuchte gefunden werden Gerade fuumlr die
familienrechtlichen Klausuren im Studium kann somit eher als
bdquoSpezialwissenldquo Anzusehendes wie zB die Ausfuumlhrungen zur
Duumlsseldorfer Tabelle auch weggelassen werden
Erfreulich waumlre die Aufnahme eines Paragraphenverzeich-
nisses ndash dieses sucht man vergeblich Insbesondere bei Unklar-
heiten oder sonstigem Lesebedarf zu einer bestimmten Norm
erweist sich dieses als besonders hilfreich Unterstuumltzend bei der
Suche nach bestimmten Begriffen im Buch und deshalb auch
uumlberzeugend ist hingegen das umfangreiche und dennoch
anschaulich gestaltete Sachverzeichnis
Der Autor ist Wiss Mitarbeiter am Lehrstuhl fuumlr Deutsche und Europaumlische Rechtsgeschichte Kirchenrecht und Buumlrgerliches Recht (Prof Dr Anja Amend-Traut) an der Juristischen Fakultaumlt der Universitaumlt Wuumlrzburg sowie Wiss Mitarbeiter bei Freshfields Bruckhaus Deringer in der Praxisgruppe Globale Transaktionen in Frankfurt am Main
Schick Einfuumlhrung in die Logik Rezension Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 50
Buchrezension bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo
Drphil habil Alexander Aichele Dr phil Jakob Meier Prof Dr iur Joachim Renzikowski Sebas-
tian Simmert MA
-
von Stefan Schick
Wer sich als Jurist mit einem Buch zur Logik als wissenschaft-
licher Disziplin konfrontiert sieht stellt sich hierbei zunaumlchst die
Frage warum er sich mit dieser Materie die wohl auf den ersten
Blick der Mathematik zuzuordnen ist beschaumlftigen sollte Diese
Frage beantworten die Autoren selbst zu Beginn Wie jede Wis-
senschaft versucht die Rechtswissenschaft die Welt in ihrem Ge-
genstandsbereich (Recht) durch Aussagen zu analysieren Fuumlr
die Frage ob eine Aussage anwendbar ist und wie verschiedene
Aussagen in Beziehung zu setzen sind ist die Logik die ent-
scheidende Grunddisziplin Logik ist damit die Grundvorausset-
zung jeder sinnhaften Aussage und des informationsvermitteln-
den Kommunizierens
Die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo ist im Jahr
2015 im CHBeck Verlag Muumlnchen (Reihe bdquoJura kompaktldquo)
in Erstauflage erschienen Das vierkoumlpfige Autorenteam ist in-
terdisziplinaumlr wobei Prof Dr Joachim Renzikowski der den
Lehrstuhl fuumlr Strafrecht Rechtsphilosophie und Rechtstheorie
an der Martin-Luther-Universitaumlt Halle-Wittenberg innehat fuumlr
die spezifische juristische Fachkompetenz sorgt Die Abhand-
lung beruht auf einer gleichnamigen Vorlesung im Winterse-
mester 20092010 an der Martin-Luther Universitaumlt Halle-Wit-
tenberg
Die Abhandlung gliedert sich in fuumlnf groumlszligere Abschnitte Im
ersten dieser Abschnitte werden zunaumlchst die Grundbegriffe und
Grundmodelle der wissenschaftlichen Logik erlaumlutert insbeson-
dere wird der Begriff als Grundgegenstand der Logik naumlher aus-
geleuchtet Der zweite Abschnitt beschaumlftigt sich in der Folge
mit der Verbindung mehrerer Begriffe also der Aussage Dabei
werden die konstruktiven Grundvoraussetzungen sinnhafter
Aussagen erarbeitet darauf folgend verschiedene Arten von
Aussagen und besondere Auspraumlgungen solcher klassifiziert
Der dritte Abschnitt beschaumlftigt sich dann mit der Beziehung
mehrerer Aussagen zueinander Dabei geht es vor allem darum
vom Wahrheitsgehalt einer Aussage auf den Wahrheitsgehalt
anderer Aussagen zu schlieszligen Dies wird von den Autoren als
der Kernbereich der wissenschaftlichen Logik identifiziert Im
vierten Abschnitt geht es um die sog Deontische Logik Darun-
ter versteht man den spezifisch rechtswissenschaftlichen Be-
reich der Logik also das Verhaumlltnis von Handlungen und Nor-
men Im fuumlnften und letzten Abschnitt wird die Urteilsbegruumln-
dung des BGH im bekannten Jauchegruben-Fall unter logi-
schen Gesichtspunkten untersucht Hier schwingt auch deutliche
Kritik an der Vernachlaumlssigung der Logik als wissenschaftlicher
Disziplin im Bereich juristischer Methodenlehre mit Abge-
schlossen wird die Abhandlung dann mit einem formalen Uumlber-
blick
Grundsaumltzlich positiv faumlllt die Bemuumlhung der Autoren auf
die komplexe Materie der wissenschaftlichen Logik auch fuumlr
Neulinge auf diesem Gebiet anschaulich zu erklaumlren Schoumln sind
in diesem Zusammenhang auch die vielen juristischen Bei-
spiele Der Umfang der Darstellung ist mit 86 Seiten uumlberschau-
bar Jedoch waumlre es der Lesbarkeit in diesem Zusammenhang
zugutegekommen wenn fuumlr eine groumlszligere Schriftgroumlszlige einige
Seiten mehr in Kauf genommen worden waumlren
Zugegebenermaszligen handelt es sich bei der bdquoEinfuumlhrung in die
Logik und ihren Gebrauchldquo weder um eine Lektuumlre die fuumlr das
Studium unmittelbar weiterhilft noch um eine einfache Bettlek-
tuumlre Wer sich aber fuumlr Hintergruumlnde ndash insbesondere auch fach-
uumlbergreifend ndash interessiert und eine gewisse Freude am abstrak-
ten Denken mitbringt kann von dieser Grunddarstellung klar
profitieren Diese Freude am abstrakten Denken ist aber auch
notwendig so sind die Ausfuumlhrungen teilweise ndash trotz der ge-
lungenen Veranschaulichung ndash sehr komplex was aber selbst-
verstaumlndlich auch der komplexen Thematik geschuldet ist
Der Autor promoviert und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Muumlnchen
UN
SE
RE
ST
AN
DO
RT
E
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website | wwwschrade-partnerde
Seit 1976 betreuen wir Unternehmen und Unternehmer in allen Fragen des Wirtschaftsrechts Mit fuumlnf Standorten im suumldlichen Baden-Wuumlrttemberg und einem in Berlin sind rund 35 Rechtsanwaumlltinnen und Rechtsanwaumllte immer genau dort wo unsere Mandanten uns brauchen
bdquoWir geben der Wirtschaft Rechtldquo
Unser Credo praumlgt unsere taumlglichen Aufgaben Wir bieten ein breites Spektrum an Fachwissen und verfuumlgen uumlber einen groszligen Erfahrungsschatz in folgenden Kernkompetenzfeldern
- Gesellschaftsrecht - Handelsrecht - Unternehmenskauf (MampA) Unternehmensumstrukturierung - Arbeits- und Dienstvertragsrecht - Aktienrecht - Erbrecht und Unternehmensnachfolge - Sanierungs- und Restrukturierungsberatung Insolvenzrecht - Vergabe- und Kartellrecht - Prozessfuumlhrung Litigation - Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht - Recht des Gesundheitswesens
Wir arbeiten standortuumlbergreifend und interdisziplinaumlr Selbstverstaumlndlich werden neben den rechtlichen auch saumlmtliche steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Aspekte beruumlcksichtigt Deshalb pflegen wir eine enge Zusammenarbeit mit Steuerberatern und Wirtschaftspruumlfern Auszligerdem stehen unsere Beratungskonzepte immer in einem vernuumlnftigen finanziellen Verhaumlltnis zur Aufga-benstellung
Sie moumlchten uns besser kennenlernen Sprechen Sie uns gerne jederzeit an
BERLIN Georgenstraszlige 23 10117 Berlin Telefon +4930235024-0 Telefax +4930235024-99 berlinschrade-partnerde
LAHR Stefanienstraszlige 45 77933 Lahr Telefon +49782199039-30 Telefax +49782199039-59 lahrschrade-partnerde
TUTTLINGEN Bahnhofstraszlige 44 78532 Tuttlingen Telefon +497461965093-10 Telefax +497461965093-99 tuttlingenschrade-partnerde
FREIBURG Hermann-Herder-Straszlige 4 79104 Freiburg Telefon +49761389469-0 Telefax +49761389469-99 freiburgschrade-partnerde
VILLINGEN-SCHWENNINGEN Max-Planck-Straszlige 11 78052 Villingen-Schwenningen Telefon +49772120626-0 Telefax +49772120626-100 villingenschrade-partnerde
SINGEN Hegau-Tower Maggistraszlige 5 78224 Singen Telefon +49773159145-500 Telefax +49773159145-510 singenschrade-partnerde
Wer sind wir
FREILAW ist die studentisch-juristische Zeitschrift der Albert-Ludwigs-Universitaumlt
Freiburg und besteht als Projekt Freiburger Studierender bereits seit 2006 Die
Zeitschrift erscheint in drei bis vier Ausgaben jaumlhrlich online und teilweise auch
gedruckt Neben wissenschaftlichen Artikeln veroumlffentlichen wir auch solche die uumlber
das Fachliche hinausgehen und fuumlr Jurastudierende lesenswert sind In unseren
Ausgaben veroumlffentlichen wir daruumlber hinaus regelmaumlszligig Erfahrungsberichte uumlber
Auslandsaufenthalte sowie Interviews im Rahmen der Berufsperspektive fuumlr Juristen
Warum gerade Ihr Egal ob Ihr im ersten oder letzten Semester seid Ihr koumlnnt euch bei uns jederzeit in die
Redaktionsarbeit einbringen oder sogar eigene Artikel veroumlffentlichen
Was erwartet Euch Wir haben Aufgaben in vielen Bereichen von der Redaktionsmitarbeit der Pflege
unseres Internetauftritts bis hin zur Oumlffentlichkeitsarbeit uvm Euch erwartet eine
angenehme Arbeitsatmosphaumlre in einem netten und motivierten Team
Was erwarten wir
Kreative und motivierte Mitarbeiter die Interesse an der Weiterentwicklung des
Journals haben
Worauf wartet Ihr Kommt einfach zur naumlchsten Redaktionssitzung vorbei
Die Termine der Redaktionssitzung werden auf unserer
Homepage (wwwfreilawde) und auf unserer
Facebook-Seite (wwwfacebookcomfreilaw) bekanntgegeben
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 2
Auch wenn daraus noch kein normativer Anspruch folgte mar-
kiert der Gedanke des Tzelem Elohim die Geburt des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses im Judentum
Als Folge dieser Demokratisierung der Bindung zwischen
dem Menschen und dem Goumlttlichen konnten Herrschaftsanspruuml-
che in der juumldischen Gesellschaft nicht lediglich auf eine exklu-
sive Bindung der Herrschenden zu Gott gestuumltzt werden son-
dern es bedurfte weiterer Legitimation8 Der Anspruch dass ein
Herrscher daher auch ein gottgefaumllliges Handeln an den Tag le-
gen muss um sich seiner Stellung als wuumlrdig zu erweisen ist an
einem in der Torah formulierten Katalog von koumlniglichen bdquoHerr-
schafts- und Verhaltensregelnldquo9 abzulesen Aus diesen Vor-
schriften ergab sich fuumlr die Bevoumllkerung kein der modernen
Menschenwuumlrde entsprechender Anspruch auf Schutz vor staat-
licher Willkuumlr aber eine erste Beschraumlnkung koumlniglichen Han-
delns
2 Die Todesstrafe als Ausdruck eines extrinsischen
Werts des Menschen
Bevor sich der Talmud im Judentum durchsetzte und den Rege-
lungsgehalt der Torah ergaumlnzte war die Todesstrafe im alten Is-
rael wie auch in allen anderen Kulturen des Nahen Ostens eine
etablierte Praxis10 Als Grundlage des biblischen Strafrechts und
insbesondere der Todesstrafe im Judentum wird die Textstelle
angesehen in der es heiszligt bdquoWer Menschenblut vergieszligt dessen
Blut wird durch Menschen vergossen Denn Als Abbild Gottes
hat er den Menschen gemachtldquo11 Dies ist ein Ausdruck des fruuml-
hen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ndash der einem jeden Men-
schen innewohnenden Ebenbildlichkeit mit dem Goumlttlichen
wurde ein universeller Wert beigemessen Es wurden keine Ab-
stufungen nach gesellschaftlichem Rang vorgenommen son-
dern jede Toumltungshandlung wurde grundsaumltzlich als gleich ver-
werflich angesehen auf die Person des Getoumlteten kam es zu-
naumlchst nicht an Gleichzeitig wurde der Grad der Verwerflich-
keit einer Toumltungshandlung houmlchstmoumlglich angesetzt da nur die
Anwendung der verwerflichen Handlung selbst auf den Taumlter als
adaumlquate Strafe angesehen wurde Die darin liegende Wertschaumlt-
zung der bdquoHeiligkeit des menschlichen Lebensldquo ist Ausdruck ei-
nes Wuumlrdeverstaumlndnisses das den Wert des Menschen durch
sein goumlttliches Element begruumlndet der Wert des Menschen ist
also nicht in- sondern extrinsisch12
3 Gebote und Verbote als Ausdruck des
8 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 9 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 17 Vers 16ff 10 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
137f 11 A Boumlckler Die Tora 2014 Genesis Kap 9 Vers 6 12 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 673 13 A Boumlckler Die Tora Exodus Kap 20 Verse 2-17 Deuteronomium Kap
5 Verse 6-21 14 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext ndash Geschichten ndash Erscheinungs-
formen ndash Neuere Entwicklungen 2013 79 81
Wuumlrdeverstaumlndnisses
Neben der in der Ebenbildlichkeit begruumlndeten Wuumlrde finden
sich in der Torah Gebote und Verbote die auf vergleichbare Art
Ausdruck des Wuumlrdeverstaumlndnisses des Tzelem Elohim wie
auch die modernen Menschenrechte Ausfluss des modernen
Wuumlrdeverstaumlndnisses sind Beispielsweise erfassen die Zehn
Gebote die Unverletzlichkeit von Leben Familie und Eigen-
tum13 Ansaumltze sozialer Rechte finden sich zum Beispiel in den
an benachbarten Kulturen gemessen fortschrittlichen Schutz-
rechten fuumlr Sklaven welche die Sabbatruhe die Freilassung
nach Ablauf von sieben Dienstjahren sowie Schutz vor Koumlrper-
verletzungen garantierten14 Auch die Ausweitung der Naumlchs-
tenliebe auf Fremde die sich aus den eigenen Erfahrungen der
Juden als Minderheit in Aumlgypten speiste wurde vorgeschrie-
ben15 und daraus ein Folterverbot hergeleitet16 Zudem ist ein
Asylrecht fuumlr zu Unrecht Verfolgte in der Torah angelegt17
Auch ein Andauern der Wuumlrde uumlber den Tod hinweg laumlsst sich
durch das eine Entwertung der Ebenbildlichkeit verhindernde
Verbot in Deuteronomium 2122 Gehaumlngte am jeweiligen
Baum zu belassen und nicht unverzuumlglich zu begraben herlei-
ten18
4 Universalitaumlt und Grenzen der Wuumlrde
Mitunter war der Kreis der durch die biblischen Vorschriften ge-
schuumltzten Personen jedoch auch beschraumlnkt Laut der Torah soll
beispielsweise alle sieben Jahre Schuldnern ein Schuldenerlass
gewaumlhrt werden19
und es soll davon abgesehen werden Zinsen
fuumlr verliehenes Geld zu erheben20
Die beiden letztgenannten
Regeln dienen der Verhinderung von extremer Armut und ent-
sprechen somit dem modernen Anspruch der Menschenwuumlrde
dass ein humanitaumlrer Mindeststandard zu wahren ist jedoch gel-
ten sie im Gegensatz zur heutigen Menschenwuumlrde begrenzt
naumlmlich nicht im Umgang mit Auslaumlndern21
Ebenso verhaumllt es
sich mit der Todesstrafe bei Toumltungsdelikten die nur Anwen-
dung finden sollte wenn ein Mitbuumlrger Opfer der Straftat
wurde22
An beiden Beispielen zeigt sich dass Teile des in der
Torah dargelegten Wuumlrdeverstaumlndnisses nur fuumlr Mitglieder der
eigenen Glaubensgemeinschaft gelten sollen
Somit ergeben sich die Fragen wie universell das Wuumlrdever-
staumlndnis der Torah ist und wie stark es mit der modernen Men-
schenwuumlrde vergleichbar ist Nach moderner Lesart sind insbe-
sondere vor dem Hintergrund verschiedener Schutzrechte fuumlr
Minderheiten und Verfolgte alle jene Gebote und Verbote die
niemanden explizit von ihrem Schutz ausschlieszligen universell
15 A Boumlckler Die Tora 2014 Leviticus Kap 19 Vers 33f 16 K Bland The Muslim World Journal 103 (2013) 199 201 17 A Boumlckler Die Tora 2014 Numeri Kap 35 Verse 22-25 18 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 667 19 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 1f 20 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 23 Vers 20f 21 A Boumlckler Die Tora 2014 Deuteronomium Kap 15 Vers 3 Kap 23 Vers
22 22 A Boumlckler Die Tora 2014 Exodus Kap 21 Vers 14
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 3
guumlltig und somit auch das durch sie transportierte Wuumlrdekon-
zept Fruumlhe juumldische Gelehrte haben diese Position jedoch groumlszlig-
tenteils nicht eingenommen23 Somit fehlt es dem biblischen
Wuumlrdekonzept im Vergleich mit dem modernen Wuumlrdebegriff
trotz des Grundgedankens der universellen Ebenbildlichkeit und
der auf dem Konzept der Naumlchstenliebe basierenden Rechte der
Minderheiten an einem stringenten klar formulierten Gleich-
heitsgedanken der einen normativen Anspruch auf grundsaumltzli-
che Gleichbehandlung begruumlndet Jedoch eroumlffnet die in den
meisten Faumlllen unklare Formulierung des Adressatenkreises der
biblischen Regeln die Moumlglichkeit das biblische Wuumlrdekonzept
nach modernen Standards auszulegen
II Entwicklung des Wuumlrdeverstaumlndnisses im Talmud
Neben der Torah wurde das Judentum umfangreich vom Tal-
mud einer Sammlung von Kommentierungen Analysen und
Dialogen fruumlher Rabbiner die die Themen der Torah behandeln
gepraumlgt bdquoDerldquo Talmud ist kein einheitliches Werk sondern es
bestehen zwei inhaltlich verschiedene Versionen der weitaus
bedeutendere und verbreitetere Babylonische Talmud und der
weniger strenge Jerusalemer bzw Palaumlstinische Talmud Beide
Werke entstanden in der Zeit nach der Zerstoumlrung Jerusalems
durch die Roumlmer ab ca 70 n Chr Wie auch die Torah enthaumllt
der Talmud Halakhah-Abschnitte die Teil des kanonischen
Rechts des Judentums sind Mit der Entwicklung des Talmud
kam es zu einer Losloumlsung vom reinen Wortlaut der Torah Dies
geschah im Zuge vielfaumlltiger Analysen Kommentierungen und
Auslegungen der Torah durch Rabbiner die mitunter auch
Rechtspraxen entwickelten die dem Wortlaut der Torah entge-
genstehen24
1 Priorisierung der Wuumlrde gegenuumlber biblischen
Vorschriften
In der Torah und im Babylonischen Talmud wurde die Befol-
gung biblischer Vorschriften noch konsequent uumlber die Wuumlrde
des Einzelnen gestellt Im Jerusalemer Talmud kam hingegen
erstmals ein anderer Ansatz zum Tragen
Beispielhaft ist die Frage ob das Umfeld einer sich in der
Oumlffentlichkeit befindlichen Person uumlber die sich herausstellt
dass sie ein Gewand das aus einem nach der biblischen Kleider-
ordnung verbotenen Stoff besteht traumlgt diese Person unverzuumlg-
lich zum Ablegen des Gewands bewegen muss Der neue Ansatz
einiger Stimmen des Jerusalemer Talmud bestand darin dass die
Befolgung der biblischen Gebote also das Ablegen des verbo-
tenen Gewandes herausgezoumlgert werden darf bis sich der Trauml-
ger nicht mehr in der Oumlffentlichkeit befindet damit eine oumlffent-
liche Erniedrigung des Traumlgers und somit eine Verletzung seiner
Wuumlrde (Kvod Habriot) und der Gesellschaft vermieden wird
Dieser Schutz der Wuumlrde entgegen den biblischen Vorschriften
23 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1104f 24 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1106f 25 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671f
sollte nicht nur die Vermeidung oumlffentlicher Erniedrigung um-
fassen sondern auch auf die Vermeidung geringerer Beschauml-
mung einer Person ausstrahlen25
Bezeichnend sind auch die in der Gemara dem zweiten Teil
des Talmud dargelegten Uumlberlegungen von Rabinern zur wuumlr-
devollen Vollstreckung der Todesstrafe bei Frauen Eine im ge-
samten Nahen Osten verbreitete Methode die Todesstrafe zu
vollstrecken war die Steinigung Maumlnner wurden grundsaumltzlich
nackt gesteinigt Diese Praxis wurde als wuumlrdevoll angesehen
da Bekleidung die Wurfgeschosse abfedern kann und somit den
mit koumlrperlichem Leiden erfuumlllten Zeitraum bis zum Eintreten
des Todes verlaumlngern kann In Bezug auf Frauen ergab sich den
Rabbinern das Problem dass sich nach ihrem Verstaumlndnis
Frauen im Gegensatz zu Maumlnnern bloszligstellt und erniedrigt fuumlh-
len wenn man sie verpflichtet sich in der Oumlffentlichkeit zu ent-
kleiden eine bekleidet gesteinigte Frau jedoch mehr Schmerzen
erleiden muumlsse Die Loumlsung sah daher vor Frauen in den Koumlrper
bedeckenden aber duumlnnen und daher moumlglichst gering abfe-
dernden Gewaumlndern zu steinigen26
In beiden Beispielen wurden im Zuge einer Abwaumlgung bibli-
sche Vorschriften zugunsten der Wuumlrde des Menschen be-
schraumlnkt im ersten Beispiel durch eine spaumltere Ausfuumlhrung im
zweiten Beispiel durch eine Aumlnderung der Art der Ausfuumlhrung
Somit wurde aumlhnlich dem modernen Menschenwuumlrdebegriff der
Wuumlrde ein normativer Vorrang vor bdquoregulaumlrenldquo Gesetzen einge-
raumlumt Nichtsdestotrotz ist abgrenzend zu bemerken dass der
Vorrang der Vermeidung von Wuumlrdeverletzungen mit dem
Schutz der geistigen Ebenbildlichkeit begruumlndet27 wird und da-
her nicht abgekoppelt vom religioumlsen Verstaumlndnis zu betrachten
ist
2 Schutz der Ebenbildlichkeit durch bdquomakelloseldquo
Todesstrafe
Im Talmud erfuhr die Todesstrafe eine erste Einschraumlnkung in-
dem man sich von Arten der Vollstreckung abwandte die eine
sichtbare Verletzung des Koumlrpers mit sich brachten Das zuvor
herrschende lediglich auf der Torah aufbauende Verstaumlndnis
hatte noch darauf abgezielt dass der Verurteilte nicht nur durch
seinen Tod geistig ausgeloumlscht werden sollte sondern dass
durch ein Zerschmettern des Koumlrpers auch dieser zerstoumlrt wer-
den sollte Mit dem Talmud setzte sich die Idee durch dass zu-
mindest der Koumlrper des zum Tode Verurteilten als physisches
Ebenbild Gottes keinen sichtbaren Schaden nehmen soll Man
nahm an dass Gott beim Toumlten von Suumlndern sein eigenes Eben-
bild nicht verunstalten wuumlrde und daher bdquomakelloseldquo Formen
der Toumltung grundsaumltzlich zu bevorzugen seien28
Die Tatsache dass besonders grausame Arten die Todesstrafe
zu vollstrecken dadurch weitestgehend ausgeschlossen wurden
26 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312f 27 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671 28 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 4
stellt grundsaumltzlich eine Annaumlherung an das moderne europaumli-
sche Menschenwuumlrdeverstaumlndnis dar die Begruumlndung dieses
Paradigmenwechsels bleibt jedoch im goumlttlich zentrierten Ver-
staumlndnis der Wuumlrde verhaftet
3 Abschaffung der Todesstrafe und des Lex talionis
als Ausdruck einer unverlierbaren Wuumlrde
Letztendlich kam es in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n
Chr zu einer praktischen Verdraumlngung der Todesstrafe da an
eine Verurteilung zum Tode eine Reihe von schwer erfuumlllbaren
Anforderungen geknuumlpft wurde29
So wurde zum Beispiel eine
verschaumlrfte Form des Vorsatzes gefordert die darin bestehen
sollte dass der Taumlter kurz vor der Tat noch einmal explizit ge-
warnt worden sein muss dass sein Vorhaben mit dem Tod be-
straft wird und er sein volles Bewusstsein dieser Tatsache be-
zuumlglich der bevorstehenden Toumltung ausdruumlckt und kurz darauf
die Tat begeht Des Weiteren bedurfte es zweier Augenzeugen
deren Aussagen nur verwertet werden sollten sofern sie sich in
keinem Detail widersprachen und eine Verurteilung durch das
zustaumlndige 23-koumlpfige Gericht sollte nur erfolgen koumlnnen wenn
mindestens ein Richter sich gegen einen Schuldspruch aus-
sprach bei Einstimmigkeit der Verurteilung soll diese automa-
tisch in einen Freispruch umgewandelt werden30
Grundlage fuumlr diese faktische Abschaffung der Todesstrafe
war neben dem Bemuumlhen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen
zu vermeiden eine weitere Auslegung des Wuumlrdebegriffs als zu-
vor So wurde die Wuumlrde nun als etwas verstanden das auch
durch das groumlszligte Verbrechen nicht verwirkt werden kann und
daher sollten auch die groumlszligten Suumlnder Ebenbilder Gottes blei-
ben31 Zudem wurde im Talmud angenommen dass bei einer
Beeintraumlchtigung der Ebenbildlichkeit Gottes durch Verletzung
oder Toumltung dieser aufgrund seiner menschlichen Immanenz
ebenso leidet Daher fand auch das Lex talionis eine Abloumlsung
und wurde durch Geldstrafen ersetzt32
Die Losloumlsung von Todesstrafe und Lex talionis in Verbin-
dung mit dem Gedanken dass die Wuumlrde unverlierbar ist fuumlhrt
zu einer groumlszligeren Deckungsgleichheit des juumldischen Wuumlrdever-
staumlndnisses mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken in der Rechtsanwendung Die Begruumlndung dieses
Schritts dass Verletzung und Toumltung von Menschen um das Lei-
den des Goumlttlichen und nicht des Menschen zu vermeiden sind
zeigt hingegen dass die Wuumlrde des Menschen weiterhin extrin-
sisch begruumlndet wurde und nicht der Mensch an sich sondern
Gott der Grund des auf dem Tzelem Elohim aufbauenden As-
pekts des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ist
4 Die Naumlchstenliebe des Talmud als Bestandteil des
29 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f 30 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 309ff 31 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 311f
Naturrechts
Das bereits in der Torah angelegte Konzept der Naumlchstenliebe
erfuhr im Talmud eine noch staumlrkere Ausformung die Rabbiner
Hillel als goldene Regel zusammenfasste ldquoWas Dir nicht lieb
ist tue auch deinem Naumlchsten nicht das ist die gesamte Geset-
zeslehre alles andere ist nur Erlaumluterung geh und lerneldquo Nach
dem Rabbiner Leo Baeck ergibt sich aus der Verbindung der in
Torah und Talmud angelegten Naumlchstenliebe Inklusion des
Fremden und Menschenrechte ein staatlicher Rechtsgedanke
der nur auf den Menschen abstellt und damit als ein Grundbe-
griff des Naturrechts gelten kann33 Torah und Talmud bieten
somit neben dem untrennbar mit Gott verknuumlpften Gedanken der
Ebenbildlichkeit Ansaumltze fuumlr ein Konzept der Menschenwuumlrde
das sich saumlkular auslegen laumlsst und daher eine grundsaumltzliche
Vereinbarkeit mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken aufweist
5 Zwischenfazit
Das in Torah und Talmud angelegte Wuumlrdeverstaumlndnis weist
verschiedene Ansaumltze des modernen europaumlischen Menschen-
wuumlrdegedankens auf Aus dem Konzept der Gottesebenbildlich-
keit entspringt der Gedanke einer unverlierbaren Gleichheit aller
Menschen aus der jedoch kein universeller normativer An-
spruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden kann Des Wei-
teren weisen Torah und Talmud Ansaumltze verschiedener Frei-
heits- und Sozialrechte auf die auch vom heutigen Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis umfasst werden und mit dem im Talmud ver-
staumlrkten Konzept der Naumlchstenliebe ist auch ein Bezugspunkt fuumlr
einen naturrechtlichen Menschenwuumlrdebegriff angelegt Diese
Ansaumltze reichen in Summe jedoch nicht aus um daraus das mo-
derne europaumlische Menschenwuumlrdeverstaumlndnis vollstaumlndig her-
zuleiten Insbesondere die Uumlberlegungen zum Menschen als ver-
nunftfaumlhigem Individuum die im Entwicklungsprozess des eu-
ropaumlischen Menschenwuumlrdegedankens zum Tragen gekommen
sind finden in Torah und Talmud keine klare Ausformung Der
Schutz der Wuumlrde des Menschen zielt im Judentum lediglich auf
den Schutz des goumlttlichen Anteils am Menschen ab Der Vorrang
der Wuumlrde vor den biblischen Gesetzen ist daher kein Vorrang
der Wuumlrde vor staatlichen oder religioumlsen Direktiven sondern
eine innerreligioumlse Priorisierung ebenjener Der Mensch wird im
kanonischen Recht des Judentums vor allem als Teil einer mit
dem Goumlttlichen verbundenen Gemeinschaft angesehen und das
Ausmaszlig des Schutzes seiner Wuumlrde wird mitunter an die Zuge-
houmlrigkeit zur Religion gekoppelt
III Einfluss der Diaspora auf das juumldische
Wuumlrdeverstaumlndnis
Neben religioumlsen und philosophischen Erwaumlgungen werden
ethische Konzepte wie das der Menschenwuumlrde auch immer
durch historische Gegebenheiten beeinflusst Ab der Zerstoumlrung
des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n Chr kam es zu einer
32 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312
33 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext 2013 79 81
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 5
knapp 2000 Jahre anhaltenden Vertreibung und Verfolgung von
Juden der Diaspora34 Im Folgenden werden die Auswirkungen
eines fehlenden juumldischen Staats und die Stellung der Juden als
diskriminierte Minderheit auf das juumldische Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde beleuchtet
1 Auswirkungen anhaltender Diskriminierung auf
das juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde
Die Diskriminierung der Juden nahm im Mittelalter mit dem
Einsetzen der Kreuzzuumlge ein noch staumlrkeres Ausmaszlig an als zu-
vor Dieser Hass der Mitgliedern der juumldischen Glaubensge-
meinschaft entgegengebracht wurde wirkte sich auch auf das
juumldische Recht aus So kam es im Shullan Arukh der bedeu-
tendsten Kodifikation juumldischen Rechts des spaumlten Mittelalters
zu einer Beschneidung der Menschenrechte von Nichtjuden
Exemplarisch sind insbesondere die Beschraumlnkungen die juumldi-
schen Frauen fuumlr die Hilfe bei der Niederkunft nichtjuumldischer
Frauen und juumldischen Aumlrzten bei der Behandlung nichtjuumldischer
Patienten auferlegt wurden Im Kern wurde ihnen das Entgegen-
bringen jeglicher Hilfe gegenuumlber Andersglaumlubigen untersagt
Einzig wenn sie dadurch die Feindseligkeit von Andersglaumlubi-
gen riskierten war es ihnen gestattet von dieser Regelung Ab-
stand zu nehmen35
Die Unterdruumlckung der Juden im Mittelalter fuumlhrte somit zu
einer Einschraumlnkung der Menschenrechte von Andersglaumlubigen
im juumldischen Recht Unter der Annahme dass Menschenrechte
Ausdruck des zugrundeliegenden Wuumlrdeverstaumlndnisses sind
kann daher vermutet werden dass der auf dem biblischen Kon-
zept der Naumlchstenliebe fuszligende Aspekt des juumldischen Wuumlrde-
verstaumlndnisses im Mittelalter eine Einengung auf Juden erfuhr
um der dauerhaften gegenwaumlrtigen Gefahr der die juumldischen
Gemeinden ausgesetzt waren Rechnung zu tragen Dem mit
dem modernen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis verknuumlpfbare natur-
rechtlichen Ansatz der aus der Naumlchstenliebe hergeleitet wer-
den kann wurde damit die Grundlage genommen
2 Ausbleiben einer saumlkularen Weiterentwicklung der
juumldischen Menschenwuumlrde
An dieser Stelle werden drei Vermutungen angestellt wie sich
das Fehlen eines juumldischen Staats im Zeitraum der Diaspora auf
das juumldische Konzept der Menschenwuumlrde ausgewirkt hat
Die erste Uumlberlegung besteht darin dass zur Durchsetzung
von menschenrechtlichen Garantien auf Draumlngen eines Teils der
Bevoumllkerung diese auch der zu veraumlndernden Rechtsordnung
praktisch unterworfen sein muss um sich an der betreffenden
Rechtsordnung stoumlren zu koumlnnen Da Juden in Europa eine un-
terdruumlckte Minderheit darstellten gab es zu keiner Zeit der
Diaspora einen Staat dessen Regierung durch das Judentum an-
stelle des Christentums legitimiert wurde Die juumldischen Gesetze
fanden durch das Fehlen eines juumldischen Staats keine Anwen-
34 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1110
dung durch irgendeinen Staat somit war auch die Erprobung ih-
rer Schwachstellen und Aktualitaumlt begrenzter als die von Rechts-
ordnungen mit tatsaumlchlicher Guumlltigkeit Das juumldische Recht
blieb daher das Beschaumlftigungsfeld der begrenzten Gruppe de-
rer die ohnehin fuumlr ihre Bewahrung und Entwicklung zustaumlndig
waren also die der Rechtsgelehrten Philosophen und Rabbiner
Eine Einforderung von Buumlrgerrechten als Annaumlherung an die
moderne Menschenwuumlrde wie sie sonst in Europa uumlber Jahrhun-
derte mehrfach stattgefunden hat konnte daher in Bezug auf das
juumldische Recht gar nicht geschehen Ein Beitrag zur Entwick-
lung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses durch eine
durch Aufstaumlnde und Revolutionen einem juumldischen Staat abge-
trotzte Reihe von Menschenrechten unterblieb daher infolge des
Fehlens eines juumldischen Staats
Als zweite These wird angenommen dass auch eine Weiter-
entwicklung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses
durch eine breite Beteiligung der Juden an den Bemuumlhungen fuumlr
die Gewaumlhrung von Menschenrechten in den europaumlischen Staa-
ten weitestgehend entfiel da sie flaumlchendeckend diskriminiert
wurden und als Buumlrger zweiter Klasse galten Bevor sie eine
sichtbare Rolle im Kampf der bdquoDurchschnittsbevoumllkerungldquo fuumlr
die Durchsetzung der Menschenwuumlrde spielen konnten mussten
sie erst den rechtlichen Status der christlichen Bevoumllkerung er-
langen Eine stetige Erweiterung des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs aufgrund einer Miturheberschaft an neu erlangten
Freiheits- und Schutzrechten innerhalb europaumlischer Rechtsord-
nungen entfaumlllt folglich ebenfalls
Der dritte Ansatz ist dass eine andere Moumlglichkeit der saumlku-
laren Weiterbildung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis-
ses die Reformierung der juumldischen Rechtsordnung bdquovon obenldquo
gewesen waumlre Dies waumlre durch das Einwirken von Juden die
als hochrangige Beamte in den europaumlischen Staaten Reformen
angestoszligen und begleitet haben denkbar gewesen Ihre Exper-
tise als Staatsmaumlnner koumlnnte dann als Legitimation fuumlr die Wei-
terentwicklung der juumldischen Rechtstheorie gehandelt worden
sein Die Diskriminierung der Juden in Europa machte jedoch
auch eine solche Entwicklung unmoumlglich
Diesen Uumlberlegungen folgend kann man annehmen dass es
im Gegensatz zu den christlich gepraumlgten europaumlischen Konzep-
ten der Menschenwuumlrde keine saumlkularen Ansaumltze Eingang in das
juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde finden konnten Ver-
schiedene Ausformungen des Wuumlrdeverstaumlndnisses die saumlku-
lare Elemente wie das Naturrecht und religioumlse Elemente unter-
schiedlich stark gewichten haben sich daher im Gegensatz zum
europaumlischen Wuumlrdebegriff in Verbindung mit dem juumldischen
Wuumlrdebegriff nicht entwickeln koumlnnen Es bleibt folglich bei ei-
ner rein religioumls begruumlndeten Wuumlrde die nie die Stellung als
oberster Wert einnehmen konnte da sie mit dem Goumlttlichen von
einer noch houmlheren Instanz begruumlndet wird
C Die Entwicklung der Menschenwuumlrde im positiven
35 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32 (2011) 1101 1110ff
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 6
Recht Israels
In diesem Abschnitt werden Rechtsschaffung und Rechtspre-
chung in Israel im Spannungsfeld zwischen dem bisher skizzier-
ten juumldischen und dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde eingeordnet Im Anschluss kommt es zu einer
Auseinandersetzung mit der Frage ob das heutige Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde in Israel im Feld der eigenen religioumlsen
Tradition verortet werden kann oder ob eine europaumlische
Rechtsrezeption vorliegt
I Das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis bis 1992
Der moderne Staat Israel wurde im Jahr 1948 durch die israeli-
sche Unabhaumlngigkeitserklaumlrung proklamiert die Israel als juumldi-
schen Staat definiert36 Der Begriff der Menschenwuumlrde ist in
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung nicht zu finden Bei Gruumlndung
des Staats Israel wurde die bestehende Gesetzeslage des Com-
mon Law aus der Zeit der britischen Mandatsherrschaft die Ele-
mente des osmanischen Rechts enthielt weitestgehend uumlber-
nommen37 Der Oberste Gerichtshof entwickelte daran durch
Auslegung eine Reihe von Menschenrechten die unter anderem
Demonstrationsfreiheit Freizuumlgigkeit Vereinigungsfreiheit
den freien Zugang zu den Gerichten und Meinungsfreiheit um-
fassten38 Eine erste Nennung im positiven Recht erfuhr der Be-
griff der Menschenwuumlrde erst in einer Entscheidung des Obers-
ten Gerichtshofs aus dem Jahr 1980 dem Fall Katalan v Prison
Services39 in dem der Oberste Gerichtshof das Auspumpen der
Maumlgen von Gefaumlngnisinsassen aufgrund des Verdachts auf Dro-
genschmuggel im Koumlrper verbot40
In dieser Anfangsphase des Staats Israel sind klare Ansaumltze
im Recht die die Freiheit und Autonomie des Individuums uumlber
dem Konzept der bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde des Kol-
lektivs und biblischen Vorschriften ansiedeln und dadurch eine
Naumlhe zum europaumlischen Menschenwuumlrdebegriff anzeigen nicht
ersichtlich Die bis ins Jahr 1980 lediglich indirekte und nach-
folgend noch immer geringe Ausformung der Menschenwuumlrde
im positiven Recht Israels scheint mit Blick auf die Definition
Israels als juumldischer Staat daher dem zuvor dargestellten juumldi-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu entsprechen
II Das israelische Grundrecht bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo
Israel verfuumlgt uumlber keine abschlieszligende Verfassung jedoch gibt
es eine Reihe einzelner Grundrechte Seit dem Jahr 1992 hat der
Begriff der Menschenwuumlrde mit dem Grundrecht bdquoMenschen-
wuumlrde und Freiheitldquo auch expliziten Eingang in die israelische
36 Israelische Unabhaumlngigkeitserklaumlrung Abs 12 37 A Weilert Grundlagen und Grenzen des Folterverbots in verschiedenen
Rechtskreisen 2009 240f 38 B Genut Fordham International Law Journal 19 (1996) 2120 2146f 39 HCJ 35579 40 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 41 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 42 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 43 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 44 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 2 3 4 7 45 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 6
Rechtsordnung gefunden Zuvor hatte die Menschenwuumlrde nur
in wenigen Urteilen des Obersten Gerichtshofs Israels Erwaumlh-
nung gefunden41 und Menschenrechte waren bis auf wenige
Ausnahmen als Teil des Common Law ebenfalls nur uumlber die
Rechtsprechung im positiven Recht Israels verankert42
1 Umfang des Grundrechts
Die Menschenwuumlrde ist durch das Grundrecht in Israel sowohl
ein Verfassungsprinzip43 als auch ein subjektives Recht Durch
das Grundrecht sind der Schutz von Leib Leben Wuumlrde Eigen-
tum und Privatsphaumlre garantiert44 Auch wird allen Menschen
freie Ausreise aus Israel und israelischen Staatsbuumlrgern daruumlber
hinaus freie Einreise nach Israel garantiert45 Uumlber weitere
Grundrechte sind die Freiheit der Berufswahl46 das Wahl-
recht47 das Recht fuumlr Aumlmter zu kandidieren48 sowie das Recht
auf Zugang zu den Gerichten49 garantiert
Bezuumlglich der Geltung weiterer auf der Menschenwuumlrde auf-
bauender Menschenrechte hat der Oberste Gerichtshof Israels
sowohl eine enge Auslegung des Rechts auf Menschenwuumlrde
als auch eine weite Auslegung des Grundrechts abgelehnt50
Eine enge Auslegung haumltte lediglich den Schutz vor physischer
und psychischer Verletzung Folter Demuumltigung und Erniedri-
gung umfasst eine weite Auslegung haumltte saumlmtliche in den mo-
dernen Rechtsordnungen vorhandenen Menschenrechte einge-
schlossen51 Stattdessen befand der Oberste Gerichtshof dass
das Recht auf Menschenwuumlrde das Verfassungsprinzip der Men-
schenwuumlrde umfassen soll52 Da im Verstaumlndnis des israelischen
Common Law die Menschenwuumlrde als Quelle aller Menschen-
rechte betrachtet wird fuumlhrt dies jedoch nicht zu einem Aus-
schluss der Rechte die durch die weite Auslegung des Rechts
auf Menschenwuumlrde garantiert worden waumlren53 Durch diese
Entscheidung wurde das Grundrecht auf Menschenwuumlrde zu ei-
nem zusammengesetzten Recht erklaumlrt das aus einem Buumlndel an
Tochterrechten besteht die verschiedene Aspekte des Mutter-
rechts abbilden und dadurch dessen multiple Wirkrichtungen si-
chern54
Folgende Tochterrechte wurden durch Entscheidungen des
Obersten Gerichts bisher anerkannt das Recht auf Gleichbe-
handlung Meinungsfreiheit Religionsfreiheit Freizuumlgigkeit
die Gruumlndung einer Familie freie Berufswahl Bildung ein or-
dentliches Gerichtsverfahren einen humanitaumlren Mindeststan-
dard Schutz vor Rufschaumldigung und ein Persoumlnlichkeitsrecht55
Zudem hat der Oberste Gerichtshof ein Hinausreichen der Men-
schenwuumlrde uumlber den Tod anerkannt56
46 Basic Law Freedom of Occupation 47 Basic Law The Knesset Abs 5 48 Basic Law The Knesset Abs 6 49 Basic Law The Judiciary Abs 3 50 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 47 49f 51 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 805 52 A Barak Human Dignity 2015 287 53 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 39 49f 54 A Barak Human Dignity 2015 287f 55 A Barak Human Dignity 2015 288ff 56 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 55
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 7
2 Geltung des Grundrechts und Stellung innerhalb
der Rechtsordnung
Das Grundrecht auf Menschenwuumlrde ist ein relatives Recht
Aufgrund einer im Grundrecht verankerten Bestimmung sind
Einschraumlnkungen der einzelnen durch das Grundrecht garantier-
ten Menschenrechte durch Notverordnungen moumlglich57 Zudem
unterliegt das Grundrecht nicht wie in Deutschland einer Ewig-
keitsklausel58 sondern kann durch das israelische Parlament die
Knesset veraumlndert werden59 Eine Abschaffung der Grundrechte
ist daher nicht explizit ausgeschlossen Jedoch kann der Oberste
Gerichtshof Aumlnderungen oder Abschaffungen von Grundgeset-
zen die seiner Ansicht nach der Demokratie oder den weiteren
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung innewohnenden Grundwerten
entgegenstehen fuumlr verfassungswidrig erklaumlren60 Somit ist die
Moumlglichkeit einer impliziten Sperre fuumlr die Abschaffung des
Grundrechts gegeben
Die Grundrechte wurden ebenso wie andere Gesetze Israels
von der Knesset mit einer einfachen Mehrheit beschlossen und
stehen daher formell nicht uumlber anderen Gesetzen61 Sie wurden
aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1995 zu
Gesetzen mit Verfassungscharakter erklaumlrt die einen den ande-
ren Gesetzen uumlbergeordneten Status genieszligen62 Sie haben nur
Vorrang vor Gesetzen die juumlnger sind aumlltere Normen werden
vom Grundrecht nicht verdraumlngt und verdraumlngen dieses eben-
falls nicht beide Normen gelten parallel Aumlnderungen und Er-
weiterungen von Gesetzen die bereits vor dem Grundrecht be-
standen genieszligen jedoch nicht diesen Schutz und werden durch
das Grundrecht verdraumlngt63
3 Zwischenfazit
Wie auch in europaumlischen Rechtsordnungen genieszligt die Men-
schenwuumlrde damit grundsaumltzlich Vorrang vor einfachen Geset-
zen Die Position der Menschenwuumlrde innerhalb des israelischen
Rechts ist gemessen an europaumlischen Rechtsordnungen zum
Beispiel der Griechenlands64 oder Deutschlands65 weniger pro-
minent und fest verankert Im israelischen Rechtssystem das
keine Ewigkeitsklauseln kennt und keine abgeschlossene Ver-
fassung hat kommt der Menschenwuumlrde dennoch eine heraus-
ragende Stellung als Gesetz mit Verfassungscharakter und
Quelle aller Menschenrechte zu die jedoch durch die Parallel-
wirkung zu aumllterem Recht und die grundsaumltzliche Einschraumlnk-
barkeit des Grundrechts aufgrund von Notverordnungen ge-
schmaumllert wird
57 Basic Law Human Dignity and Freedom Abs 12 58 Art 79 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 59 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 41 60 A Barak Human Dignity 2015 284f 61 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 796 A Bendor M Sachs
Israel Law Review 44 (2011) 25 41f 62 B Bracha University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 3
(2001) 581 583
III Die bdquokonstitutionelle Revolutionldquo
Mit der Verabschiedung des Grundrechts bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo erfolgte nicht nur eine Verankerung der Menschen-
wuumlrde im israelischen Recht sondern auch eine neue Ausrich-
tung des Menschenwuumlrdebegriffs in Israel Diese Veraumlnderung
der Gesetzeslage wird ruumlckblickend als bdquokonstitutionelle Revo-
lutionldquo bezeichnet66 Die Gesetzgebung der Knesset erfolgt in
der Regel unter Beteiligung eines breiten politischen Spektrums
da zur Bildung von Mehrheiten in Israel oft eine Einbeziehung
von mehr als zwei Parteien notwendig ist Parteien die dem ult-
raorthodoxen Umfeld zuzurechnen sind wirken ihrem An-
spruch entsprechend oft blockierend auf Gesetzesentwuumlrfe ein
die die Vorrangstellung der Religion im Staat eindaumlmmen koumlnn-
ten sie sind um die Beibehaltung des Status quo bemuumlht67 Un-
ter diesen Gesichtspunkten stellt das Grundrecht auf Menschen-
wuumlrde zum einen eine bedeutende Neuerung in der israelischen
Gesetzgebung dar zum anderen ist es Ausdruck eines Kompro-
misses
Das Gesetz definiert Israel woumlrtlich nicht mehr nur als juumldi-
schen sondern auch als demokratischen Staat68 Durch den Na-
men des Gesetzes bdquoHuman Dignity and Libertyldquo erfaumlhrt die
Wuumlrde eine Verknuumlpfung mit dem Autonomiegedanken Somit
wird die Wuumlrde sowohl mit religioumlsen als auch mit saumlkularen
Ansaumltzen des Menschenwuumlrdegedankens verknuumlpft Diese Ge-
wichtung fuumlhrt zu einer Ausbalancierung beider Ansaumltze die je-
doch auch das Potential einer bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des Gesetzes
birgt
IV Auswirkungen des Grundgesetzes auf die
Rechtsprechung
Im Folgenden werden Entscheidungen des Obersten Gerichts-
hofs Israels dargestellt die nach dem Erlass des Grundrechts auf
Menschenwuumlrde gefaumlllt wurden und deren Entscheidung von der
Einnahme der traditionellen juumldischen bzw der modernen euro-
paumlischen Perspektive auf die Menschenwuumlrde abhaumlngig war
1 Sheffer v State of Israel
Im Fall Sheffer v State of Israel69 der im Jahr 1993 entschieden
wurde standen sich das juumldische Konzept der bdquoHeiligkeit des
Lebensldquo das auf der Idee des Tzelem Elohim basiert und die
Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenuumlber Die Mutter ei-
nes zweijaumlhrigen Maumldchens das an einer unheilbaren Erkran-
kung litt und im Wachkoma lag klagte darauf die medizinische
Behandlung der Tochter bis auf die Gabe von Schmerzmitteln
einstellen zu duumlrfen und Wiederbelebungsmaszlignahmen an dem
Maumldchen zu unterlassen Das Gericht hatte somit uumlber das Recht
63 A Barak Human Dignity 2015 305ff 64 Art 2 I Verfassung Griechenlands 65 Art 1 I Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 66 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 799 67 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 41 68 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 69 Israeli Supreme Court CA 50688 Sheffer v State of Israel Israel Law Re-
ports 1992 1 ndash 144
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 8
von Patienten und Eltern minderjaumlhriger Patienten medizini-
sche Behandlungen zu verweigern zu entscheiden Der Oberste
Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Menachem Elon
wies die Klage unter Berufung auf die bdquoHeiligkeit des Lebensldquo
zuruumlck Diese Entscheidung ist daher dem traditionellen juumldi-
schen und nicht dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zuzuordnen jedoch wurde im Jahr 2005 das
Terminal Patient Law erlassen das praumlfinalen Patienten und de-
ren gesetzlichen Vormunden das Recht zugesteht weitere me-
dizinische Behandlung abzulehnen und somit klar dem europaumli-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zuzuordnen ist70
2 Hevra Kadisha v Lional Aria Kestenbaum
Der Streitpunkt des Falls Hevra Kadisha v Lional Aria Kesten-
baum71 aus dem Jahr 1992 war das Verstaumlndnis der postmortalen
Wuumlrde wobei das juumldische Konzept der Kvod Habriyot und das
europaumlische Verstaumlndnis der Wuumlrde des Einzelnen mit einander
kollidierten Die Kadisha-Organisation verwaltet Friedhoumlfe in
Israel wobei die Vorschrift dass Inschriften auf Grabsteinen
einheitlich auf hebraumlisch abgefasst sein muumlssen Teil der Ver-
traumlge der Organisation mit den dort Bestatteten ist Die Familie
des Verstorbenen hatte sich fuumlr eine nicht auf hebraumlisch abge-
fasste Inschrift entschieden wogegen die Organisation klagte
Richter Elon sprach sich im Sinne des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs dafuumlr aus dass die Wuumlrde der bereits auf dem betref-
fenden Friedhof Bestatteten im Sinne der Kvod Habriyot der
Wuumlrde des Einzelnen vorzuziehen sei Jedoch setzten sich die
Richter Meir Shamgar und Aharon Barak durch die zugunsten
eines saumlkular-liberalen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ent-
schieden dass der Wuumlrde des Einzelnen den Vorzug vor kol-
lektiven Werten gewaumlhrt72
3 Lior Horev et al v Minister of Transportation
Im Jahr 1996 musste der Oberste Gerichtshof eine weitere Ent-
scheidung im Spannungsfeld zwischen biblischen Vorschriften
und der Autonomie des Einzelnen faumlllen Im Fall Lior Horev et
al v Minister of Transportation73 wurde auf die Sperrung einer
Straszlige am Sabbath geklagt die durch ultrareligioumlse Bezirke Je-
rusalems fuumlhrt Der Oberste Gerichtshof entschied im Sinne des
europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses unter Herleitung
der Verkehrsfreiheit aus der Menschenwuumlrde gegen eine Sper-
rung der Straszlige Richter Tzvi Tal teilte die Ansicht der anderen
Richter jedoch nicht da er religioumlsen Traditionen und Werten
eine houmlhere Prioritaumlt als der Verkehrsfreiheit einraumlumte74
4 Zwischenfazit
In der Gesamtschau zeigen diese Beispiele dass sich der im
Grundrecht auf Menschenwuumlrde angelegte Dualismus von tra-
ditionellem juumldischem und modernem europaumlischem Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis in den Entscheidungen des Obersten Ge-
70 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 676f 71 Israeli Supreme Court CA 91294 72 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 677f 73 Israeli Supreme Court CA 965016
richtshofs wiederspiegelt was neben der Zweideutigkeit der ge-
setzlichen Grundlage auf die gezielt heterogene Besetzung des
Obersten Gerichtshofs mit religioumlsen und saumlkularen Richtern zu-
ruumlckzufuumlhren ist75
Auch wenn sich eine Verzerrung des Bildes durch die be-
grenzte Auswahl an Beispielen nicht ausschlieszligen laumlsst scheint
sich der moderne europaumlische Begriff der Menschenwuumlrde in
der israelischen Gesetzgebung und Rechtsprechung durchzuset-
zen Zur Annahme dieser These fuumlhrt zum einen der Charakter
des Common Law durch den sich die Rechtsprechung bei neuen
Entscheidungen stark an bereits ergangenen Urteilen orientiert
In den letzteren beiden Faumlllen wurde folglich mit Urteilen im
Sinne des europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses eine
Grundlage fuumlr weitere europaumlisch orientierte Entscheidungen in
Fragen des Verhaumlltnisses von der Wuumlrde des Kollektivs und bib-
lischer Vorschriften zur Autonomie des Individuums geschaf-
fen Ein Ruumlckgriff auf parallel wirkende Gesetze aus der Zeit
vor 1992 die im Einzelfall dem Grundrecht entgegenstehen
scheint aufgrund des Anspruchs der grundrechtskonformen
Auslegung aumllterer Gesetze76 und der Existenz eines neuen bdquoLei-
turteilsldquo unwahrscheinlich Zum anderen wird die Vermutung
durch die im ersten Beispiel erfolgte Staumlrkung des europaumlischen
Ansatzes der Wuumlrde durch den Gesetzgeber gestuumltzt Eine ge-
setzliche Kehrtwende ist aufgrund der bereits erlaumluterten Mehr-
heitsverhaumlltnisse der Knesset unwahrscheinlich
V Die Entstehung der israelischen Menschenwuumlrde
Die Menschenwuumlrde im israelischen Recht bewegt sich im
Spannungsfeld zwischen dem modernen europaumlischen und dem
traditionellen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis Eine klare Zuord-
nung zu einem der beiden Wuumlrdeverstaumlndnisse ist seit der bdquokon-
stitutionellen Revolutionldquo und der darauf aufbauenden Recht-
sprechung nicht mehr moumlglich Die bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des
Grundrechts auf Menschenwuumlrde fuumlhrt zu einem bestaumlndigen
Ringen beider Konzepte um Vorrang im positiven Recht Es
scheint jedoch dass der europaumlische Ansatz leicht die Oberhand
gewonnen hat Eine umfassende Saumlkularisierung des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses erscheint in Israel einem modernen Staat
dessen Existenz sich auf das Judentum stuumltzt hingegen unwahr-
scheinlich
Im Hinblick auf das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis im israeli-
schen Recht bietet es sich daher an nicht mehr von einem mo-
dernen europaumlischen oder einem traditionellen juumldischen son-
dern von einem israelischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu
sprechen Ebenso wie in Europa der moderne saumlkulare Wuumlrde-
begriff auf die Basis christlicher Uumlberzeugungen gestellt werden
kann ohne von diesen abhaumlngig gemacht zu werden ist dies
auch mit juumldischen Erklaumlrungsansaumltzen moumlglich Die Vorausset-
zung fuumlr einen solchen modernen Begriff der Menschenwuumlrde
ist in jedem Fall die Betrachtung der Religion als zusaumltzlichen
74 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 679 75 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 675 76 A Barak Human Dignity 2015 306f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 9
und nicht als einzigen Begruumlndungsansatz der Wuumlrde des Men-
schen
D Fazit
Wie sich gezeigt hat sind der Begriff und das Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zu unterscheiden waumlhrend die Gesetzeslage in
Europa und Israel auf einen vergleichbaren Mindestgehalt des
Begriffs Menschenwuumlrde schlieszligen laumlsst kann das Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde und der daraus folgende Umgang mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde in der Rechtsprechung variieren
Die Darstellung der Grundlagen und Genese des Begriffs im Ju-
dentum ergab dass sich aus der Auseinandersetzung mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde auf religioumlser philosophischer je-
doch nicht auf saumlkularer Ebene in der Tradition des Judentums
ein anderes Verstaumlndnis als in Europa entwickelt hat Das juumldi-
sche Wuumlrdeverstaumlndnis unterscheidet sich vom europaumlischen
Wuumlrdeverstaumlndnis maszliggeblich in der Priorisierung des Goumlttli-
chen die zu einem Vorrang der im Ebenbildlichkeitsgedanken
begruumlndeten bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde der Gemein-
schaft und der biblischen Regeln vor der Autonomie und der
Freiheit des Individuum fuumlhrt Im positiven Recht Israels sind
seit der bdquokonstitutionellen Revolutionldquo beide Verstaumlndnisse ver-
ankert und es zeichnet sich ein Erstarken des saumlkularen europauml-
ischen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ab In dieser Ent-
wicklung kann die Etablierung eines israelischen und nicht
mehr lediglich europaumlischen oder juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis-
ses gesehen werden das in seiner Schwerpunktsetzung saumlkular
ist jedoch religioumls begruumlndet werden kann
Vor diesem Hintergrund kann von einer einsetzenden euro-
paumlischen Rechtsrezeption der Menschenwuumlrde in Israel gespro-
chen werden In Anbetracht des vergleichsweise kurzen Beste-
hens des modernen Staats Israel laumlsst sich die gegenwaumlrtige Ent-
wicklung des Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses im israelischen
Recht jedoch auch als originaumlre Evolution des religioumlsen Wuumlr-
deverstaumlndnisses zu einem in modernen Demokratien praktikab-
len Wuumlrdeverstaumlndnis verstehen deren weiterer Verlauf nicht
auf die vollstaumlndige Angleichung an das europaumlische Modell der
Menschenwuumlrde begrenzt ist
Der Autor studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt und be-findet sich derzeit in der Examensvorbereitung Der Artikel ist Teil einer Seminararbeit die im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher entstanden ist
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
10
Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verle-
gung der US-Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts
-
von Lucie Schultz
A Abstract
Am 6122017 verkuumlndete US-Praumlsident Donald Trump
es sei an der Zeit Jerusalem offiziell als Hauptstadt Isra-
els anzuerkennen Mit der Planung zur Verlegung der US-
Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem solle umgehend
begonnen werden1 Damit stieszlig er international auf heftige
Reaktionen und vielfach auf Kritik Der folgende Beitrag
will untersuchen inwieweit diese begruumlndet sind und ob
Trump durch seine Ankuumlndigungen an die Grenzen des
Voumllkerrechts stoumlszligt oder sie uumlberschreitet
B Staatliche Souveraumlnitaumlt im Konflikt mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Voumllker
Der Zentrale Streitpunkt hierbei ist die Frage nach dem voumllker-
rechtlichen Status Jerusalems welcher wiederrum maszliggeblich
von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen in der Stadt abhaumlngig ist
Staatliche Souveraumlnitaumlt ist die notwendige Bedingung gar
Grundlage des Voumllkerrechts2 Gemeint ist die Faumlhigkeit einer ju-
ristischen oder natuumlrlichen Person zu ausschlieszliglicher rechtli-
cher Selbstbestimmung3 Dabei ist zu unterscheiden zwischen
rechtlicher und faktischer Souveraumlnitaumlt erstere meint den recht-
maumlszligigen Titel letztere tatsaumlchliche Kontrolle und Herrschaft4
Durch den rechtmaumlszligigen Titel wird faktische Kontrolle zur voll
ausgereiften Souveraumlnitaumlt Die faktische Herrschaft ist - insbe-
sondere bei militaumlrischen Konflikten - leichter festzustellen als
die Souveraumlnitaumlt uumlber das betreffende Gebiet5
Sowohl Israel als auch Palaumlstinenser sehen Jerusalem als ihre
jeweilige Hauptstadt Rechtsanspruumlche auf Territorium ergeben
sich zum groszligen Teil aus dem voumllkerrechtlichen Selbstbestim-
mungsrecht6 welches damit die staumlrkste Legitimationsquelle fuumlr
Souveraumlnitaumltsanspruumlche ist7 Gleichzeitig besteht aber auch ein
Spannungsverhaumlltnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht
1 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember 2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-
jerusalem (Stand 24022019) 2 Hillgruber in Der Staat Vol 53 Nr3 2014 475 476 3 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 173 4 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 111 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 321 5 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 181
der Voumllker in seiner offensiven Auspraumlgung (gerichtet auf eine
Aumlnderung des Territorialstatus8) und der Souveraumlnitaumlt der Staa-
ten Da das Selbstbestimmungsrecht im Einklang mit den Best-
immungen der UN-Charta gefoumlrdert werden soll wird es grund-
saumltzlich dem Souveraumlnitaumltsgrundsatz nachgeordnet9 Die UNO
bekraumlftigt gleichwohl das Recht der Palaumlstinenser auf Selbstbe-
stimmung als unabdingbar im Nahostkonflikt10
C Die Anerkennung im Voumllkerrecht
I Bedeutung Rechtsnatur und Arten
Die voumllkerrechtliche Anerkennung bezeichnet die einseitige Er-
klaumlrung eines Voumllkerrechtssubjekts eine bestimmte Sach- oder
Rechtslage fuumlr rechtmaumlszligig zu erachten11 Voraussetzung fuumlr die
Anerkennung eines Staates ist das Bestehen von Staatsgebiet -
volk und -gewalt im Sinne der Drei-Elemente-Lehre12 Fuumlr das
Staatsgebiet ist eine endguumlltige Festsetzung der Auszligengrenzen
nicht erforderlich es bedarf lediglich eines unbestrittenen Kern-
gebiets13 Wenngleich jeder Staat seine Hauptstadt frei waumlhlen
darf und hierfuumlr grundsaumltzlich keine Anerkennung benoumltigt geht
es bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gerade
auch um die territoriale Ausdehnung der effektiven Staatsgewalt
im nicht unbestrittenen Staatsgebiet denn die Anerkennung als
Hauptstadt impliziert die Anerkennung der Ausdehnung des
Staatsgebiets auf dem Territorium der Stadt Eine Anerkennung
betrifft das bilaterale Verhaumlltnis zwischen anerkanntem und an-
erkennendem Staat und ist daher sehr politisch gepraumlgt14 Im po-
litischen Sinne ist die Anerkennung konstitutiv im rechtlichen
Sinne dagegen hat sich die deklaratorische Theorie15 als vor-
zugswuumlrdig durchgesetzt16 Das bedeutet zunaumlchst eine be-
grenzte rechtliche Wirkung von Trumps Anerkennung Jerusa-
lems als Hauptstadt Israels Jerusalem wird nicht dadurch zur
Hauptstadt und zum Staatsgebiet Israels Es ist der Kontext des
6 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 239 7 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 240 8 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 41 9 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 10 ARES6719 11 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 160-1 12 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 13 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 391 14 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 379 394 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5
RN 173 15 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 174 16 Shaw International Law 2017 331
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
11
voumllkerrechtlichen und politischen Konflikts um den Status der
Stadt der der Anerkennung eine hohe Bedeutung verleiht
Es wird bei der Art der Anerkennung zwischen de facto und
de jure Anerkennung unterschieden Erstere beinhaltet keinen
diplomatischen Austausch hat einen politischen Charakter wird
als vorlaumlufig und weniger verbindlich bezeichnet und geht oft-
mals einer Anerkennung de jure voraus17 So erkannten die USA
den Staat Israel zunaumlchst nur de facto an nach vollzogenen
Wahlen auch de jure18
II Das Prinzip der Nichtanerkennung
Durch die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und
die damit verbundene Verlegung der US-Botschaft kann Trump
nur dann gegen Voumllkerrecht verstoszligen wenn eine Pflicht zur
Nichtanerkennung besteht Neben einer politisch motivierten
Nichtanerkennung (etwa die Nichtanerkennung Israels durch die
Arabische Liga) kann die Nichtanerkennung auf der voumllkerge-
wohnheitsrechtlich anerkannten Rechtspflicht zur Nicht-Aner-
kennung von Herrschaftsverbaumlnden die unter Verstoszlig gegen das
Gewaltverbot oder das Selbstbestimmungsrecht der Voumllker ent-
standen sind beruhen19 Das Prinzip dieser Rechtspflicht beruht
auf dem Grundgedanken dass es sich kein Rechtssystem erlau-
ben kann Verstoumlszlige gegen seine eigene Ordnung zu tolerieren20
Ein Wandel von dem fruumlher geltenden Effektivitaumltsgrundsatz ex
factis jus oritur nach dem das Recht seine Guumlltigkeit verliert
wenn kontinuierliche Rechtsbruumlche durch ihre Tolerierung er-
folgreich bleiben21 zeigte sich erstmals in der Stimson-Doktrin
einer US-amerikanischen politischen Absichtserklaumlrung von
1932 Unter Verstoszlig gegen den Kellogg-Pakt zur Aumlchtung des
Krieges oder die Voumllkerbundsatzung zustande gekommenen Zu-
staumlnden wurde hiernach die Anerkennung verweigert22 Seither
fand nach dem baldigen Konsens hinsichtlich des Gewaltverbots
eine Festigung des Legalitaumltsgrundsatzes ex injuria jus non ori-
tur statt Aus diesem Grundsatz ergibt sich dass die Anerken-
nung einer verbotenen Handlung ebenso widerrechtlich ist wie
die verbotene Handlung selbst23
Insbesondere durch die Friendly-Relations-Deklaration von
1970 hat sich der Grundsatz zur Pflicht erhaumlrtet 1986 hat der
IGH die vormals nicht rechtsverbindliche Friendly-Relations-
Deklaration als Voumllkergewohnheitsrecht anerkannt bezog sich
jedoch auf die gesamte Resolution nicht auf einzelne Vorschrif-
17 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 166 Brownlie 91 f Shaw International
Law 2017 341 18 Loudwin Die konkludente Anerkennung im Voumllkerrecht S 33 19 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 20 Patel Recognition in the Law of Nations S 111 21 H Lauterpacht Recognition in International Law S 427 22 Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 434 23 Vgl Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 440 IGH Wall in the Occupied
Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 24 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 12 bezugnehmend auf IGH Military and Paramilitary Ac-
tivities in and against Nicaragua Merits Judgement ICJ Reports 1986 14 25 Talmon in TomuschatThouvenin The Fundamental Rules of the International
Legal Order Jus Cogens and Obligations Erga Omnes 2006 99 102 IGH Wall
in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 26 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 4
ten24 2004 nahm der IGH explizit auf die Pflicht zur Nicht-An-
erkennung Bezug er sieht sie als gewohnheitsrechtlich begruumln-
det an25
3 Die Entwicklung der Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
uumlber Jerusalem und der voumllkerrechtliche Status der
Stadt
Der voumllkerrechtliche Status Jerusalems und damit die Frage ob
eine Anerkennung rechtmaumlszligiger Weise erfolgen kann oder ob e
contrario die Pflicht zur Nicht-Anerkennung besteht haumlngt
maszliggeblich von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen ab Hierzu bie-
tet sich ein Abriss der historischen Entwicklung der Souveraumlni-
taumlt auf dem Territorium Jerusalems an
II Vom Britischen Mandat zum Teilungsplan
Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des
Ersten Weltkriegs erhielt Groszligbritannien ein Mandat des Voumll-
kerbundes zur Administration des Mandatsgebiets Palaumlstina Je-
rusalem war waumlhrend dieser Zeit die Hauptstadt des Mandatsge-
biets26 Das Volk im Mandatsgebiet wurde nicht seiner Souve-
raumlnitaumlt beraubt sondern an seiner Ausuumlbung voruumlbergehend ge-
hindert27 Daher wird die genaue Souveraumlnitaumltslage seit diesem
Zeitpunkt treffend als bdquoVakuumldquo bezeichnet28 Insbesondere
war Palaumlstina inklusive Jerusalem zu diesem Zeitpunkt keine
terra nullius auf dem ein originaumlrer Gebietserwerb durch Ok-
kupation29 moumlglich gewesen waumlre
Nach der Aufloumlsung des Voumllkerbundes uumlbertrug Groszligbritan-
nien die Entscheidungsmacht zur Zukunft Palaumlstinas ndash nicht aber
die Souveraumlnitaumlt ndash an die UNO Der UN-Teilungsplan fuumlr Palaumls-
tina 1947 sah eine Beendigung des britischen Mandats und eine
Aufteilung in arabische und juumldische Gebiete vor ndash Jerusalem
sollte als corpus seperatum unter internationale Kontrolle ge-
stellt werden30 Der Teilungsplan verhinderte die Aufgabe der
Souveraumlnitaumlt im Sinne einer Dereliktion welche Palaumlstina zur
terra nullius gemacht haumltte31 Der Treuhandrat der UNO wurde
mit der Administration Jerusalems betraut Auch diese Admi-
nistration bedeutete lediglich die bdquobesitzendeldquo Gebietshoheit
keine rechtliche Souveraumlnitaumlt32 Dem Teilungsplan kam keine
Legislativwirkung zu33
27 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 6 28 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 13 Draper in Koumlchler The
Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 Hirsch in Israel Law Review Volume 38 Issue 1-2 2005
298 300 29 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 36 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumll-
kerrecht S 331 30 UN ARES181 (II) 31 Draper in Koumlchler The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 32 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 8 33 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 274 Fn 8 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy
Places S 16
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
12
Die Jewish Agency eine Art Vorlaumluferregierung Israels war
mit dem Teilungsplan einverstanden die arabische Seite auf-
grund der Unproportionalitaumlt gemessen an der Bevoumllkerungs-
zahl dagegen nicht34
II Erster Arabisch-Israelischer Krieg
In der Folge des nach der Proklamation des Staates Israels am
14051948 (dem Tag des Mandatsendes) ausbrechenden Kriegs
zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde das haupt-
saumlchlich juumldisch bevoumllkerte West-Jerusalem von Israel und Ost-
Jerusalem wo uumlberwiegend Araber lebten von Jordanien mili-
taumlrisch besetzt35 Die Besetzungen werden teils schon als fakti-
sche Annexionen beider Seiten36 und als stillschweigend von der
UNO akzeptiert angesehen37 Als Annexion wird der einseitige
Akt eines Staates bezeichnet durch den dieser gegen den Willen
eines fremden Staates dessen Staatsgebiet zu seinem eigenen
macht38 Selbst wenn das Schweigen der UNO als Duldung in-
terpretiert wird kann sich diese nur auf das Vorliegen der de
facto Autoritaumlt beziehen und nicht die Anerkennung voll ausge-
reifter Souveraumlnitaumlt begruumlnden39 Die Aufteilung in West- und
Ostjerusalem wurde Teil des Waffenstillstandsabkommens vom
441949 zwischen Israel und Jordanien und als sog bdquogruumlne Li-
nieldquo bekannt40 Sie ist die Grundlage anerkannter politischer
faktischer Souveraumlnitaumlt41 Am 23011950 erklaumlrte Israel Jerusa-
lem zu seiner Hauptstadt und siedelte seine Regierung in West-
jerusalem an42 Damit schafft Israel vollendete Tatsachen mit
der Absicht der Dauerhaftigkeit (fait accompli) was einer de-
facto Annexion gleichkommt43
III Sechstagekrieg
Bei diesem Status der Teilung zwischen Ost- und Westjerusalem
blieb es bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 bei dem Israel
nach einem Uumlberraschungsschlag Ostjerusalem eroberte in
seine Verwaltung eingliederte44 Ob Israel oder seine Gegner
letztlich Aggressor des Sechstagekriegs waren ist bis heute um-
stritten45 Jedoch betont der Sicherheitsrat die Unzulaumlssigkeit
des Gebietserwerbs durch Krieg ohne bei der Formulierung auf
Aggression abzustellen46 Somit spielt es keine Rolle wer letzt-
lich Aggressor war denn klar ist dass die Besetzung Ostjerusa-
lems durch Waffengewalt erreicht wurde47
34 Saperia in Journal of East Asia and International Law Vol 3 Nr 1 2010
175 177 35 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 279 Cattan Palestine and International Law The Le-
gal Aspects of the Arab-Israeli Conflict S 23 f Korman The Right to Con-
quest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 36 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 25 37 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 23 38 HailbronnerKau in Vitzthum Voumllkerrecht 2010 RN 137 39 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 281 40 42 UNTS 303 No 656 41 Korman The Right to Conquest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 42 UN DPI2276 Chapter 12 S 4 43 vgl IGH Wall in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 121 44 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 Cassese The Human Dimension of International Law Sel-ected Papers of Antonio Cassese 2008 272 284
Der UN Sicherheitsrat forderte zur sofortigen Beendigung
aller kriegerischen Aktivitaumlten und zum Ruumlckzug der israeli-
schen Streitkraumlfte aus (den) im juumlngsten Konflikt eroberten Ge-
bieten48 auf Dass auf zuvor besetzte Gebiete kein Bezug ge-
nommen wird wird als de facto Anerkennung der Souveraumlnitaumlt
innerhalb der vor dem Sechstagekrieg bestehenden faktischen
Grenzen gewertet49
IV Die Annexion Ostjerusalems durch Israel
Die de-jure Annexion folgt mit dem sog Jerusalemgesetz50
1980 welches rechtliche Anspruumlche auf die ganze Stadt als
ewige und unteilbare Hauptstadt Israels erhob51 Israel verstoumlszligt
damit gegen das in Art 2 (4) der UN-Charta festgelegte Gewalt-
verbot und gegen die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung52
Der Sicherheitsrat forderte Israel auf vom Festhalten an einer
Politik und an Maszlignahmen abzusehen die sich auf den Status
Jerusalems auswirken53 Als Israel dem nicht Folge leistete er-
klaumlrte der Sicherheitsrat das Jerusalemgesetz fuumlr null und nichtig
und forderte alle Mitgliedstaaten auf bestehende diplomatische
Vertretungen aus der heiligen Stadt abzuziehen54 Die rechtlich
bindende Resolution des Sicherheitsrates verurteilt eindeutig
das Vorgehen Israels als voumllkerrechtswidrig Es bestehen keine
Souveraumlnitaumltsrechte Israels auf Ostjerusalem
V Souveraumlnitaumltsanspruumlche der Palaumlstinenser
Auf der anderen Seite begruumlndeten die Palaumlstinenser ihren An-
spruch auf Jerusalem als Hauptstadt eines zukuumlnftigen unabhaumln-
gigen Staates vor allem damit dass vor der massenhaften Aus-
wanderung vieler Juden aus allen Laumlndern Europas waumlhrend des
Holocaust nach Israel Muslime die groumlszligte Bevoumllkerungsgruppe
im Gebiet des historischen Palaumlstina waren Koumlnig Hussein von
Jordanien erklaumlrte im Juli 1998 den Verzicht Jordaniens auf
Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Jerusalem und das Westjordanland
zugunsten der 1964 gegruumlndeten Palaumlstinensischen Befreiungs-
organisation PLO55 Diese wird seit 1974 von der Generalver-
sammlung als legitime Repraumlsentation des Volkes anerkannt56
45 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 46 SRES233 47 Wright in The Americal Journal of Internatinal Law Vol 64 Nr 2 1970
270 270 48 SRES242 engl from territories frnz des territoires 49 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 252 50 Basic Law Jerusalem Capital of Israel Sefer Ha-Chukkim No 980 of the
23th Av 5740 (5 August 1980) S 186 Englische Fassung unter httpswwwknessetgovillawsspecialengbasic10_enghtm (Stand
24022019) 51 Dawidowitz in Crawford ua The Law of International Responsibility Ox-ford Commentaries on International Law 2010 677 681 52 Randelzhofer in Simma The Charter of the United Nations A Commentary
Art 2 S 74 RN 14 53 SRES476 54 SRES478 55 Paech in Das Argument 321 59 Jahrgang Heft 12017 91 100 56 Shaw International Law 2017 196 ARES3236 (XXIX) APV2282
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
13
Am 15111988 rief die PLO in Algier den Staat Palaumlstina aus57
Die Staatsqualitaumlt Palaumlstinas ist jedoch umstritten Zum einen ist
trotz des jordanischen Verzichts die genaue Territorialhoheit zu
unbestimmt zum anderen ist das Ausuumlben einer effektiven
Staatsgewalt zweifelhaft58 Seit Ende 2012 erkennt die UNO Ge-
neralversammlung Palaumlstina als non-member observer state an
was als Vorstufe zur Vollmitgliedschaft gilt59 In der entspre-
chenden Resolution wird Jerusalem als Hauptstadt zweier Staa-
ten bezeichnet Die Weltgemeinschaft haumllt also am Streben nach
einer Zwei-Staaten-Loumlsung fest Eine Vollmitgliedschaft in der
UNO scheiterte bisher trotz der begruumlszligenden Haltung der Gene-
ralversammlung60 am Veto der USA im Sicherheitsrat61
VI Zwischenfazit
Die Darstellung zeigt dass der Status der Stadt nicht nur um-
stritten sondern noch ungeklaumlrt ist Eine verbindliche einver-
nehmliche Regelung gab es nicht Die exakten Souveraumlnitaumltsver-
haumlltnisse in Jerusalem befinden sich nach wie vor im Schwebe-
zustand Trotzdem ist Jerusalem die de facto Hauptstadt Israels
Israels Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Westjerusalem sind weniger
umstritten als diejenigen auf Ostjerusalem Durch die rechtliche
Anerkennung der Veraumlnderung des Status Ostjerusalems durch
die uumlberwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft oder durch
Organe der UN mit entsprechen Kompetenzen koumlnnte die zu-
naumlchst illegitime Autoritaumlt Souveraumln werden62 Dies meint nicht
die Genese von Staatlichkeit im Sinne der konstitutiven Theorie
sondern die Entstehung von Voumllkergewohnheitsrecht
E Trumps Politik und ihre voumllkerrechtlichen Grenzen
I Hintergruumlnde das Verhaumlltnis der USA und Israel
Die Ambiguitaumlt zwischen dem bisherigen Abstimmverhalten der
USA in der UNO und dem ploumltzlichen Umschwenken durch
Trump hat ihren Ursprung in der Gewaltenteilung63 Waumlhrend
die Exekutive oftmals im Einklang mit Haltung der Staatenge-
meinschaft handelte unternahm die nationale Legislative Ver-
suche sie hieran zu hindern64 Die Anerkennung der Rechtmauml-
szligigkeit des Status quo ist in der US-Politik kein Novum inner-
halb der Exekutive und auf auszligenpolitischer Ebene dagegen ist
Trumps sympathisierende Haltung eine Kehrtwende
Die US-amerikanische auszligenpolitische Haltung laumlsst sich
dahingehend zusammenfassen dass keine entschiedene Position
57 Unabhaumlngigkeitserklaumlrung des Staates Palaumlstina in Algier 15111988 Deut-
sche Fassung abrufbar unter der Webpraumlsenz der diplomatischen Mission Palaumls-
tinas in Deutschland httppalaestinaorguploadsmediaunabhaengigkeitser-klaerungpdf (Stand24022019) 58 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 138 59 ARES6719 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und
Voumllkerrecht Band 30 2016 173 190 60 ARES6719 61 A66371 S2011592 23 62 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 286 63 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 64 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 65 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 2 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
bezuumlglich des Status Jerusalems bezogen wurde denn dieser
solle in kuumlnftigen Verhandlungen der beteiligten Parteien fest-
gelegt werden Die Anerkennung Israels durch US-Praumlsident
Truman begruumlnde keine Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt
uumlber Jerusalem65 Eine Anerkennung Israelischer Souveraumlnitaumlt
unterblieb sogar bezuumlglich West-Jerusalems aufgrund von
Zweifeln an der Faumlhigkeit zur tatsaumlchlichen Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung66 wenngleich die USA Jerusalem als de facto Hauptstadt
Israels anerkannten67
Eine klarere Position vertrat der legislative Zweig Im Kon-
gress herrschte die Auffassung Jerusalem sei die rechtmaumlszligige
Hauptstadt Israels68 was zudem der uumlberwiegenden Auffassung
der US-amerikanischen Bevoumllkerung entspricht69 Diese Sicht-
weise versuchte der Kongress der Exekutive durch eine Reihe
von Gesetzesinitiativen aufzudraumlngen70 Der Jerusalem Em-
bassy Act of 1995 sieht die Verlegung der US-Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem vor71 Jedoch liegt die verfassungsmaumlszligige
Entscheidungshoheit uumlber die Anerkennung beim Praumlsidenten
da nur die Exekutive Zugriff auf alle entscheidungsrelevanten
Informationen hat72 Daher musste der Act mit einer Klausel er-
lassen werden welche die Moumlglichkeit eines Aufschubs durch
den Praumlsidenten zur Wahrung der nationalen Sicherheit um je-
weils sechs Monate vorsieht73 Von diesem Vollstreckungshin-
dernis machten die US-Praumlsidenten seit 1995 Gebrauch Die
Botschaftsverlegung und Anerkennung der Hauptstadt ist eine
politische Entscheidung keine diplomatische Trump beugt sich
dem Druck der Legislative und erfuumlllt ein Wahlkampfverspre-
chen
II Die Vereinbarkeit von Trumps Vorgehen mit dem voumllkerrechtlichen Status Jerusalems
Die Frage nach der voumllkerrechtlichen Vereinbarkeit muss be-
zuumlglich der Anerkennung als Hauptstadt und der Verlegung der
Botschaft getrennt beantwortet werden
1 Die Anerkennung als Hauptstadt
a) Gesamtjerusalem als Gegenstand der Anerkennung
66 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 340 67 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 838 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 68 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839-40 69 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 70 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 71 Jerusalem Embassy Act of 1995 Sec 3a (3) 3b httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 72 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 10 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 73 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 6 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
14
Die Anerkennung von Israels Wahl seiner Hauptstadt ist nicht
gaumlnzlich neu Bereits am 6042017 erklaumlrte Russland Westje-
rusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen Gleichzeitig
wurde das Bestreben bekraumlftig Ostjerusalem solle die Haupt-
stadt eines kuumlnftigen Palaumlstinensischen Staates werden74 Trump
signalisierte ebenfalls seine weiterhin bestehende Unterstuumltzung
der Zwei-Staaten-Loumlsung und betonte keine Position zum fina-
len Status zu beziehen insbesondere nicht bezuumlglich der spezi-
fischen Grenzen israelischer Souveraumlnitaumlt75 Das erscheint je-
doch widerspruumlchlich da er gleichzeitig nicht zwischen Ost-
und Westjerusalem unterscheidet Wenngleich er sich nicht di-
rekt auf das Jerusalem in der israelischen Sichtweise bezieht
handelt er in Ausfuumlhrung des Jerusalem Embassy Act welcher
Jerusalem als bdquowiedervereintldquo durch die Folgen des Sechstage-
krieges bezeichnet76 Ferner bezieht er sich auf die tatsaumlchlich
bestehende Herrschaft Israels welche sich ebenfalls auf die ge-
samte Stadt erstreckt Im Wortlaut seiner Erklaumlrung vom
6122017 findet sich keine Unterscheidung zwischen Ost und
West und schon im Wahlkampf hatte er eine Anerkennung der
ungeteilten Stadt angekuumlndigt77
b) Anerkennung faktischer Souveraumlnitaumlt
Trump betont ndash ebenso wie die Botschafterin der USA bei der
UNO Nikki Haley ndash uumlber den finalen Status der Stadt also auch
uumlber die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse kein Urteil faumlllen zu wol-
len78 Es stellt sich folglich die Frage ob die Anerkennung oder
Akzeptanz der faktischen Situation von der Anerkennung recht-
licher Souveraumlnitaumlt zu unterscheiden ist Jedoch ist die Wahl der
Hauptstadt Ausdruck des inneren Souveraumlnitaumltsrechts Waumlhrend
de facto Herrschaft ohne rechtliche Souveraumlnitaumlt bestehen kann
ist die Wahl der Hauptstadt Ausdruck von Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung braucht daher einen Rechtsgrund Somit kommt eine An-
erkennung faktischer Souveraumlnitaumlt nicht in Betracht ohne zu-
gleich eine anerkennende Haltung bezuumlglich voll ausgereifter
Souveraumlnitaumltsrechte zu treffen
c) Anerkennung rechtlicher Souveraumlnitaumlt
Anknuumlpfend an das Abstellen auf tatsaumlchlich bestehende Herr-
schaftsverhaumlltnisse koumlnnte die Argumentation zur Rechtmaumlszligig-
keit der Anerkennung mit dem aus dem roumlmischen Recht stam-
menden Grundsatz uti possidetis ita possidetis (wie ihr besitzt
so sollt ihr besitzen)79 begruumlndet werden Das Prinzip baut auf
das Vorliegen rechtlicher Eingestaumlndnisse des vormaligen Sou-
74 Foreign Ministry statement regarding Palestinian-Israeli settlement
6 April 2017 httpwwwmidruenforeign_policynews-asset_pub-lishercKNonkJE02Bwcontentid2717182p_p_id=101_INSTANCE_cKNon-
kJE02Bwamp_101_INSTANCE_cKNonkJE02Bw_languageId=en_GB (Stand
24022019) 75 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember
2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-jerusalem (Stand 24022019) 76 Jerusalem Embassy Act Sec 2 (6) httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 77 Dpa Trump wuumlrde ganz Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen Suumld-
deutsche Zeitung Meldung vom 25 September 2016 2207
httpwwwsueddeutschedenewspolitikwahlen-trump-wuerde-ganz-jerusa-lem-als-hauptstadt-israels-anerkennen-dpaurn-newsml-dpa-com-20090101-
160925-99-587350 (Stand 24022019) 78 SC13125 79 Torres Bernaacuterdez FS-Zemanek 1994 417 421
veraumlns zu einem bestimmten entscheidungserheblichen Zeit-
punkt auf80 Im Fall israelischer Gebietsanspruumlche uumlber Ostjeru-
salem fehlt es an diesen beiden Faktoren Bezuumlglich auf Westje-
rusalem begrenzte Souveraumlnitaumltsanspruumlche koumlnnte das Waffen-
stillstandsabkommen von 1949 herangezogen werden81 Die
bdquogruumlne Linieldquo koumlnnte dabei das territoriale Eingestaumlndnis sein
Jedoch wird der uti possidetis Grundsatz von konkreten voumllker-
rechtlichen Vereinbarungen verdraumlngt82 Eine solche besteht fuumlr
Jerusalem durch das Waffenstillstandsabkommen von 194983
Somit schlaumlgt auch die Anwendung des uti possidetis Prinzips
unter Hinzuziehung des Effektivitaumltsgrundsatzes fehl
Waumlhrend Mitte des 20 Jahrhunderts der gewohnheitsrecht-
liche Standard anerkannt war gewaltsame Gebietsaumlnderungen
fuumlr rechtmaumlszligig anzuerkennen laumlsst sich dies heute nicht mit der
Pflicht zur Nichtanerkennung unrechtmaumlszligiger Situationen ver-
einbaren84 Insbesondere bei der Bildung von Voumllkergewohn-
heitsrecht hat das Faktische eine normative Kraft es schafft je-
doch kein Recht85 Dies wird von Trump grundlegend verkannt
Auf die Abkehr von dem Prinzip ex factis ius oritur wurde be-
reits eingegangen86 Rechtliche Wirkung entfalten allein voumllker-
rechtliche Normen Die vorangegangenen Ausfuumlhrungen und
die Untersuchung des voumllkerrechtlichen Status Jerusalems zei-
gen dass es keine entsprechende voumllkerrechtliche Fundierung
fuumlr die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gibt das
Voumllkerrecht dem sogar klar entgegensteht
Es wird diskutiert ob die Pflicht zur Nicht-Anerkennung un-
mittelbar anwendbar ist sobald die ausloumlsenden Tatbestandsvo-
raussetzungen vorliegen oder ob es eines entsprechenden Hin-
weises einer unparteiischen Autoritaumlt bedarf um zu verhindern
dass sich einzelne Staaten als Schiedsrichter aufspielen87 Die
Frage eruumlbrigt sich da entsprechende Resolutionen der UNO
vorliegen Es spielt keine Rolle dass die unrechtmaumlszligige Anne-
xion bereits fast 40 Jahre zuruumlck liegt denn die Pflicht zur
Nichtanerkennung ist in ihrer Dauer unbegrenzt88
Somit konnte zeigt sich im Ergebnis die Unvereinbarkeit ei-
ner Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt uumlber Gesamtjerusa-
lem mit dem Voumllkerrecht
2 Die Verlegung der Botschaft
Davon getrennt ist abschlieszligend noch die Frage zu klaumlren ob
auch die Botschaftsverlegung gegen das Voumllkerrecht verstoumlszligt
Die Nichtigkeitserklaumlrung des Jerusalemgesetzes beinhaltete
80 Nesi in Max Planck Encyclopedia of International Public Law 2011 Uti Pos-
sidetis Doctrine RN 10 81 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumll-
kerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht
Band 30 2016 173 181 82 Blumenwitz FS Wuumlrzburg 2002 377 381 83 42 UNTS 303 No 656 84 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues and uncertainties S 7 85 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumllkerrecht S 69 bezugnehmend auf
Jellineks allgemeine Staatslehre 86 Vgl oben (Fn22) H Lauterpacht Recognition in International Law S 426 87 Vgl Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger
Gebietsaumlnderungen S 146 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contempo-rary international law issues and uncertainties S 12 f 88 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 18
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
15
auch die Aufforderung des Sicherheitsrates an alle Nationen die
diplomatische Missionen in Jerusalem aufgebaut hatten diese
aus der heiligen Stadt abzuziehen89 Daraufhin verlegten alle 13
in Jerusalem diplomatisch vertretenen Nationen ihre Botschaf-
ten nach Tel Aviv90 Jedoch trifft die entsprechende Resolution
keine Aussage uumlber die Dauerhaftigkeit des Ruumlckzugs Somit ist
zu fragen ob es daher grundsaumltzlich ausgeschlossen ist wieder
Botschaften nach Jerusalem zu verlegen Die Pflicht zur Nicht-
Anerkennung umfasst auch die Pflicht Handlungen zu unterlas-
sen die eine Anerkennung implizieren koumlnnten91 In Jerusalem
befinden sich unter anderem Generalkonsulate von Italien Grie-
chenland Groszligbritannien Frankreich und den USA92 Jedoch
geht im Gegensatz zu einer konsularischen Mission von einer
Botschaft eine hohe symbolische Wirkung aus93 Dem konklu-
denten Inhalt dieser Symbolkraft muumlsste explizit widersprochen
werden anderenfalls muumlsste die Verlegung der Botschaft als
konkludente Anerkennungserklaumlrung von Israelischer Souverauml-
nitaumlt uumlber das Gebiet des Botschaftsstandorts verstanden wer-
den94 Wenngleich die meisten diplomatischen Missionen in den
Hauptstaumldten aufgebaut werden enthaumllt die Wahl des Bot-
schaftsstandorts fuumlr sich genommen auch keine Aussage uumlber
den Status einer Stadt als Hauptstadt auch die USA unterhalten
in einigen Laumlndern Botschaften auszligerhalb der anerkannten
Hauptstadt95 Es bestuumlnde die Moumlglichkeit die Botschaft nach
Westjerusalem zu verlegen wo die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
weniger umstritten sind96 Angekuumlndigt ist der Umzug in das be-
reits bestehende Konsulat in Arnona97 Das Viertel wird von der
Grenze zwischen Ost und Westjerusalem durchzogen Das US-
Konsulat befindet sich auf der Waffenstillstandslinie von 1949
Somit wuumlrde nicht inhaumlrent eine Anerkennung uumlber Souveraumlni-
taumltsverhaumlltnisse erfolgen
Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Verlegung der
Botschaft vor allem deshalb so hohe Bedeutung beigemessen
wird weil sie im selben Atemzug angekuumlndigt wird wie die An-
erkennung Gesamtjerusalems als Hauptstadt Israels und diese
somit symbolisch bekraumlftigt Fuumlr sich betrachtet waumlre ein Um-
zug moumlglich ohne die Grenzen des Voumllkerrechts zu uumlberschrei-
ten Dann muumlsste zugleich bekraumlftigt werden dass eine Aner-
kennung der Annexion von 1980 unterbleibt Der von Trump
gewaumlhlte Rahmen der Anordnung der Botschaftsverlegung ent-
haumllt jedoch eine konkludente Anerkennung Israelischer Souve-
raumlnitaumlt und verstoumlszligt damit gegen das Voumllkerrecht
III Internationale Bewertungen und Reaktionen
Als Reaktion auf Trumps Entscheidung sah ein von Aumlgypten
eingebrachter Resolutionsentwurf des Sicherheitsrates vor alle
89 SRES 478 90 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 53 91 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 15 92 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-saumlnderungen S 53 93 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 31 94 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 165 95 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839 Fn 11 96 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The Future of Jerusalem A Symposium 837 839 840
Nationen aufzufordern keine diplomatischen Missionen in Je-
rusalem aufzubauen die Abhaumlngigkeit des finalen Status Jeru-
salems von zukuumlnftigen Verhandlungen zwischen Israelis und
Palaumlstinensern zu betonen und juumlngste Entscheidungen die dem
entgegenstuumlnden zu verurteilen Auszligerdem sollten Trends die
die Zwei-Staaten-Loumlsung gefaumlhrden reversiert werden98 Der
Entwurf scheiterte am 18122017 durch das Veto der USA mit
einer 14-1 Abstimmung
Einen Tag spaumlter verabschiedete die Generalversammlung
mit 128 Ja-Stimmen 9 Nein-Stimmen und 35 Enthaltungen eine
Resolution mit aumlhnlichem Tenor Unter anderem rief sie alle
Mitgliedstaaten dazu auf den Aufbau diplomatischer Missionen
in Jerusalem zu unterlassen99 Eine direkte Erwaumlhnung und Ver-
urteilung der von Trump eingeleiteten Schritte erfolgte gleich-
wohl nicht Die Resolution ist rechtlich nicht bindend hat aber
Symbolcharakter Die Haltung der Staatengemeinschaft laumlsst
sich als Verurteilung des Nichtnachkommens der voumllkerrechtli-
chen Pflicht die Annexion Ostjerusalems von 1980 nicht anzu-
erkennen qualifizieren
Die Reaktionen zeigen zudem dass die internationale Staa-
tengemeinschaft Trumps Entscheidungen fuumlr die weitere Ent-
wicklung des Nahostkonflikts fuumlr nicht friedensfoumlrderlich haumllt
was zumindest zunaumlchst durch die weitere Entwicklung bestaumltigt
wurde In den Tagen nach Trumps Verkuumlndung kam es in Jeru-
salem vermehrt zu Gewalt Palaumlstinensische Extremisten kuumln-
digten bdquoTage des Zornsldquo an100 Am Tag der Botschaftsverlegung
am 15052018 kam es zu Ausschreitungen mit Duzenden Toten
F Fazit
Jerusalems Sonderrolle als heilige Stadt dreier Weltreligionen
bringt eine emotionale Aufladung des Konflikts mit sich und er-
schwert den Friedensprozess da scheinbar wichtigere Werte das
Ziel in den Schatten stellen101 Fuumlr eine Internationalisierung
konnten sich beide Seiten nicht begeistern102 Ein beidseitiger
Verzicht auf Jerusalem als politische Hauptstadt koumlnnte der Son-
derrolle der Stadt als religioumlse Staumltte am besten gerecht werden
den Konflikt durch Vermeidung von Provokationen emotional
entladen und so den Friedensprozess foumlrdern
Die Autorin studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaf-ten an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg mit dem Schwerpunkt bdquoDeutsches Europaumlisches und Internationales Oumlffentliches Rechtldquo Der Beitrag beruht auf einer Studienarbeit im Rahmen des Seminars bdquoGrundlagen und Grenzen staatlicher Souveraumlnitaumlt ndash aktuelle Prob-leme und voumllkerrechtliche Loumlsungenldquo bei Frau Prof Dr Voumlneky im Sommersemester 2018
97 Nauert Heather Press Statement Opening of US Embassy in Jerusalem
23 Februar 2018 httpswwwstategovrpaprsps201802278825htm
(Stand 24022019) 98 S20171060 99 AES-10L22 100 Reuters Israeli minister sees Trump sbquohintlsquo at Jerusalem Partition with Pales-tinians 8 Dezember 2017 httpswwwreuterscomarticleus-usa-trump-is-
rael-partitionisraeli-minister-sees-trump-hint-at-jerusalem-partition-with-pa-
lestinians-idUSKBN1E21OL (Stand 24022019) 101 Wilson in Middle East Journal Vol 23 No 1 1969 1 1 StoverMankaryous
in International Journal on World Peace Vol 25 Nr 4 Dezember 2008 115
129 102 Ben-DrorZiedler in Diplomacy amp Statecraft Volume 26 2015 636 639
Praktikanten Referendare Wissenschaftliche Mitarbeiter (mw)
Eins drauflegenWas gute Juristen noch besser macht
Besondere Talente verdienen besondere Foumlrderung Fuumlr diesen Anspruch steht unsere ReferendarAcademy Als eine der weltweit fuumlhrenden Anwaltssozietaumlten sind wir immer auf der Suche nach hochqualifizierten Nachwuchskraumlften (mw) fuumlr unsere Buumlros in Duumlsseldorf Frankfurt am Main und Muumlnchen Ausgezeichnete Examina und exzellentes Englisch setzen wir dabei voraus Im Rahmen unserer ReferendarAcademy bieten wir Ihnen als Referendar u a in Zusammenarbeit mit dem Repetitorium KAISERSEMINARE Intensivkurse zur Vorbereitung auf das Assessorexamen einen Uumlber blick uumlber unsere Rechts be reiche und eine Einfuumlh rung in relevante Business Skills Fuumlr die stetige Weiter bildung un-serer Anwaumllte sorgt die Clifford Chance Academy
Erfahrene externe und interne Referenten informieren uumlber aktuelle juristische Entwick lungen und ver mitteln Faumlhigkeiten und Kenntnisse die fuumlr eine Berater per-soumln lichkeit entscheidend sind Haben wir Ihr Inter esse ge weckt Wir freuen uns uumlber Ihre Bewerbung per E-Mail an karrierecliffordchancecom Ihre Ansprech partnerin Nicola von Tschirnhaus 069 7199-4477
Career starts with CInformationen zu uns und der ReferendarAcademy wwwclif fordchancecomkarriere
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 17
Die Problematik der europaumlischen Demokratie und
die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGHs
-
von Soma Hegedős
Abstract
Eine Kardinalskritik in Bezug auf die Funktionsweise der
EU ist dass die EU eine bdquoantidemokratischerdquo Institution sei
sowie dass die Buumlrgerschaft der Mitgliedsstaaten ihre
Entscheidungen kaum beeinflussen kann Von diesem kri-
tischen Aspekt ausgehend wird die Beziehung zwischen
Demokratie und der EU unten ndash umfassend - untersucht
Ein zentraler Aspekt dieser Untersuchung ist die genaue
Betrachtung des Status und der Kompetenzen des EuGH
und zwar vor allem aus zweierlei Gruumlnden Zum einen ist
ein entscheidender Punkt der Kritiken die rechtsschoumlp-
fende Taumltigkeit des EuGH seit den Sechzigern bis heute
ohne ausreichende (demokratische) Legitimation Zum
anderen kann man mit der Pruumlfung seiner rechtsfortbilden-
den Taumltigkeit und seinen zur Rechtsschoumlpfung fuumlhrenden
Urteilsfeststellungen auch die Problematik der Demokratie
und der EU im Zeitalter der Globalisierung besser begrei-
fen
A Einleitung
Zahlreiche moderne Theoretiker - beispielsweise der ungarische
Gyula Mooacuter1 - sehen die Demokratie nicht nur als einen bloszligen
politikwissenschaftlichen Begriff oder eine Organisationsme-
thode von Gewalt an sondern als einen komplexeren Ausdruck
der auch die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen erklaumlren
kann Die Theorien die sich auf den pluralistischen Charakter
der Gesellschaften und des politischen Spektrums bzw auf die
Elitebildung fokussieren haben auf viele kritische Punkte hin-
gewiesen und in vielen Faumlllen die Durchfuumlhrbarkeit der Demo-
kratie infrage gestellt Nach ihren Thesen werden gewisse enge
Elitegruppierungen ndash fruumlher oder spaumlter ndash unmittelbaren Ein-
fluss auf die politischen Entscheidungen haben Hier ist die De-
mokratie-Vorstellung von Joseph Schumpeter zu erwaumlhnen in
deren Mittelpunkt der Konkurrenzkampf und der marktwirt-
schaftliche Wettbewerb stehen Schumpeter sieht das von den
Elitetheorien beleuchtete Problem darin so aufgeloumlst dass die
um die politische Macht kaumlmpfenden Eliten auch fuumlr die Voten
der Einzelnen kaumlmpfen muumlssen Und die Individuen koumlnnen
1 Vgl Gyula Mooacuter A demokraacutecia oumlrveacutenyei In Erdei-Fischer-Horvaacuteth
A demokraacutecia Egyetemi Nyomda Budapest 1945 s 96 ff 2 Vgl Schumpeter Joseph A Kapitalismus Sozialismus und Demokra-
tie A Francke Verlag Tuumlbingen 2018 S 365 ff 3 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie In Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 S 237
eben durch diesen um ihre Voten durchgefuumlhrten Wettbewerb
(bdquoKonkurrenzkampfldquo) Einfluss auf das oumlffentlichen Leben er-
werben2 Hans Kelsen hat es so gehalten dass diese Konfronta-
tion der Gerichte sowohl gegenuumlber der Gesetzgebung als auch
gegenuumlber der Regierung nicht stichhaltig sei Die strenge Tren-
nung der Gewalten schraumlnkt eben die Erfuumlllbarkeit des Volks-
willens ein3 Laut Giovanni Sartori sollte die Volksherrschaft
nach wie vor im Fokus einer demokratischen Staatsorganisation
stehen D h man muss auf solche Fragen eine sinnvolle Ant-
wort geben wie Was ist ein Volk uumlberhaupt und wie kann das
Volk den entscheidenden Einfluss auf die Herrschaft behalten4
In der Auffassung von Juumlrgen Habermas kann die Loumlsung dieser
Probleme durch die Institution eines Parlaments verwirklicht
werden5 In der Demokratie-Interpretation von Habermas ist we-
sentlich dass die zivile Gesellschaft eine tatsaumlchliche Kontrolle
uumlber die politische Sphaumlre und Verwaltung ausuumlbt und das Par-
lament ndash als Teil der Zivilgesellschaft - eine zentrale Rolle in
diesem Kontrollmechanismus spielt
Diese oben genannten Beispiele zeigen dass ein lebhafter
Diskurs uumlber die Interpretationsmoumlglichkeit und die Durchfuumlhr-
barkeit von Demokratie stattgefunden hat Das bdquoSortimentrdquo der
Vorstellungen uumlber die institutionelle Realisation der Demokra-
tie bdquoreicht von rousseauistischen uumlber elitenbezogene und plura-
listische sowie partizipationsorientierte Demokratiemodelle bis
hin zu den Spielarten marxistischer Staatstheorierdquo allerdings
darf das Erfordernis der Demokratie nicht ins bdquostaatstheoreti-
sche Ungewisse fuumlhrenrdquo ndash stellt Winfried Veil fest6 Daraus folgt
die Frage was jene festen Gedankengrundlagen sind aus denen
ein demokratisches Institutionsgefuumlge auch auf der europaumli-
schen ndash bzw transnationalen - Ebene konfiguriert werden kann
das zugleich auch uumlber rechtliche Bindekraft verfuumlgt
4 Vgl Sartori Giovanni DemokratietheorieWissenschaftliche Buchg
Darmstadt 1992 16 ff 5 Vgl Juumlrgen Habermas Faktizitaumlt und Geltung Frankfurt am Main
Suhrkamp 1992 S 430 ff 6 Veil Winfried Volkssouveraumlnitaumlt und Voumllkersouveraumlnitaumlt in der EU
Nomos Baden-Baden 2007 43
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 18
B Demokratiedilemma auf der Ebene der EU
I Das Europaumlische Parlament und die europaumlischen
Voumllker
Veil ndash die Situation vor dem in Kraft treten der Lissabon-Ver-
traumlge pruumlfend ndash sieht das so dass die Realisierung der Demokra-
tie auf EU-Ebene unter den heutigen gesellschaftlichen und po-
litischen Umstaumlnden keineswegs moumlglich sei Genauer gesagt
zweifelt er daran ob uumlberhaupt die Moumlglichkeit eines richtigen
europaumlischen repraumlsentativen Systems vorliegen koumlnne bdquo(hellip)
findet demokratische Repraumlsentation durch das Europaumlische
Parlament nicht statt Repraumlsentation erfordert naumlmlich mehr als
die bloszlige Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregelnrdquo7
Das Problem besteht einerseits im Mangel an einem europaumli-
schen bdquoDemosrdquo anderseits ist auch das Europaumlische Parlament
nicht dazu geeignet das Demos zu repraumlsentieren Die europaumli-
schen Voumllker sind nicht einheitlich weder kulturell noch
sprachlich noch politisch so kann der Diskurs der zum Funkti-
onieren der Demokratie unabdingbar notwendig ist nicht statt-
finden Es fehlt im Wesentlichen an der zur demokratischen
Meinungsbildung wichtigen bdquoBuumlhnerdquo zur Diskussion der Ange-
legenheiten auf Unionsebene Die Spannung zwischen dem Eu-
ropaumlischen Parlament und der Demokratie entsteht dadurch
dass die Kompetenzen des Europaumlischen Parlaments sehr be-
grenzt innerhalb der EU sind Aus diesem Grund kann das EP
den vom Demos durch die Wahlen ausgedruumlckten Volkswillen
nur eingeschraumlnkt zur Geltung bringen
Das andere grundlegende Problem ist der Verlauf der Euro-
pawahlen Das Ergebnis der Stimmabgabe spiegelt mehr die in-
neren Beziehungen der einzelnen Staaten den Zustand bdquoRegie-
rung-Oppositionrdquo ndash wieder als das Ergebnis jener gesellschaft-
lichen-politischen Dispute die uumlber die gemeinsamen bdquoeuropaumli-
schenrdquo Themen stattgefunden haumltten ndash eroumlrtert Veil8 Ein wei-
teres Dilemma ist die demokratische Legitimation der Instituti-
onen und Handlungen der EU genauer gesagt deren Mangels an
Legitimation Da die Subjekte des Voumllkerrechtes in erster Linie
die Staaten sind und die demokratische Legitimation von den
von Voumllkern begruumlndeten Staaten abgeleitet werden kann soll
die EU als spezieller sui generis Staatenverbund eine Parallelitaumlt
zwischen ihren Handlungen und dem Volkswillen aufweisen
Allerdings kann diese Parallelitaumlt in Bezug auf alle Hauptorgane
der EU nur schwach oder gar nicht nachgewiesen werden meint
Veil Zwar stellt dieser fest dass die demokratische Legitima-
tion nicht eine bdquoAlles oder Nichtsrdquo Frage sei vielmehr eine
bdquomehr oder wenigerrdquo Relation trotzdem bestreitet er ob uumlber-
haupt der akzeptable Mindestgrad der Legitimation jeglicher
EU-Organe noch vorhanden sei9 Umsonst kann man die insti-
tutionellen Grundlagen der EU mit voumllkerrechtlichen Vertraumlgen
sowie Volksabstimmungen legitimieren wenn die vertraglichen
Fundamente nicht mehr mit dem tatsaumlchlichen politischen Be-
trieb der EU vereinbart werden koumlnnen bdquoDas von den Gemein-
7 Veil aao S 157 8 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 9 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 10 Veil aaO S 273
schaftsvertraumlgen errichtete politische System deckt aber die lau-
fende Willensbildung der Gemeinschaftsorgane in legitimatori-
scher Hinsicht nicht mehr abrdquo ndash schreibt Veil10
II Demokratieverflechtung
Das sogenannte Lissabon-Urteil des deutschen BVerfG hat ver-
sucht auf diese Frage eine Antwort zu geben Ein Bundestagab-
geordneter hat 2008 eine Verfassungsbeschwerde gegen den
von Deutschland ratifizierten Vertrag von Lissabon bzw das
Bundesgesetz zum Vertrag von Lissabon eingereicht Nach der
Verfassungsbeschwerde wird der staatliche Charakter Deutsch-
lands mit dem Vertrag von Lissabon gefaumlhrdet zudem wurde
die Verletzung des Demokratiegebotes und das eigentliche Feh-
len der demokratischen Legitimation der EU moniert Das
BVerfG hat in seiner besonders detaillierten Begruumlndung darge-
legt dass auch der Vertrag von Lissabon das Problem des De-
mokratiedefizites nicht loumlsen koumlnne Paradoxerweise wurde zu-
gleich gesagt dass die EU keine bdquoDemokratiefaumlhigkeitrdquo besitze
und daruumlber hinaus darf sie keinen houmlheren Grad der Demokra-
tie disponieren als ihre Mitgliedstaaten Nach Marcus Houmlreth
wird als eine Folgerung des Urteiles die Problematik der sog
Demokratieverflechtung genannt Er begruumlndet dass die Sub-
jekte der demokratischen Legitimation weiterhin die Voumllker der
Mitgliedstaaten bleiben Die EU kann von der Legitimation
durch die mitgliedstaatlichen parlamentarischen Demokratien
nicht abruumlcken Aus diesem Grund ndash und aus der Gebundenheit
an das deutsche Verfassungsrecht ndash folgt dass der Wirkungs-
kreis der mitgliedstaatlichen Parlamente auf keinen Fall voll-
staumlndig ausgehoumlhlt werden darf Nach der Auffassung des deut-
schen BVerfG ist Demokratie ein Staatssystem in dem der
Mehrheitswille von den Parlamenten die durch die auf den glei-
chen Stimmrechten beruhenden Wahlen gewaumlhlt werden in
Form der Gesetzgebung und der Regierungsbildung kontinuier-
lich zur Geltung kommt Der Rahmen dieses Gefuumlges wird
dadurch gegeben dass es vor allem ein bdquoVolkrdquo gibt sowie eine
oumlffentliche Publizitaumlt die fuumlr das Volk die Diskussionen und den
Wettbewerb zwischen der Regierung und der Opposition trans-
parent abbilden kann Das Parlament kommt durch die mehr-
heitliche Entscheidung waumlhrend der Wahlen zustande was vor
allem den Wahlwillen der Bevoumllkerung abbildet und die Kapa-
zitaumlt hat den Volkswillen zu offenbaren Das deutsche BVerfG
hat sich in seiner Demokratieauffassung auf die parlamentari-
sche Souveraumlnitaumlt fokussiert und ausgesagt dass das Instituti-
onssystem der EU diesen Anforderungen nicht entspreche weil
die bdquoauszligerrechtlichen Voraussetzungenrdquo allzu unterentwickelt
sind Aus diesem Grund kann man die Demokratie auf EU-
Ebene nicht mit der nationalstaatlichen Stufe gleichsetzen ndash
fuumlhrt Houmlreth aus11
11 Marcus Houmlreth Die Demokratieverflechtungsfalle ndash Warum die EU
nach dem Lissabon-Urteil demokratisch defizitaumlr bleiben muss In
Lhotta ndash Ketelhut ndash Schoumlne Das Lissabon-Urteil Springer Fach-medien Wiesbaden 2013 S 48 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 19
III Wirtschaftliche Globalisierung und Demokratie
Auch die Machtstrukturen veraumlndern sich mit der Europaumlisie-
rung der Wirtschaft und der Gesellschaften wo Machtausuumlbung
zum bdquoRegierenrdquo wird das Regieren entterritorialisiert wird so
Richard Muumlnch Die Durchfuumlhrbarkeit der Demokratie er-
schwert sich mit der Relativierung der Machtausuumlbung uumlber
konkretes Gebiet und konkretes Volk Es gibt im Zentrum der
Politik nicht mehr den demokratischen Willen der sich durch
die politischen Dispute ausformt sondern die Entscheidungen
werden vom Wettbewerb determiniert Dementsprechend ndash
nach Muumlnch ndash vollzieht der EuGH das Programm der europaumli-
schen Liberalisierung und Individualisierung d h der Integra-
tion deren zentraler Handlungsbeauftragter er ist12 bdquoDie Insti-
tutionalisierung des transnationalen europaumlischen Rechtsraumes
ist in erheblichem Umfang das Werk des Europaumlischen Ge-
richtshofesldquo ndash meint Muumlnch13
Wegen der steigenden Bedeutung von der EU aumlhnlichen in-
ternationalen wirtschaftlichen Kooperationen beschaumlftigen sich
Wissenschaftler immer mehr mit Moumlglichkeiten der Durchsetz-
barkeit der Demokratie auf internationaler Ebene bdquojenseits des
Staatesldquo Drei wichtige Aspekte sind hier von groszliger Bedeu-
tung Der Mangel einer zentralen Macht (Regierung) und des
Parlamentes und die transnationale Transformation des oumlffentli-
chen Diskurses Diese drei Eckpunkte scheinen auch in Bezug
auf die demokratische Qualitaumlt der EU entscheidend zu sein die
unter den wichtigsten internationalen Zusammenschluumlssen ndash
wegen ihrer breiten Aufgabenbereiche und politischen Einfluumlsse
ndash den groumlszligten Demokratiebedarf hat14
C Richterrecht Juristokratie
Weltkonstitutionalisierung
I Richterrecht der politische Aktivismus des
Richters
Die Problematik des Richterrechts ist eine Achillesferse fuumlr die
demokratische Handlungsweise der unterschiedlichen richterli-
chen Foren (siehe z B bei Dworkin) Die Taumltigkeit der Verfas-
sungsgerichte sowie der internationalen Gerichtshoumlfe wurde
durch die richterliche bdquoRechtsschoumlpfungrdquo nunmehr so wesent-
lich dass man uumlber ein spezielles Phaumlnomen der sog bdquojuristo-
kratischenrdquo Tendenzen sprechen kann
Das Richterrecht ist ein altes Problem fuumlr die Rechts - und
Staatstheorie Fuumlr Friedrich Carl von Savigny der eine wichtige
Rolle in der Deutung des Richterrechtes gespielt hatte wurzelt
das Recht im bdquoVolksgeistrdquo als das Ergebnis einer geschichtli-
chen Entwicklung Der politische Aktivismus richtet sich nach
12 Vgl Muumlnch Richard Die Konstruktion der europaumlischen Gesellschaft
Zur Dialekt von transnationaler Integration und nationaler Desintegra-tion Campus Verlag FrankfurtNew York 2008 S 372 ff
13 Vgl Muumlnch aaO S 108 14 Vgl Dingwerth Klaus - Blauberger Michael - Schneider Christian
Postnationale Demokratie VS Verlag fuumlr Sozialwissenschaften Sprin-
ger Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden 2011 S 23 ff und
204 ff 15 Vgl Ruumlthers Bernd Die unbegrenzte Auslegung Mohr Siebeck
Auffassung von Philipp Heck letztendlich auf die Beeinflussung
der Gesetzgebung Wenn die Rechtsbildung durch die richterli-
che Rechtsprechung geschieht wird dem Richter also quasi eine
bdquopolitische Funktionrdquo verliehen Dies kann fuumlr die modernen
Demokratien wichtige Grundprinzipien verletzen das sind die
Konzeptionen uumlber die RechtssicherheitRechtstaatlichkeit und
das mit der Rechtsstaatsidee verbundene bdquogeschriebene Rechtrdquo
bzw bdquokodifizierte Rechtrdquo und die Idee der Gewaltenteilung Ob-
wohl die Ursachen der Abweichungen grundsaumltzlich historisch
sind kann der wesentliche bdquounuumlberwindbareldquo Unterschied zwi-
schen den Rechtskreisen common lawldquo und bdquocivil lawldquo immer
Sache von theoretischen Disputen sein15 bdquo(hellip) evolution of both
a codified and a judge made system of law is characterized by a
constant interplay between legislative and judicial actionrdquo ndash
schreibt Sauveplanne16 der meint ldquoa system of law must be cre-
ated and developed by the interaction between legislature and
judiciaryrdquo17
Es gibt unterschiedliche Ansichten die Substanz des Richter-
rechtes zu bestimmen Der Richter interpretiert das Recht nach
eigenen Anschauungen oder um es mit den Worten Bernd
Ruumlthers zu sagen bdquoder Richter stellt sich in einen Gegensatz zu
gesetzlichen Wertungenrdquo Die verbreitete Ansicht allerdings ist
dass das Richterrecht nichts anderes ist als Rechtsfortbildung in
einer bdquorechtsleerenrdquo Domaumlne sozusagen bdquounentdeckte Raumlumerdquo
die vom Gesetz noch nicht geregelt wurden Eine dritte bdquoweiter-
entwickelterdquo Auffassung uumlber das Richterrecht ist dass der
Richter die Luumlcken mit Wertungen ausfuumlllen soll wie zB im
Fall von Generalklauseln Mit dieser Ansicht verwandt ist der
vierte Typ ein Begriff der unterschiedliche Bedeutungen (In-
halt) haben koumlnnte und daher vom Richter konkretisiert wird18
II Richterrechttypologie und Luumlckenproblematik
Das Richterrecht bildet sich in allen Rechtsordnungen anders
heraus und ist von anderer Bedeutung In den zwei fuumlr die EU
so wichtigen Rechtsordnungen in der franzoumlsischen und deut-
schen gibt es Diskrepanzen im Vergleich in Bezug auf das
Richterrecht Man kann begrifflich das bdquoInterpretierenrdquo von der
bdquoRechtsfortbildungrdquo (Rechtsschoumlpfung) in der deutschen
Rechtstheorie abtrennen Der grundsaumltzliche Unterschied ist der
bdquoSchoumlpfercharakterrdquo der Rechtsfortbildung D h der Richter
uumlbertritt mit der Rechtsfortbildung die Textrahmen der Rechts-
norm waumlhrend er im Fall des Interpretierens nur den Textinhalt
erkennt Die Problematik der Rechtsluumlcke (siehe dazu mehr un-
ter II A) steht im Zentrum der Rechtsfortbildung d h eine Luuml-
cke die nicht vom Text des geschriebenen Rechts gedeckt ist
Diese Luumlcken koumlnnen verschiedenen Typs sein Einige Luumlcken
sind die Ergebnisse einer bewussten Entscheidung des Gesetz-
gebers der das Ausfuumlllen der Rechtsluumlcken der richterlichen
Rechtsprechung der Judikative uumlberlaumlsst In anderen Faumlllen ist
Tuumlbingen 2017 S 1 ff und 457 ff und JG Sauveplanne Codified
and judge made law The Role of Courts and Legislators in Civil and Common Law Systems North-Holland Publishing Company Amster-
dam Oxford New York 1982 16 Sauveplanne aaO S 25 17 Sauveplanne aaO S 28 18 Vgl Ruumlthers dazu aaO S 458 f und vgl Walter Kondrad Rechts-
fortbildung durch den EuGH Duncker amp Humblot Berlin 2009 S
41 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 20
die Luumlckenhaftigkeit der Regelung uumlberhaupt nicht absichtlich
Der Richter kann die Luumlcken mit seinen Beschluumlssen sozusagen
praeter legem (oder pactum) ausfuumlllen in diesem Fall wird die
Regelung im Endeffekt vom Richter ergaumlnzt Die Entscheidung
des Richters steht nicht gegen den moumlglichen Inhalt des Textes
obwohl sie nicht darauf basiert Der Beschluss geht im Fall der
bdquocontra legem (pactum)rdquo Rechtsfortbildung uumlber den Wortlaut
des Gesetzes (oder des Vertrages) hinaus oder steht im konkre-
ten Fall dem Gesetz diametral gegenuumlber Sowohl die Rechts-
fortbildung als auch die bdquoInterpretationrdquo kann in der franzoumlsi-
schen Rechtsordnung im Rahmen der sog bdquoInterpreacutetationrdquo statt-
finden Zudem ist das ein wesentlicher Unterschied im Ver-
gleich zum deutschen System dass also auch die Interpretation
zur Rechtsschoumlpfung fuumlhren kann Die Praxis des EuGHs fokus-
siert sich auf die bdquoInterpreacutetationldquo-Auffassung er macht also kei-
nen terminologischen Unterschied zum franzoumlsischen Recht
Allerdings ist eine inhaltliche Distinktion moumlglich Die Trennli-
nie befindet sich zwischen der Auslegung und Rechtsfortbil-
dung sodass die Auslegung innerhalb des Rahmens eines moumlg-
lichen Wortsinnes noch zumindest mit einer Sprachfassung bdquoab-
gedecktldquo werden kann Dagegen entspricht die Rechtsfortbil-
dung semantisch nicht mehr dem Wortsinn entweder ergaumlnzt sie
die vertraglichen Vorschriften oder die richterliche rechts-
schoumlpfende Taumltigkeit kann nicht mehr mit dem Vertragszweck
parallelisiert werden Ernsthafte Kritiken richten sich konkreter
auch gegen die richterliche Rechtsetzung des EuGHs teilweise
auch von diesem Gesichtspunkt Nach einigen Stellungnahmen
sollten die Grenzen seiner rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit bzw
seiner speziellen Befugnisse ausdruumlcklich in den Vertraumlgen be-
stimmt werden Man darf daher das bdquoVertragswerkldquo des Unions-
rechtes nur als unvollstaumlndig betrachten und die Rolle des
EuGHs als bdquoLegislativorganldquo nur beschraumlnkt akzeptieren19
III Vom Richterrecht zur Juristokratie
Das Problem ist dass die Rechtsauslegungsbefugnisse der Ver-
fassungsgerichte und der internationalen Gerichte immer staumlrker
mit Skepsis betrachtet werden Das Richterrecht das als Ergeb-
nis der richterlichen Rechtsauslegung entsteht erlangt nach ei-
nigen kritischen Betrachtungen nahezu so groszlige Bedeutung
dass man schon uumlber systemumfassende Veraumlnderungen dh
uumlber den Uumlbergang von Demokratie zur Juristokratie von der
Rechtsstaatlichkeit zur sog juristokratischen Regierungsform
sprechen kann Beacutela Pokol ungarischer Verfassungsrichter hat
diese Tendenz vor allem auf der Ebene der Taumltigkeit des Verfas-
sungsgerichtes nachgewiesen Diese Tendenz hat nach Pokol
politische und rechtstheoretische Gruumlnde Rechtstheoretischer
Grund sei zum Beispiel die Ruumlckkehr des weltlichen Natur-
rechts sowie die Staumlrkung der Auffassung uumlber die auf moral-
philosopischer Argumentation basierenden Menschenrechte ndash
19 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff (45-111) und Mittmann Patrick Die
Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europaumlischen Gemein-
schaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europaumlischen Union Peter Lang GmbH Frankfurt am Main 2000 S 235-244 und
S 269 20 Vgl Beacutela Pokol Der juristokratische Staat die Zerlegung seiner As-
pekte Nemzeti Koumlzszolgaacutelati Egyetem Working papers on state Gov-
ernance and Administration 201611 httparchivuni-nkehuup-
loadsmedia_itemsbela-pokol-der-juristokratische-staat-die-zerlegung-
schreibt Pokol20 Man kann unter anderem auch die Ausbreitung
der Rechtsauslegungsmoumlglichkeiten von den Gerichten her klas-
sifizieren die die starke Bindung der Rechtsprechung an den
Gesetzestext gelockert haben Die Grundlage dieser Wandlung
ist dass die Richter im Laufe der Interpretation nicht mehr das
gesucht haben was die subjektive Absicht der Gesetzgebung ge-
wesen ist sondern das was aufgrund der bdquoobjektiven Rationali-
taumltrdquo Ziel gewesen sein koumlnnte Eine dritte Seite dieser Veraumlnde-
rung ist die strukturelle Staumlrkung der Verfassungsgerichte ge-
genuumlber den Parlamenten Die Verfassungsgerichte konnten mit
actio popularis d h mit den gegen die Parlamente anwendbaren
einem dem Vetorecht aumlhnlichen Mittel Entscheidungen der Par-
lamente revidieren
bdquoAuf diese Weise verwandelt sich die Triple-Struktur der Poli-
tikStaatsverwaltungJustiz in die doppelte Struktur der durchpolitisier-
ten Justiz (mit dem Verfassungsgericht an der Spitze) und der unterwor-
fenen oumlffentlichen Verwaltung Die demokratischen Wahlen und die
durch sie entstehende legislative Mehrheit funktionieren nur als legiti-
mierender Schleier uumlber die tatsaumlchliche Machtausuumlbungrdquo
ndashPokol21
IV Juristokratische Tendenzen auf der
internationalen Buumlhne
Man kann die besondere Bedeutung und die immer staumlrker wer-
dende Tendenz der richterlichen Rechtsschoumlpfung auch auf in-
ternationaler Ebene wahrnehmen Von Bogdandy und Venzke
vertreten den Standpunkt dass die Arbeit der internationalen
Gerichte von bdquointernationaler Gerichtsbarkeitrdquo in einfache
Streitbeilegungsverfahren umbenannt werden sollte22 Der
Grund dafuumlr ist dass diese internationalen richterlichen Foren
wirklich mehr Funktionen erfuumlllen als nur das Schlichten diver-
ser Streitigkeiten zwischen Staaten Diese Funktion besteht zum
einen darin dass das Rechtsgefuumlhl d h die normative Kalkula-
tion und das Rechtsbewusstsein der Staaten und der internatio-
nalen Organisationen staumlrker wird Zu diesem Thema gehoumlrt
gleichermaszligen dass die staatlichen Akte aufgrund der Recht-
sprechung der internationalen Gerichte nach einem voumllkerrecht-
lichen Maszligstab uumlberpruumlft werden und wenn sie dieser Uumlberpruuml-
fung standhalten zugleich legitimiert werden koumlnnen beispiels-
weise dadurch dass sie den internationalen Standards entspre-
chen Dies entspricht der bdquoKontroll und Legitimationrdquo-Funktion
von Von Bogdandy Die wichtigste Rolle der internationalen
Gerichtshoumlfe ist die Rechtsschoumlpfung die mit den zwei anderen
oben genannten Funktionen in einem engen Zusammenhang
steht Zwei Typen der Rechtsschoumlpfung werden von von
Bogdandy unterschieden Der erste Typ ist die richterliche
Rechtsschoumlpfung in konkreten Streitfaumlllen Eine solche ist zum
seiner-aspekte-von-bela-pokoloriginalpdf S 18 Ff (2018 oktoacuteber
12) 21 Pokol aaO S 3 22 Von Bogdandy Armin ndash Venzke Ingo bdquoInternationale Streitbeteili-
gungldquo oder bdquointernationale Gerichtsbarkeitldquo In Arbeitspapiere Goe-
the Universitaumlt Frankfurt am Main 20164 httppublikatio-nenubuni-frankfurtdefrontdoorindexindexdocId39019 (2018 ok-
toacuteber 15)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 21
Beispiel die breitere Interpretation des Verbotes der Gewaltan-
wendung nach Artikel 2 der UNO-Charta im sog Nicaragua-
Urteil des Internationalen Gerichtshofs Der andere Typ der
Rechtsschoumlpfung ist die systemweite und bewusste Taumltigkeit
solcher internationalen meistens bdquoregional taumltigenrdquo sowie spe-
zialisierten Gerichte die das Rechtssystem in der mit Ihnen ver-
bundenen Sphaumlre mit Prospektivitaumlt bestimmen wollen Bei-
spiele dafuumlr sind gewisse Verfahrensregelungen seitens des Eu-
ropaumlischen Gerichtshofes fuumlr Menschenrechte ndash schreibt Von
Bogdandy
Tamara Ehs meint dass diese auf supranationalischer Ebene
erscheinenden juristokratischen Tendenzen auch mit der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH verbunden sind Nach Ehs hat
zwar der EuGH gegen die Politik das Recht bdquodes letzten Wor-
tesldquo aber dem EuGH fehlt das demokratische Moment23 Ehs
stellt fest dass der EuGH zum einen ndash innerhalb der EU ndash ein
europaumlisches Verfassungsrecht schaffen will zum anderen auch
politischen Aktivismus aufzeigt Die wichtigen Mittel dieses po-
litischen Aktivismus sind die Resolutionen in Vorabentschei-
dungsverfahren mit denen der EuGH tief hinter die mitglied-
staatlichen Grenzen reichen kann Allerdings sollte die Rolle des
EuGH auch in den weiteren internationalen Relationen gepruumlft
werden da das nach Ehs kein alleiniger Darsteller einer welt-
weiten Verfassungsordnung ist Solche weiteren bdquoElementeldquo
sind beispielsweise noch das WTO und IMF Im Zentrum dieser
Weltkonstitutionalisierung steht die Errichtung eines Systems
das auf den modernen neoliberalen Grundlagen der Weltwirt-
schaft beruht und das gegen die Ordnung der volksstaatlichen
Nationalwirtschaften gerichtet ist Daruumlber hinaus entspricht es
nicht den Prinzipien der demokratischen Repraumlsentation
D Die Rechtfertigungsversuche der
rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH
I Das Kompetenzdilemma des EuGH bdquoeffet utileldquo
und die Ultra-vires-Handeln
Eines der groumlszligten Dilemmas in Bezug auf den Kompetenzkreis
des EuGH sowie das von ihm geschaffene Richterrecht ist die
Dualitaumlt der Grenzen und des Zwanges der auf Rechtsschoumlp-
fung gerichteten Taumltigkeit des EuGH bdquoDer EuGH balanciert
stets bei seiner Rechtsprechung zwischen Kompetenzgrenze
und Kompetenzpflicht (hellip) Einerseits darf er kompetenzrecht-
lich nur gewisses Richterrecht schaffen anderseits ist er aber
genau berufen das Notwendige und Moumlgliche zu entwickelnrdquo
ndash schreibt Michel daruumlber24 Diese Spannung haumlngt eng mit der
Luumlckenproblematik des Gemeinschaftsrechts zusammen In ers-
ter Linie stellte sich die Frage der Kompetenzen der souveraumlnen
Mitgliedstaaten ob die Luumlckenhaftigkeit der neuen europaumli-
schen Rechtsordnung nicht absichtlich ist Die Antwort des
EuGH auf diese Frage war ua im seinen CostaENEL- und van
23 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 233-247 httpswwwmomentum-quarterlyorgojs2in-
dexphpmomentumarticleview16691333 234 (2018 oktoacuteber 15) 24 Michel Morten Alexander Die Kompetenzentwicklung des Europaumli-
schen Gerichtshofes in seiner juumlngeren Rechtsprechung und ihre Integ-
rationseffekte in den Mitgliedstaaten Shaker Verlag Aachen 2002
159
Gend amp Loos ndash Rechtsspruumlchen angelegt Sein bdquoneinldquo bedeutete
dass das Unionsrecht ein neues komplettes Rechtssystem sogar
bdquoeine neue Voumllkerrechtsordnungldquo ausmachen solle Zwar ist die
Rolle des Integrationsgebotes und seine Auslegunsmittel die
sog bdquoeffet utileldquo-Formel in der Arbeit des EuGH ziemlich um-
stritten sie kann aber ihre Grundkonzeption der Rechtferti-
gungslogik der richterlichen Rechtsschoumlpfung gut darstellen
Mit der Anwendung ndash unter anderem ndash des effet utile-Grund-
satzes hat der EuGH nach dem Muster des franzoumlsischen
Conseil dlsquoEtat versucht die maximal bdquonuumltzliche Wirkungldquo zu
erreichen um diese selbstaumlndige Rechtsordnung ausgestalten zu
koumlnnen bdquoMoreover the fact that within the bdquoschematic effet
utilerdquo orientation of the ECJ the national law surroundings of
EC law are not considered may ultimately lead to the paradoxi-
cal result that the combined application of EC and national law
in a given specific case does not promote the effet utile of the
applicable European legislationrdquo ndash schreibt Schmid uumlber die an-
dere Seite dieser Problematik25 Der Zwang zur Rechtsentwick-
lung des EuGH folgt vor allem aus der Aufgabe der Rechtsaus-
legung und Rechtsanwendung die ihm von den Gruumlndungsver-
traumlgen als Verpflichtungen vorgeschrieben sind D h die
Schaffung des Richterrechtes ist in gewissen Faumlllen ausdruumlck-
lich notwendig Allerdings sollte es wichtige Grenzen geben die
die Grenzen der Verbands- bzw Organkompetenz des EuGH
markieren Ihre Uumlberschreitung bedeutet einen sog Ultra-Vires-
Akt Die richterliche Rechtsfortbildung darf keine sog bdquoKom-
petenz-Kompetenzrdquo-Befugnis bedeuten da die begrenzte Ein-
zelermaumlchtigung sich als ndash wiewohl nicht allgemeine aber ndash
wichtige Gebundenheit meldet D h der EuGH darf solche
Kompetenzen die in den Vertraumlgen nicht festgelegt sind weder
vorschreiben noch entziehen und muss die sog bdquoVerfassungsi-
dentitaumltldquo der Mitgliedstaaten respektieren26 Trotzdem wurden
zahlreiche solche richterlichen Entscheidungen seit den 1960zi-
gern getroffen bei denen die richtige Wahrung dieser Schranken
streitig geworden ist Die Entscheidungen (Franchovich- Bras-
serie du pecheur-Urteile)27 uumlber die Errichtung der sog europauml-
ischen Staatshaftung dienen als gute Beispiele Die Essenz die-
ser EU-Beschluumlsse besteht darin dass die einzelnen Mitglied-
staaten gegenuumlber ihren Staatsbuumlrgern mit der Ermoumlglichung
des Anspruchs auf Schadenersatz bezuumlglich der angemessenen
Uumlbernahme und Anwendung des Unionsrechtes verantwortlich
gemacht wurden Die Errichtung der Institution der Staatshaf-
tung ist wieder ein ernsthafter Schritt in die Richtung der In-
tegration gewesen und die zugleich auch Streit hervorgerufen
hat ob der EuGH uumlberhaupt uumlber angemessene Kompetenzen zu
einem solchen Schritt verfuumlgt Zu einer vollstaumlndigen Pruumlfung
der Kompetenzen des EuGH gehoumlrt die Aufdeckung zahlreicher
weiterer Teilbereiche (Subsidiaritaumlt effet utile usw) jedoch
muumlssen wir uns auf die folgenden Bemerkungen einschraumlnken
Die Schaffung eines solchen Richterrechtes das die der Staats-
haftung aumlhnlichen Rechtsfortbildung folgt kann nach Michel
25 Christoph U Schmid The ECJ as a Constitutional and a Private Law Court Bremen ZERP an der Univ Bremen Bremen 2006 S 24
26 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff und 320 ff und Streinz
EUVAEUV 3 Aufl CHBeck Muumlnchen 2018 S 210 Rn 14-16 und dazu auch Schmid aaO S 22-28
27 (Rechtssachen C-690 und C-990 1991 sowie C-4693 und C-4893
1996)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 22
nur in jenen Faumlllen akzeptiert werden wo sie solchen Zielen
dient die nicht im Gegensatz zu den in den Gruumlndungsvertraumlgen
offenbarten Willen der Mitgliedstaaten stehen Auszligerdem brin-
gen sie die Rechtsstaatlichkeit und die Wirksamkeit des Euro-
parechtes voran Michel sieht das Problem darin dass solche Ur-
teile nur ausnahmsweise vorkommen sollten dagegen ist der
EuGH einerseits ndash mit den Worten von Michel ndash der bdquoWegbre-
cher der Integrationrdquo andererseits bdquoder Notgesetzgeberrdquo der EU
Der EuGH hat nunmehr ein gewisse bdquoquasi Kompetenzldquo die
dadurch legitimiert wird dass die Mitgliedstaaten solche Ent-
scheidungen des EuGH einfach stillschweigend akzeptieren28
bdquoDennoch muss man aus rechtstaatlicher Sicht wie aus Rechts-
sicherheitsgruumlnden die Akzeptanzkompetenz als echte Organ-
kompetenz des EuGH ablehnenrdquo ndash schreibt Michel29
II Die rechtliche Grundlage die bdquoWahrung des
Rechts zu sichernldquo
Die Grundlage des Richterrechtes das im Rahmen der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH geschaffen wird wird von ei-
ner permissiven Interpretation der Wendung bdquosichert die Wah-
rung des Rechtsrdquo in der Fachliteratur gegeben30 und sie umfaumlngt
nach dieser Interpretation auch die richterliche Rechtsfortbil-
dung des Unionsrechtes Diese breite Interpretation wird damit
begruumlndet dass der Richter nicht nur im sog bdquocommon lawldquo
Rechtskreis sondern auch in der europaumlischen Rechtstradition
mehr als bloszlig bdquoder Mund des Gesetzesldquo war Auch das BVerfG
hat sich mit dieser Frage in seinem UStRiL-Urteil beschaumlftigt
und sich auf die Uumlberlieferungen des Gemeinen Rechts des Rouml-
mischen Rechts bzw des englischen common law berufen Es
hat das festgestellt dass die Gruumlndungsvertraumlge auch aus der
Perspektive der europaumlischen rechtsgeschichtlichen Traditionen
interpretiert werden sollen Ein weiteres Auslegungsargument
ist dass die EU vor allem eine bdquoRechtsgemeinschaftldquo ist und
als solche braucht es die aktive integrierende Taumltigkeit des
EuGH damit das die Harmonie des Gemeinschaftsrecht verbuumlr-
gen kann bdquo(hellip) Der EuGH (muss) in gewissen Grenzen zur Ver-
wirklichung des Rechts Normen schaffen duumlrfen um das Recht
zu sichern wenn diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht
zu erreichen ist ndash schreibt Walter31
E Der Versuch der demokratischen Legitimierung
der Taumltigkeit von EuGH
I Die Unabhaumlngigkeit und die juumlngsten Urteile des
EuGH
Die herausragende Bedeutung des EuGH innerhalb der EU
kommt aus seinem umfangreichen Wirkungsbereich sowie aus
sonstigen organisatorischen Umstaumlnden Solch ein bdquoorganisato-
rischer Umstandrdquo ist dass mehrere Mitglieder des Organismus
EU einander in den unterschiedlichen Verfahren ergaumlnzen und
28 Vgl dazu Michel aaO S 157 ff und 162 ff 29 Michel aaO S 170 30 Vgl dazu Michel aa O S 24 ff und Calliess-Ruffert-Blanke EUV-
AEUV das Verfassungsrecht der Europaumlischen Union mit Europaumli-
scher Grundrechtecharta Kommentar 5 Aufl CH Beck Muumlnchen
2016 S 311 ff Rn 12-18 und dazu auch Streinz aaO S 209 f
RN 12-16
kontrollieren ihre Arbeit sich in einer speziellen Wechselwir-
kung verwirklicht Daraus folgt dass die klassische These der
Gewaltenteilung sich in diesem Bezug nicht durchsetzt Der
EuGH verfuumlgt uumlber eine ziemlich groszlige Unabhaumlngigkeit Dazu
wesentliches Kompetenzpotenzial konzentriert sich in seiner
Hand Aus Hinsicht der Mitgliedstaaten ist die Position des
EuGH noch staumlrker Die Judikatur des EuGH schraumlnkt sowohl
die nationalen Parlamente sowie die Verfassungsgerichte als
auch die nationalen Gerichte stark ein Die nationalen (Verfas-
sungs-) Gerichte muumlssen auf das Unionsrecht sowie auf die Ur-
teile des EuGH Ruumlcksicht nehmen und daruumlber hinaus sogar an-
wenden wenn die gerichtliche Rechtsauslegung dem Unions-
recht entsprechen soll Aus diesem Grund verlagert sich das
Machtpotenzial von den Mitgliedstaaten hin zum EuGH Die de-
mokratische Legitimation dieses Machtpotentials wird sowohl
in der organisatorischen Struktur der EU als auch aus Richtung
der Mitgliedstaaten beansprucht
bdquoInsbesondere im Hinblick auf die enorme Bedeutung und Autoritaumlt
des EuGH und EuG im institutionellen Gefuumlge der EU scheint die Frage
nach deren demokratischer Legitimation unausweichlich und von
grundsaumltzlicher Bedeutung zu sein (hellip) Diese beiden Fundamentalprin-
zipien beeinflussen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander
verbunden und bauen ein Spannungsverhaumlltnis zueinander aufrdquo
ndash Kathrin F Baltes32
Die Kritiker des EuGH lassen nach Baltes ein sehr wichtiges
Postulat auszliger Acht die richterliche Unabhaumlngigkeit Die An-
forderung der Unabhaumlngigkeit zieht eine Grenzlinie fuumlr die Er-
weiterung der demokratischen Legitimation des EuGH Das Er-
fordernis der Unabhaumlngigkeit wurde auch in den juumlngsten Urtei-
len33 des EuGH bekraumlftigt Nach der Rechtsprechung des EuGH
ist die richterliche Unabhaumlngigkeit bdquovon grundlegender Bedeu-
tungldquo und ein wichtiger Eckpfeiler der modernen rechtsstaatli-
chen Demokratie und im Vergleich zu den zwei anderen Staats-
gewalten schreibt sie der Judikative spezielle Anforderungen
vor Der Richter der im gegebenen Fall Entscheidungen treffen
soll sollte vollstaumlndig unabhaumlngig von anderen Organisationen
und politischen und sonstigen Einfluumlssen sein Der Richter soll
auf die Gesetze Ruumlcksicht nehmen und darf bei der Ausuumlbung
seines Amtes von niemandem angewiesen werden und seine
Entscheidungen duumlrfen nicht von anderen (nicht gerichtlichen)
Organen uumlberpruumlft werden Der EuGH hat vor kurzem in seinem
Urteil ausgesprochen dass die unabhaumlngige Einrichtung des Ge-
richtes sowohl auf der Ebene der Union als auch auf der mit-
gliedstaatlichen Ebene unerlaumlsslich ist Sehr wichtig ist dass der
EuGH auch den ndash auf der Charta basierenden ndash Grundrecht-
schutz fest mit der richterlichen Unabhaumlngigkeit zusammenge-
bunden hat und zugleich als Bedingung einer bdquoreibungslosenldquo
justiziellen Kooperation bestimmt hat Zu der richterlichen Un-
abhaumlngigkeit gehoumlrt die bdquovoumlllige Autonomieldquo ndash hat der EuGH
31 Walter aaO S 145 32 Baltes Kathrin F Die demokratische Legitimation und die Unabhaumln-
gigkeit des EuGH und des EuG Peter Lang Frankfurt am Main 2011 S 3
33 (Rechtssachen C-6416 EUC2018117 und C-21618 PPU
EUC2018586)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 23
betont Ein entscheidendes Moment ist also die Unabhaumlngigkeit
gegenuumlber nationalstaatlichen Einfluumlssen
II bdquoZeitgemaumlszligeldquo Legitimationsmodelle
Man muss zur umsichtigen Festsetzung der Position des EuGH
die Legitimationsart der EU untersuchen Die Errichtung der mit
den Nationalstaaten analog einhergehenden demokratischen Le-
gitimation ist ndash ohne Zweifel ndash problematisch in Bezug auf die
EU Allerdings betont Baltes gebe es zwar kein einheitliches
bdquoeuropaumlisches Demosrdquo aber das bdquoVolkrdquo ndash im Einklang mit den
europaumlischen gesellschaftlichen Tendenzen - ist nicht monis-
tisch kollektiv sondern soll pluralistisch individuell interpre-
tiert werden34 Dies ist ein entscheidender Punkt weil die EU
auf einer sog dualistischen Legitimationsbasis beruht Der si-
multane Status der mitgliedstaatlichen und europaumlischen Staats-
buumlrgerschaft ermoumlglicht die demokratische Legitimation sowohl
auf EU-Ebene die von der Institution des Europaumlischen Parla-
ments praumlsentiert wird als auch auf der Ebene der Mitgliedstaa-
ten die ndash auszligerhalb des EP ndash vom Ministerrat und dem Europauml-
ischem Rat realisiert wird Waumlhrend nach einigen die mitglied-
staatliche Legitimationsbasis Vorrang hat hat nach anderen die
bdquoeuropaumlischerdquo Legitimationsbasis Der EuGH hat sich schon in
seinen fruumlheren Urteilen (zB 13879 Roquette Freacuteres vs Rat)
eher fuumlr die letztere Variante ausgesprochen mit der Begruumln-
dung dass das EP bdquo(altough limited) it reflects at Community
level the fundamental democratic principle that the people
should take part in the exercise of power through the intermedi-
ary of a representative assemblyldquo Baltes unterstreicht ihre
Gleichwertigkeit als die Entwicklung der EU von Baltes als ein
solcher bdquodynamischer Prozessrdquo bezeichnet wird bdquoder nicht auf
ein konkretes starres und ausnahmsloses Prinzip beschraumlnkt
werden kannrdquo35
Laut der Klassifikation von Baltes kann die demokratische
Relation zwischen der EU und den Staatsbuumlrgern grundsaumltzlich
durch zwei unterschiedlich logische Mechanismen ferner durch
die Kombination derselben geschaffen werden Der erste Me-
chanismus ist die sog bdquoLegitimationsruumlckkopplungrdquo die darauf
fokussiert ob die Machtausuumlbung auf den buumlrgerlichen Willen
bzw auf dessen Initiative zuruumlckgefuumlhrt werden kann Unter-
schiedliche Schemata wurden als Methoden der Ruumlckkopplung
bearbeitet zB die Schemata der bdquoLegitimationskettenrdquo oder
des bdquoKontrollmodellsrdquo Im Fokus der Legitimationsketten steht
das Volk als die staumlndige und kontinuierliche Quelle der Staats-
gewalt Zwar gibt es Abweichungen zwischen den einzelnen un-
terschiedlichen praktischen Formen (institutionelle formelle
persoumlnliche inhaltliche Legitimation usw) aber ndash nach der all-
gemeinen Form des Schemas ndash das Volk soll das Parlament
waumlhlen und dem im Wesentlichen alle anderen oumlffentlich-recht-
lichen Anstalten unterordnen Die Regierungsmacht ist durch
ihre parlamentarische Verantwortlichkeit und auch durch kon-
kretes Weisungsrecht sowie durch Rechtsvorschriften die vom
34 Baltes aaO S 65 35 AaO S 83
Parlament als Legislative konstituiert werden begrenzt Die Le-
gitimationskette beruht auf dieser Dependenz Es ist sichtbar
dass die Jurisdiktion schwerer in die Legitimationskette einge-
fuumlgt werden kann und sie ist daher auch schwerer auf den Volks-
willen zuruumlckzufuumlhren Die Spannung kann schlieszliglich nur in
der Ausgestaltung der strengen Gesetzesbindung von richterli-
chen Amtsbefugnissen in diesem Legitimationsverstaumlndnis auf-
geloumlst werden Diese Verkettung ist deshalb leicht angreifbar
und daruumlber hinaus entsteht ein weiteres Problem die Legitima-
tionskette auf der Ebene der EU kann ungeachtet der Dualitaumlt
der nationalen sowie Unionsstaatsbuumlrgerschaft nur bdquoschwer-
lichrdquo aufgezogen werden Aus dem Loumlsungsversuch dieses Di-
lemmas sind die weiteren Modelle die mehr oder weniger als
Ergaumlnzungen des Schemas der Legitimationskette dienen ent-
standen Die sog personale Legitimation ist daher wichtig in
diesem Themenbereich weil ihre Vertreter meinen dass die Le-
gitimationskette allein eben darum nicht maszliggeblich ist weil
der Bewegungsraum der Richter nie vollstaumlndig eingeschraumlnkt
werden darf zum Beispiel wegen der Notwendigkeit der Ent-
wicklung bzw Interpretation des Unionsrechts Daraus folgt die
Forderung dass die Auswahl der Richter bdquodemokratischrdquo so
zum Beispiel durch Parlamentsausschuumlsse stattfinden sollte
Man muss ndash nach einer anderen bdquoLegitimationsergaumlnzungrdquo ndash
mit fachlichen Vorschriften bzw Standards die Legitimations-
kette verstaumlrken (zB Amtshaftung die Publizitaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens bzw der gerichtlichen Beschluumlsse) Das Kon-
trollmodell basiert ebenfalls auf der derivativen Partizipation
sowie auf der Ruumlckkopplung des Volkswillens aber weicht in-
haltlich von der Auffassung des Legitimationsmodelles ab Der
Entwickler dieses Modelles Axel Tschentscher betont die fach-
lichen und auch persoumlnlichen Faktoren Der entscheidende
Punkt in diesem Modell ist die unabhaumlngige Position des Rich-
ters von anderen Institutionen abzusichern In Tschentschers
Auffassung ist die richterliche Rechtsschoumlpfung bzw die An-
wendung des Richterrechts in einer demokratischen Ordnung
daher nicht problematisch weil die Legislative ein bdquopraktischesrdquo
Revisionsrecht hat Falls das Parlament anders beschlieszligt kann
es eine von der richterlichen Entscheidung abweichende Rechts-
norm schaffen ndash legt Baltes das theoretische System von Tsch-
entscher dar36
F Fazit
Wie man das auch basierend auf dem oben dargestellten
wahrnehmen kann koumlnnenmuumlssen wir den Demokratieldquoindexldquo
der europaumlischen Organisationsstruktur nunmehr auf mehreren
Ebenen analysieren und ndash zu einem authentischen angemesse-
nen Ergebnis ndash die Problematik der WTO-Struktur und der sog
bdquoJuristokratieldquo bzw bdquoWeltkonstitutionalisierungldquo (siehe oben
bei Ehs) das Dilemma des Parlamentarismus (siehe oben bei
Veil) und auch der Mitgliedstaaten (siehe oben z B bei den
Ultra-Vires Handlungen) etc zusammen betrachten und pruumlfen
Es bedarf daher noch weiterer Pruumlfungsschritte Daraus ergibt
sich dass wir uns auf die folgenden Feststellungen beschraumlnken
muumlssen
36 AaO S 86 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 24
Ein wichtiger Punkt ist dass bedeutende Theoretiker das un-
verzichtbare Element der Demokratie im Parlamentarismus
wahrnehmen Das Fehlen eines tatsaumlchlich funktionierenden
Parlamentes kann auf der Ebene der EU festgestellt werden weil
wichtige gesellschaftliche und politische Bedingungen dazu
nicht oder nur mangelhaft vorhanden sind Es ist zu betonen
dass der Mangel an Parlamentarismus daher problematisch ist
weil die europapolitischen richtunggebenden Entscheidungen
nicht vom Volk bzw nicht von den europaumlischen Buumlrgern be-
stimmt werden koumlnnen Wie im zweiten Teil dargestellt wurde
hat der EuGH ndash nach zB Michel - seit den Sechzigern diese
quasi (bdquoersatz- oder not-bdquo) gesetz- und richtunggebende Rolle
des Parlamentes teilweise uumlbergenommen Baltes weist ndash siehe
den dritten Teil der Untersuchung ndash auf die besondere Bedeu-
tung der institutionellen Unabhaumlngigkeit des EuGHs hin aller-
dings unterscheiden sich seine Legitimationskonzepte grund-
saumltzlich von den bdquotraditionellenldquo nationalstaatlichen Demokra-
tievorstellungen d h von der auf der Volkssouveraumlnitaumlt basie-
renden parlamentarischen Demokratie Falls die Befugnisse des
EuGH weiterhin so weitreichend bleiben kann man schwierig
das institutionelle Gefuumlge der EU nicht als juristokratische
Machtstruktur definieren In diesem Bezug scheint Hans Kel-
senrsquos Stellungnahme uumlber die Notwendigkeit der Einheit der
staatlichen Gewalten aus der Hinsicht der Demokratie voraus-
schauend und bemerkenswert zu sein Das Erfordernis der rich-
terlichen Unabhaumlngigkeit und das sehr groszlige Kompetenzpoten-
zial ohne wirklich funktionierende parlamentarische Gegenkon-
trolle bedeuten zusammen auf der Ebene eines sich noch immer
entwickelnden Staatenverbundes eine bedeutsame Machtkon-
zentration in der Hand des EuGH Also was unsere Grundfrage
angeht d h ob die europaumlischen Buumlrger wirklich einen demo-
kratischen effektiven Einfluss auf die Entscheidungen der EU
ausuumlben koumlnnen kann man nicht eindeutig mit bdquojaldquo oder bdquonein
beantwortet werden Muumlnch und auch Baltes schreiben uumlber eine
bdquozeitgemaumlszligeldquo Demokratievorstellung die die Gesellschaft plu-
ralistisch und individualistisch betrachtet Die sog bdquoOutputldquo-
oder Ergebnislegitimationsmodelle koumlnnen sich zwar als sehr
wichtige Bestandteile eines demokratischen Gefuumlges des EuGH
bzw der EU erweisen allerdings ersetzen sie nicht die demo-
kratische Funktion des zur Zivilgesellschaft gehoumlrenden (siehe
oben bei Habermas) Parlamentes Daruumlber hinaus liegt auch ein
weiteres Problem mit der Ergebnislegitimation vor Wie schon
im ersten Kapitel dargestellt wurde bedeutet die sog Elitebil-
dung immer eine ernsthafte Gefahr fuumlr die Demokratie Sofern
die Einzelnen als bdquoVolkldquo ihren Willen durch das Parlament nicht
zu validieren vermoumlgen und so auch Schumpeterrsquos Wettbe-
werbsmodell uumlber die bdquoHerrschaft der Politikerldquo marginalisiert
wird wird das Risiko der Herausbildung von Elitegruppierun-
gen noch beachtlicher Eine Demokratie muss den Rahmen des
politischen Kampfes (bdquoWettbewerbesldquo) der Mehrheits- und
Minderheitsansichten immer gewaumlhrleisten ferner das eine
Minderheitsmeinung zu einer Mehrheitsmeinung werden kann
Daraus folgt dass man unbedingt pruumlfen muss wie die Effizienz
des Parlamentarismus auch auf der Ebene der EU aussieht wie
die europapolitischen Auseinandersetzungen fuumlr die mitglied-
staatlichen Buumlrger wirksamer verdeutlicht werden koumlnnen und ndash
vor allem ndash wie die Kompetenzverteilung zwischen dem EP und
dem EuGH noch effektiver zugunsten der Prinzipien des Parla-
mentarismus ausgestaltet werden kann
Die Autorin hat bereits das erste juristische Staatsexa-men abgelegt und befindet sich derzeit im Masterstu-dium an der Universitaumlt zu Koumlln (Staatsrecht mit Bezuuml-gen zum Europa- und Voumllkerrecht)
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 25
Conditional consent as a valid legal ground for data processing
- a misbelief
-
Sonja Buumlhler
A Introduction
An inflationary use of personal data due to internet-con-
nected devices such as smart-TVs smartwatches fitbits
or smartphones and online services such as Spotify or
Netflix is taking place forming a valuable economic asset1
To counter this development there is a need to effectively
protect personal data of users Consumers often find
themselves in situations where they have no choice but to
agree to the processing of personal data if they want to
use a certain device or service
This article examines whether a term of use clause mak-
ing use of a device or service conditional on consenting to
data collection through the device is compatible with Arti-
cle 7(4) GDPR (II)2 Therefore it recalls the principle of
consent as a legal ground for processing (II1) and con-
siders under which conditions conditional consent is
freely given (II2) Thereby the article takes into account
the question whether a real choice of the user is denied
due to an imbalance of power I will argue that the imbal-
ance of power arises due to the form of the contract which
gives no opportunity for renegotiation (II21) I argue that
positive incentives to give consent cannot be considered
inadmissible force (II22) whereas factual dependency
and a lack of alternatives prevent free consent (II23)
Further I argue that withdrawing consent will most likely
lead to detriment and thus consent is invalid (II24) This
article will also show that data processing often is not nec-
essary for the contract and thus consent is very likely to
be invalid (II25) I will conclude that in many situations
conditional consent is not freely given under Art 7(4)
(II3)
In a second step I will discuss other safeguards of the
GDPR applying in this scenario (III) Those are especially
the principles of data processing namely the principle of
1 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regulation
(GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 2 All articles cited in the following are articles of the GDPR if not indicated
otherwise 3 Art 6(1) GDPR 4 Art 6(1)(a) GDPR For general information about consent as a justifica-
tion see D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford and Portland Oregon (2007) p 61 ff
purpose limitation (III1) data minimisation (III2) and ac-
countability (III3) I will conclude that consumers are not
always sufficiently protected by those safeguards from a
situation where they might be ldquoselling their soul for Netflixrdquo
(III4)
Hence the article considers other regulatory constraints
such as strengthening the rights of the user through con-
sumer protection law that are necessary in order to protect
users (IV)
After all I will find most of the conditional consents are
probably invalid and thus do not constitute a legal ground
for processing Currently the situation of the data subjects
in practice is not enhanced by the invalidity but the legal
situation has to be improved (V)
B Consent - when can conditional consent be
considered freely given
I Principle of consent as a legal ground for
processing data
Following the rule and exception doctrine of the GDPR pro-
cessing data is always considered unlawful except if one of the
legal grounds of Art 6 applies3 The legal ground considered in
this article is consent Data processing is lawful when the data
subject gave consent to it4 Very often consent will be given by
accepting privacy policies5 It is questionable if and under
which circumstances processing of personal data can be based
on consent in the special situation when consent is a condition
for using a device or service such as smart TVs Fitbits or Net-
flix
To illustrate the findings of this article I will use the online
service Netflix as an example Nevertheless the general find-
ings made in this article can be applied to any other kind of in-
ternet-connected device or online service if its use is conditional
on giving consent6
5 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 They state
The controller can achieve this either by way of contractual means (by
stating in the contract that it will only be performed if consent for certain processing is provided) or through technical means (eg through an app
which does not install or function if consent is not provided) 6 The problem of conditional consent arises also in context with tracking
walls when consent has to be given in order to be able to get access to a
website See therefore F J Zuiderveen Borgesius S Kruikemeier S C
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 26
II Freely given conditional consent - nearly
impossible due to imbalance of power
Consent is any freely given specific informed and unambigu-
ous indication of the data subjectrsquos wishes by which he or she
by a statement or by a clear affirmative action signifies agree-
ment to the processing of personal data relating to him or her7
This definition confirms that giving consent is an expression of
self-determination8 Out of those requirements for valid consent
the words freely given are of special interest in cases where
consent is conditional for the performance of a contract or for
providing a service
In those constellations the user is in an especially vulnerable
position and extremely likely to give consent to the use of per-
sonal data Whether consent that is conditional for the perfor-
mance of a contract or providing the service is really given
freely has to be considered carefully with special relevance9
As Recital 43 lines out consent should not provide a valid legal
ground for the processing of personal data in a specific case
where there is a clear imbalance between the data subject and
the controller10 The purpose of Art 7(4) is to ensure that con-
sent to the processing of personal data which is necessary for
conducting the contract or service is not bundled with consent
to data processing which is not necessary for the contract11
Nevertheless it does not contain an absolute ban that condi-
tional consent can be given freely but it has to be considered
with the utmost scrutiny for each case depending on the con-
text and circumstances
So to come back to our case the question arises whether
there is an imbalance of power between the user and the control-
ler (eg Netflix) that could preclude free consent A clear imbal-
ance is assumed in relation with public authorities and employ-
ers12 In this case the imbalance of power due to subordination
is apparent The question is whether the same degree of imbal-
ance can be established between the producers of smart devices
or providers of online services and their users
1 Imbalance expressed by form contract
First of all it has to be considered that the terms of contract usu-
ally cannot be renegotiated as they are part of a form contract
The two contracting parties are not at eye level but the user is
Boerman N Helberger Tracking Walls Take-It- Or-Leave-It Choices the GDPR and the ePrivacy Regulation (2017) European Data Protec-
tion Law Review pp 353-368 7 GDPR Art 4(11) Relevant Recitals of the GDPR are Recital 32 and 33 8 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 169 9 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 218 10 Recital 43 GDPR 11 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 B Kostić E Vargas Penagos The freely given
consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computer-
recht p 218 12 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 7 Recital 43 S 1 GDPR 13 See for this opinion also M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data
Protection through Consumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Re-
view Vol 5 Issue 1
in a weaker bargaining position and does in fact not have the
possibility to introduce his own interests into the contract The
user only has the possibility to accept the terms or not to con-
clude the contract13 This so called structural power of the con-
troller limits the private autonomy of the user14 Thus it appears
that the form of the contract and the way by with the contract is
concluded (namely without any possibility to negotiate or adjust
it) already implies an imbalance of power15
2 Imbalance due to lack of real choice - Impact of
negative and positive forces
Secondly an imbalance exists when the user has no real choice
whether or not to give consent Only if such a real choice exists
the consent is valid
For having a genuine and free choice consent has to be given
without external force Force can be negative in the form of
threat making a consent invalid but there is also positive force
which is an act of force that intends to influence the individual
in a positive way such as an inducement16 Positive force does
not itself make consent invalid and can be considered a weaker
kind of force Those influences can eg be of financial emo-
tional or practical nature17 Consent is still freely given even
when a small degree of positive pressure is exercised on the in-
dividual18 This is rather a resistible offer than an actual
threat19 An example is a shopping discount in return to using a
bonus card collecting user information It can be hard to draw a
line between a simple incentive and a real influence on the free-
dom of choice of the data subject20
But in the case of smart devices or online services the pres-
sure exerted on users to consent is not negative force but rather
positive force as the consent establishes the possibility to gain
access to a service or use a special device It expands the free-
dom of action of each user by giving the opportunity to use the
device or service There is an incentive to give consent in order
to use the device which is making life easier but that could also
be resisted This positive force as such does in my opinion not
amount to a limitation of the freedom of will and does not estab-
lish an imbalance of power
3 Imbalance due to lack of choice - Impact of factual
14 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
3 15 The article comes back to this issue and gives an answer how this prob-
lem could be tackled through consumer law See below at V 16 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 172 On unforced choice see also D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford
and Portland Oregon (2007) pp 131 f 17 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14 18 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 173 19 R R Faden T L A Beauchamp A History and Theory of Informed Con-
sent (1986) p 340 20 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 27
dependency and lack of alternatives
But even without negative force consent can still be unfree if
there is a factual dependency on the device or service and a lack
of alternatives If the service or device it is indispensable it is
likely that there is a relationship of dependency between the
controller and the data subject and thus there is no balance of
power21 This is even more likely if a controller does have a
monopoly22
Users clearly always have the choice not to use the device or
service at all Many modern electronic devices such as smart
watches Fitbits or smart TVs can (still) be replaced by devices
not connected to the internet and thus not requiring personal data
(like traditional watches TVs DVDs) In the current status of
the society people are not completely relying on internet-con-
nected devices So if there is an alternative on the market that
does not require personal data a free choice might be given23
Maybe this changes within the next centuries but right now
there is no dependency on smart devices or online services com-
parable to the dependency to your employee or public authori-
ties So from this point of view the data subject has a free
choice whether or not to give consent
But the question is how realistic it is that this choice can be
made against the use of smart devices or services It has to be
seen that in our modern society users are largely depending on
the use of electronic devices and services (such as laptops
smartphones or tablets) for example for school university and
work but also for their social and private life Choosing not to
use certain devices or services means excluding oneself from
many advantages benefits and possibilities The everyday use
of data processing devices will even increase in the future24
However the Article 29 Working Party in contrast takes a
different starting point It asks for a data-processing-free
choice within one controller and not a choice between different
market players25 The performance or conduct of a contract must
not depend on consent to data processing even if the user could
have access to an equivalent and reasonable service somewhere
else at the market where the user does not need to give consent
to data processing26 This seems convincing as otherwise the
freedom of choice would depend on the existence of equivalent
services or devices by other market players which is outside the
area of influence of the controller27 The choice is not between
21 A Golland Das Kopplungsverbot in der Datenschutz-Grundverordnung
Anwendungsbereich oumlkonomische Auswirkungen auf Web 20-Dienste
und Loumlsungsvorschlag (2018) Multimedia und Recht p 132 22 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 43 23 See for this view the example 31 on External choice in B Kostić E
Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision
under the GDPR (2017) Computerrecht p 222 24 See for more information and examples C Storr P Storr New Technol-
ogy Big Data and the Law The internet of things Right to Data from a
European Perspective (2017) pp 65 - 96 25 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9 f 26 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 45 27 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9
use or not use the device or service but between use one and
the same device or service with or without data processing28
This more user-friendly approach would require each control-
ler to offer an alternative to the conditional use of data So if
two versions of a product or service are offered eg a more ex-
pensive version where you do not have to give consent to data
processing the data subject has a real choice whether he or she
wants to pay with their data or not29
This approach can be criticized as consent in those cases
would technically speaking not be conditional anymore as the
service or device can also be used without the consent30 Offer-
ing two options would make conditional consent obsolete But
in my opinion this criticism mistakes that each of the two pos-
sible choices (pay more without data processing or pay less with
data processing) has to be considered separately When the user
decides not to pay money for the use of a service but to give
consent to the use of its data the consent in this particular situ-
ation is conditional But the user has a free and genuine choice
to get the same service without giving consent to data pro-
cessing
I conclude that in many cases a real choice has to be doubted
There might in some cases be a factual dependency on the de-
vice or service But even if there is no factual dependency there
is often a lack of real choice if the controller does not an offer
data-processing-free alternative
4 No free will due to detriment when withdrawing the
consent
Furthermore consent is only valid if it can be refused or with-
drawn without detriment31 Vice versa it is unfree if the user is
penalised or suffers detriment when withdrawing consent Pos-
sible detriment can be deception intimidation coercion or sig-
nificant negative consequences32
For better clarity Art 29 Working Party gives an example
constituting detriment33 In this example a lifestyle phone app
wants to get information about the movements of its users using
the accelerometer of the phone This data is not necessary for
the app to work Once the consent to use the accelerometer is
withdrawn the app only works to a limited extend This amounts
to detriment under Recital 42 GDPR and thus consent was not
valid
28 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 with further references 29 This opinion is also shared by L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU Gen-
eral Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 30 See for this criticims L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General Data
Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 31 Recital 42 last sentence 32 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 10 already Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition of Consent p 12 regarding consent
under Art 2 h DPD Art 2 lit h DPD stated Consent can only be valid if
the data subject is able to exercise a real choice and there is no risk of de-ception intimidation coercion or significant negative consequences if
heshe does not consent 33 See Example 8 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p 11
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 28
So in the case of smart devices and services their restriction
in use after withdrawing consent amounts to detriment If a user
does not give consent to data processing by his or her internet-
connected TV the TV cannot be used in the first place This
means the owner cannot use his or her property thoroughly And
if the consent is withdrawn later the TV can most probably not
be used anymore It is thus very likely that in most cases of con-
ditional consent detriment (eg regarding the usage of their
property) will happen meaning that the consent is not freely
given
5 Is consent not freely given when data processing
(or consent) is not necessary for performing the
contract
Art 7(4) states that for considering whether consent has been
given freely ldquoutmost account shall be taken of whether (hellip) the
performance of a contract (hellip) is conditional on consent to the
processing of personal data that is not necessary for the perfor-
mance of the contract Additionally Recital 43 S 2 GDPR pre-
sumes that consent is not given freely when consent is not nec-
essary for the performance34 The burden of proof to disprove
this assumption lies with the controller35
Considering the wording of Art 7(4) it is somewhat unclear
whether the words ldquothat is not necessaryrdquo relate to ldquoconsentrdquo or
to ldquothe processing of personal datardquo Comparing the English and
the German versions of the GDPR it catches the readerrsquos eye
that the German version quite explicitly relates the necessity-
requirement to the processing of personal data that is not nec-
essary for the performance of the contract (the translation would
literally be whether ldquoit is conditional on consent to the pro-
cessing of various36 personal data that are not necessary for the
performance of the contractrdquo)37 This difference in the German
version is regarded as being a translation error by some authors
claiming that the validity of consent should be considered de-
pending on whether consent is necessary for the performance of
the contract38 This finding also seems to be supported by Re-
cital 43 S 2 Recital 43 S 2 assumes that consent is not freely
34 Recital 43 sentence 2 GDPR Consent is presumed not to be freely given
() if the performance of a contract including the provision of a service
is dependent on the consent despite such consent not being necessary for
such performance 35 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 219 f 36 various was added by the author to clarify that personal data is in the
form of plural in the German text 37 Art 7(4) DSGVO bdquoBei der Beurteilung ob die Einwilligung freiwillig
erteilt wurde muss dem Umstand in groumlszligtmoumlglichem Umfang Rechnung getragen werden ob unter anderem die Erfuumlllung eines Vertrags ein-
schlieszliglich der Erbringung einer Dienstleistung von der Einwilligung zu
einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhaumlngig ist die fuumlr die Erfuumlllung des Vertrags nicht erforderlich sindldquo
38 This opinion is taken in L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General
Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 39 This is also the leading opinion in literature see eg P Voigt A von dem
Bussche The EU General Data Protection Regulation (GDPR) A Practi-
cal Guide (2017) p 96 40 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 41 This conclusion is also in line with the interpretation of Art 29 Data Pro-
tection Working Party Guidelines on Consent under Regulation 2016679
p 9
given if the performance of a contract including the provision
of a service is dependent on the consent despite such consent
not being necessary for such performance
However to base an interpretation on an alleged translation
error is not convincing Following a teleological approach in-
stead it is more likely that it plays a role whether data pro-
cessing is necessary and not whether consent is necessary39 The
purpose of Art 7(4) is to ensure that personal data processing is
not disguised nor bundled with the provision of a contract of a
service for which these personal data are not necessary40 Vice
versa if data processing is indeed necessary to perform the con-
tract or service Art 6(1)(b) will already be a legal ground for
processing So Art 7(4) in fact only applies to data processing
that is not necessary for the contract or service41
It is thus decisive whether the data processing is necessary
for the performance of the contract42
The meaning of necessary in Art 7(4) could be the same as
in Art 6(1)(b)43 Thereby a strict interpretation should be ap-
plied excluding everything that is ldquonot genuinely necessary for
the performance of a contract but rather unilaterally imposed on
the data subject by the controllerrdquo44 There needs to be a direct
and objective link between the processing itself and the purposes
of the contractual performance expected from the data45 So in
order to assess what is necessary the scope of the substance
and fundamental objective of the contract has to be consid-
ered46 This does not mean that processing is necessary for the
contract just because it is mentioned in the contract47 But pro-
cessing is necessary if it is a targeted and proportionate way of
achieving the purpose of the contract and it is not necessary if
the controller can reasonably achieve the purpose by some
other less intrusive means48 An example for necessary data
processing eg is the processing of credit card details in order to
conduct payments49
But let us take a closer look to the example of Netflix50 Net-
flix uses a lot of information such as demographics location
42 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7 subparagraph 41
43 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 44 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 45 Art 29 Data Protection Working Party Opinion on recent developments
on the Internet of Things p 15 46 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 47 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 48 ICO Guide to the General Data Protection Regulation (GDPR) Lawful
basis for processing August 2018 p 5 49 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 50 The information used here is taken from Netflix Privacy Policy available
at httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policy last access on
141218
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 29
language movie queues made by users ratings but also inter-
actions of the users such as scrolls mouse-overs clicks or the
time spent on a given page51 All this data is used to optimize
the user experience and give custom-fit recommendations in or-
der to make the user spend more time on Netflix The recom-
mendation system Netflix has is one of its main business driv-
ers52 But data is also shared with processing partners for adver-
tisement purposes53 It can be argued that the recommendation
of movies is also part of the contract between the user and Net-
flix This would be the case if the user and Netflix agree that
the recommendation is part of the service offered by Netflix In-
deed many users might appreciate the recommendations If this
is the case then the right legal ground for data processing would
not be consent but contract54
Following Art 29 Working Party building a profile of the
users tastes (hellip) based on his clickstream on a website is not
covered by the contract on delivering a certain good or service55
The purpose of the service (Netflix) is to offer access to movies
and series in return for a monthly payment Netflix can also offer
videos without knowing the personal preferences viewing hab-
its or location of the user All additional data that is eg used for
advertisement purposes is not needed for the contractual obli-
gations Thus a lot of data that Netflix processes is not neces-
sary and thus consent is presumed to be not freely given and thus
invalid56
III Conclusion
It has been shown that conditional consent has to overcome
many obstacles in order to be valid It is very likely that condi-
tional consent under Art 7(4) is not valid due to an imbalance
of power due to the form of the contract and the lack of a real
choice This is not only the case when a user depends on the
devices or services A lack of choice also exists if within one
market player there is no data-processing-free option Addi-
tionally when the withdrawal of consent for data processing that
is not necessary for the contract leads to a restriction of the use
of the device or the service consent is not freely given
In the end there is the presumption that conditional consent
to processing that is not necessary for the contract is unfree The
processing consented to is most of the time not necessary for the
contract Then consent is invalid meaning the processing bears
a legal ground and thus is illegal
51 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p4 52 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p2 53 see Netflix Privacy Policies available at httpswwwwhats-on-net-
flixcomprivacy-policygdpr-information last access on 141218 54 Art 6(1)(b) GDPR 55 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 56 Recital 43 S2 GDPR 57 Art 5 GDPR 58 Art 5(1)(b) GDPR
C Other safeguards of the GDPR
Nevertheless if data is processed by the controller there are still
other safeguards protecting personal data namely the principles
for data processing57 Those are the principles of lawfulness
fairness and transparency purpose limitation data minimisa-
tion accuracy storage limitation integrity and confidentiality
and accountability Of special interest regarding conditional
consent are the principles of purpose limitation data minimisa-
tion and accountability
I The principle of purpose limitation
The principle of purpose limitation stipulates that data can only
be collected for specified explicit and legitimate purposes and
shall not be further processed in a manner that is incompatible
with those purposes58 The aim of this principle is that the us-
ers know what the data is used for Only than they can make an
informed decision whether to give consent to data processing59
There is a close connection to the necessity requirement of Art
7(4) because there the purpose of the contract has to be consid-
ered as well60
The purpose of data processing has to be specified whereby
the level of detail should be considered on a case-to-case basis
in order to tell the user why the data is processed and what is
intended to be done with it61
As a result of the purpose limitation principle many services
have published their purposes in their privacy policies It has to
be examined critically whether the outlines purposes are de-
tailed enough Controllers will tend do give as little detail as
possible Eg in the case of Netflix you will find some cryptic
purposes like to enhance costumer experience and to fulfil an
obligation under law or contract62 So in theory purpose limita-
tion seems to be a good safeguard which in practice might easily
fail
Further purpose limitation might not be enough of protec-
tion as it is limited itself If data shall be reused then the con-
troller shall take into account various factors eg the terms of
contract (Art 6(4)(b)) But shall is not giving the same level
of protection as if the controller must take those into ac-
count63
II The principle of Data minimisation and right to be
forgotten
The principle of data minimisation64 means that the amount of
collected personal data must be adequate relevant and limited
59 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 032013 on purpose limi-
tation p 46 at the end 60 Art 29 Working Party 2014 Opinion 062014 on the notion of legitimate
interests of the data controller under Art 7 of Directive 9546EC p 17 61 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 89 62 Netflix Privacy Policy How we use your personal data availabe at
httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policygdpr-processing last accessed 141218
63 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review p 5 64 Art 5(1)(c) GDPR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 30
to what is necessary in relation to the purpose for which they are
processed65 Personal data should be processed only if the pur-
pose of the processing could not reasonably be fulfilled by other
means66 What is adequate and relevant depends on the specific
purpose for processing so this principle is linked to the principle
of purpose limitation
Consent for processing that is not necessary for the perfor-
mance of the contract has to be scrutinized67 Whether pro-
cessing is necessary depends on whether it is adequate relevant
and limited to what is needed to achieve the determined purpose
Art 7(4) thus enforces the principle of data minimisation by its
necessity-requirement
Additionally data processing that cannot be consented to due
to Art 7(4) and thus has no legal ground The data subject
whose data have been processed without a valid legal ground as
a consequence of has the right to be forgotten68 which means
that the data has to be deleted
The principle of data minimisation thus is already inherent in
Art 7(4) As an infringement of this principle in context with
Art 7(4) will probably make the legal ground of consent invalid
controllers are well advised to be in compliance with this prin-
ciple
III Principle of accountability
The principle of accountability means that the controller is
responsible for compliance with data processing under the
GDPR69 It also includes a material obligation to demonstrate
compliance70 One expression of this obligation is that the bur-
den of proof whether free consent has been given lies with the
controller71
In the case of conditional consent consent is presumed not to
be freely given if it is not necessary for the performance of the
contract72 This means that the burden of proof in cases of con-
ditional consent is on the controller It has to proof that consent
was freely given and is thus valid The controller will only be
able to proof this that consent is valid if the consent is neces-
sary for the contract
IV Conclusion - are consumers sufficiently
protected from a situation where they might be
ldquoselling their soul for Netflixrdquo
This article has discussed the different scenarios in which con-
ditional consent is not valid due to Art 7(4) The data processing
65 Art 5 (1)(c) GDPR and also Recital 39 GDPR ICO Guide to the General
Data Protection Regulation (GDPR) Principle Data minimisation availa-ble at httpsicoorgukfor-organisationsguide-to-the-general-data-protec-
tion-regulation-gdprprinciplesdata-minimisation last access on
141218 66 Recital 39 GDPR 67 Art7(4) GDPR 68 Developed by ECJ ruling of 13 May 2014 Google Spain C-13112 Now
also in Art 17 Sec 1 lit a-f GDPR 69 Art 5(2) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010
on the principle of accountability p4 70 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010 on the principle of
accountability at Nr 41
principles shall give additional protection As Art 7(4) already
includes a lot of those principles indirectly I conclude that they
hardly add a higher level of protection
Even though the consent is invalid in many cases of condi-
tional consent and controllers thus have no legal ground for pro-
cessing this does not stop controllers from using consent as a
legal basis for a lot of data processing Due to the overwhelming
power of large companies acting as controllers users do not
have a choice and often feel like they have to give their consent
even though the consent is invalid Eg it has been shown that
from the perspective of the majority of people in Europe there
is no alternative than to provide personal information if you
want to obtain products or services73 Users will probably not
even be aware that their consent is invalid The asymmetry in
power of the user and the controllers hinders an uproar of the
users against this practice Also it is in the interest of the users
to have access to the service or use the device It does not serve
their interests that the law just declares the consent invalid with-
out any further actions following
D Lack of consumer protection - what other
regulatory safeguards should be considered
But how could this lack of consumer protection be tackled One
could argue that market forces themselves will develop a higher
level of protection of personal data meaning that users would
prefer services that use less data But this is a very unlikely sce-
nario as many different factors come into play when a user
chooses a certain device (such as prize availability personal
preferences)74 Also reality has shown that the market fails to
protect privacy So there is an urgent need for the legislator to
increase consumer protection
A possible regulatory constraint could be that controllers are
obliged to offer two versions of a service or device of which
one does not process unnecessary data but charging a fee75 But
a legal obligation to offer two versions would be an interfer-
ence with the principle of party autonomy and freedom of con-
tract of the controller and thus would has to be justified76
A different legal constraint could be to combine EU con-
sumer protection and data protection law forming a data con-
71 Art 7(4) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p9 72 Recital 43 GDPR 73 Special Eurobarometer 431 Data Protection June 2015 p 30 available
at eceuropaeucommfrontofficepublicopinionar-chivesebsebs_431_enpdf last access 141218
74 J Rauhofer Judith ldquoOne Step Forward Two Steps Back Critical observa-
tions on the proposed reform of the EU data protection frameworkldquo Jour-nal of Law and Economic Regulation (2013) Vol 6 No 1 2013 p 69
75 W Kerber Digital markets data and privacy competition law consumer
law and data protection (2016) Journal of Intellectual Property Law amp Practice p 862
76 Art 8 ECHR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 31
sumer law which could be beneficial especially as the con-
sumer market is more and more data driven77 Data protection
law deals with fair processing and protection of fundamental
rights and consumer protection law shall empower consumers
in situations where they have low bargaining power78 The lack
of power is the reasons why the users rights are not sufficient
to protect their privacy in practice A stronger interplay of data
protection and consumer law could strengthen the autonomy of
the users
As noted above it is not very helpful for the user if the data
processing is unlawful but no consequences follow This would
be different if the unlawfulness would result in concrete rights
for the user If a Smart-TV unlawfully processes data (eg be-
cause the consent is invalid) or cannot be used because the user
refuses to give consent an effective solution for the user would
be to have the right to return the TV79 Consumer law could in-
crease the options of users by offering remedies and strengthen
their market power80
Consumer law could further be used to assess the fairness of
terms and conditions on personal data and limit the possibility
of the controller to impose terms on the users81 This would be
possible as processing data is not considered the main subject
matter of the contract82 The conditions of the contract could be
assessed and conditional consent is probably likely to lead to
an unfair situation as the lack of real choice would be against
good faith83 As a consequence controllers cannot impose un-
fair terms on their users
E Conclusion and Prospect
I conclude that in the case of smart devices or online services
where consent is conditional to use them the consent is likely to
be invalid for various reasons It has been shown that the user
has no real choice due to an imbalance of power between him or
her and the controller This imbalance arises from the lack of the
possibility to renegotiate terms and conditions and from the lack
of data-processing-free alternatives Further consent is not free
as withdrawing will lead to detriment And consent is presumed
not to be valid in the many cases where data processing is not
necessary for the contract Other safeguards namely the data
processing principles of purpose limitation data minimisation
and accountability fail to add any additional protection as they
are already included in Art7(4) I also conclude that the effect
of invalidating the consent is of very little help for the data sub-
ject
77 This is eg suggested by N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1428 78 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-
tion law (2017) Common Market Law Review p 1436 79 See for this example N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-
sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1440 80 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
It is therefore essential having in mind the importance of data
protection as a fundamental right84 and the exploding amount of
data processed to consider other legal constraints for the future
The weak point of data protection and the GDPR in my view is
the lack of remedies that are really useful for the data subject
A combination with consumer law could help to protect the data
subjects rights more efficiently The article has exemplified two
points Consumer law could be used to apply its fairness test to
the contract involving data processing between the data subject
and the controller limiting the possibilities of the controller and
thus balancing the difference in power And it could be used to
create remedies such as a right to return a device that cannot be
used without illegal data processing
Overall Art 7(4) has the best intentions to protect data sub-
jects but further steps need to be taken to transfer those good
intentions into the reality of data subjects
Die Autorin hat im Fruumlhjahr 2018 die erste juristische Staatspruumlfung an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau abgelegt Derzeit absolviert sie ein LLM-Studium in Intellectual Property Law an der University of Edinburgh Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Seminares Data Protection and Information Privacy auf Grundlage einer dort gestellten Essay-Frage entstanden
7 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1449
81 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1451 Monopolkom-
mission Competition Policy The challenge of digital markets Special Re-
port No 56 at para 341 82 This is at least the case in the Digital Content Directive 83 Art 3(1) of the Unfair Contract Terms Directive 84 Art 7 Charter of Fundamental Rights
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 32
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo
-Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK-
-
Sarah Baukelmann
Abstract
Der Fall Gaumlfgen hat die deutsche sowie die europaumlische
Rechtsprechung vor eine Herausforderung gestellt Die
abweichenden Meinungen der einzelnen RichterInnen1 in
den zwei ergangenen Urteilen zeigt das Dilemma mit dem
sich die fuumlnfte Kammer und die Groszlige Kammer des
EGMR konfrontiert sahen In diesem Fall wurde der Taumlter
zum Opfer der polizeilichen Vernehmungsmethode Frag-
lich ist unter welchen Voraussetzungen ein Straftaumlter sich
selbst als Opfer der Justiz bezichtigen kann Und wie geht
der Gerichtshof mit diesem Fall um der methodologisch
normativ und moralisch an die Grenzen des Rechts und
der bisherigen Rechtsprechung stoumlszligt Vorweg sei gesagt
nicht einheitlich
Diese Arbeit hat zum Ziel den Umgang die Methodik und
das Ergebnis zu beleuchten
A Einleitung I Fakten
Gefasst wurde der 27-jaumlhrige Student der Rechtswissenschaften
Magnus Gaumlfgen am Nachmittag des 30 Septembers als er ei-
nen mit Loumlsegeld bezahlten gemieteten Mercedes abholen
wollte2 Die Polizeibeamten die unter der irrtuumlmlichen An-
nahme standen dass das Entfuumlhrungsopfer Jakob noch am Le-
ben sei befragten den mutmaszliglichen Taumlter bis 1Uhr nachts
Am Morgen des 01Oktobers 2002 bevor der leitendende
Hauptkommissar seinen Dienst antrat fuumlhrte der Kriminal-
hauptkommissar Ennigkeit das Verhoumlr Zu diesem Zeitpunkt
wurde der Elfjaumlhrige schon seit vier Tagen vermisst Er drohte
Gaumlfgen auf Anordnung des Vizepraumlsidenten der Frankfurter Po-
lizei Daschner mit der Zufuumlgung von massiven Schmerzen von
1 In dieser Arbeit wird wenn es sich um Maumlnner und Frauen handelt die ver-
kuumlrzte Form der Beidnennung verwendet um geschlechtersensibler und in-klusiver Sprache gerecht zu werden
2 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 82 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 3 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 96 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018)
einer speziell fuumlr diese Zwecke ausgebildeten Person wenn er
den Aufenthaltsort des Kindes nicht preisgebe3 Von Angst mo-
tiviert nannte der Beschuldigte nach etwa zehn Minuten die
Fundstelle der Leiche
Magnus Gaumlfgen wurde am 28072003 wegen Mordes in Tat-
einheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und
wegen falscher Verdaumlchtigung in Tateinheit mit Freiheitsberau-
bung in zwei Faumlllen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamt-
strafe verurteilt Zudem wurde die besondere Schwere der
Schuld festgestellt4
Die Polizeibeamten wurden wegen Noumltigung im Amt und
wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Noumltigung im
Amt fuumlr schuldig befunden und gegen beide Angeklagte eine
Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen Geldstrafen von
60 bzw 90 Tagessaumltzen zu je 60 Euro fuumlr Ennigkeit und 120
Euro fuumlr Daschner wurden hinsichtlich der Verurteilung ver-
haumlngt5
II Was und Warum
Die folgenden gerichtlichen Verfahren stellen in nur mehr als
einer Hinsicht bdquoGrenzfaumllleldquo sowohl fuumlr die deutsche als auch
die europaumlische Justiz dar die Exekutive uumlberschreitet ihre
rechtlichen Grenzen die Strafprozesspflege stoumlszligt an die Gren-
zen des Beweisverwertungsverbots und dessen Fernwirkung
der europaumlische Gerichtshof fuumlr Menschenrechte sieht sich mit
der Grenze des Grundrechtsschutzes insbesondere dem Verbot
der Folter und der Verfahrensgarantie des fairen Verfahrens
konfrontiert Kontrovers wird die Causa Gaumlfgen nicht nur in den
allgemeinen Medien diskutiert sondern ebenso im rechtswis-
senschaftlichen Diskurs6 Besonders deutlich wird dies anhand
der abweichenden Meinungen in den Urteilen des EGMR
III Wie
Die Disparitaumlt der Urteile sowie die -herrschenden und abwei-
chenden- Meinungen bezuumlglich der Rechtsfrage um den Entfall
4 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Tenor abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 5 LG FrankfurtM Urt v 20122004 ndash 527 KLs 7570 Js 20381403 (404) in
NJW 2005 S 692 (693) 6 Vgl aus dem umfangr Schrifttum zit nach Heinrich Goumltz Das Urteil gegen
Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes in NJW 2005
S 953 (953)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 33
der Opfereigenschaft und der Fairness des Verfahrens gilt es in
der Ausarbeitung dazustellen Zur Erreichung dessen ist es not-
wendig die Hintergruumlnde zu beleuchten und den Ablauf der
Verfahren auf deutscher Seite wiederzugeben
Daruumlber hinaus ist im anschlieszligenden Vergleich unter Her-
anziehung vergangener Rechtsprechung des EGMR der Ver-
fahrensgang nach Straszligburg zu beleuchten und zu erlaumlutern
Durch eine tripartitaumlre Darstellung (bisherige Rspr-EGMR I-
EGMR II) laumlsst sich das Urteil der Groszligen Kammer besser ta-
xieren und ein Gesamtergebnis zusammenfassen
B Hauptteil
I Deutscher Verfahrensgang 1 Urteil des LG Frankfurt
Anfaumlnglich erklaumlrte Gaumlfgen den Tod Jakobs nicht geplant zu
haben Nach eingehender Belehrung uumlber die Konsequenzen ei-
ner Aussage hat Gaumlfgen sich in der Hauptverhandlung aus freien
Stuumlcken erneut umfaumlnglich eingelassen und raumlumte letztlich je-
doch ein dass er bereits von Anfang an geplant hatte das Kind
zu toumlten und in dieser Absicht gehandelt habe Er umschrieb
sein Gestaumlndnis dann als den einzigen Weg seine schwere
Schuld zu akzeptieren und als die groumlszligtmoumlgliche Entschuldi-
gung fuumlr den Mord an dem Kind
Das Gericht stellte fest dass sich Gaumlfgen des Mordes schul-
dig gemacht hat und dabei mit direktem Vorsatz gehandelt hat
Ferner folgte die Feststellung von drei Mordmerkmalen Heim-
tuumlcke Habgier und Verdeckungsabsicht Der Taumlter wollte sich
die Maske seines luxurioumlsen Lebens aufrechterhalten Seine Op-
ferauswahl basierte auf der Vermoumlgenslage der Eltern sodass
eine hohe Loumlsegeldforderung realistisch blieb Hauptmotiv war
damit ein Gewinnstreben mit dem der Angeklagte ruumlcksichtslos
die Existenz eines Menschen opferte welches nur als abstoszligend
gewertet werden kann Auch ging es Gaumlfgen darum zu verde-
cken dass er sich des erpresserischen Menschenraubs strafbar
gemacht hat Daher toumltete er den einzigen Zeugen und Opfer die-
ser Straftat Das Fehlverhalten der Exekutive also der Polizei-
beamten koumlnne die rechtsprechende Gewalt nicht daran hin-
dern die Tatsachenfeststellungen nach Recht und Gesetz zu be-
werten und zu beurteilen
Die Kammer hat die Schwere der Schuld aufgrund einer zu-
sammenfassenden Wuumlrdigung von Tat und Taumlterpersoumlnlichkeit
unter Abwaumlgung der fuumlr und gegen den Angeklagten sprechen-
den Gesichtspunkte bejaht Als Gesamtstrafe ist eine lebens-
lange Freiheitsstrafe anzuerkennen
7 BGH Urt v 21052004 ndash 2 StR 3504 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrr2042-35-04php (Abrufdatum 09082018) 8 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (656) 9 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 10 Vgl BVerfG Beschl v 2742000 ndash 2 BvR 7594 in NJW 2000 S 3557
2 Verfahren Bundesgerichtshof
Gaumlfgen legte daraufhin Revision beim BGH in Karlsruhe ein
der diese jedoch mit der Begruumlndung dass die Nachpruumlfung kei-
nen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe7
als unbegruumlndet ablehnte
3 Verfahren Bundesverfassungsgericht
Es folgte eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen die Ent-
scheidungen des LG und des BGH wandte in der Gaumlfgen die
Verletzung von Art 1 I GG sowie Art 104 I 2 GG ruumlgte da die
Behandlung der Polizei in Anbetracht seiner damaligen psychi-
schen und physischen Verfassung sowie des planmaumlszligigen
durch die Polizeihierarchie abgesicherten und von dem ernsthaf-
ten Willen zur (spurenlosen) Umsetzung getragenen Vorgehens
Folter iS des Art 3 EMRK gewesen sei8
Das BVerfG entschied dass die Begruumlndung nicht den An-
forderungen des Vorbringens gem sectsect 23I 2 92 BVerfGG ent-
spreche da es zum einen an der Darlegung der Grundrechtsver-
letzung durch die angegriffenen Maszlignahmen mangele und dass
die geltend gemachten Folge verfassungsrechtlich zwingend
sei9 Inwiefern die Ablehnung eines Verfahrenshindernisses die
verfassungsrechtlich verbuumlrgten Rechte des Beschwerdefuumlhrers
verletze10 hielt das BVerfG nicht fuumlr ausreichend dargestellt da
sich der Beschwerdefuumlhrer ausschlieszliglich gegen seine Verurtei-
lung durch das LG und auf die Verwerfung seiner Revision
durch den BGH11 beschraumlnke Die Verwertbarkeit der Beweis-
mittel betreffend wurde von beiden Gerichten das Beweisver-
wertungsverbot hinsichtlich der Aussagen gem sect 136a StPO an-
erkannt bzw die Fernwirkung desselbigen bzgl der Beweismit-
tel abgelehnt Die Verfassungsbeschwerde wurde mangels Zu-
laumlssigkeit abgelehnt
4 Amtshaftungsklage
Mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg lehnte das LG
Frankfurt den Anspruch auf Schadensersatz gegen das Land
Hessen ab Das OLG Frankfurt hat mit einem Beschluss v
2822007 die Ablehnung der Prozesskostenhilfe bestaumltigt12
II Europaumlische Rechtsprechung
Gaumlfgen als Beschwerdefuumlhrer hat sich an den EGMR gem Art
34 S 1 EMRK13 gewandt und behauptet dass er bei seiner poli-
zeilichen Vernehmung unter Verstoszlig gegen Art 3 gefoltert wor-
den sei Auszligerdem sei er in seinem durch Art 6 I garantierten
Recht auf ein faires Verfahren das ein Recht sich nicht selbst
zu bezichtigen einschlieszlige verletzt worden14 Sein Recht auf
Verteidigung sei ihm durch die Verwertung der Beweismittel
und des Gestaumlndnisses entzogen worden
11 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 12 OLG FrankfurtM Beschl v 2822007 ndash 1 W 4706 in NJW 2007 S 2494 13 Folgende Artikel ohne Kennzeichnung sind solche der EMRK 14 EGMR (V Sektion) Entschv 10042007 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland)
in NJW 2007 S 2461 (2462)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 34
1 Zulaumlssigkeit
Die Beschwerde ergibt fuumlr den Gerichtshof mit Hinblick auf
seine bisher erarbeiteten Rechtsprechungskriterien dass diese
Ruumlge nicht offensichtlich unbegruumlndet iS von Art 35 III ist
2 Verletzung von Art 3
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Schutz von Art 3 ist einer der wichtigsten und grundle-
gendsten Werte unserer demokratischen Gesellschaft15 Art 3
ist nicht einschraumlnkbar und gehoumlrt zu den Bestimmungen von
denen auch im Notstandsfall nicht abgewichen werden darf16
Auch wenn immer mal wieder die Frage der Abwaumlgung zwi-
schen den Risiken fuumlr die betroffene Person und der nationalen
Sicherheit auftauchte lehnte der Gerichtshof eine implizite Be-
grenzung strikt ab17 Selbst in den schwierigsten Umstaumlnden
wie im Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen
verbietet die Konvention Folter und unmenschliche oder ernied-
rigende Behandlung oder Bestrafung absolut ohne jede Aus-
nahme18 Daher hat es fuumlr Art 3 keine Bedeutung welche Straf-
tat dem Betroffenen vorgeworfen wird19
Um von Art 3 erfasst zu werden muss eine Misshandlung ein
Mindestmaszlig an Schwere erreichen Die Beurteilung dieses Min-
destmaszliges ist der Natur der Dinge nach relativ es ist abhaumlngig
von saumlmtlichen Umstaumlnden des Einzelfalls20 Der Zweck sowie
die Absicht und die Beweggruumlnde bilden Faktoren fuumlr die Ein-
ordnung der Behandlung21 So zum Beispiel die Erlangung eines
Gestaumlndnisses22 und der Kontext der fraglichen Behandlung23
Der Gerichtshof hat eine Behandlung als erniedrigend erach-
tet wenn sie dazu angetan ist bei den Opfern Gefuumlhle der Angst
Beklemmung und Unterlegenheit hervorzurufen die geeignet
sind sie zu demuumltigen zu entwuumlrdigen und moumlglicherweise ih-
ren koumlrperlichen oder geistigen Widerstand zu brechen24 Bei
der Beurteilung ob eine Bestrafung oder eine Behandlung er-
niedrigend iS des Art 3 ist wird das Gericht auch pruumlfen ob es
dem Zweck dient die betreffende Person zu erniedrigen und zu
benachteiligen und ob sie in Bezug auf die Folgen ihre Persoumln-
lichkeit in einer Weise beeintraumlchtigt die mit Art 3 unvereinbar
ist mit einer Behandlung die Gefuumlhle von Angst Angst und
Minderwertigkeit hervorruft die geeignet sind das Opfer zu er-
niedrigen oder zu entwerten und moumlglicherweise seinen physi-
schen oder moralischen Widerstand zu brechen oder das Opfer
15 EGMR Urtv 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 119 abrufbar unter
httphudocechrcoeintengi=001-58559 (Abrufdatum 2882018) 16 EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ 1997 S
1078 17 Vgl EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ
1997 S 1078 18 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 wwwhu-
docechrcoeintengitemid[001-58559] (Abrufdatum 15082018) 19 EGMR Urtv 2822008 - 3720106 (SaadiItalien) Rn 139-140 in NVwZ
2008 S 1330 20 EGMR Urt v 1811978 Rn 162 in EuGRZ 1979 Seite 149 21 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 88 (Abrufdatum 21082018)
22 EGMR Urtv 8121996 - 2198793(AksoyTuumlrkei) Rd 64 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-58003 (Abrufdatum 28082018) 23 EGMR Urtv 20122000 - 3087396 (EgmezZypern) Rd 78 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59100 (Abrufdatum 28082018)
zu veranlassen gegen seinen Willen oder Gewissen zu han-
deln25 Art 1 UN-Antifolterkonvention postuliert dass bdquowenn
eine Behandlung erfolgt um () ein Gestaumlndnis zu erlangen oder
um zu bestrafen einzuschuumlchtern oder zu noumltigenldquo es sich um
Folter handelt Die bloszlige Bedrohung mit einem durch Art 3 ver-
botenen Verhalten kann mit dieser Bestimmung in Konflikt ge-
raten Die Bedrohung eines Menschen mit Folter koumlnnte demge-
maumlszlig unter bestimmten Umstaumlnden zumindest eine bdquounmensch-
liche Behandlungldquo darstellen26 Hat jedoch ein innerstaatliches
Verfahren stattgefunden so ist es nicht Aufgabe des Gerichts-
hofs anstelle der innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt zu
wuumlrdigen und es obliegt in der Regel diesen Gerichten die
ihnen vorliegenden Beweise zu wuumlrdigen27
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die angedrohte Bedrohung
wenn sie erfolgt waumlre als Folter anzusehen waumlre und ist vor die-
sem Hintergrund der Auffassung dass der Bf waumlhrend der Be-
fragung am 1102002 einer nach der Konvention verbotenen
unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war28
c) EGMR II
Unter Beruumlcksichtigung der fuumlr die Beurteilung wesentlichen
Gesichtspunkte haben die gegen den Bf ausgesprochenen realen
und direkten Drohungen das Mindestmaszlig an Schwere erreicht
um das umstrittene Verhalten der Polizeibeamten in den Anwen-
dungsbereich von Art 3 zu bringen Das durch die Androhung
ausgeloumlste psychische Leiden dem der Bf ausgesetzt war ist
schwerwiegend genug um als eine nach Art 3 verbotene und
unmenschliche Behandlung gewertet zu werden aber nicht das
Niveau der Grausamkeit erreicht um sie als Folter zu bezeich-
nen29
d) Fazit
Die Verletzung von Art 3 wurde bereits von den innerstaatli-
chen Gerichten und der Kammer anerkannt Die Anwendbarkeit
von Art 3 insgesamt mithin das Vorliegen einer Behandlung
die dessen Tatbestand erfuumlllt begruumlndet die Groszlige Kammer aus-
fuumlhrlich und eng an den Kriterien der bisherigen Rspr ange-
lehnt30 Die Groszlige Kammer weicht mit dieser Einschaumltzung
nicht von ihrem vorherigen Rechtskurs ab31
24 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 abrufbar unter wwwhudocechrcoeintengitemid[001-58559 (Abrufdatum
15082018) 25 EGMR 342001 - 2722995 (KeenanUK) Rd 110 abrufbar unter wwwhu-
docechrcoeintengi=001-59365 (Abrufdatum 28082018) 26 EGMR Urtv 2521982 - 751176 (Campbell CosansUK) Rd 23 abrufbar
unter httphudocechrcoeintengi=001-57455 (Abrufdatum 28082018)
27 EGMR Urtv 2291993 - 1547389 (KlaasDeutschland) Rd 29 Serie A Bd
269 28 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 69 ff 29 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3146) 30 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 31 Fuumlr Beispiele als Einordnung von Folter siehe Christoph Grabenwarter Ka-
tharina Pabel Europaumlische Menschenrechtskonvention ein Studienbuch
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 35
3 Opfereigenschaft
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Gerichtshof verlangt fuumlr den Fortfall der Opfereigenschaft
1 dass der beklagte Staat den Eingriff aufhebt und anerkennt
dass eine Konventionsverletzung vorgelegen hat und 2 dass er
die Konventionsverletzung angemessen wiedergutmacht32 Eine
angemessene Wiedergutmachung der Konventionsverletzung
kann durch unterschiedliche Rechtsbehelfe bewirkt werden33
Im Zuge dessen hat der Gerichtshof festgestellt dass es nicht um
die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten
sondern um die voumllkerrechtliche Verantwortung des Staates
ginge34 Die Zustaumlndigkeit des Gerichtshofs beschraumlnkt sich auf
Letztere In sbquovergleichbarenlsquo Faumlllen wurde beanstandet dass
keinerlei disziplinarischen Maszlignahmen gegen die Staatsbe-
dienstete eingeleitet wurden35 sowie das Unterlassen einer Sus-
pendierung oder die Entlassung bei Verurteilung36
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die deutschen Gerichte die Kon-
ventionsverletzung ausdruumlcklich und der Sache nach anerkannt
haben37Zur Wiedergutmachung ist der Schuldspruch vom
20122004 gegen die Polizeibeamten zu nennen Unter Beruumlck-
sichtigung aller Umstaumlnde stellte der Gerichtshof fest dass der
Verstoszlig gegen Art 3 in der Androhung einer Misshandlung be-
steht (im Unterschied zu einer tatsaumlchlichen koumlrperlichen Miss-
handlung die die Schwelle fuumlr die Anwendbarkeit von Art 3
erreicht) Eine Wiedergutmachung fuumlr die Verletzung wurde
durch die wirksame Strafverfolgung und Verurteilung der ver-
antwortlichen Polizeibeamten mit der unzweifelhaft der Un-
rechtsgehalt der Misshandlung festgestellt wurde38 anerkannt
Diese Uumlberlegungen fuumlhren dazu dass der Bf nicht mehr be-
haupten kann Opfer einer Verletzung von Art 3 zu sein da die
innerstaatlichen Gerichte hinreichend Wiedergutmachung fuumlr
die gegen Art 3 verstoszligene Behandlung geleistet haben
c) EGMR II
Die Verletzung von Art 3 wurde durch die innerstaatlichen Ge-
richte ausdruumlcklich anerkannt Jedoch sei die Verurteilung zu
Geldstrafen iHv 60 bzw 120 Euro zu je 60 bzw 90 Tagessaumlt-
zen die auch noch zur Bewaumlhrung auszusetzen sind keine an-
gemessene Reaktion auf einen Verstoszlig gegen Art 3 Eine solche
bdquooffensichtlich unverhaumlltnismaumlszligigeldquo Strafe fuumlr die Verletzung
eines der wesentlichen Grundrechte der Konvention hat nicht
die abschreckende Wirkung die notwendig ist um neuen Ver-
stoumlszligen gegen das Verbot von Misshandlungen in kuumlnftig moumlgli-
6Aufl 2016 sect20 Rn 42 Maureen Spencer und John Spencer Human
Rights in a Nutshell 3 Aufl S89 32 Meyer-LadewigKulick Europaumlische Menschenrechtskonvention Handkom-
mentar 4 Auflage Art 34 Rd 31 33 EGMR Urt v 2932006 ndash 3681397 (ScordinoItalien) Rd 186 in NJW
2007 S1259 34 EGMR Urt v 1042001 - 2612995 (TanliTuumlrkei) Rd 111 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59372 (Abrufdatum 2882018) 35 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 63 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 36 EGMR Urtv 2112004 - 3244696 (AbduumllsametTuumlrkei) Rd 55 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-67228 (Abrufdatum 2882018)
chen schwierigen Situationen vorzubeugen39 Die von den deut-
schen Gerichten ergriffenen Maszlignahmen entsprechen keiner
Widergutmachung die jemand bekommen sollte wenn Art 3
verletzt worden ist Mangels ausreichender Wiedergutmachung
ist der Bf nach wie vor Opfer der Verletzung von Art 3
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die bulgarische Richterin Kalaydjieva konnte sich den Ausfuumlh-
rungen der Mehrheit (mit sechs zu einer Stimme) des Entschlus-
ses der Kammer nicht anschlieszligen Sie begruumlndet ihre Auffas-
sung damit dass die Verletzung von Art 3 bereits festgestellt
worden ist und dass die Opfereigenschaft nicht durch Entschauml-
digung wegfalle Vielmehr wuumlrde dies den Weg ebnen fuumlr die
Legitimierung von Zwang als Methode zur Beschaffung von Be-
weismitteln in Strafverfahren in denen bei wichtigen Faumlllen
die Devise Zahlen und Foltern gelte Danach koumlnnten Ver-
stoumlszlige gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung im Namen der Gerechtigkeit begruumln-
det und beguumlnstigt werden40
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen stimmen mit der Mehrheit der GK uumlberein
weichen jedoch bei der Begruumlndung der Opfereigenschaft ab
Die innerstaatlichen Behoumlrden die uumlber die Erschoumlpfung aller
innerstaatlichen Rechtsbehelfe entscheiden haben die Verlet-
zung von Art 3 anerkannt Die GK hat bereits festgestellt dass
eine Widergutmachung nicht stattgefunden hat da die Wirkung
der Strafen keine ausreichende abschreckende Wirkung hatte
Fraglich ist allerdings ob die Waffe der Bestrafung als Abschre-
ckungswirkung der einzige Weg der Wiedergutmachung gewe-
sen waumlre Nach Auffassungen der drei RichterInnen unter Be-
ruumlcksichtigung der Gesamtumstaumlnde des Falls waumlre fuumlr die
festgestellte und anerkannte Verletzung von Art 3 ein Verwer-
tungsverbot fuumlr die konventionswidrig erlangten Beweise eine
angemessene und hinreichende Widergutmachung gewesen41
cc) Richter Casadevall ua
Die abweichende Meinung von Richter Casadevall der sich die
Richter Kovler Mijović Jaeger Jočiene und Loacutepez Guerra an-
geschlossen haben negiert die Opfereigenschaft des Bf sowie
die Feststellung der Verletzung von Art 3 Der andorranische
Richter schlieszligt sich der Rspr der Kammer an dass die Andro-
hung von Gewalt eine unmenschliche Behandlung darstellt
Dies wurde jedoch bereits von den deutschen Gerichten foumlrm-
lich anerkannt Die Begruumlndung des Gerichtshofs die Opferei-
Vgl Conclusions and Recommendations of the United Nations Committee
against Torture Turkey 27 May 2003 CATCCR305 37 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 77 38 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 80 39 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3147) 40 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 118-119 (Abrufdatum
16082018) 41 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 7 der abw Meinung (Ab-
rufdatum 17082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 36
genschaft nicht abzuerkennen war die milde Bestrafung der Po-
lizeibeamten obwohl es nicht seine Aufgabe ist uumlber die
Schwere der Schuld des Einzelnen zu entscheiden denn es han-
delt sich hierbei um Angelegenheiten die in die ausschlieszligliche
Zustaumlndigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte fallen42 Die
Opfereigenschaft des Bf ist nicht abhaumlngig von der Houmlhe der ge-
gen die Polizeibeamten verhaumlngten Strafen Ebenso ist die Frage
der Houmlhe der Strafen willkuumlrlich denn wird die Houmlhe der Strafe
zum Maszligstab gemacht so kann man sich fragen welches Straf-
maszlig fuumlr die Mehrheit wohl genuumlgt haumltte um die Feststellung
treffen zu koumlnnen dass die Opfereigenschaft des Bf entfalle Der
Richter erhebt Zweifel an dem Erfordernis einer Entschaumldigung
und an der Amtshaftungsklage die nicht einmal eine Entschaumldi-
gung zum Ziel hat sondern ein neues Verfahren und die erst drei
Jahre nach Eintritt des Schadens versucht wurde geltend zu ma-
chen Zweifelhaft ist auch der Tenor des Urteils denn letztlich
bestaumltigt der Gerichtshof das was die innerstaatlichen Behoumlrden
bereits anerkannt haben die Verletzung von Art 3
e) Fazit
Die GK verweist auf die Verfolgung der fuumlr die unmenschliche
Behandlung Verantwortlichen Beamten Die in der Rechtspre-
chung -uumlberwiegend in Urteilen uumlber Beschwerden gegen die
Tuumlrkei und Russland-43 verfestigten Kriterien fuumlr eine gruumlndli-
che und effektive Untersuchung bringt der EGMR auch hier zur
Anwendung Raschheit Verfahrensdauer Ergebnisse der Un-
tersuchung und anschlieszligender Strafverfahren einschlieszliglich
disziplinaumlrer Maszlignahmen44 Dies erscheint auf dem ersten Blick
auch angemessen da mit der Verletzung von Art 3 eine Verlet-
zung des garantierten Rechtsschutzes vorliegt Jedoch weisen
die Urteile vorheriger Faumllle Unterschiede in der Schwere der
Misshandlung auf die bis hin zu Folter und zu einer Verletzung
von Art 2 durch Staatsbedienstete gehen Im vorliegenden Gaumlf-
gen Fall handelt es sich um eine 10-minuumltige unmenschliche Be-
handlung Die Faumllle NiklovaBulgarien TanliTuumlrkei und Ab-
duumllsametTuumlrkei bei denen die Opfer in Polizeigewahrsam auf-
grund von Folter gestorben sind gleichzusetzen mit der Andro-
hung von Gewalt uumlberzeugt nicht Die Grundsaumltze sind in der
bisherigen Rspr entwickelt worden in Faumlllen in denen gegen
die verantwortlichen Polizeibeamten keinerlei disziplinarische
Sanktionen eingeleitet worden sind Die vermeintliche Kritik
dass Daschner und Ennigkeit nicht suspendiert wurden schlaumlgt
ebenfalls fehl da beide bereits waumlhrend der Untersuchungen
und des Strafverfahrens von Positionen entfernt wurden in de-
nen sie in direkter Verbindung mit der Untersuchung von Straf-
taten standen45 Wenn die Beurteilung des Mindestmaszliges fuumlr die
42 Vgl EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 123 (Abrufdatum 17082018)
43 Vgl EGMR Urtv 3092004 ndash 5022299 (Krastanov) Rd 48 EGMR
Urtv1772008 ndash 284330202 (Camdereli) Rd 28 44Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 45 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 46 EGMR Urt v 1811978 - 531071 (IrlandUK) Rn 162 in EuGRZ 1979
S149 47 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129)
Schwere einer Behandlung also relativ ist abhaumlngig von saumlmtli-
chen Umstaumlnden des Einzelfalls wie die Dauer der Behandlung
ihre physischen und psychischen Folgen46so scheint die Frage
die Richter Casadevall aufgeworfen hat wann die Schwere der
Bestrafung ausreichend gewesen waumlre fuumlr einen Entfall der Op-
fereigenschaft unbeantwortet zu bleiben Trotz Erfuumlllung aller
formalistischen Voraussetzungen entscheidet die GK uumlber die
general-praumlventive Eignung der Strafe einen Anspruch des Fol-
teropfers auf eine bestimmte Mindestbestrafung die die Verlet-
zung beseitigt47Dem Gerichtshof obliegt es nicht uumlber inner-
staatliches Recht zu fuumlr die verurteilten Polizeibeamten zu urtei-
len Die Schutzrichtung des Art 3 zielt nach erfolgtem Fehlver-
halten darauf ab das Entstehen einer Gleichguumlltigkeit zu verhin-
dern nicht aber auch entscheiden48 so seine eigene Rspr im Jahr
2007
4 Verletzung Art 6
a) Bisherige Rechtsprechung
Das Recht zu Schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen ist
nicht ausdruumlcklich in Art 6 erwaumlhnt ergibt sich aber aus dem
Grundsatz eines fairen Verfahrens und entspricht allgemein an-
erkannten internationalen Standards49 Wird eine strafrechtliche
Verurteilung ausschlieszliglich auf ein durch Verletzung von Art 3
gewonnenes Beweismittel gestuumltzt kann darin eine Verletzung
von Art 6 liegen50 Wenn es sich um Beweise handelt die nur
indirekt durch den Art3 verletzende Methoden erlangt wurden
ist es in der Regel zwar erforderlich dass diese Beweise in ei-
nem Strafverfahren nicht verwendet werden51 Eine Frage nach
Art6 I kann aufgeworfen werden wenn es sich um Beweise
handelt die unter Verletzung von Art3 erlangt worden sind
selbst wenn die Zulaumlssigkeit solcher Beweise bei der Verurtei-
lung des Beschuldigten nicht ausschlaggebend gewesen ist52
Wird das Recht zu schweigen durch eine Maszlignahme verletzt
die gegen Art3 verstoumlszligt so sind in der Folge dann wenn ein
Fall der Folter vorliegt auch koumlrperliche Beweismittel die auf-
grund der Folterung erlangt werden koumlnnen unverwertbar ohne
dass es auf eine Abwaumlgung ankaumlme53 Die Verwertung rechts-
widrig erlangter Beweise kann zu einer Verletzung des Art 6 I
1 fuumlhren eine solche wird aber selbst bei Verletzung anderer
Konventionsrechte nur nach Umstaumlnden des Falles nicht aber
per seacute anerkannt soweit die Beweise unter Beachtung der Natur
der Verletzung in der adversatorischen Hauptverhandlung unbe-
hindert angefochten werden koumlnnen54
48 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 163 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 49 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 129 50 EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006 S
3117 (3123) 51 Grabenwarter und Pabel Fn 80 sect24 Rn 71 52 EGMR Entschv912003 - 5491900 (Iccediloumlk Tuumlrkei) Rd 3 abrufbar unter
www httphudocechrcoeintengi=001-22982 (Abrufdatum 28082018)
53 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 133 54 Karsten Gaede Fairness als Teilhabe ndash Das Recht auf konkrete und wirksame
Teilhabe durch Verteidigung gemaumlszlig Art 6 EMRK S322
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 37
b) EGMR I
Die wesentliche Grundlage fuumlr das Urteil des LG ist allein das
neue und umfassende Gestaumlndnis das er nach qualifizierter Be-
lehrung in der Hauptverhandlung als erwiesen ansah waumlhrend
alle anderen Beweismittel einschlieszliglich der beanstandeten
sachlichen Beweismittel eine Nebenrolle spielten und nur ver-
wertet wurden um den Wahrheitsgehalt dieses Gestaumlndnisses zu
uumlberpruumlfen55
Folglich kommt das Gericht zu dem Ergebnis dass keine der
beanstandeten Beweismittel bei der Uumlberpruumlfung der Schuld
eine Rolle spielten und dass die Verteidigungsrechte des Bf in-
folge ihrer Zulassung nicht beeintraumlchtigt wurden Im Ergebnis
liegt durch die Verwertung kein Verstoszlig gegen das Gebot des
fairen Verfahrens gem Art 6 I und III vor
c) EGMR II
Der Bf behauptet dass die Verwertung der Beweismittel in dem
gegen ihn gefuumlhrten Strafverfahren eine erhebliche Rolle bei sei-
ner Verurteilung gespielt haumltte
Problematisch ist der Anwendungsbereich der Ausschlussre-
gel von Beweismitteln die durch eine Verletzung von Art 3 ge-
wonnen wurden Bisher besteht keine gaumlngige Rspr weder bei
den Konventionsstaaten noch den Gerichten anderer Staaten o-
der Institutionen die uumlber die Wahrung von Menschenrechten
zu wachen haben
Ein Ausschluss so erlangter Beweismittel wuumlrde die Strafver-
folgung erheblich in ihrer Wirksamkeit beeintraumlchtigen Auf der
anderen Seite stehen die Opfer oder Familienangehoumlrigen der
Opfer die Interesse an der Aufklaumlrung der Straftat haben wie es
im vorliegenden Fall auch der Fall ist Ein von Wesentlichkeit
gepraumlgtes oumlffentliches Interesse an der Integritaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens das die Werte unserer zivilisierten Gesell-
schaft schuumltzt ist vorhanden damit die erarbeiteten Grundsaumltze
nicht an Bodenhaftung verlieren Eine Zulassung der illegal er-
worbenen Beweismittel koumlnnten eine Veranlassung sein das ab-
solute Verbot des Art 3 zu umgehen oder bei wirksamem
Schutz des Einzelnen gegen solche Methoden ein Verbot der
Zulassung
Im vorliegenden Fall ist zu beachten dass die rechtswidrige
Vernehmungsmethode angewandt wurde um das in Art 2 ma-
nifestierte Grundrecht des Kindes auf Leben zu retten Die Kon-
vention verpflichtet die Vertragsstaaten auch das Recht auf Le-
ben zu schuumltzen56 Jedoch kann weder der Schutz menschlichen
Lebens noch eine strafrechtliche Gefaumlhrdung um den Preis einer
Gefaumlhrdung der Garantie des absoluten Rechts von Art 3 aus-
gesetzt werden ohne die Werte zu opfern und die Justiz in Verruf
zu bringen Die Fairness des Verfahrens ist hingegen nur betrof-
fen wenn feststeht dass sich der Verstoszlig gegen Art 3 auf den
Ausgang des Verfahrens gegen den Angeklagten ausgewirkt hat
anders gesagt wenn er die Entscheidung uumlber seine Schuld und
die Strafe beeinflusst hat57
55 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (701) Rd 106 56 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) EGMR Urt v 28101998 - 2345294 (OsmanUK) in Slg
1998-III S3159-3160 Nr 115-116 57 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Fuumlr das LG Frankfurt waren nicht die Beweismittel ein-
schlieszliglich der beanstandeten koumlrperlichen Beweismittel we-
sentliche Grundlage fuumlr das Urteil sondern allein das neue und
umfassende Gestaumlndnis das nach qualifizierter Belehrung in der
Hauptverhandlung abgelegt wurde Die umstrittenen bdquoeinge-
faumlrbtenldquo Beweismittel waren nicht notwendig und haben nicht
dazu gedient die Schuld des Bf zu beweisen oder die Strafe fest-
zustellen
Dass der Bf in der Hauptverhandlung keine andere Wahl ge-
habt haben soll ist der erneuten qualifizierten Belehrung und
dem Hinweis des Gerichts dass seine bisher getaumltigten Gestaumlnd-
nisse nicht gegen ihn verwertet werden koumlnnen entgegenzustel-
len Zumal er zugegeben hat sein Gestaumlndnis aus Reue abzuge-
ben
Die GK ist nicht der Meinung dass die Verletzung von Art
3 im Ermittlungsverfahren Einfluss auf das in der Hauptver-
handlung abgelegte Gestaumlndnis hatte Die Rechte der Verteidi-
gung und das Recht sich selbst zu bezichtigen wurden ebenfalls
beachtet Folglich ist Art 6 I iVm III nicht verletzt
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die Absolutheit von Art 3 ziehe eine Verletzung der Selbstbe-
lastungsfreiheit nach sich und somit einen Verstoszlig gegen Art 6
Der Gerichtshof unterscheide nicht zwischen durch Zwang er-
worbene Aussagen und durch von Zwang erworbene Beweis-
mittel Die Verwertung der Beweismittel im vorliegenden Fall
und der angebliche Verlust der Opfereigenschaft stellt einen ge-
faumlhrlichen Ansatz dar der zu einer illegalen Beschaffung von
Beweismitteln solange das Verhaumlltnis zwischen Nutzen und
Schaden vertretbar ist verleite
Ob die Beweismittel ggf zu einem spaumlteren Zeitpunkt aufge-
funden worden waumlren ist nicht ob dem Gericht daruumlber zu spe-
kulieren Die Frage ist ob das Recht auf die Selbstbelastungs-
freiheit wirksam ausgeuumlbt wurde ohne sich dabei auf illegal er-
langte Beweismittelverwertung zu stuumltzen Angeblich so das in-
nerstaatliche Gericht sei der Umfang der Beweisverwertung nur
auf die Uumlberpruumlfung des Gestaumlndnisses beschraumlnkt Tatsche je-
doch ist dass ohne die Beweismittelverwertung die nach inner-
staatlichem Recht das Gestaumlndnis nicht haumltten uumlberpruumlfen koumln-
nen die Qualifizierung von erpresserischen Menschenraub zu
Mord nicht haumltte stattfinden koumlnnen58
Die Frage der Verfahrenseinstellung ist keine Abwaumlgung
zwischen der Gefahr oder Schwere einer Misshandlung gegen
die Gefaumlhrlichkeit fuumlr die Gemeinschaft denn dies kommt
der Feststellung gleich dass der Schutz der nationalen Sicher-
heit es rechtfertigt die Gefahr einer Misshandlung des Betroffe-
nen eher in Kauf zu nehmen59 Festzustellen ist ob zur Schuld-
feststellung ein Zugriff auf die durch Androhung von Zwang er-
langten Beweismittel hinzugezogen wurden selbst wenn es nur
zur Uumlberpruumlfung eines Gestaumlndnisses galt Durch den Ruumlckgriff
58 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 124 (Abrufdatum 16082018)
59 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 117 (Abrufdatum 16082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 38
auf die illegal erlangten Beweismittel ist die Unschuldsvermu-
tung und damit die Fairness des Verfahrens eingeschraumlnkt
Die einzige Heilung fuumlr den Verstoszlig gegen Art 6 und die Ab-
sprache der Opfereigenschaft sei ein neues Verfahren
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen weichen von der mehrheitlichen Meinung ab
dass keine Verletzung von Art 6 Abs I und III stattgefunden
hat Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ergebe
sich aus der Zulassung der Beweismittel die unmittelbar aus
Art 3 sichergestellt worden sind und unter selbstbelastenden
Umstaumlnden erlangt worden sind Deren Zulassung ist eine fun-
damentale und auszligerordentlich wichtige Grundsatzfrage die die
Fairness iSv Art 6 betrifft Die bisherige Rspr habe Gestaumlnd-
nisse die unter einer Verletzung von Art 3 gewonnen wurden
als immer unzulaumlssig betrachtet Uneindeutig war bisher der
Umfang des Verwertungsverbots fuumlr sachliche Beweismittel
Nach Auffassung der RichterInnen kann ein Strafverfahren in
dem Beweismittel die infolge eines Verstoszliges gegen eine derart
absolute Konventionsvorschrift erlangt wurden zugelassen und
bdquoin welchem Umfang auch immerldquo zur Entscheidung herange-
zogen werden nicht fair sein60 Unfair sei selbst wenn unter an-
gemessenen Verfahrensgarantien erlangt Beweismittel verwer-
tet werden denen auch nur der Makel von Druck oder Zwang
anhaftet Die Diskrepanz zwischen der Zulaumlssigkeit der Aussa-
gen und der Zulaumlssigkeit der Beweismittel gefaumlhrde durch deren
Begruumlndung das absolute Rechte Der angeblichen Unterbre-
chung der Kausalkette koumlnnen sich die RichterInnen nicht an-
schlieszligen Die Trennung die der Gerichtshof vornimmt zwi-
schen der Verurteilung wegen Mordes und dem bdquoeingeschlage-
nen Wegldquo im Rahmen der Beweisverwertung sei unrealistisch
und formalistisch Die in der Ermittlungsphase geschehene Ver-
letzung ziehe seine nachteiligen Folgen in dem sich ergebenden
Verfahren da die Bedeutung der Ermittlungsphase einen Rah-
men bestimmen kann fuumlr den Ansatz eines Gerichts Die nach-
teiligen Folgen haumltten fuumlr eine Wiedergutmachung komplett be-
seitigt werden koumlnnen durch ein Beweisverwertungsverbot und
einer bdquosauberen Durchfuumlhrungldquo des Verfahrens Die StA haumltte
den Bf wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge
anklagen und damit den wirksamen Schutz aufrechterhalten
koumlnnen Fraglich erscheint jedoch die Unterscheidung zwischen
Beweismitteln Zumal sich die Frage stellt warum wenn die
bdquounsauberen Beweismittelldquo nicht zur Verurteilung dienten sie
uumlberhaupt zugelassen werden mussten Nach Einschaumltzung der
teilweise abweichenden Meinung hatten die Beweismittel Ein-
fluss auf den Ausgang des Verfahrens und eine Heilung durch
die Unverwertbarkeit der Gestaumlndnisse des Bf nuumltzte ihm wenn
uumlberhaupt nur wenig Im Gegenteil da die Zulaumlssigkeit derer
60 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 2 der abw Meinung (Ab-rufdatum 17082018)
61 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) 62Vgl EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006
S 3117 (3123) 63 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131)
die Freiheit sich zu verteidigen erheblich oder gar voumlllig ein-
schraumlnkt ist eine Verurteilung nahezu unausweichlich Die
Amtstraumlger handelten zwar in einer schwierigen und sehr ange-
spannten Situation doch gerade in kritischen Zeiten duumlrfen ab-
solute Werte nicht aufs Spiel gesetzt werden Die Umstaumlnde aumln-
dern nichts an der Tatsache dass sie durch einen Verstoszlig gegen
Art 3 sachliche Beweismittel erlangten die spaumlter in dem Straf-
verfahren gegen den Beschwerdefuumlhrer verwertet und zur Be-
gruumlndung herangezogen wurden Da es sich um ein absolutes
Recht handelt sind alle Verstoumlszlige dagegen schwerwiegend und
die wirksamste Moumlglichkeit dieses absolute Verbot durchzuset-
zen ist eine strenge Anwendung des Verwertungsverbots im
Hinblick auf Art 6
e) Fazit
Die GK schlieszligt sich in ihrem Urteil im Wesentlichen dem an
was die Kammer in ihrem Entschluss bewertete Der Bf hatte
die Moumlglichkeit der Bekaumlmpfung der bdquovergiftetenldquo Beweise vor
dem LG deren Ausschluss er auch in seinem Antrag vor der
Hauptverhandlung beantragte Durch die qualifizierte Beleh-
rung uumlber das Schweigerecht und den Umstand dass keine sei-
ner fruumlheren Aussagen als Beweis gegen ihn verwendet werden
duumlrfe wurde der Bf in den Status quo ante versetzt61 Jedoch
stimmt das Argument der bulgarischen Richterin Kalaydjieva
nachdenklich In seiner vorherigen Rspr hat der EGMR keine
Unterscheidung zwischen Aussagen und koumlrperlichen Beweisen
gemacht Im Gegenteil in Urteilen wie Jalloh als einem Dro-
gendealer seine Beute durch die Zufuumlhrung von Brechmitteln
entwendet wurde wurde die Zulassung der illegal erworbenen
Beweismittel als moumlgliche Verletzung von Art 6 I gewertet62
Dem koumlnnte das oumlffentliche Interesse der Verurteilung von Gaumlf-
gen entgegenstehen die es im oben genannten Beispiel nicht
gab63 Man gewinnt den Eindruck dass der EGMR etwas hin-
und hergerissen ist zwischen der Absolutheit des Art3 und dem
bdquoweicherenldquo Fairnessgebot bis er sich zur Abwaumlgung iRv Art6
durchringt64
Einen Ausweg scheint der EGMR in der Schuldbegruumlndung
zu finden Dies erscheint jedenfalls schon beinahe konstruiert
und uumlberzeugt wenig da auf der einen Seite die koumlrperlichen
Beweise keine Rolle spielen und auf der anderen Seite genau
dieselben den Wahrheitsgehalt des Gestaumlndnisses uumlberpruumlfen
sollen Die in Jalloh offen gelassene Frage der indirekten Ver-
wertbarkeit ist nun beantwortet und laumlsst insofern eine bdquoHinter-
tuumlrldquo offen65 indem ein Ausschluss von Beweisen erforderlich
sein koumlnnte aber nur fuumlr den Fall des Einflusses auf das Ge-
staumlndnis oder die Strafe66
65 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 66 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 39
5 Ergebnis
Das endguumlltige Urteil aus Straszligburg uumlberrascht Der Gerichtshof
bleibt sich den Grundsaumltzen des Art 3 treu Umso mehr uumlber-
rascht die Bewertung der innerdeutschen Strafprozesspflege und
die Verhaumlngung der Strafen Um die Absolutheit von Art 3 zu
schuumltzen bestimmt sich der Gerichtshof selbst als Kontrol-
linstanz fuumlr die Schwere von Strafen Aus Angst Art 3 wuumlrde
unterwandert beschlieszligt die GK dass sich Gaumlfgen weiter als
bdquoOpferldquo der Justiz iSv Art 34 I bezeichnen darf Es finden sich
in dem endguumlltigen Urteil Abweichungen der bisherigen Rspr
die sich weniger rechtlich als moralisch erklaumlren lassen Eine
Abwaumlgung fuumlr eine Beweisverwertung ist kritisch zu betrach-
ten67 Die abweichenden Meinungen streuen begruumlndete Zweifel
in die zugebenermaszligen neue Leitlinie des EGMR
III Gesamtfazit
Die moralische und rechtliche Problematik wird deutlich an der
scharfen Meinungsspaltung der Jurisprudenz Die Mehrheit der
5 Kammer und die Minderheit der GK sowie die innerdeut-
schen Gerichte stimmen uumlberein dass die milde Strafe der Poli-
zisten die Verletzung von Art3 kompensiere Vorherzusehen
war es nicht dass der EGMR der Rspr der deutschen Gerichte
zustimmt und Einigkeit herrscht Der absolute Schutz von Art3
bleibt bewahrt und der Umfang des Beweisverbots ist nach wie
vor -wenn auch etwas weniger- ungeklaumlrt
C Ausleitungsteil
Anknuumlpfend an die anfangs aufgestellten Herausforderungen
und die Ausgangsproblematik dieser Arbeit laumlsst sich folgendes
sagen der EGMR hat neues Terrain betreten
Methodologisch bestand die Grenzerfahrung in der Erhaltung
des Rechtsschutzes fuumlr Gaumlfgen als Rechtssubjekt und Grund-
rechtstraumlger Die objektive Bewertung stellt sich bereits als her-
ausfordernd dar
Normativ war zu entscheiden ob die Androhung von Gewalt
unter Folter fiel und ob die Androhung vergleichbar mit brutalen
und gewaltsamen Vernehmungsmethoden war Die Herausfor-
derung bestand darin zu entscheiden ob dies nicht das ganze
Strafverfahren Gaumlfgens gefaumlhrdete und seine Verurteilung
Moralisch ist zu unterscheiden zwischen dem Unrechtsgehalt
der Tat und dem Unrechtsgehalt der Behandlung Strafe sollte
nicht dem Zweck der Vergeltung dienen Fuumlr die begangene Tat
wurde Gaumlfgen zu lebenslanger Haft verurteilt Seine Rechte als
Grundrechtstraumlger stehen ihm ebenso zu wie die Anspruumlche Ver-
letzungen geltend zu machen Die Grundsaumltze unseres Rechts-
staates wurden uumlber Jahrhunderte lang erarbeitet und erkaumlmpft
und sind gerade in Anbetracht unserer Historie unumstoumlszliglich
Der zu behandelnde Fall ist nicht nur von juristischer Schwie-
rig- und Spitzfindigkeit sondern auch von moralischer Unwei-
gerlich stellen wir die Uumlbereinstimmung unseres Rechts und un-
seres Rechtsempfindens in Frage Damit scheinen wir jedoch
nicht alleine zu sein denn auch die RichterInnen in Straszligburg
stehen vor dem Menschenwuumlrdedilemma zwischen Opfer und
67 Naumlher dazu Karsten Gaede Fairness als Teilhabe 2007 S810 ff
Taumlter Die Schwierigkeit in diesem besonderen Fall war es den
Taumlter einer Straftat als Opfer der Polizei und des Rechtsstaates
zu betrachten was auf den ersten Blick schon fast antagonistisch
wirkt Der schuldig gesprochene Gaumlfgen hat alle Rechtsmittel
auf deutscher und europaumlischer Ebene ergriffen Es faumlllt schwer
zuzugeben seine Penetranz und sein Kampf um das Recht auch
als bdquorechtensldquo zu bewerten In Rechtsfragen die der EGMR zum
ersten Mal anders interpretiert hat fragt man sich in diesem Zu-
sammenhang was uumlberhaupt Recht-sprechen bedeutet Somit er-
reicht der Fall nicht nur die Grenze des Strafrechts und des Oumlf-
fentlichen Rechts sondern auch der Rechtsphilosophie in der
die Trennung von Recht und Moral ein zentrales Thema dar-
stellt Es reicht hin bis zu der Frage ob es unrichtiges Recht
gesetzliches Unrecht gebe und was das bdquoRechtldquo uumlberhaupt sei68
bdquoWas rechtens sei (quid sit iuris) das ist was die Gesetze an einem
gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben kann
der Rechtsgelehrte noch wohl angeben aber ob das was sie wollten
auch recht sei und das allgemeine Kriterium woran man uumlberhaupt
Recht sowohl als Unrecht (istum et iniustum) erkennen koumlnne bleibt
(ihm) wohl verborgenhellipldquo
ndash Immanuel Kant
Der Fall Magnus Gaumlfgen bleibt in vielerlei Hinsicht
-juristisch sowie moralisch- grenzwertig
Die Autorin studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau im achten Semester Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus der Seminararbeit die im WS 201819 im Rahmen des trinationalen Eucor-Seminars ge-schrieben und verteidigt wurde Das Seminar wurde angebo-ten von Prof Dr Jestaedt (Freiburg) unter dem Namen bdquoRechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der Eu-ropaumlischen Grundrechtecharta und der Menschenrechtskon-ventionldquo Die Autorin ist seit 2014 Mitglied der Freilaw-Re-daktion und leitet seit 2017 die Chefredaktion Sie befindet sich derzeit in der Examensvorbereitung
68 Christian Fahl Angewandte Rechtsphilosophie ndash bdquoDarf der Staat folternldquo in
JR 2004 S 182 (185)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
40 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Der Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen
-
Samuel Hahn
A Einleitung
Es ist eine dem liberalen Gedankengut des 19 Jahrhun-
derts entstammende Idee dass der Mensch nicht nur Buumlr-
ger ist sondern der Staatsverband lediglich einen Teil der
Persoumlnlichkeit absorbiert Neben der oumlffentlichen Rolle als
Staatsbuumlrger existiert noch eine private Rolle in der sich
der Mensch ganz individuell ausleben kann Diese Privat-
heit sichert ein ungestoumlrtes Zu-sich-selbst-Verhalten der
Person ohne das ein Herausbilden einer authentischen
Identitaumlt unmoumlglich ist1 Nun hat jedoch der Staat haumlufig
ein Interesse daran in den privaten Bereich der Buumlrger
vorzudringen Gerade im Rahmen strafprozessualer Er-
mittlungen ist dies der Fall da Straftaumlter ihre Verfehlungen
selten publik machen sondern diese so weit wie moumlglich
vor der Oumlffentlichkeit verbergen Dem Staat bleibt bei der
Strafverfolgung also nichts anderes uumlbrig als die private
Sphaumlre seiner Buumlrger auszuforschen Waumlhrend dies fruuml-
her mehr oder minder offen in Form von Haus- und Perso-
nendurchsuchungen geschah ermoumlglicht die heutige
Technik heimliche Uumlberwachungsmaszlignahmen die es
dem Buumlrger unmoumlglich machen seine innersten Vorgaumlnge
in einer fuumlr ihn kontrollierbaren Sphaumlre zu bewahren Da
diese innersten Vorgaumlnge fuumlr eine autonome Charakter-
entwicklung unentbehrlich sind gebietet es die Men-
schenwuumlrde dass der Staat dem Buumlrger ein Herzstuumlck der
Privatheit einen Kernbereich der privaten Lebensgestal-
tung ganz selbst uumlberlaumlsst und ihn nicht staatlichen Inte-
ressen unterordnet Die vorliegende Arbeit widmet sich
der Entstehung dieser Rechtsfigur und dem Schutz der
sich aus ihr ergibt
I Terminologie
Das BVerfG an dessen Rechtsprechung sich diese Arbeit orien-
tiert hat hinsichtlich der Benennung des absolut geschuumltzten
Bereichs keine klare Nomenklatur entwickelt Es bezeichnet ihn
uneinheitlich als bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo2 bdquoIntim-
sphaumlreldquo3 bdquounantastbaren Bereich privater Lebensgestaltungldquo
4
bdquoabsolut geschuumltzten Kernbereich privater Lebensgestaltungldquo5
1 Roumlssler Der Wert des Privaten S 275 2 BVerfGE 6 S 55 (81) 3 BVerfGE 32 S 373 (379) 4 BVerfGE 27 S 1 (6) 5 BVerfGE 80 S 137 (153)
und bdquoKernbereich der Persoumlnlichkeitldquo6 Die Terminologie in
dieser Arbeit wird daher ebenso variieren Einzig auf die Ver-
wendung des Terminus der Intimsphaumlre wird verzichtet da es
unklar ist ob das BVerfG diese begriffliche Identitaumlt konsequent
aufrechterhaumllt7
II Untersuchungsgegenstand
Gegenstand dieser Arbeit ist anhand der Rechtsprechung des
BVerfG den Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
strafprozessualen Ermittlungsverfahren zu untersuchen Dabei
wird im Besonderen auf Widerspruumlche in den Entscheidungen
des Gerichts eingegangen und gepruumlft was diese fuumlr den Kern-
bereichsschutz bedeuten Die Untersuchung beschraumlnkt sich da-
bei auf den fuumlr die Strafverfolgung besonders bedeutungsvollen
Schutz vor Informationserhebung aus dem Kernbereich privater
Lebensgestaltung Aufgrund seiner engen Verbindung zur Men-
schenwuumlrdegarantie hat jeder Schutz vor staatlichen Maszlignah-
men eine gewisse Kernbereichsrelevanz Zum Zwecke einer
Analyse des reinen von anderen Grundrechten losgeloumlsten
Kernbereichsschutzes sollen in dieser Arbeit andere Konstella-
tionen mit Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung
wie der Schutz der Kommunikation mit zeugnisverweigerungs-
berechtigten Personen auszligen vor bleiben
III Gang der Untersuchung
Im Folgenden wird zuerst die Entwicklung der Kernbereichs-
rechtsprechung durch das BVerfG dargestellt und analysiert
Anhand der auftretenden Diskrepanzen wird anschlieszligend eine
moumlgliche Relativierung des Kernbereichsschutzes gepruumlft und
schlieszliglich wird die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
anhand seines juumlngsten Urteils neu interpretiert
B Entwicklung des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung durch das BVerfG
Der Gedanke eines Kernbereichs der Persoumlnlichkeit auf den der
Staat nicht zugreifen kann hat in der Rechtsprechung der deut-
schen Verfassungsgerichtsbarkeit lange Tradition8
6 BVerfGE 34 S 238 (245) 7 Dies bejahend Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
S 14 kritisch Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 256 8 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (161) Dammann Der Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung S 23
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 41
Bereits 1957 sprach das BVerfG in der sog Elfes-Entscheidung
erstmals von einer bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo die dem
einzelnen Buumlrger verfassungskraumlftig vorbehalten sei9 Es leitet
dies aus der Menschenwuumlrde ab Der Gesetzgeber darf die buumlr-
gerlichen Freiheitsrechte bei entsprechenden entgegenstehen-
den Interessen zwar einschraumlnken die Menschenwuumlrde aller-
dings ist unantastbar woraus folgt dass bdquoein letzter unantastba-
rer Bereich menschlicher Freiheit besteht der der Einwirkung
der gesamten oumlffentlichen Gewalt entzogen istldquo10
Diesen absolut geschuumltzten Bereich sah das BVerfG lange al-
lein in der nichtkommunikativen Sphaumlre11
Er war gekennzeich-
net durch Gedanken die der Buumlrger allein sich selbst anver-
trauen wollte ein forum internum in dem er bdquosich selbst besitztldquo
und zu dem bdquodie Umwelt keinen Zutritt hatldquo12
Ein Raum in
welchem die innere Daseinsbewaumlltigung die Auseinanderset-
zung mit sich selbst und die Rechenschaftsablegung gegenuumlber
sich selbst stattfinden13
Nach der damaligen Rechtsprechung
war der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung grundsaumltz-
lich nicht beruumlhrt sobald die Handlung einen Sozialbezug auf-
wies also die Persoumlnlichkeitssphaumlre eines anderen Menschen
beruumlhrte14
Damit waren auch intime zwischenmenschliche Be-
ziehungen vom absoluten Schutz der Persoumlnlichkeit ausge-
schlossen15
In seinem Tagebuchurteil16
relativierte das BVerfG dieses
harte Exklusionskriterium dahingehend dass nicht entscheidend
sei ob uumlberhaupt ein Sozialbezug bestehe sondern vielmehr
dessen bdquohoumlchstpersoumlnlicher Charakterldquo und bdquoin welcher Art und
Intensitaumlt aus sich heraus die Sphaumlre anderer und die Belange
der Gemeinschaft beruumlhrtldquo werden bdquoDer Mensch als Person
auch im Kernbereich seiner Persoumlnlichkeit verwirklicht sich
notwendig in sozialen Bezuumlgenldquo17
Zugleich schraumlnkt das Ge-
richt den Umfang des Schutzes dahingehend ein dass bdquoGesprauml-
che die Angaben uumlber begangene Straftaten enthalten [hellip] dem
Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Le-
bensgestaltungldquo zuzuordnen und deshalb auch nicht von dessen
absolutem Schutz erfasst sind18
C Urteil groszliger Lauschangriff
Zwar hatte das BVerfG in den vorangegangenen Entscheidun-
gen seine Rechtsprechung zu einem absolut geschuumltzten Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit stetig fortgefuumlhrt einen staatlichen
Eingriff in denselben jedoch nie bejaht Die Entscheidung fiel
stets auszligerhalb des Kernbereichs naumlmlich im Bereich der Ab-
waumlgung zwischen Individualschutz und Gemeinwohlinteresse
nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes19
Dies aumln-
derte sich im Urteil zum groszligen Lauschangriff20
dem in der
9 BVerfGE 6 S 32 (41) 10 BVerfGE 6 S 32 (41) 11 BVerfGE 27 S 1 (6) BVerfGE 33 S 367 (377) 12 BVerfGE 27 S 1 (6) 13 Warntjen Heimliche Zwangsmaszlignahmen und der Kernbereich S 54 14 BverfGE 6 S 389 (433) 15 Benda Gefaumlhrdungen der Menschenwuumlrde S35 16 BVerfGE 80 S 367 17 BVerfGE 80 S 367 (374) 18 BVerfGE 80 S 367 (374) 19 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (14) Hervorhebung
hier
Entwicklung der Kernbereichsrechtsprechung besondere Be-
deutung zukommt21
Erstmals stellte das Gericht eine Verlet-
zung des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit fest22
Es skizziert
sorgfaumlltig und wesentlich detaillierter als in fruumlheren Entschei-
dungen sein Kernbereichskonzept entwickelt Schutzvorkehrun-
gen und zeigt Konsequenzen eines Eingriffs auf
I Bestimmung des Kernbereichs
Entscheidend fuumlr eine Einbeziehung des Sachverhalts in den
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist das Kriterium der
Houmlchstpersoumlnlichkeit23
Gespraumlche und Aumluszligerungen sind dann
vom Kernbereich erfasst wenn es um bdquoausschlieszliglich innere
Eindruumlcke und Gefuumlhleldquo geht der bdquoBereich des Houmlchstpersoumlnli-
chenldquo betroffen ist und ein bdquoBezug des konkreten Gespraumlchs
zum Persoumlnlichkeitskernldquo nicht fehlt24
Konsequent nimmt das
Gericht eine Kernbereichsverletzung auch bei umfassenden
Uumlberwachungen an deren Ergebnisse bdquozur Grundlage eines Per-
soumlnlichkeitsprofils werden koumlnnenldquo25
Auch hinsichtlich des
Straftatenbezugs lockerte das Gericht seine Exklusionskriterien
Waumlhrend das entscheidungstragende Votum im Tagebuchbe-
schluss bereits einen mittelbaren Straftatenbezug genuumlgen lieszlig
um eine Kernbereichsrelevanz zu verneinen26
scheint sich der
Senat im Urteil zum groszligen Lauschangriff dem abweichenden
Votum des Tagebuchbeschlusses27
anzuschlieszligen28
bdquoAuf-
zeichnungen oder Aumluszligerungen im Zwiegespraumlch die zum Bei-
spiel ausschlieszliglich innere Eindruumlcke und Gefuumlhle wiedergeben
und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten gewinnen
nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug dass sie Ursa-
chen oder Beweggruumlnde eines strafbaren Verhaltens freizulegen
vermoumlgenldquo29
Das heiszligt lediglich Aumluszligerungen mit unmittelbarem Bezug zu
einer geplanten oder begangenen Tat sind nicht vom Kernbe-
reich erfasst30
Nicht beruumlhrt sei der Kernbereich allerdings
wenn der Betroffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssach-
verhalts selbst keinen Wert lege wobei nicht jede Kundgabe an
einen anderen Menschen auf das Fehlen eines Geheimhaltungs-
willen schlieszligen lasse es kaumlme vielmehr auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation an31
II Schutz des Kernbereichs
Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist unantastbar
und jeglichem staatlichen Zugriff entzogen Die inhaltsbezo-
gene Kernbereichsdefinition des BVerfG schafft das Dilemma
dass Strafverfolgungsbehoumlrden vor der Uumlberwachung gar nicht
wissen koumlnnen ob der Kernbereich des Uumlberwachten betroffen
ist Erst durch die Spaumlhmaszlignahme selbst laumlsst sich anhand des
20 BVerfGE 109 S 279 21 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (13) bdquogroszliges Urteilldquo 22 BVerfGE 109 S 279 (311) 23 BVerfGE 109 S 279 (313 320) 24 BVerfGE 109 S 279 (319 320) 25 BVerfGE 109 S 279 (323) 26 BVerfGE 80 S 367 (377) 27 BVerfGE 80 S 367 (381) 28 So auch SK-StPOWolter sect 100c Rn 60 29 BVerfGE 109 S 279 (319) 30 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 43 31 BVerfGE 109 S 279 (319)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
42 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Inhalts der Aumluszligerung oder Aufzeichnung das Vorliegen einer
Kernbereichsrelevanz feststellen Dann aber wurden die houmlchst-
persoumlnlichen Informationen bereits von den Behoumlrden wahrge-
nommen Das BVerfG stellt deswegen folgendes fest bdquoDie
Uumlberwachung muss in Situationen von vornherein unterbleiben
in denen Anhaltspunkte bestehen dass die Menschenwuumlrde
durch die Maszlignahme verletzt wirdldquo32
Damit loumlst das BVerfG das Dilemma dahingehend auf dass
die allein uumlber die Betroffenheit des Kernbereichs Gewissheit
verschaffende dabei aber zugleich denselben potentiell verlet-
zende Maszlignahme bereits dann unterbleiben muss wenn sie
wahrscheinlich den Kernbereich verletzen wuumlrde Zu vermuten
sei dies beispielsweise beim groszligen Lauschangriff auf Privat-
wohnungen oder wenn der Uumlberwachte mit Personen des
houmlchstpersoumlnlichen Vertrauens kommuniziere33
Diese Vermu-
tungswirkung kann jedoch widerlegt werden wenn Indikatoren
dafuumlr vorliegen dass der Kernbereich nicht betroffen ist34
Auch
dann darf lediglich bdquoeine fuumlr die Bewertung des Gespraumlchsin-
halts unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschen-
wuumlrde erforderliche erste Sichtungldquo durchgefuumlhrt werden bei
der groumlszligtmoumlgliche Zuruumlckhaltung geboten ist35
Diese Vorkehrungen koumlnnen letztendlich aber eine Erhebung
kernbereichsrelevanter Daten nicht ausschlieszligen sondern nur
das Risiko minimieren36
Deswegen fuumlhrt das BVerfG weiter
aus bdquoFuumlhrt die akustische Wohnraumuumlberwachung im Uumlbrigen
unerwartet zur Erhebung von absolut geschuumltzten Informatio-
nen muss sie abgebrochen werden und die Aufzeichnungen
muumlssen geloumlscht werden jede Verwendung solcher im Rahmen
der Strafverfolgung erhobener absolut geschuumltzter Daten ist aus-
geschlossenldquo37
Das Verwertungsverbot kernbereichsrelevanter
Daten erstreckt sich damit nicht nur auf die Verwendung als Be-
weismittel im Hauptverfahren sondern auch auf die Verwen-
dung als Spurenansatz fuumlr weitere Ermittlungen38
Dieses zweistufige Schutzkonzept der Vermeidung der Erhe-
bung kernbereichsrelevanter Daten auf der ersten Ebene zusam-
men mit der Loumlschpflicht und des umfassenden Verwertungs-
verbots auf der zweiten Ebene wird vom BVerfG seither in staumln-
diger Rechtsprechung als notwendige Voraussetzung fuumlr den
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aufrecht erhalten39
D Widerspruumlche in der Kernbereichsrechtsprechung
des BVerfG
Umso mehr uumlberrascht es dass das BVerfG seither in mehreren
Urteilen Eingriffe in den Kernbereich faktisch gebilligt hat So
hat es beispielsweise die Telekommunikationsuumlberwachung
32 BVerfGE 109 S 279 (318) 33 BVerfGE 109 S 279 (321) 34 BVerfGE 109 S 279 (332) 35 BVerfGE 109 S 279 (332) 36 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (168) 37 BVerfGE 109 S 279 (318) 38 Ausdruumlcklich BVerfGE 109 S 279 (318) 39 BVerfGE 113 S 348 (391f) BVerfGE 120 S 247 (388f) BVerfGE 129
S 208 (245f) 40 So auch Reiszlig StV 2008 S 539 (542) 41 BVerfG NJW 2012 S 833 (837) 42 BVerfG NJW 2012 S 833 (837)
gem sect 104a StPO fuumlr verfassungsmaumlszligig erklaumlrt obwohl dort
keinerlei Prognose notwendig ist ob in der abzuhoumlrenden Kon-
versation kernbereichsrelevante Aumluszligerungen zu erwarten sind
Dies steht in direktem Widerspruch zum zweistufigen Schutz-
modell des BVerfG das Uumlberwachungsmaszlignahmen nur dann
zulaumlsst wenn eine Kernbereichsverletzung zumindest unwahr-
scheinlich ist40
In Faumlllen in denen es bdquopraktisch unvermeidbarldquo
ist dass Ermittlungsbehoumlrden kernbereichsrelevante Informati-
onen zur Kenntnis nehmen sei es bdquoverfassungsrechtlich nicht
gefordert den Zugriff wegen des Risikos einer Kernbereichs-
verletzung auf der Erhebungsebene von vornherein zu unterlas-
senldquo41
Selbst bei konkreten Anhaltspunkten dass der Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung von einer Maszlignahme beruumlhrt
werden wird hat diese nur bdquogrundsaumltzlichldquo zu unterbleiben42
Mit dieser Rechtsprechung schlieszligt das BVerfG an sein 2008
ergangenes Urteil zur Online-Durchsuchung43
an Feststellend
dass die Datenerhebung bei der Online-Durchsuchung aus tech-
nischen Gruumlnden automatisiert erfolgt und damit eine vorherige
Unterscheidung zwischen Daten mit und ohne Bezug zum Kern-
bereich quasi unmoumlglich ist forderte es bereits dort von den ent-
sprechenden gesetzlichen Ermaumlchtigungen lediglich bdquodarauf
hinzuwirken dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten
soweit wie informationstechnisch und ermittlungstechnisch
moumlglich unterbleibtldquo44
Es genuumlge dann bdquofuumlr hinreichenden Schutz in der Auswer-
tungsphase zu sorgenldquo und bdquodurch geeignete Verfahrensvor-
schriften sicherzustellen dass dann wenn Daten mit Bezug zum
Kernbereich privater Lebensgestaltung erhoben worden sind
die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung und ihre Auswirkun-
gen fuumlr die Persoumlnlichkeit und Entfaltung des Betroffenen so ge-
ring wie moumlglich bleibenldquo45
Damit wandeln sich so die zu-
naumlchst als Ergaumlnzung konzipierten Verfahrensvorschriften der
zweiten Stufe zum einzigen Stuumltzpfeiler des Kernbereichsschut-
zes46
Besonders irritiert dass das BVerfG sich sowohl im Urteil
zur Online-Durchsuchung47
als auch bei der Billigung des sect
100a Abs 448
auf seine Kernbereichsrechtsprechung im Abhoumlr-
Urteil bezieht Waumlhrend es damals aber noch Maszlignahmen fuumlr
unzulaumlssig erklaumlrte die wahrscheinlich in den Kernbereich ein-
dringen49
laumlsst es nun Uumlberwachungen zu obwohl eine Erfas-
sung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unvermeidbar
ist50
Diese Urteile stehen in einem starken Widerspruch sogar
gegenteilig zur fruumlheren Rechtsprechung sodass die Frage be-
rechtigt ist ob das BVerfG nicht laumlngst von dem Konzept eines
absolut geschuumltzten Kernbereichs der Persoumlnlichkeit abgewi-
chen ist
43 BVerfGE 120 S 274 44 BVerfGE 120 S 274 (338) 45 BVerfGE 120 S 274 (338) 46 Schwabenbauer Heimliche Eingriffsmaszlignahmen S 283 mit Verweis auf
BVerfG 113 S 348 (392) bdquoHinzu muumlssen Vorkehrungen kommen die si-
chern dass Kommunikationsinhalte des houmlchstpersoumlnlichen Bereichs nicht
gespeichert und verwertet werden duumlrfenldquo 47 BVerfGE 120 S 274 (338) 48 BVerfGE NJW 2012 S 833 (837) 49 BVerfGE 109 S 279 (318) 50 BVerfGE 120 S 274 (338)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 43
E Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Diesen Schluss ziehen viele Stimmen in der Literatur51
Teil-
weise wird vermutet dass dies eine Reaktion auf den nach der
Entscheidung zum groszligen Lauschangriff erhobenen Vorwurf
der Praxisuntauglichkeit darstellt52
Vor diesem Hintergrund
gibt es auch Unterstuumltzer fuumlr die vermeintliche Entscheidung des
BVerfG den Kernbereich nun doch der Abwaumlgung mit oumlffentli-
chen Interessen zugaumlnglich zu machen53
Im Folgenden soll nun gepruumlft werden ob das BVerfG seinen
vormals absoluten Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
tatsaumlchlich aufgegeben und zugunsten staatlicher Strafverfol-
gungsinteressen relativiert hat
I Prozessuale Relativierung infolge der Disponibilitaumlt
des Verwertungsverbots
Hauck54
meint eine Relativierung des Kernbereichsschutzes
darin zu erkennen dass der BGH es Beschuldigten eroumlffnet auf
das Verwertungsverbot von Beweismitteln mit Kernbereichsre-
levanz zu verzichten und ihnen so zur Zulaumlssigkeit zur verhel-
fen55
Er vertritt dies mit der Begruumlndung dass wenn sich der
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aus der Menschen-
wuumlrde herleite welche unstreitig indisponibel sei somit auch
der Kernbereichsschutz selbst indisponibel sein muumlsse56
Unab-
haumlngig davon ob die Menschenwuumlrde tatsaumlchlich indisponibel
ist57
schuumltzt der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
aber nicht unmittelbar die Menschenwuumlrde selbst sondern eine
sich aus der Menschenwuumlrde ergebende Sphaumlre der Privatheit
die dem Buumlrger auch bei uumlberragenden entgegenstehenden staat-
lichen Interessen zugestanden werden muss Was von diesem
Kern der Privatheit umfasst ist bestimmt sich anhand von zwei
Faktoren der Houmlchstpersoumlnlichkeit und dem Sozialbezug
Wenn mangels Sozialbezug bdquoallein [hellip][die] eigene Sphaumlre tan-
giert istldquo58
kann der Buumlrger Elemente seiner houmlchstpersoumlnli-
chen Sphaumlre beliebig aus dem geschuumltzten Kernbereich der Pri-
vatheit entlassen indem er sie freiwillig der Oumlffentlichkeit zu-
gaumlnglich macht Dieser Ansicht ist auch das BVerfG wenn es
ausfuumlhrt der Kernbereich sei nicht betroffen wenn der Be-
troffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssachverhalts selbst
keinen Wert lege59
Dieses Ergebnis ist auch dahingehend sinn-
voll dass Beweisverwertungsverbote regelmaumlszligig Schutzinteres-
sen des Beschuldigten dienen60
Es waumlre deshalb widerspruumlch-
lich dem Beschuldigten die Einbringung von entlastenden Be-
weisen mit dem Argument zu verwehren sie unterfielen seinem
Kernbereich privater Lebensgestaltung obwohl offensichtlich
kein Geheimhaltungswille besteht Insofern unterscheidet sich
51 Hoffmann-Riem JZ 2008 S 1009 (1021) Dammann Der Kernbereich der
privaten Lebensgestaltung S 51 Schwabenbauer Heimliche Zwangsmaszlig-
nahmen S 283 Sachs JuS 2012 S 374 (375) Baldus JZ 2008 S 218
(224) 52 Volkmann AnwBl 2009 S 118 (123) 53 So bspw Boumlckenfoumlrde JZ 2008 S 925 (932) 54 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 55 BGHSt 51 S 1 (4) bdquoAuch uumlber ein derartiges Verwertungsverbot kann der
Angeklagte disponieren soweit allein seine eigene Sphaumlre tangiert istldquo 56 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 57 So naumlmlich MKS-GGStarck Art 1 Rn 114 58 BGHSt 51 S 1 (4)
das disponible absolute Verwertungsverbot des Kernbereichs-
schutzes von dem indisponiblen absoluten Verwertungsverbot
des sect 163a Abs 3 S 2 welches seinen Grund darin hat dass
Aussagen die unter den dort genannten Umstaumlnden hervorge-
bracht worden sind auch in ihrem Beweiswert zweifelhaft er-
scheinen61
Eine Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung daran festzumachen
dass der BGH das absolute Beweisverwertungsverbot des Kern-
bereichsschutzes zur Disposition gestellt hat ist somit nicht ge-
rechtfertigt
II Materielle Relativierung durch funktionale
Auslegung des Kernbereichsbegriffs
Ein haumlufiger Vorwurf ist auch das BVerfG relativiere den abso-
luten Schutz des Kernbereichs indem es Aumluszligerungen die einen
unmittelbaren Bezug zu konkreten Straftaten haben vom
Schutzbereich ausschlieszligt62
Viele meinen darin zu erkennen
dass das Gericht beim Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlich-
keit entgegen seiner Proklamation63
doch auf Abwaumlgungsuumlber-
legungen zuruumlckgreift ndash nur eben nicht erst bei der tatsaumlchlichen
Anwendung des Kernbereichsschutzes sondern bereits bei der
Bestimmung der Reichweite desselben64
Absolut geschuumltzt
waumlre demnach nur was diesen Abwaumlgungsvorgang mit staatli-
chen Interessen erfolgreich durchlaufen hat65
Dieser Vorwurf
wird damit begruumlndet dass es anders nicht erklaumlrbar sei Aumluszlige-
rungen mit Straftatenbezug vom Schutzbereich auszunehmen
Fraglich ist ob dies zutrifft Das Kriterium das das BVerfG zur
Bestimmung des absolut geschuumltzten Kernbereichs des Privaten
heranzieht ist die Houmlchstpersoumlnlichkeit des Inhalts und in wel-
cher Art und Intensitaumlt er aus sich heraus die Belange der Ge-
meinschaft beruumlhrt66
Dabei ist klar dass bloszlige Erzaumlhlungen o-
der Prahlereien uumlber die Begehung von Straftaten sowie deren
Planung schon mangels Houmlchstpersoumlnlichkeit nicht in den
Schutzbereich fallen Relevant wird das Ausschlusskriterium
des Straftatenbezugs erst bei Aumluszligerungen houmlchstpersoumlnlicher
Art beispielsweise dem vielzitierten Mordgestaumlndnis unter Ehe-
leuten67
Eine Straftat selbst kann weil sie gegen Regeln ver-
stoumlszligt die fuumlr ein gemeinsames Zusammenleben in einer Gesell-
schaft unerlaumlsslich sind niemals ein privater Akt sein68
Da je-
der Buumlrger der Gesellschaft die Einhaltung dieser Normen
schuldet beruumlhren Aussagen bezuumlglich der Nichteinhaltung der
strafrechtlichen Verbote stets die Belange der Gemeinschaft
Somit haben Aussagen mit Straftatenbezug auch immer einen
Sozialbezug und sind damit nie nur houmlchstpersoumlnlich Das
BVerfG schlieszligt jedoch nicht (mehr) alle Aumluszligerung mit sozial-
bezogenem Inhalt kategorisch vom Schutz des Kernbereichs
59 BVerfG 109 S 279 (318) 60 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 492 61 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 491 62 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 51 63 BVerfG 109 S 279 (314) 64 Baldus JZ 2008 S 218 (224) Lindemann JR 2006 S 191 (198) LR-
StPOHauck sect 100a Rn 138 65 Baldus JZ 2008 S 218 (224) 66 BVerfGE 109 S 279 (314) 67 Meyer-GroszlignerSchmidt sect 100c Rn 16 68 Vgl LR-StPOHauck sect 100a Rn 151 auch Rogall FS-Fezer S 61 (67)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
44 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
aus er differenziert nach Art und Intensitaumlt Ebendieser Diffe-
renzierung ist es geschuldet wenn es feststellt dass Aumluszligerun-
gen die bdquoUrsachen und Beweggruumlnde eines strafbaren Verhal-
tens freizulegen vermoumlgenldquo69
trotz Straftatenbezugs vom Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit erfasst sind
Insofern findet tatsaumlchlich eine Abwaumlgung statt jedoch nicht
in der Art dass aufgrund des Strafverfolgungsinteresses Aumluszlige-
rungen die zur Aufklaumlrung von Straftaten fuumlhren koumlnnen vom
absoluten Kernbereich ausgeschlossen sind sondern schlicht
ob eine Aumluszligerung der houmlchstpersoumlnlichen Privatsphaumlre zuzu-
rechnen ist oder nicht Dies bemisst sich auf der einen Seite am
selbstreflektierenden Charakter der Aumluszligerung also in welchem
Maszlig sie bdquosich als individuelle Entfaltung im Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung darstelltldquo70
und auf der anderen Seite bdquoin
welcher Art und Intensitaumlt sie aus sich heraus die Belange der
Gemeinschaft beruumlhrtldquo71
also wie unmittelbar und konkret sie
Bezug auf den oumlffentlichen Akt der Straftatbegehung nimmt
Dass das BVerfG eine Abwaumlgung mit dem Strafverfolgungsin-
teresse nicht vornimmt zeigt sich auch daran dass die Schwere
der konkreten Straftat auf die sich die Aumluszligerung bezieht fuumlr den
Straftatenbezug keine Rolle spielt72
Es liegt in der Natur einer inhaltsbezogenen Kernbereichsde-
finition nicht operationalisierbar zu sein maszliggebend sind im-
mer die Besonderheiten des jeweiligen Falles73
Uumlber den Straf-
tatenbezug gibt das BVerfG den Entscheidungstraumlgern ein star-
kes Indiz fuumlr einen Sozialbezug an die Hand so wie das Selbst-
gespraumlch ein starkes Indiz fuumlr die Houmlchstpersoumlnlichkeit der Aumlu-
szligerungen ist Ob eine Aumluszligerung in den Kernbereich der Persoumln-
lichkeit faumlllt wird sich immer anhand des Zusammenspiels die-
ser beiden Faktoren bestimmen So koumlnnen selbst Aumluszligerungen
die sich unzweifelhaft unmittelbar auf eine Straftat beziehen und
damit Belange der Gemeinschaft betreffen aber in einem
Selbstgespraumlch getaumltigt wurden aufgrund des uumlberragend
houmlchstpersoumlnlichen Charakters des Selbstgespraumlchs unter den
absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
fallen74
In der Regel75
werden solche Aumluszligerungen aber die Be-
lange der Gemeinschaft in einer Art und Intensitaumlt beruumlhren
dass sie nicht dem Kernbereich zugerechnet werden koumlnnen
Hinter dieser Wertung steckt aber keine heimliche Abwaumlgung
mit Strafverfolgungsinteressen sondern lediglich eine konse-
quente Anwendung der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchst-
persoumlnlichkeit von Aumluszligerungen
III Widerspruumlchlichkeit des Gestattens von Eingriffen
in den absolut geschuumltzten Bereich
Es stellt sich also die Frage wie es mit dem absoluten Schutz
des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit zusammenpasst dass das
BVerfG in seinen juumlngeren Entscheidungen Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen auch dann zulieszlig wenn Eingriffe in den Kernbereich
69 BVerfGE 109 S 279 (319) 70 BVerfGE 109 S 279 (314) 71 BVerfGE 109 S 279 (314) 72 Vgl BVerfGE 109 S 279 (319 343) das die Schwere der Tat als nur fuumlr
die Verhaumlltnismaumlszligigkeit relevant betrachtet siehe auch Schwabenbauer
Heimliche Grundrechtseingriffe Fn 470 73 BVerfGE 109 S 279 (314) 74 Vgl BGHSt 50 S 206 (213)
praktisch unvermeidbar waren Zwar werden die Konsequenzen
dieser Eingriffe die kernbereichsrelevanten Daten geloumlscht und
nicht weiter verwertet dies aumlndert jedoch nichts daran bdquodass
stets ein Eingriff in diesen Kernbereich zunaumlchst hingenommen
wirdldquo wie sich bereits in der noch sehr kernbereichsschutz-
freundlichen Entscheidung zum groszligen Lauschangriff die Rich-
terinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt in einer abweichen-
den Meinung aumluszligerten76
Wie kann es also sein dass das
BVerfG in einem Satz den absolut geschuumltzten Kernbereich pri-
vater Lebensgestaltung proklamiert der jedem staatlichen Ein-
griff entzogen ist und im naumlchsten Satz Eingriffe in diesen
Kernbereich ausdruumlcklich zulaumlsst wenn sie nicht vermeidbar
sind
1 Exkurs Demontierung der Unantastbarkeit der
Menschenwuumlrde
Dieser augenscheinliche Widerspruch in der Rechtsprechung
des BVerfG hat mehr Sprengkraft als es auf den ersten Blick
scheint Manche folgern aus den Diskrepanzen dass das
BVerfG offensichtlich nicht willens sei den Kernbereich der
Persoumlnlichkeit tatsaumlchlich absolut zu schuumltzen77
Andere jedoch
gehen noch weiter und argumentieren dass wenn sich der aus
der Menschenwuumlrde herleitende Kernbereich privater Lebens-
gestaltung als abwaumlgungs- und relativierungsoffen erweise
auch der Absolutheitsanspruch der Menschenwuumlrdegarantie aus
Art 1 Abs 1 GG selbst in Zweifel zu ziehen sei78
Das BVerfG
sei bei dem Versuch die Wuumlrdegarantie in konkreten grund-
rechtlichen Problemlagen nutzbar zu machen gescheitert79
Die
Folge daraus sei dass es keine absolut geschuumltzten Rechtsguumlter
geben koumlnne nicht einmal im Bereich der Menschenwuumlrde80
Anhand der Rechtsprechung zum Kernbereichsschutz soll die
Menschenwuumlrdegarantie insgesamt gegenuumlber Abwaumlgungen mit
staatlichen Sicherheits- bzw Strafverfolgungsinteressen geoumlff-
net werden Wenn dies aber zutrifft was bedeutet dies fuumlr die
verbotenen Vernehmungsmethoden aus sect 136a StPO Fuumlr das
Folterverbot Hat das BVerfG tatsaumlchlich klammheimlich diese
Buumlchse der Pandora geoumlffnet
a) Menschenwuumlrde als Achtungsgebot
Den obigen Uumlberlegungen liegt die Vorstellung zugrunde dass
jede staatliche Wahrnehmung von Informationen die dem Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit zuzurechnen sind eine Menschen-
wuumlrdeverletzung darstellt Poscher bietet eine andere Interpre-
tation der Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung Fuumlr ihn wurzeln die oben gezeigten teil-
weise dramatischen Konsequenzen die ein Teil der Literatur aus
der Kernbereichsrechtsprechung zieht in einem tiefer liegenden
Missverstaumlndnis des Menschenwuumlrdeschutzes dass sich auch in
der Verraumlumlichung des Kernbereichsschutzes zeige81
Die
75 BT-Drucksache 154533 S 14 76 BVerfG 109 S 279 (383) 77 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 265 78 So Baldus JZ 2008 S 218 (224) 79 Baldus JZ 2008 S 218 (225) 80 MaunzDuumlrig-GGHerdegen Art 1 Rn 50 Rogall FS-Fezer S 61 (86) 81 Poscher JZ 2009 S 269 (274)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 45
Menschenwuumlrde sei aber kein ideeller Raum der durch einen
Eingriff in den Kernbereich privater Lebensfuumlhrung verletzt
werden koumlnne so wie ein Eindringen in die Wohnung das Recht
aus Art 13 Abs 1 GG verletze Vielmehr sei der Satz aus Art 1
Abs 1 GG woumlrtlich gemeint bdquoDie Wuumlrde des Menschen ist un-
antastbarldquo ist demnach keine Forderung sondern eine Feststel-
lung Der Staat koumlnne die Wuumlrde des Menschen nie verletzen
verletzbar sei lediglich der Achtungsanspruch der sich aus ihr
ergibt82
Dieser Achtungsanspruch wuumlrde aber nicht bereits
dadurch verletzt dass der Staat in bestimmte Freiheitsraumlume
eindringe im Extremfall koumlnne der Staat einen Angreifer sogar
toumlten ohne seine Wuumlrde zu verletzen indem er ihn zumindest
als einen Feind achte83
Der aus der Menschenwuumlrde flieszligende
Achtungsanspruch sei erst dann verletzt wenn in der Rechtsver-
letzung gerade eine Missachtung der Wuumlrde zum Ausdruck
komme so beispielsweise bei der Folter wo die Verletzung der
koumlrperlichen Unversehrtheit gerade darauf gerichtet ist die ver-
nuumlnftige Willensbildung und damit das zu negieren was den
Menschen als Gattung auszeichnet Poscher macht damit die In-
tention des Staates zum wesentlichen Kriterium der Verletzung
der Wuumlrdegarantie aus Art 1 Abs 1 GG Wenn ein Polizist auf
Streife zufaumlllig aufgrund eines geoumlffneten Fensters intime De-
tails wahrnehme liege darin keine Menschenwuumlrdeverletzung
und auch nicht wenn Beamten bei der Durchsuchung der Woh-
nung eines Drogenhaumlndlers in einer Schublade auf intime Pho-
tographien desselben stoszligen84
Eine Verletzung des Achtungs-
anspruchs bestehe erst dann wenn der Staat (gezielt) auf den
Kernbereich zugreift um Daten aus dem Kernbereich fuumlr seine
Zwecke zu nutzen denn damit zeige er dass er alle Bereiche der
Persoumlnlichkeit instrumentalisiert und seinen Zwecken unterord-
net85
Die Achtung der Menschenwuumlrde verlange demnach dass
die nicht-intendierte Erfassung von kernbereichsrelevanten Da-
ten so weit als moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen
erfolgende nicht-intendierte Kenntnisnahmen umgehend unter-
brochen werden anfallende Kernbereichsdaten sofort vernichtet
und besonders in keiner Weise verwendet werden
b) Zwischenergebnis
Mit der Ruumlckbesinnung auf die Menschenwuumlrdegarantie als
Achtungsanspruch laumlsst sich der Widerspruch in der Kernbe-
reichsrechtsprechung des BVerfG zumindest insoweit erklaumlren
als dass er nicht mehr als Beweis fuumlr die offizielle Aufgabe des
Absolutheitsanspruches der Menschenwuumlrdegarantie angefuumlhrt
werden kann Das Konzept des Gerichts beruhe demnach nicht
auf einer relativierenden Abwaumlgung der Menschenwuumlrde gegen
staatliche Sicherheitsinteressen sondern auf einem Urteil uumlber
das was der aus der Menschenwuumlrde folgende Achtungsan-
spruch gegenuumlber nicht-intendierten Folgen staatlichen Han-
delns gebietet86
2 Kernbereich der Persoumlnlichkeit als
82 Poscher JZ 2009 S 269 (274) auch BVerfGE 96 S 375 (399) 83 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 84 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 85 Poscher JZ 2009 S 269 (275)
Achtungsgebot
Den moderateren Vorwuumlrfen das BVerfG halte unabhaumlngig da-
von ob darin eine Relativierung des Absolutheitsanspruches der
Menschenwuumlrdegarantie zu sehen ist oder nicht zumindest sei-
nen absoluten Schutz des Kernbereichs nicht konsequent durch
schafft diese Interpretation jedoch noch keine Abhilfe Poscher
geht indessen noch einen Schritt weiter indem er das Achtungs-
gebot der Menschenwuumlrde auf den Kernbereich der Persoumlnlich-
keit uumlbertraumlgt
bdquoDer aus der Menschenwuumlrdegarantie abgeleitete Kernbe-
reichsschutz gilt nicht der Abdichtung eines physischen oder
ideellen Raums sondern der Achtung vor bestimmten Lebens-
aumluszligerungen von hoher Relevanz fuumlr die psychologische und so-
ziale Integritaumlt eines Grundrechtstraumlgers in welchen Raumlumen
auch immer sie sich ereignenldquo87
Diese Theorie die in der Literatur als Konstruktion kritisiert
wurde88
im Hinterkopf behaltend soll im Folgenden ein Blick
in die aktuellste Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung geworfen werden
F Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016
Am 20 April 2016 entschied das BVerfG89
anlaumlsslich einer
Verfassungsbeschwerde dass die Ermaumlchtigung des Bundeskri-
minalamts zum Einsatz von heimlichen Uumlberwachungsmaszlignah-
men zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus
zwar im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar ist die der-
zeitige Ausgestaltung von Befugnissen aber in verschiedener
Hinsicht dem Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatz nicht genuumlgt Teil
des Urteils waren dabei die Ausfuumlhrungen zu den verfassungs-
rechtlich vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen fuumlr den Kern-
bereich privater Lebensgestaltung Diese Ausfuumlhrungen sollen
nun daraufhin analysiert werden ob sie neue Erkenntnisse zu
den augenscheinlichen Diskrepanzen in der Kernbereichsrecht-
sprechung des BVerfG bieten koumlnnen
I Untermauerung der Uumlberlegungen zur Exklusion
des Straftatenbezugs
In den obigen Uumlberlegungen zur Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung wurde
der Versuch unternommen zu erlaumlutern warum dieses Krite-
rium kein Beweis fuumlr die Relativierung des absoluten Schutz des
Kernbereichs ist sondern lediglich die konsequente Anwendung
der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchstpersoumlnlichkeit von Aumlu-
szligerungen Demnach koumlnnen auch Aumluszligerungen mit konkretem
Straftatenbezug in den Kernbereich der Persoumlnlichkeit fallen
wenn die Elemente der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Gewissen und der Selbstreflexion die fuumlr eine individuelle Ent-
faltung unerlaumlsslich sind den Gesamtinhalt der Aumluszligerung stark
genug praumlgen Nach dem BGH der ein Selbstgespraumlch trotz
konkretem Straftatenbezug zum Kernbereich der Persoumlnlichkeit
86 Poscher JZ 2009 S 269 (276) 87 Poscher JZ 2009 S 269 (276) Hervorhebung hier 88 So Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270 89 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 -
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
46 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
zaumlhlte bestaumltigt nun auch das BVerfG in seiner juumlngsten Ent-
scheidung diese Interpretation indem es in aller Deutlichkeit
ausfuumlhrt
bdquoAuch koumlnnen trotz Straftatenbezugs Situationen in denen
Einzelnen gerade ermoumlglicht werden soll ein Fehlverhalten ein-
zugestehen oder sich auf dessen Folgen einzurichten wie
Beichtgespraumlche oder vertrauliche Gespraumlche mit einem Psy-
chotherapeuten oder einem Strafverteidiger der houmlchstpersoumlnli-
chen Privatsphaumlre unterfallen die dem Staat absolut entzogen
istldquo90
Damit laumlsst das BVerfG nun auch Aumluszligerungen mit unmittel-
baren Bezug zu konkreten Straftaten in den Kernbereich privater
Lebensgestaltung fallen Bei der in fruumlheren Entscheidungen91
noch so kategorisch anmutenden Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung han-
delt es sich somit um eine Vermutung die ihre Ausnahme in
Aumluszligerungen findet die in besonders hohem Maszlige der individu-
ellen Reflektion und Selbstentfaltung dienen und damit den So-
zialbezug des straftatbezogenen Inhalts uumlberwiegen
II Bestaumltigung des Achtungsgebots der
Menschenwuumlrde
Seit das BVerfG Uumlberwachungsmaszlignahmen zulieszlig obwohl
eine Erfassung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unver-
meidbar war musste es viel Kritik einstecken Der schaumlrfste
Vorwurf war mit der Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs auch die Menschenwuumlrde selbst Abwaumlgungsuumlber-
legungen zugaumlnglich zu machen Vermutlich um diesen Ten-
denzen ein Ende zu setzen stellte das Gericht in seinem neuen
Urteil klar
bdquoDer Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist
strikt und darf nicht durch Abwaumlgung mit den Sicherheitsinte-
ressen nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes re-
lativiert werden [hellip] Dies bedeutet jedoch nicht dass jede tat-
saumlchliche Erfassung von houmlchstpersoumlnlichen Informationen stets
einen Verfassungsverstoszlig oder eine Menschenwuumlrdeverletzung
begruumlndetldquo92
Damit scheint das Gericht Poschers Interpretation der Men-
schenwuumlrdegarantie als Achtungsanspruch zu bestaumltigen Indem
es feststellt dass zum Schutz des Kernbereichs Vorkehrungen
zu treffen sind bdquodie eine unbeabsichtigte Miterfassung von
Kernbereichsinformationen nach Moumlglichkeit ausschlieszligenldquo93
orientiert es sich nicht nur stark an der Formulierung Po-
schers94
sondern erwaumlhnt uumlberhaupt erstmals das Kriterium der
90 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
122 91 BVerfGE 80 S 367 (374) BVerfGE 109 S 279 (319) 92 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 93 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
126 Hervorhebung hier 94 Poscher JZ 2009 S 269 (275) bdquo[hellip] dass das nicht-intendierte Eindringen
[in den Kernbereich] soweit als moumlglich vermieden wirdldquo 95 Kant Die Metaphysik der Sitten Teil 2 sect 38 96 BVerfGE 109 S 279 (313)
staatlichen Intention im Zusammenhang mit der Kernbereichs-
rechtsprechung und laumlsst damit den Schluss auf eine sich auf das
Kantlsquosche Instrumentalisierungsverbot95
beziehende Interpreta-
tion der Menschenwuumlrde zu Dies ist insoweit wenig uumlberra-
schend da das BVerfG bereits im Abhoumlrurteil von einem abso-
lut geschuumltzten Achtungsanspruch der Menschenwuumlrde
sprach96
Ausdruumlcklich bdquoDie akustische Wohnraumuumlberwa-
chung zu Strafverfolgungszwecken verstoumlszligt dann gegen die
Menschenwuumlrde wenn der Kernbereich privater Lebensgestal-
tung nicht respektiert wirdldquo97
III Bestaumltigung des Achtungsgebots des
Kernbereichs
Erstaunlich am juumlngsten Urteil des BVerfG zum Kernbereichs-
schutz ist dass es diesen Achtungsanspruch auf den Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung uumlbertraumlgt Absolut geschuumltzt ist
demnach nicht der Kernbereich selbst sondern das Achtungsge-
bot des Kernbereichs Wie bei der Menschenwuumlrde liegt dem-
nach nur dann eine Verletzung des Kernbereichs bzw des Ach-
tungsgebots desselben vor wenn der Kernbereich missachtet
wird also der Staat bewusst auf den Kernbereich zugreift um
die houmlchstpersoumlnlichen Inhalte fuumlr Strafverfolgungszwecke zu
instrumentalisieren So schreibt das BVerfG
bdquoDer Kernbereich privater Lebensgestaltung beansprucht ge-
genuumlber allen Uumlberwachungsmaszlignahmen Beachtungldquo98
und kurz darauf noch deutlicher
bdquoDie Verfassung verlangt [hellip] fuumlr die Ausgestaltung der
Uumlberwachungsbefugnisse die Achtung des Kernbereichs als eine
strikte nicht frei durch Einzelfallerwaumlgungen uumlberwindbare
Grenzeldquo99
Ausdruumlcklich wird hier als Eingriffsgrenze staatlicher Uumlber-
wachungsmaszlignahmen nicht der Kernbereich privater Lebensge-
staltung selbst sondern die Achtung vor demselben angefuumlhrt
Uumlberraschend distanziert sich das BVerfG damit von einem
raumlumlich-gedachten Kernbereich der bei einem Eingriff verletzt
ist obwohl Formulierungen in fruumlheren Urteilen noch auf ein
solches Verstaumlndnis hindeuten100
Bei genauerer Betrachtung
jedoch taucht die Rhetorik von der Achtung des Kernbereichs
bereits in der Entscheidung zur akustischen Wohnraumuumlberwa-
chung auf Dort ist die Rede von einem bdquoverfassungsrechtlichen
Gebot unbedingter Achtung einer Sphaumlre des Buumlrgers fuumlr eine
ausschlieszliglich private ndash eine houmlchstpersoumlnliche ndash Entfal-
tungldquo101
Auch im Urteil zur Online-Durchsuchung spricht das
Gericht von einer bdquoverfassungsrechtlich gebotenen Achtung des
Kernbereichs privater Lebensgestaltungldquo102
97 BVerfGE 109 S 279 (314) 98 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
123 99 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 100 Bspw BVerfGE 120 S274 (338) bdquoDer Gesetzgeber hat [hellip] sicherzustel-
len dass [hellip] die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung [hellip] so gering wie
moumlglich [bleibt]ldquo ndash scheinbar Verletzung des Kernbereichs durch Eingriffe 101 BVerfGE 109 S 279 (313) 102 BVerfGE 120 S 274 (339)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 47
Es scheint als haumltte Poscher mit seiner Interpretation der
Menschenwuumlrde und der vorsichtigen Uumlbertragung dieses Kon-
zepts auf den Kernbereichsschutz ins Schwarze getroffen Legt
man dieses Verstaumlndnis uumlber die Urteile zum Kernbereichs-
schutz die bei einer Interpretation des Kernbereichs als absolut
geschuumltzten Raum so widerspruumlchlich erscheinen loumlsen sich die
Diskrepanzen in der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
in Luft auf Eine versehentliche Wahrnehmung kernbereichsre-
levanter Informationen stellt demnach noch keine Kernbereichs-
verletzung dar sondern erst wenn der Staat damit seine Miss-
achtung zum Ausdruck bringt Letztendlich ist diese Interpreta-
tion recht naheliegend denn wenn sich der Kernbereich der Per-
soumlnlichkeit aus der Menschenwuumlrde ergibt dann ist es logisch
dass der Staat zum Kernbereich das gleiche Verhaumlltnis hat wie
zur Menschenwuumlrde naumlmlich dass er sie zu achten hat
IV Konsequenz eines Achtungsgebots des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Die Frage die sich nun stellt ist Was verlangt das Achtungsge-
bot des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Genau dies ist
es was das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Kernbe-
reichsschutz herausgearbeitet hat und im oberen Teil der Arbeit
dargestellt wurde Die Schutzvorkehrungen sind damit keine
Kriterien die einen absoluten Schutz garantieren sollen sondern
das was das BVerfG fuumlr notwendig haumllt um die staatliche Ach-
tung vor dem Kernbereich der Persoumlnlichkeit auszudruumlcken
Dass er Eingriffe zulaumlsst obwohl die Erfassung kernbereichsre-
levanter Daten praktisch unvermeidbar ist basiert auf der Wer-
tung dass der Achtung des Kernbereichs genuumlge getan ist wenn
das nicht-intendierte (denn gezielt kernbereichsausforschende
Maszlignahmen waumlren zweifellos eine Missachtung) Eindringen
soweit wie moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen er-
folgende unbeabsichtigte Kenntnisnahmen umgehend zu unter-
brechen anfallende Kernbereichsdaten sofort zu vernichten und
in keiner Weise zu verwenden
Nun koumlnnte man diese Wertung mit dem Standpunkt anzwei-
feln dass die einzige Form mit der die Achtung des Kernbe-
reichs ausgedruumlckt werden kann darin besteht die Eingriffe die
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu unbeabsichtigten
Wahrnehmungen kernbereichsrelevanter Daten fuumlhren grund-
saumltzlich zu unterlassen103
Wenn der Staat Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen durchfuumlhrt obwohl eine Erfassung kernbereichsrele-
vanter Daten praktisch unvermeidbar ist ist dies nicht anders
als wenn gezielt auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung
zugegriffen wird schlieszliglich sind zwangslaumlufige Folgen einer
Handlung von der Handlungsintention stets miterfasst104
Letz-
teres Argument laumlsst sich zumindest dogmatisch dadurch ent-
kraumlften dass Uumlberwachungsbeamte regelmaumlszligig darauf hoffen
werden gerade keine kernbereichsrelevanten Daten zu erheben
um die Ergebnisse ihrer Uumlberwachung uumlberhaupt verwerten zu
koumlnnen Den Ansatz die Achtung vor dem Kernbereich gebiete
es Maszlignahmen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der
Kernbereichsberuumlhrung kategorisch zu unterlassen strikt durch-
103 So bspw SachsKrings JuS 2008 S 481 (485f) 104 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270
zusetzen wuumlrde bedeuten dass etliche Strafverfolgungsmaszlig-
nahmen wie beispielsweise die klassische Wohnungsdurchsu-
chung in Privatwohnungen ebenfalls unzulaumlssig waumlren Letzt-
endlich genuumlgt es jedoch nicht dem BVerfG vorzuwerfen seine
Kriterien wuumlrden dem Achtungsgebot des Kernbereichs der Per-
soumlnlichkeit nicht gerecht Es muumlsste vielmehr gezeigt werden
inwiefern ein Staat der alles praktisch und technisch Moumlgliche
unternimmt um den Kernbereich der Persoumlnlichkeit seiner Buumlr-
ger vor Wahrnehmungen zu schuumltzen der sich jede Verwertung
versagt und zudem eine unabhaumlngige Uumlberwachung einrichtet
trotz dieser Anstrengungen seine Missachtung zum Ausdruck
bringt105
G Fazit
Anhand der Interpretation des absolut geschuumltzten Kernbereichs
als Achtungsgebot ist es moumlglich die Kernbereichsrechtspre-
chung des BVerfG mit sich selbst in Einklang zu bringen Die
Aufloumlsung der oben diskutierten augenscheinlichen Widerspruuml-
che duumlrfte das Verstaumlndnis fuumlr die bundesverfassungsgerichtli-
che Judikatur foumlrdern und die zukuumlnftige Diskussion um den
Schutz des Kernbereichs erleichtern Ob der faktische Kernbe-
reichsschutz davon ebenso profitiert ist fraglich Die Verlage-
rung der Debatte auf die Wertung was die Achtung vor dem
Kernbereich gebiete laumlsst dem BVerfG bei seiner Rechtspre-
chung wesentlich mehr Wuumlrdigungsspielraum und gibt Kriti-
kern weniger handfeste Argumente an die Hand als eine raumlum-
lich-gedachte absolute Grenze Die Kernbereichsklausel des sect
100a Abs 4 StPO bleibt jedoch auch bei dieser Interpretation
mangelhaft denn wenn den Behoumlrden erlaubt wird auch bei An-
haltspunkten auf eine Beruumlhrung des Kernbereichs abzuhoumlren
kann von einer Achtung desselben keine Rede sein Unzweifel-
haft hat die Rechtsfigur des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
Vergleich zum Abhoumlrurteil an Wert verloren sie aumlhnelt nun eher
einer Konkretisierung der Menschenwuumlrdegarantie bei informa-
tionserhebenden Maszlignahmen Zwar ist die Nutzbarmachung der
Menschenwuumlrde in dieser Form eine begruumlszligenswerte Entwick-
lung die Idee eines tatsaumlchlich absolut geschuumltzten Bereichs
menschlicher Freiheit in den der Staat um keinen Preis eindrin-
gen kann war jedoch ein erfrischender Gegentrend zu der Ten-
denz Individualinteressen prinzipiell dem kollektiven Nutzen
unterzuordnen Die Scheu vor dieser Entwicklung wird es auch
sein was das BVerfG bis heute dazu bewegt in jedem Urteil
wieder die Unantastbarkeit des Kernbereichs zu proklamieren
und diese dem liberalen Verfassungsstaat entstammende Idee
des jedem staatlichen Zugriff entzogenen Freiheitsraumes am
Leben zu erhalten
Der Autor hat sein erstes juristisches Staatsexamen an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg 2018 abgelegt Des Weiteren war er seit 2015 am Max-Planck-Institut ebenfalls in Freiburg taumltig und war wissenschaftlicher Mitarbeit beim Lehrstuhl Prof Dr Perron (Frei-burg) bis er im April 2019 sein Referendariat am LG Freiburg begon-nen hat Die Arbeit entstand im Rahmen eines interdisziplinaumlren Se-minars zum Thema Cybercrime digitale Ermittlungen und Daten-schutz im WS 20162017
105 Poscher JZ 2008 S 269 (275)
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
48 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Buchrezension bdquoFamilienrechtldquo
-
Prof Dr Nina Dethloff
Tino Haupt
Das Familienrecht hat insbesondere in den letzten Jahren
stark im oumlffentlichen Interesse gestanden Beispielhaft ge-
nannt sei hier die sogenannte bdquoEhe fuumlr alleldquo Nach mona-
telangen emotional in der Oumlffentlichkeit gefuumlhrten Debat-
ten hat der Bundestag sich am 30 Juni 2017 mit einer
deutlichen Mehrheit fuumlr den Bundesratsentwurf und somit
die Eheoumlffnung entschlossen
Hervorzuheben sind auszligerdem die in letzter Zeit erfolgten
Aumlnderungen zur Bekaumlmpfung von Kinderehen und stetige
Entwicklungen im Abstammungsrecht
Gut geeignet fuumlr das Erlernen all dieser Gebiete ist das
Werk von Nina Dethloff zum Familienrecht
I Allgemeines zur Autorin und zum Lehrbuch
Nina Dethloff ist Professorin an der Universitaumlt Bonn und dort
Inhaberin des Lehrstuhls fuumlr Buumlrgerliches Recht Internationales
Privatrecht Rechtsvergleichung und Europaumlisches Privatrecht
Zuletzt war sie unter anderem Vorsitzende der Abteilung fuumlr
Familienrecht bei dem 72 Deutschen Juristentag in Leipzig
(Thema Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach
Trennung und Scheidung ndash Reformbedarf im Sorge- Umgangs-
und Unterhaltsrecht)
Das hier behandelte Lehrbuch zum Familienrecht wurde von
Guumlnther Beitzke begruumlndet und in der 26 und 27 Auflage von
Alexander Luumlderitz bearbeitet Mit der 28 Auflage wurde die
Bearbeitung von Nina Dethloff uumlbernommen Im Jahr 2018 ist
das Werk in der 32 Auflage im Verlag CH Beck erschienen
und ist fuumlr einen Preis von 3290 euro im Buchhandel erhaumlltlich
II Zum Inhalt
Die Autorin gliedert 548 Seiten Lehrbuchtext in eine Einleitung
sowie drei Kapitel und diese in insgesamt 17 Paragraphen Die
drei Kapitel des Werkes tragen die Titel bdquoEhe und Partner-
schaftldquo bdquoFamilieldquo und bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo
Vor dem Einstieg in die eigentliche Materie erlaumlutert die
Autorin in einer Einleitung von 25 Seiten die Hintergruumlnde des
Rechtsgebietes bdquoFamilienrechtldquo Deutlich wird hierbei die hohe
praktische Relevanz des Familienrechts aufgrund der enormen
Anzahl an familienrechtlichen Streitigkeiten Dargestellt wird
auszligerdem der Zusammenhang des Familienrechts mit dem
Verfassungsrecht sowie dem internationalen Recht Auch eine
Erlaumluterung der wichtigsten Reformgesetze und der elementaren
Begriffe erfolgt
Mit diesem Grundwissen ausgeruumlstet stellt die Autorin im 1
Kapitel (bdquoEhe und Partnerschaftldquo) den Gang der Ehe dar der mit
dem Verloumlbnis beginnt und haumlufig mit der Ehescheidung endet
Dargestellt wird auszligerdem die eingetragene Lebenspartner-
schaft (wobei diese mit der erfolgten Oumlffnung der Ehe erheblich
an Relevanz verloren hat) und die praktisch auszligerordentlich
relevante faktische Lebensgemeinschaft das heiszligt Lebensge-
meinschaften die ohne Eheschlieszligung oder Begruumlndung einer
Lebenspartnerschaft erfolgen Etwas zu kurz geraten hier die
Ausfuumlhrungen zu den vermoumlgensrechtlichen Anspruumlchen bei
Beendigung der Gemeinschaft Um der Bedeutung insbesondere
in Klausuren gerecht zu werden koumlnnte vor allem die
Darstellung des Bereicherungsrechts in diesem Zusammenhang
ausfuumlhrlicher erfolgen
Neben dem Eherecht ist das Verwandtschaftsrecht das zweite
groszlige Gebiet welches im familienrechtlichen Teil des BGB ge-
regelt ist Die Autorin behandelt diese Aspekte im 2 Kapitel
welches den Titel bdquoFamilieldquo traumlgt Uumlberzeugend ist hier das auch
immer wieder klausurrelevante Abstammungsrecht Neben der
Darstellung der Abstammung von der Mutter und dem Vater
werden auch kontrovers diskutierte Themen wie Leihmutter-
schaft und Babyklappen anschaulich und zum weiteren
Nachdenken anregend behandelt Die weiteren Ausfuumlhrungen
betreffen unter anderem den Unterhalt und die elterliche Sorge
aber auch die Thematik der Pflegefamilie und der Adoption
Abschlieszligend behandelt die Autorin in einem 3 Kapitel wel-
ches den Titel bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo traumlgt Fragestellungen die
im Zusammenhang mit Vormundschaft Rechtlicher Betreuung
und Pflegschaft entstehen
Im Anhang findet sich auszligerdem die Duumlsseldorfer Tabelle
mit Stand zum 112018 welche eine Richtlinie fuumlr den durch
den Barunterhaltspflichtigen an das Kind zu zahlenden Unter-
halt gibt
Hinsichtlich des inhaltlichen Aufbaus laumlsst sich feststellen dass
die einzelnen Paragraphen mit teils kurzen manchmal auch laumln-
geren Faumlllen eingelaumlutet werden die dann im Laufe der jeweili-
gen Darstellung geloumlst werden Das Buch erfuumlllt somit auch teil-
weise die Funktion von Fallbuumlchern und kann diese deshalb
ersetzen Hinzu kommen am Ende eines jeden Paragraphen
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen welche das gerade
Erlernte noch einmal abfragen und somit vertiefen Die
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 49
Loumlsungen zu diesen Fragen finden sich erst gesammelt am Ende
des Buches sodass die Motivation groumlszliger ist zunaumlchst einmal
selbst uumlber die Loumlsung nachzudenken anstatt sofort die Muster-
loumlsung nachzulesen Zudem finden sich immer wieder Angaben
zum relevanten Schrifttum
III Stellungnahme
Die Neubearbeitung des Lehrbuchs zum Familienrecht ist auch
in der 32 Auflage erfolgreich verlaufen
Alle relevanten Gesetzesaumlnderungen und die Entwicklungen
in der Rechtsprechung und der Literatur sind angemessen verar-
beitet Fuumlr eine schnelle Wiederholung des Familienrechts kurz
vor der Klausur eignet sich das Werk aufgrund des nicht gerade
geringen Umfangs nicht unbedingt Hier bieten sich kompaktere
Darstellungen zum Familienrecht an Gerade bei der Erstellung
von Haus- und Seminararbeiten sowie der tiefergehenden Vor-
bereitung auf die Klausur im Familienrecht etwa fuumlr das Erste
Juristische Staatsexamen oder den Schwerpunktbereich kommt
einem die ausfuumlhrliche Darstellung jedoch zugute Auszligerdem
kann durch die uumlbersichtliche Aufteilung in Kapitel und Para-
graphen schnell das Gesuchte gefunden werden Gerade fuumlr die
familienrechtlichen Klausuren im Studium kann somit eher als
bdquoSpezialwissenldquo Anzusehendes wie zB die Ausfuumlhrungen zur
Duumlsseldorfer Tabelle auch weggelassen werden
Erfreulich waumlre die Aufnahme eines Paragraphenverzeich-
nisses ndash dieses sucht man vergeblich Insbesondere bei Unklar-
heiten oder sonstigem Lesebedarf zu einer bestimmten Norm
erweist sich dieses als besonders hilfreich Unterstuumltzend bei der
Suche nach bestimmten Begriffen im Buch und deshalb auch
uumlberzeugend ist hingegen das umfangreiche und dennoch
anschaulich gestaltete Sachverzeichnis
Der Autor ist Wiss Mitarbeiter am Lehrstuhl fuumlr Deutsche und Europaumlische Rechtsgeschichte Kirchenrecht und Buumlrgerliches Recht (Prof Dr Anja Amend-Traut) an der Juristischen Fakultaumlt der Universitaumlt Wuumlrzburg sowie Wiss Mitarbeiter bei Freshfields Bruckhaus Deringer in der Praxisgruppe Globale Transaktionen in Frankfurt am Main
Schick Einfuumlhrung in die Logik Rezension Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 50
Buchrezension bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo
Drphil habil Alexander Aichele Dr phil Jakob Meier Prof Dr iur Joachim Renzikowski Sebas-
tian Simmert MA
-
von Stefan Schick
Wer sich als Jurist mit einem Buch zur Logik als wissenschaft-
licher Disziplin konfrontiert sieht stellt sich hierbei zunaumlchst die
Frage warum er sich mit dieser Materie die wohl auf den ersten
Blick der Mathematik zuzuordnen ist beschaumlftigen sollte Diese
Frage beantworten die Autoren selbst zu Beginn Wie jede Wis-
senschaft versucht die Rechtswissenschaft die Welt in ihrem Ge-
genstandsbereich (Recht) durch Aussagen zu analysieren Fuumlr
die Frage ob eine Aussage anwendbar ist und wie verschiedene
Aussagen in Beziehung zu setzen sind ist die Logik die ent-
scheidende Grunddisziplin Logik ist damit die Grundvorausset-
zung jeder sinnhaften Aussage und des informationsvermitteln-
den Kommunizierens
Die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo ist im Jahr
2015 im CHBeck Verlag Muumlnchen (Reihe bdquoJura kompaktldquo)
in Erstauflage erschienen Das vierkoumlpfige Autorenteam ist in-
terdisziplinaumlr wobei Prof Dr Joachim Renzikowski der den
Lehrstuhl fuumlr Strafrecht Rechtsphilosophie und Rechtstheorie
an der Martin-Luther-Universitaumlt Halle-Wittenberg innehat fuumlr
die spezifische juristische Fachkompetenz sorgt Die Abhand-
lung beruht auf einer gleichnamigen Vorlesung im Winterse-
mester 20092010 an der Martin-Luther Universitaumlt Halle-Wit-
tenberg
Die Abhandlung gliedert sich in fuumlnf groumlszligere Abschnitte Im
ersten dieser Abschnitte werden zunaumlchst die Grundbegriffe und
Grundmodelle der wissenschaftlichen Logik erlaumlutert insbeson-
dere wird der Begriff als Grundgegenstand der Logik naumlher aus-
geleuchtet Der zweite Abschnitt beschaumlftigt sich in der Folge
mit der Verbindung mehrerer Begriffe also der Aussage Dabei
werden die konstruktiven Grundvoraussetzungen sinnhafter
Aussagen erarbeitet darauf folgend verschiedene Arten von
Aussagen und besondere Auspraumlgungen solcher klassifiziert
Der dritte Abschnitt beschaumlftigt sich dann mit der Beziehung
mehrerer Aussagen zueinander Dabei geht es vor allem darum
vom Wahrheitsgehalt einer Aussage auf den Wahrheitsgehalt
anderer Aussagen zu schlieszligen Dies wird von den Autoren als
der Kernbereich der wissenschaftlichen Logik identifiziert Im
vierten Abschnitt geht es um die sog Deontische Logik Darun-
ter versteht man den spezifisch rechtswissenschaftlichen Be-
reich der Logik also das Verhaumlltnis von Handlungen und Nor-
men Im fuumlnften und letzten Abschnitt wird die Urteilsbegruumln-
dung des BGH im bekannten Jauchegruben-Fall unter logi-
schen Gesichtspunkten untersucht Hier schwingt auch deutliche
Kritik an der Vernachlaumlssigung der Logik als wissenschaftlicher
Disziplin im Bereich juristischer Methodenlehre mit Abge-
schlossen wird die Abhandlung dann mit einem formalen Uumlber-
blick
Grundsaumltzlich positiv faumlllt die Bemuumlhung der Autoren auf
die komplexe Materie der wissenschaftlichen Logik auch fuumlr
Neulinge auf diesem Gebiet anschaulich zu erklaumlren Schoumln sind
in diesem Zusammenhang auch die vielen juristischen Bei-
spiele Der Umfang der Darstellung ist mit 86 Seiten uumlberschau-
bar Jedoch waumlre es der Lesbarkeit in diesem Zusammenhang
zugutegekommen wenn fuumlr eine groumlszligere Schriftgroumlszlige einige
Seiten mehr in Kauf genommen worden waumlren
Zugegebenermaszligen handelt es sich bei der bdquoEinfuumlhrung in die
Logik und ihren Gebrauchldquo weder um eine Lektuumlre die fuumlr das
Studium unmittelbar weiterhilft noch um eine einfache Bettlek-
tuumlre Wer sich aber fuumlr Hintergruumlnde ndash insbesondere auch fach-
uumlbergreifend ndash interessiert und eine gewisse Freude am abstrak-
ten Denken mitbringt kann von dieser Grunddarstellung klar
profitieren Diese Freude am abstrakten Denken ist aber auch
notwendig so sind die Ausfuumlhrungen teilweise ndash trotz der ge-
lungenen Veranschaulichung ndash sehr komplex was aber selbst-
verstaumlndlich auch der komplexen Thematik geschuldet ist
Der Autor promoviert und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Muumlnchen
UN
SE
RE
ST
AN
DO
RT
E
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website | wwwschrade-partnerde
Seit 1976 betreuen wir Unternehmen und Unternehmer in allen Fragen des Wirtschaftsrechts Mit fuumlnf Standorten im suumldlichen Baden-Wuumlrttemberg und einem in Berlin sind rund 35 Rechtsanwaumlltinnen und Rechtsanwaumllte immer genau dort wo unsere Mandanten uns brauchen
bdquoWir geben der Wirtschaft Rechtldquo
Unser Credo praumlgt unsere taumlglichen Aufgaben Wir bieten ein breites Spektrum an Fachwissen und verfuumlgen uumlber einen groszligen Erfahrungsschatz in folgenden Kernkompetenzfeldern
- Gesellschaftsrecht - Handelsrecht - Unternehmenskauf (MampA) Unternehmensumstrukturierung - Arbeits- und Dienstvertragsrecht - Aktienrecht - Erbrecht und Unternehmensnachfolge - Sanierungs- und Restrukturierungsberatung Insolvenzrecht - Vergabe- und Kartellrecht - Prozessfuumlhrung Litigation - Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht - Recht des Gesundheitswesens
Wir arbeiten standortuumlbergreifend und interdisziplinaumlr Selbstverstaumlndlich werden neben den rechtlichen auch saumlmtliche steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Aspekte beruumlcksichtigt Deshalb pflegen wir eine enge Zusammenarbeit mit Steuerberatern und Wirtschaftspruumlfern Auszligerdem stehen unsere Beratungskonzepte immer in einem vernuumlnftigen finanziellen Verhaumlltnis zur Aufga-benstellung
Sie moumlchten uns besser kennenlernen Sprechen Sie uns gerne jederzeit an
BERLIN Georgenstraszlige 23 10117 Berlin Telefon +4930235024-0 Telefax +4930235024-99 berlinschrade-partnerde
LAHR Stefanienstraszlige 45 77933 Lahr Telefon +49782199039-30 Telefax +49782199039-59 lahrschrade-partnerde
TUTTLINGEN Bahnhofstraszlige 44 78532 Tuttlingen Telefon +497461965093-10 Telefax +497461965093-99 tuttlingenschrade-partnerde
FREIBURG Hermann-Herder-Straszlige 4 79104 Freiburg Telefon +49761389469-0 Telefax +49761389469-99 freiburgschrade-partnerde
VILLINGEN-SCHWENNINGEN Max-Planck-Straszlige 11 78052 Villingen-Schwenningen Telefon +49772120626-0 Telefax +49772120626-100 villingenschrade-partnerde
SINGEN Hegau-Tower Maggistraszlige 5 78224 Singen Telefon +49773159145-500 Telefax +49773159145-510 singenschrade-partnerde
Wer sind wir
FREILAW ist die studentisch-juristische Zeitschrift der Albert-Ludwigs-Universitaumlt
Freiburg und besteht als Projekt Freiburger Studierender bereits seit 2006 Die
Zeitschrift erscheint in drei bis vier Ausgaben jaumlhrlich online und teilweise auch
gedruckt Neben wissenschaftlichen Artikeln veroumlffentlichen wir auch solche die uumlber
das Fachliche hinausgehen und fuumlr Jurastudierende lesenswert sind In unseren
Ausgaben veroumlffentlichen wir daruumlber hinaus regelmaumlszligig Erfahrungsberichte uumlber
Auslandsaufenthalte sowie Interviews im Rahmen der Berufsperspektive fuumlr Juristen
Warum gerade Ihr Egal ob Ihr im ersten oder letzten Semester seid Ihr koumlnnt euch bei uns jederzeit in die
Redaktionsarbeit einbringen oder sogar eigene Artikel veroumlffentlichen
Was erwartet Euch Wir haben Aufgaben in vielen Bereichen von der Redaktionsmitarbeit der Pflege
unseres Internetauftritts bis hin zur Oumlffentlichkeitsarbeit uvm Euch erwartet eine
angenehme Arbeitsatmosphaumlre in einem netten und motivierten Team
Was erwarten wir
Kreative und motivierte Mitarbeiter die Interesse an der Weiterentwicklung des
Journals haben
Worauf wartet Ihr Kommt einfach zur naumlchsten Redaktionssitzung vorbei
Die Termine der Redaktionssitzung werden auf unserer
Homepage (wwwfreilawde) und auf unserer
Facebook-Seite (wwwfacebookcomfreilaw) bekanntgegeben
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 3
guumlltig und somit auch das durch sie transportierte Wuumlrdekon-
zept Fruumlhe juumldische Gelehrte haben diese Position jedoch groumlszlig-
tenteils nicht eingenommen23 Somit fehlt es dem biblischen
Wuumlrdekonzept im Vergleich mit dem modernen Wuumlrdebegriff
trotz des Grundgedankens der universellen Ebenbildlichkeit und
der auf dem Konzept der Naumlchstenliebe basierenden Rechte der
Minderheiten an einem stringenten klar formulierten Gleich-
heitsgedanken der einen normativen Anspruch auf grundsaumltzli-
che Gleichbehandlung begruumlndet Jedoch eroumlffnet die in den
meisten Faumlllen unklare Formulierung des Adressatenkreises der
biblischen Regeln die Moumlglichkeit das biblische Wuumlrdekonzept
nach modernen Standards auszulegen
II Entwicklung des Wuumlrdeverstaumlndnisses im Talmud
Neben der Torah wurde das Judentum umfangreich vom Tal-
mud einer Sammlung von Kommentierungen Analysen und
Dialogen fruumlher Rabbiner die die Themen der Torah behandeln
gepraumlgt bdquoDerldquo Talmud ist kein einheitliches Werk sondern es
bestehen zwei inhaltlich verschiedene Versionen der weitaus
bedeutendere und verbreitetere Babylonische Talmud und der
weniger strenge Jerusalemer bzw Palaumlstinische Talmud Beide
Werke entstanden in der Zeit nach der Zerstoumlrung Jerusalems
durch die Roumlmer ab ca 70 n Chr Wie auch die Torah enthaumllt
der Talmud Halakhah-Abschnitte die Teil des kanonischen
Rechts des Judentums sind Mit der Entwicklung des Talmud
kam es zu einer Losloumlsung vom reinen Wortlaut der Torah Dies
geschah im Zuge vielfaumlltiger Analysen Kommentierungen und
Auslegungen der Torah durch Rabbiner die mitunter auch
Rechtspraxen entwickelten die dem Wortlaut der Torah entge-
genstehen24
1 Priorisierung der Wuumlrde gegenuumlber biblischen
Vorschriften
In der Torah und im Babylonischen Talmud wurde die Befol-
gung biblischer Vorschriften noch konsequent uumlber die Wuumlrde
des Einzelnen gestellt Im Jerusalemer Talmud kam hingegen
erstmals ein anderer Ansatz zum Tragen
Beispielhaft ist die Frage ob das Umfeld einer sich in der
Oumlffentlichkeit befindlichen Person uumlber die sich herausstellt
dass sie ein Gewand das aus einem nach der biblischen Kleider-
ordnung verbotenen Stoff besteht traumlgt diese Person unverzuumlg-
lich zum Ablegen des Gewands bewegen muss Der neue Ansatz
einiger Stimmen des Jerusalemer Talmud bestand darin dass die
Befolgung der biblischen Gebote also das Ablegen des verbo-
tenen Gewandes herausgezoumlgert werden darf bis sich der Trauml-
ger nicht mehr in der Oumlffentlichkeit befindet damit eine oumlffent-
liche Erniedrigung des Traumlgers und somit eine Verletzung seiner
Wuumlrde (Kvod Habriot) und der Gesellschaft vermieden wird
Dieser Schutz der Wuumlrde entgegen den biblischen Vorschriften
23 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1104f 24 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1106f 25 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671f
sollte nicht nur die Vermeidung oumlffentlicher Erniedrigung um-
fassen sondern auch auf die Vermeidung geringerer Beschauml-
mung einer Person ausstrahlen25
Bezeichnend sind auch die in der Gemara dem zweiten Teil
des Talmud dargelegten Uumlberlegungen von Rabinern zur wuumlr-
devollen Vollstreckung der Todesstrafe bei Frauen Eine im ge-
samten Nahen Osten verbreitete Methode die Todesstrafe zu
vollstrecken war die Steinigung Maumlnner wurden grundsaumltzlich
nackt gesteinigt Diese Praxis wurde als wuumlrdevoll angesehen
da Bekleidung die Wurfgeschosse abfedern kann und somit den
mit koumlrperlichem Leiden erfuumlllten Zeitraum bis zum Eintreten
des Todes verlaumlngern kann In Bezug auf Frauen ergab sich den
Rabbinern das Problem dass sich nach ihrem Verstaumlndnis
Frauen im Gegensatz zu Maumlnnern bloszligstellt und erniedrigt fuumlh-
len wenn man sie verpflichtet sich in der Oumlffentlichkeit zu ent-
kleiden eine bekleidet gesteinigte Frau jedoch mehr Schmerzen
erleiden muumlsse Die Loumlsung sah daher vor Frauen in den Koumlrper
bedeckenden aber duumlnnen und daher moumlglichst gering abfe-
dernden Gewaumlndern zu steinigen26
In beiden Beispielen wurden im Zuge einer Abwaumlgung bibli-
sche Vorschriften zugunsten der Wuumlrde des Menschen be-
schraumlnkt im ersten Beispiel durch eine spaumltere Ausfuumlhrung im
zweiten Beispiel durch eine Aumlnderung der Art der Ausfuumlhrung
Somit wurde aumlhnlich dem modernen Menschenwuumlrdebegriff der
Wuumlrde ein normativer Vorrang vor bdquoregulaumlrenldquo Gesetzen einge-
raumlumt Nichtsdestotrotz ist abgrenzend zu bemerken dass der
Vorrang der Vermeidung von Wuumlrdeverletzungen mit dem
Schutz der geistigen Ebenbildlichkeit begruumlndet27 wird und da-
her nicht abgekoppelt vom religioumlsen Verstaumlndnis zu betrachten
ist
2 Schutz der Ebenbildlichkeit durch bdquomakelloseldquo
Todesstrafe
Im Talmud erfuhr die Todesstrafe eine erste Einschraumlnkung in-
dem man sich von Arten der Vollstreckung abwandte die eine
sichtbare Verletzung des Koumlrpers mit sich brachten Das zuvor
herrschende lediglich auf der Torah aufbauende Verstaumlndnis
hatte noch darauf abgezielt dass der Verurteilte nicht nur durch
seinen Tod geistig ausgeloumlscht werden sollte sondern dass
durch ein Zerschmettern des Koumlrpers auch dieser zerstoumlrt wer-
den sollte Mit dem Talmud setzte sich die Idee durch dass zu-
mindest der Koumlrper des zum Tode Verurteilten als physisches
Ebenbild Gottes keinen sichtbaren Schaden nehmen soll Man
nahm an dass Gott beim Toumlten von Suumlndern sein eigenes Eben-
bild nicht verunstalten wuumlrde und daher bdquomakelloseldquo Formen
der Toumltung grundsaumltzlich zu bevorzugen seien28
Die Tatsache dass besonders grausame Arten die Todesstrafe
zu vollstrecken dadurch weitestgehend ausgeschlossen wurden
26 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312f 27 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 671 28 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 4
stellt grundsaumltzlich eine Annaumlherung an das moderne europaumli-
sche Menschenwuumlrdeverstaumlndnis dar die Begruumlndung dieses
Paradigmenwechsels bleibt jedoch im goumlttlich zentrierten Ver-
staumlndnis der Wuumlrde verhaftet
3 Abschaffung der Todesstrafe und des Lex talionis
als Ausdruck einer unverlierbaren Wuumlrde
Letztendlich kam es in der Mitte des zweiten Jahrhunderts n
Chr zu einer praktischen Verdraumlngung der Todesstrafe da an
eine Verurteilung zum Tode eine Reihe von schwer erfuumlllbaren
Anforderungen geknuumlpft wurde29
So wurde zum Beispiel eine
verschaumlrfte Form des Vorsatzes gefordert die darin bestehen
sollte dass der Taumlter kurz vor der Tat noch einmal explizit ge-
warnt worden sein muss dass sein Vorhaben mit dem Tod be-
straft wird und er sein volles Bewusstsein dieser Tatsache be-
zuumlglich der bevorstehenden Toumltung ausdruumlckt und kurz darauf
die Tat begeht Des Weiteren bedurfte es zweier Augenzeugen
deren Aussagen nur verwertet werden sollten sofern sie sich in
keinem Detail widersprachen und eine Verurteilung durch das
zustaumlndige 23-koumlpfige Gericht sollte nur erfolgen koumlnnen wenn
mindestens ein Richter sich gegen einen Schuldspruch aus-
sprach bei Einstimmigkeit der Verurteilung soll diese automa-
tisch in einen Freispruch umgewandelt werden30
Grundlage fuumlr diese faktische Abschaffung der Todesstrafe
war neben dem Bemuumlhen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen
zu vermeiden eine weitere Auslegung des Wuumlrdebegriffs als zu-
vor So wurde die Wuumlrde nun als etwas verstanden das auch
durch das groumlszligte Verbrechen nicht verwirkt werden kann und
daher sollten auch die groumlszligten Suumlnder Ebenbilder Gottes blei-
ben31 Zudem wurde im Talmud angenommen dass bei einer
Beeintraumlchtigung der Ebenbildlichkeit Gottes durch Verletzung
oder Toumltung dieser aufgrund seiner menschlichen Immanenz
ebenso leidet Daher fand auch das Lex talionis eine Abloumlsung
und wurde durch Geldstrafen ersetzt32
Die Losloumlsung von Todesstrafe und Lex talionis in Verbin-
dung mit dem Gedanken dass die Wuumlrde unverlierbar ist fuumlhrt
zu einer groumlszligeren Deckungsgleichheit des juumldischen Wuumlrdever-
staumlndnisses mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken in der Rechtsanwendung Die Begruumlndung dieses
Schritts dass Verletzung und Toumltung von Menschen um das Lei-
den des Goumlttlichen und nicht des Menschen zu vermeiden sind
zeigt hingegen dass die Wuumlrde des Menschen weiterhin extrin-
sisch begruumlndet wurde und nicht der Mensch an sich sondern
Gott der Grund des auf dem Tzelem Elohim aufbauenden As-
pekts des juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnisses ist
4 Die Naumlchstenliebe des Talmud als Bestandteil des
29 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138f 30 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 309ff 31 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 311f
Naturrechts
Das bereits in der Torah angelegte Konzept der Naumlchstenliebe
erfuhr im Talmud eine noch staumlrkere Ausformung die Rabbiner
Hillel als goldene Regel zusammenfasste ldquoWas Dir nicht lieb
ist tue auch deinem Naumlchsten nicht das ist die gesamte Geset-
zeslehre alles andere ist nur Erlaumluterung geh und lerneldquo Nach
dem Rabbiner Leo Baeck ergibt sich aus der Verbindung der in
Torah und Talmud angelegten Naumlchstenliebe Inklusion des
Fremden und Menschenrechte ein staatlicher Rechtsgedanke
der nur auf den Menschen abstellt und damit als ein Grundbe-
griff des Naturrechts gelten kann33 Torah und Talmud bieten
somit neben dem untrennbar mit Gott verknuumlpften Gedanken der
Ebenbildlichkeit Ansaumltze fuumlr ein Konzept der Menschenwuumlrde
das sich saumlkular auslegen laumlsst und daher eine grundsaumltzliche
Vereinbarkeit mit dem modernen europaumlischen Menschenwuumlr-
degedanken aufweist
5 Zwischenfazit
Das in Torah und Talmud angelegte Wuumlrdeverstaumlndnis weist
verschiedene Ansaumltze des modernen europaumlischen Menschen-
wuumlrdegedankens auf Aus dem Konzept der Gottesebenbildlich-
keit entspringt der Gedanke einer unverlierbaren Gleichheit aller
Menschen aus der jedoch kein universeller normativer An-
spruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden kann Des Wei-
teren weisen Torah und Talmud Ansaumltze verschiedener Frei-
heits- und Sozialrechte auf die auch vom heutigen Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis umfasst werden und mit dem im Talmud ver-
staumlrkten Konzept der Naumlchstenliebe ist auch ein Bezugspunkt fuumlr
einen naturrechtlichen Menschenwuumlrdebegriff angelegt Diese
Ansaumltze reichen in Summe jedoch nicht aus um daraus das mo-
derne europaumlische Menschenwuumlrdeverstaumlndnis vollstaumlndig her-
zuleiten Insbesondere die Uumlberlegungen zum Menschen als ver-
nunftfaumlhigem Individuum die im Entwicklungsprozess des eu-
ropaumlischen Menschenwuumlrdegedankens zum Tragen gekommen
sind finden in Torah und Talmud keine klare Ausformung Der
Schutz der Wuumlrde des Menschen zielt im Judentum lediglich auf
den Schutz des goumlttlichen Anteils am Menschen ab Der Vorrang
der Wuumlrde vor den biblischen Gesetzen ist daher kein Vorrang
der Wuumlrde vor staatlichen oder religioumlsen Direktiven sondern
eine innerreligioumlse Priorisierung ebenjener Der Mensch wird im
kanonischen Recht des Judentums vor allem als Teil einer mit
dem Goumlttlichen verbundenen Gemeinschaft angesehen und das
Ausmaszlig des Schutzes seiner Wuumlrde wird mitunter an die Zuge-
houmlrigkeit zur Religion gekoppelt
III Einfluss der Diaspora auf das juumldische
Wuumlrdeverstaumlndnis
Neben religioumlsen und philosophischen Erwaumlgungen werden
ethische Konzepte wie das der Menschenwuumlrde auch immer
durch historische Gegebenheiten beeinflusst Ab der Zerstoumlrung
des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n Chr kam es zu einer
32 Y Lorberbaum The Cambridge Handbook of human dignity 2015 135
138 M Lim Southwestern Journal of International Law 22 (2016) 303 312
33 S Sandler Menschenrechte im Weltkontext 2013 79 81
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 5
knapp 2000 Jahre anhaltenden Vertreibung und Verfolgung von
Juden der Diaspora34 Im Folgenden werden die Auswirkungen
eines fehlenden juumldischen Staats und die Stellung der Juden als
diskriminierte Minderheit auf das juumldische Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde beleuchtet
1 Auswirkungen anhaltender Diskriminierung auf
das juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde
Die Diskriminierung der Juden nahm im Mittelalter mit dem
Einsetzen der Kreuzzuumlge ein noch staumlrkeres Ausmaszlig an als zu-
vor Dieser Hass der Mitgliedern der juumldischen Glaubensge-
meinschaft entgegengebracht wurde wirkte sich auch auf das
juumldische Recht aus So kam es im Shullan Arukh der bedeu-
tendsten Kodifikation juumldischen Rechts des spaumlten Mittelalters
zu einer Beschneidung der Menschenrechte von Nichtjuden
Exemplarisch sind insbesondere die Beschraumlnkungen die juumldi-
schen Frauen fuumlr die Hilfe bei der Niederkunft nichtjuumldischer
Frauen und juumldischen Aumlrzten bei der Behandlung nichtjuumldischer
Patienten auferlegt wurden Im Kern wurde ihnen das Entgegen-
bringen jeglicher Hilfe gegenuumlber Andersglaumlubigen untersagt
Einzig wenn sie dadurch die Feindseligkeit von Andersglaumlubi-
gen riskierten war es ihnen gestattet von dieser Regelung Ab-
stand zu nehmen35
Die Unterdruumlckung der Juden im Mittelalter fuumlhrte somit zu
einer Einschraumlnkung der Menschenrechte von Andersglaumlubigen
im juumldischen Recht Unter der Annahme dass Menschenrechte
Ausdruck des zugrundeliegenden Wuumlrdeverstaumlndnisses sind
kann daher vermutet werden dass der auf dem biblischen Kon-
zept der Naumlchstenliebe fuszligende Aspekt des juumldischen Wuumlrde-
verstaumlndnisses im Mittelalter eine Einengung auf Juden erfuhr
um der dauerhaften gegenwaumlrtigen Gefahr der die juumldischen
Gemeinden ausgesetzt waren Rechnung zu tragen Dem mit
dem modernen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis verknuumlpfbare natur-
rechtlichen Ansatz der aus der Naumlchstenliebe hergeleitet wer-
den kann wurde damit die Grundlage genommen
2 Ausbleiben einer saumlkularen Weiterentwicklung der
juumldischen Menschenwuumlrde
An dieser Stelle werden drei Vermutungen angestellt wie sich
das Fehlen eines juumldischen Staats im Zeitraum der Diaspora auf
das juumldische Konzept der Menschenwuumlrde ausgewirkt hat
Die erste Uumlberlegung besteht darin dass zur Durchsetzung
von menschenrechtlichen Garantien auf Draumlngen eines Teils der
Bevoumllkerung diese auch der zu veraumlndernden Rechtsordnung
praktisch unterworfen sein muss um sich an der betreffenden
Rechtsordnung stoumlren zu koumlnnen Da Juden in Europa eine un-
terdruumlckte Minderheit darstellten gab es zu keiner Zeit der
Diaspora einen Staat dessen Regierung durch das Judentum an-
stelle des Christentums legitimiert wurde Die juumldischen Gesetze
fanden durch das Fehlen eines juumldischen Staats keine Anwen-
34 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32
(2011) 1101 1110
dung durch irgendeinen Staat somit war auch die Erprobung ih-
rer Schwachstellen und Aktualitaumlt begrenzter als die von Rechts-
ordnungen mit tatsaumlchlicher Guumlltigkeit Das juumldische Recht
blieb daher das Beschaumlftigungsfeld der begrenzten Gruppe de-
rer die ohnehin fuumlr ihre Bewahrung und Entwicklung zustaumlndig
waren also die der Rechtsgelehrten Philosophen und Rabbiner
Eine Einforderung von Buumlrgerrechten als Annaumlherung an die
moderne Menschenwuumlrde wie sie sonst in Europa uumlber Jahrhun-
derte mehrfach stattgefunden hat konnte daher in Bezug auf das
juumldische Recht gar nicht geschehen Ein Beitrag zur Entwick-
lung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses durch eine
durch Aufstaumlnde und Revolutionen einem juumldischen Staat abge-
trotzte Reihe von Menschenrechten unterblieb daher infolge des
Fehlens eines juumldischen Staats
Als zweite These wird angenommen dass auch eine Weiter-
entwicklung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses
durch eine breite Beteiligung der Juden an den Bemuumlhungen fuumlr
die Gewaumlhrung von Menschenrechten in den europaumlischen Staa-
ten weitestgehend entfiel da sie flaumlchendeckend diskriminiert
wurden und als Buumlrger zweiter Klasse galten Bevor sie eine
sichtbare Rolle im Kampf der bdquoDurchschnittsbevoumllkerungldquo fuumlr
die Durchsetzung der Menschenwuumlrde spielen konnten mussten
sie erst den rechtlichen Status der christlichen Bevoumllkerung er-
langen Eine stetige Erweiterung des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs aufgrund einer Miturheberschaft an neu erlangten
Freiheits- und Schutzrechten innerhalb europaumlischer Rechtsord-
nungen entfaumlllt folglich ebenfalls
Der dritte Ansatz ist dass eine andere Moumlglichkeit der saumlku-
laren Weiterbildung des juumldischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis-
ses die Reformierung der juumldischen Rechtsordnung bdquovon obenldquo
gewesen waumlre Dies waumlre durch das Einwirken von Juden die
als hochrangige Beamte in den europaumlischen Staaten Reformen
angestoszligen und begleitet haben denkbar gewesen Ihre Exper-
tise als Staatsmaumlnner koumlnnte dann als Legitimation fuumlr die Wei-
terentwicklung der juumldischen Rechtstheorie gehandelt worden
sein Die Diskriminierung der Juden in Europa machte jedoch
auch eine solche Entwicklung unmoumlglich
Diesen Uumlberlegungen folgend kann man annehmen dass es
im Gegensatz zu den christlich gepraumlgten europaumlischen Konzep-
ten der Menschenwuumlrde keine saumlkularen Ansaumltze Eingang in das
juumldische Verstaumlndnis der Menschenwuumlrde finden konnten Ver-
schiedene Ausformungen des Wuumlrdeverstaumlndnisses die saumlku-
lare Elemente wie das Naturrecht und religioumlse Elemente unter-
schiedlich stark gewichten haben sich daher im Gegensatz zum
europaumlischen Wuumlrdebegriff in Verbindung mit dem juumldischen
Wuumlrdebegriff nicht entwickeln koumlnnen Es bleibt folglich bei ei-
ner rein religioumls begruumlndeten Wuumlrde die nie die Stellung als
oberster Wert einnehmen konnte da sie mit dem Goumlttlichen von
einer noch houmlheren Instanz begruumlndet wird
C Die Entwicklung der Menschenwuumlrde im positiven
35 D Wermuth University of Pennsylvania Journal of International Law 32 (2011) 1101 1110ff
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 6
Recht Israels
In diesem Abschnitt werden Rechtsschaffung und Rechtspre-
chung in Israel im Spannungsfeld zwischen dem bisher skizzier-
ten juumldischen und dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde eingeordnet Im Anschluss kommt es zu einer
Auseinandersetzung mit der Frage ob das heutige Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde in Israel im Feld der eigenen religioumlsen
Tradition verortet werden kann oder ob eine europaumlische
Rechtsrezeption vorliegt
I Das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis bis 1992
Der moderne Staat Israel wurde im Jahr 1948 durch die israeli-
sche Unabhaumlngigkeitserklaumlrung proklamiert die Israel als juumldi-
schen Staat definiert36 Der Begriff der Menschenwuumlrde ist in
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung nicht zu finden Bei Gruumlndung
des Staats Israel wurde die bestehende Gesetzeslage des Com-
mon Law aus der Zeit der britischen Mandatsherrschaft die Ele-
mente des osmanischen Rechts enthielt weitestgehend uumlber-
nommen37 Der Oberste Gerichtshof entwickelte daran durch
Auslegung eine Reihe von Menschenrechten die unter anderem
Demonstrationsfreiheit Freizuumlgigkeit Vereinigungsfreiheit
den freien Zugang zu den Gerichten und Meinungsfreiheit um-
fassten38 Eine erste Nennung im positiven Recht erfuhr der Be-
griff der Menschenwuumlrde erst in einer Entscheidung des Obers-
ten Gerichtshofs aus dem Jahr 1980 dem Fall Katalan v Prison
Services39 in dem der Oberste Gerichtshof das Auspumpen der
Maumlgen von Gefaumlngnisinsassen aufgrund des Verdachts auf Dro-
genschmuggel im Koumlrper verbot40
In dieser Anfangsphase des Staats Israel sind klare Ansaumltze
im Recht die die Freiheit und Autonomie des Individuums uumlber
dem Konzept der bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde des Kol-
lektivs und biblischen Vorschriften ansiedeln und dadurch eine
Naumlhe zum europaumlischen Menschenwuumlrdebegriff anzeigen nicht
ersichtlich Die bis ins Jahr 1980 lediglich indirekte und nach-
folgend noch immer geringe Ausformung der Menschenwuumlrde
im positiven Recht Israels scheint mit Blick auf die Definition
Israels als juumldischer Staat daher dem zuvor dargestellten juumldi-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu entsprechen
II Das israelische Grundrecht bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo
Israel verfuumlgt uumlber keine abschlieszligende Verfassung jedoch gibt
es eine Reihe einzelner Grundrechte Seit dem Jahr 1992 hat der
Begriff der Menschenwuumlrde mit dem Grundrecht bdquoMenschen-
wuumlrde und Freiheitldquo auch expliziten Eingang in die israelische
36 Israelische Unabhaumlngigkeitserklaumlrung Abs 12 37 A Weilert Grundlagen und Grenzen des Folterverbots in verschiedenen
Rechtskreisen 2009 240f 38 B Genut Fordham International Law Journal 19 (1996) 2120 2146f 39 HCJ 35579 40 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 41 A Addis Journal of International and Comparative Law 2 (2015) 1 18 42 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 43 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 44 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 2 3 4 7 45 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 6
Rechtsordnung gefunden Zuvor hatte die Menschenwuumlrde nur
in wenigen Urteilen des Obersten Gerichtshofs Israels Erwaumlh-
nung gefunden41 und Menschenrechte waren bis auf wenige
Ausnahmen als Teil des Common Law ebenfalls nur uumlber die
Rechtsprechung im positiven Recht Israels verankert42
1 Umfang des Grundrechts
Die Menschenwuumlrde ist durch das Grundrecht in Israel sowohl
ein Verfassungsprinzip43 als auch ein subjektives Recht Durch
das Grundrecht sind der Schutz von Leib Leben Wuumlrde Eigen-
tum und Privatsphaumlre garantiert44 Auch wird allen Menschen
freie Ausreise aus Israel und israelischen Staatsbuumlrgern daruumlber
hinaus freie Einreise nach Israel garantiert45 Uumlber weitere
Grundrechte sind die Freiheit der Berufswahl46 das Wahl-
recht47 das Recht fuumlr Aumlmter zu kandidieren48 sowie das Recht
auf Zugang zu den Gerichten49 garantiert
Bezuumlglich der Geltung weiterer auf der Menschenwuumlrde auf-
bauender Menschenrechte hat der Oberste Gerichtshof Israels
sowohl eine enge Auslegung des Rechts auf Menschenwuumlrde
als auch eine weite Auslegung des Grundrechts abgelehnt50
Eine enge Auslegung haumltte lediglich den Schutz vor physischer
und psychischer Verletzung Folter Demuumltigung und Erniedri-
gung umfasst eine weite Auslegung haumltte saumlmtliche in den mo-
dernen Rechtsordnungen vorhandenen Menschenrechte einge-
schlossen51 Stattdessen befand der Oberste Gerichtshof dass
das Recht auf Menschenwuumlrde das Verfassungsprinzip der Men-
schenwuumlrde umfassen soll52 Da im Verstaumlndnis des israelischen
Common Law die Menschenwuumlrde als Quelle aller Menschen-
rechte betrachtet wird fuumlhrt dies jedoch nicht zu einem Aus-
schluss der Rechte die durch die weite Auslegung des Rechts
auf Menschenwuumlrde garantiert worden waumlren53 Durch diese
Entscheidung wurde das Grundrecht auf Menschenwuumlrde zu ei-
nem zusammengesetzten Recht erklaumlrt das aus einem Buumlndel an
Tochterrechten besteht die verschiedene Aspekte des Mutter-
rechts abbilden und dadurch dessen multiple Wirkrichtungen si-
chern54
Folgende Tochterrechte wurden durch Entscheidungen des
Obersten Gerichts bisher anerkannt das Recht auf Gleichbe-
handlung Meinungsfreiheit Religionsfreiheit Freizuumlgigkeit
die Gruumlndung einer Familie freie Berufswahl Bildung ein or-
dentliches Gerichtsverfahren einen humanitaumlren Mindeststan-
dard Schutz vor Rufschaumldigung und ein Persoumlnlichkeitsrecht55
Zudem hat der Oberste Gerichtshof ein Hinausreichen der Men-
schenwuumlrde uumlber den Tod anerkannt56
46 Basic Law Freedom of Occupation 47 Basic Law The Knesset Abs 5 48 Basic Law The Knesset Abs 6 49 Basic Law The Judiciary Abs 3 50 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 47 49f 51 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 805 52 A Barak Human Dignity 2015 287 53 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 39 49f 54 A Barak Human Dignity 2015 287f 55 A Barak Human Dignity 2015 288ff 56 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 55
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 7
2 Geltung des Grundrechts und Stellung innerhalb
der Rechtsordnung
Das Grundrecht auf Menschenwuumlrde ist ein relatives Recht
Aufgrund einer im Grundrecht verankerten Bestimmung sind
Einschraumlnkungen der einzelnen durch das Grundrecht garantier-
ten Menschenrechte durch Notverordnungen moumlglich57 Zudem
unterliegt das Grundrecht nicht wie in Deutschland einer Ewig-
keitsklausel58 sondern kann durch das israelische Parlament die
Knesset veraumlndert werden59 Eine Abschaffung der Grundrechte
ist daher nicht explizit ausgeschlossen Jedoch kann der Oberste
Gerichtshof Aumlnderungen oder Abschaffungen von Grundgeset-
zen die seiner Ansicht nach der Demokratie oder den weiteren
der Unabhaumlngigkeitserklaumlrung innewohnenden Grundwerten
entgegenstehen fuumlr verfassungswidrig erklaumlren60 Somit ist die
Moumlglichkeit einer impliziten Sperre fuumlr die Abschaffung des
Grundrechts gegeben
Die Grundrechte wurden ebenso wie andere Gesetze Israels
von der Knesset mit einer einfachen Mehrheit beschlossen und
stehen daher formell nicht uumlber anderen Gesetzen61 Sie wurden
aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1995 zu
Gesetzen mit Verfassungscharakter erklaumlrt die einen den ande-
ren Gesetzen uumlbergeordneten Status genieszligen62 Sie haben nur
Vorrang vor Gesetzen die juumlnger sind aumlltere Normen werden
vom Grundrecht nicht verdraumlngt und verdraumlngen dieses eben-
falls nicht beide Normen gelten parallel Aumlnderungen und Er-
weiterungen von Gesetzen die bereits vor dem Grundrecht be-
standen genieszligen jedoch nicht diesen Schutz und werden durch
das Grundrecht verdraumlngt63
3 Zwischenfazit
Wie auch in europaumlischen Rechtsordnungen genieszligt die Men-
schenwuumlrde damit grundsaumltzlich Vorrang vor einfachen Geset-
zen Die Position der Menschenwuumlrde innerhalb des israelischen
Rechts ist gemessen an europaumlischen Rechtsordnungen zum
Beispiel der Griechenlands64 oder Deutschlands65 weniger pro-
minent und fest verankert Im israelischen Rechtssystem das
keine Ewigkeitsklauseln kennt und keine abgeschlossene Ver-
fassung hat kommt der Menschenwuumlrde dennoch eine heraus-
ragende Stellung als Gesetz mit Verfassungscharakter und
Quelle aller Menschenrechte zu die jedoch durch die Parallel-
wirkung zu aumllterem Recht und die grundsaumltzliche Einschraumlnk-
barkeit des Grundrechts aufgrund von Notverordnungen ge-
schmaumllert wird
57 Basic Law Human Dignity and Freedom Abs 12 58 Art 79 III Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 59 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 29f 41 60 A Barak Human Dignity 2015 284f 61 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 796 A Bendor M Sachs
Israel Law Review 44 (2011) 25 41f 62 B Bracha University of Pennsylvania Journal of Constitutional Law 3
(2001) 581 583
III Die bdquokonstitutionelle Revolutionldquo
Mit der Verabschiedung des Grundrechts bdquoMenschenwuumlrde und
Freiheitldquo erfolgte nicht nur eine Verankerung der Menschen-
wuumlrde im israelischen Recht sondern auch eine neue Ausrich-
tung des Menschenwuumlrdebegriffs in Israel Diese Veraumlnderung
der Gesetzeslage wird ruumlckblickend als bdquokonstitutionelle Revo-
lutionldquo bezeichnet66 Die Gesetzgebung der Knesset erfolgt in
der Regel unter Beteiligung eines breiten politischen Spektrums
da zur Bildung von Mehrheiten in Israel oft eine Einbeziehung
von mehr als zwei Parteien notwendig ist Parteien die dem ult-
raorthodoxen Umfeld zuzurechnen sind wirken ihrem An-
spruch entsprechend oft blockierend auf Gesetzesentwuumlrfe ein
die die Vorrangstellung der Religion im Staat eindaumlmmen koumlnn-
ten sie sind um die Beibehaltung des Status quo bemuumlht67 Un-
ter diesen Gesichtspunkten stellt das Grundrecht auf Menschen-
wuumlrde zum einen eine bedeutende Neuerung in der israelischen
Gesetzgebung dar zum anderen ist es Ausdruck eines Kompro-
misses
Das Gesetz definiert Israel woumlrtlich nicht mehr nur als juumldi-
schen sondern auch als demokratischen Staat68 Durch den Na-
men des Gesetzes bdquoHuman Dignity and Libertyldquo erfaumlhrt die
Wuumlrde eine Verknuumlpfung mit dem Autonomiegedanken Somit
wird die Wuumlrde sowohl mit religioumlsen als auch mit saumlkularen
Ansaumltzen des Menschenwuumlrdegedankens verknuumlpft Diese Ge-
wichtung fuumlhrt zu einer Ausbalancierung beider Ansaumltze die je-
doch auch das Potential einer bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des Gesetzes
birgt
IV Auswirkungen des Grundgesetzes auf die
Rechtsprechung
Im Folgenden werden Entscheidungen des Obersten Gerichts-
hofs Israels dargestellt die nach dem Erlass des Grundrechts auf
Menschenwuumlrde gefaumlllt wurden und deren Entscheidung von der
Einnahme der traditionellen juumldischen bzw der modernen euro-
paumlischen Perspektive auf die Menschenwuumlrde abhaumlngig war
1 Sheffer v State of Israel
Im Fall Sheffer v State of Israel69 der im Jahr 1993 entschieden
wurde standen sich das juumldische Konzept der bdquoHeiligkeit des
Lebensldquo das auf der Idee des Tzelem Elohim basiert und die
Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenuumlber Die Mutter ei-
nes zweijaumlhrigen Maumldchens das an einer unheilbaren Erkran-
kung litt und im Wachkoma lag klagte darauf die medizinische
Behandlung der Tochter bis auf die Gabe von Schmerzmitteln
einstellen zu duumlrfen und Wiederbelebungsmaszlignahmen an dem
Maumldchen zu unterlassen Das Gericht hatte somit uumlber das Recht
63 A Barak Human Dignity 2015 305ff 64 Art 2 I Verfassung Griechenlands 65 Art 1 I Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 66 G Carmi McGill Law Journal 57 (2012) 791 799 67 A Bendor M Sachs Israel Law Review 44 (2011) 25 41 68 Basic Law Human Dignity and Liberty Abs 1 69 Israeli Supreme Court CA 50688 Sheffer v State of Israel Israel Law Re-
ports 1992 1 ndash 144
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 8
von Patienten und Eltern minderjaumlhriger Patienten medizini-
sche Behandlungen zu verweigern zu entscheiden Der Oberste
Gerichtshof unter dem Vorsitz von Richter Menachem Elon
wies die Klage unter Berufung auf die bdquoHeiligkeit des Lebensldquo
zuruumlck Diese Entscheidung ist daher dem traditionellen juumldi-
schen und nicht dem modernen europaumlischen Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zuzuordnen jedoch wurde im Jahr 2005 das
Terminal Patient Law erlassen das praumlfinalen Patienten und de-
ren gesetzlichen Vormunden das Recht zugesteht weitere me-
dizinische Behandlung abzulehnen und somit klar dem europaumli-
schen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zuzuordnen ist70
2 Hevra Kadisha v Lional Aria Kestenbaum
Der Streitpunkt des Falls Hevra Kadisha v Lional Aria Kesten-
baum71 aus dem Jahr 1992 war das Verstaumlndnis der postmortalen
Wuumlrde wobei das juumldische Konzept der Kvod Habriyot und das
europaumlische Verstaumlndnis der Wuumlrde des Einzelnen mit einander
kollidierten Die Kadisha-Organisation verwaltet Friedhoumlfe in
Israel wobei die Vorschrift dass Inschriften auf Grabsteinen
einheitlich auf hebraumlisch abgefasst sein muumlssen Teil der Ver-
traumlge der Organisation mit den dort Bestatteten ist Die Familie
des Verstorbenen hatte sich fuumlr eine nicht auf hebraumlisch abge-
fasste Inschrift entschieden wogegen die Organisation klagte
Richter Elon sprach sich im Sinne des juumldischen Menschenwuumlr-
debegriffs dafuumlr aus dass die Wuumlrde der bereits auf dem betref-
fenden Friedhof Bestatteten im Sinne der Kvod Habriyot der
Wuumlrde des Einzelnen vorzuziehen sei Jedoch setzten sich die
Richter Meir Shamgar und Aharon Barak durch die zugunsten
eines saumlkular-liberalen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ent-
schieden dass der Wuumlrde des Einzelnen den Vorzug vor kol-
lektiven Werten gewaumlhrt72
3 Lior Horev et al v Minister of Transportation
Im Jahr 1996 musste der Oberste Gerichtshof eine weitere Ent-
scheidung im Spannungsfeld zwischen biblischen Vorschriften
und der Autonomie des Einzelnen faumlllen Im Fall Lior Horev et
al v Minister of Transportation73 wurde auf die Sperrung einer
Straszlige am Sabbath geklagt die durch ultrareligioumlse Bezirke Je-
rusalems fuumlhrt Der Oberste Gerichtshof entschied im Sinne des
europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses unter Herleitung
der Verkehrsfreiheit aus der Menschenwuumlrde gegen eine Sper-
rung der Straszlige Richter Tzvi Tal teilte die Ansicht der anderen
Richter jedoch nicht da er religioumlsen Traditionen und Werten
eine houmlhere Prioritaumlt als der Verkehrsfreiheit einraumlumte74
4 Zwischenfazit
In der Gesamtschau zeigen diese Beispiele dass sich der im
Grundrecht auf Menschenwuumlrde angelegte Dualismus von tra-
ditionellem juumldischem und modernem europaumlischem Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnis in den Entscheidungen des Obersten Ge-
70 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 676f 71 Israeli Supreme Court CA 91294 72 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 677f 73 Israeli Supreme Court CA 965016
richtshofs wiederspiegelt was neben der Zweideutigkeit der ge-
setzlichen Grundlage auf die gezielt heterogene Besetzung des
Obersten Gerichtshofs mit religioumlsen und saumlkularen Richtern zu-
ruumlckzufuumlhren ist75
Auch wenn sich eine Verzerrung des Bildes durch die be-
grenzte Auswahl an Beispielen nicht ausschlieszligen laumlsst scheint
sich der moderne europaumlische Begriff der Menschenwuumlrde in
der israelischen Gesetzgebung und Rechtsprechung durchzuset-
zen Zur Annahme dieser These fuumlhrt zum einen der Charakter
des Common Law durch den sich die Rechtsprechung bei neuen
Entscheidungen stark an bereits ergangenen Urteilen orientiert
In den letzteren beiden Faumlllen wurde folglich mit Urteilen im
Sinne des europaumlischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses eine
Grundlage fuumlr weitere europaumlisch orientierte Entscheidungen in
Fragen des Verhaumlltnisses von der Wuumlrde des Kollektivs und bib-
lischer Vorschriften zur Autonomie des Individuums geschaf-
fen Ein Ruumlckgriff auf parallel wirkende Gesetze aus der Zeit
vor 1992 die im Einzelfall dem Grundrecht entgegenstehen
scheint aufgrund des Anspruchs der grundrechtskonformen
Auslegung aumllterer Gesetze76 und der Existenz eines neuen bdquoLei-
turteilsldquo unwahrscheinlich Zum anderen wird die Vermutung
durch die im ersten Beispiel erfolgte Staumlrkung des europaumlischen
Ansatzes der Wuumlrde durch den Gesetzgeber gestuumltzt Eine ge-
setzliche Kehrtwende ist aufgrund der bereits erlaumluterten Mehr-
heitsverhaumlltnisse der Knesset unwahrscheinlich
V Die Entstehung der israelischen Menschenwuumlrde
Die Menschenwuumlrde im israelischen Recht bewegt sich im
Spannungsfeld zwischen dem modernen europaumlischen und dem
traditionellen juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis Eine klare Zuord-
nung zu einem der beiden Wuumlrdeverstaumlndnisse ist seit der bdquokon-
stitutionellen Revolutionldquo und der darauf aufbauenden Recht-
sprechung nicht mehr moumlglich Die bdquoJanuskoumlpfigkeitldquo des
Grundrechts auf Menschenwuumlrde fuumlhrt zu einem bestaumlndigen
Ringen beider Konzepte um Vorrang im positiven Recht Es
scheint jedoch dass der europaumlische Ansatz leicht die Oberhand
gewonnen hat Eine umfassende Saumlkularisierung des Menschen-
wuumlrdeverstaumlndnisses erscheint in Israel einem modernen Staat
dessen Existenz sich auf das Judentum stuumltzt hingegen unwahr-
scheinlich
Im Hinblick auf das Menschenwuumlrdeverstaumlndnis im israeli-
schen Recht bietet es sich daher an nicht mehr von einem mo-
dernen europaumlischen oder einem traditionellen juumldischen son-
dern von einem israelischen Menschenwuumlrdeverstaumlndnis zu
sprechen Ebenso wie in Europa der moderne saumlkulare Wuumlrde-
begriff auf die Basis christlicher Uumlberzeugungen gestellt werden
kann ohne von diesen abhaumlngig gemacht zu werden ist dies
auch mit juumldischen Erklaumlrungsansaumltzen moumlglich Die Vorausset-
zung fuumlr einen solchen modernen Begriff der Menschenwuumlrde
ist in jedem Fall die Betrachtung der Religion als zusaumltzlichen
74 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 679 75 D Shultziner Journal of Religious Ethics 34 (2006) 663 675 76 A Barak Human Dignity 2015 306f
Gawlyta Menschenwuumlrde in Israel Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 9
und nicht als einzigen Begruumlndungsansatz der Wuumlrde des Men-
schen
D Fazit
Wie sich gezeigt hat sind der Begriff und das Verstaumlndnis der
Menschenwuumlrde zu unterscheiden waumlhrend die Gesetzeslage in
Europa und Israel auf einen vergleichbaren Mindestgehalt des
Begriffs Menschenwuumlrde schlieszligen laumlsst kann das Verstaumlndnis
der Menschenwuumlrde und der daraus folgende Umgang mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde in der Rechtsprechung variieren
Die Darstellung der Grundlagen und Genese des Begriffs im Ju-
dentum ergab dass sich aus der Auseinandersetzung mit dem
Begriff der Menschenwuumlrde auf religioumlser philosophischer je-
doch nicht auf saumlkularer Ebene in der Tradition des Judentums
ein anderes Verstaumlndnis als in Europa entwickelt hat Das juumldi-
sche Wuumlrdeverstaumlndnis unterscheidet sich vom europaumlischen
Wuumlrdeverstaumlndnis maszliggeblich in der Priorisierung des Goumlttli-
chen die zu einem Vorrang der im Ebenbildlichkeitsgedanken
begruumlndeten bdquoHeiligkeit des Lebensldquo der Wuumlrde der Gemein-
schaft und der biblischen Regeln vor der Autonomie und der
Freiheit des Individuum fuumlhrt Im positiven Recht Israels sind
seit der bdquokonstitutionellen Revolutionldquo beide Verstaumlndnisse ver-
ankert und es zeichnet sich ein Erstarken des saumlkularen europauml-
ischen Verstaumlndnisses der Menschenwuumlrde ab In dieser Ent-
wicklung kann die Etablierung eines israelischen und nicht
mehr lediglich europaumlischen oder juumldischen Wuumlrdeverstaumlndnis-
ses gesehen werden das in seiner Schwerpunktsetzung saumlkular
ist jedoch religioumls begruumlndet werden kann
Vor diesem Hintergrund kann von einer einsetzenden euro-
paumlischen Rechtsrezeption der Menschenwuumlrde in Israel gespro-
chen werden In Anbetracht des vergleichsweise kurzen Beste-
hens des modernen Staats Israel laumlsst sich die gegenwaumlrtige Ent-
wicklung des Menschenwuumlrdeverstaumlndnisses im israelischen
Recht jedoch auch als originaumlre Evolution des religioumlsen Wuumlr-
deverstaumlndnisses zu einem in modernen Demokratien praktikab-
len Wuumlrdeverstaumlndnis verstehen deren weiterer Verlauf nicht
auf die vollstaumlndige Angleichung an das europaumlische Modell der
Menschenwuumlrde begrenzt ist
Der Autor studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt und be-findet sich derzeit in der Examensvorbereitung Der Artikel ist Teil einer Seminararbeit die im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 20172018 bei Prof Dr Ralf Poscher entstanden ist
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
10
Die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die Verle-
gung der US-Botschaft Grenzen des Voumllkerrechts
-
von Lucie Schultz
A Abstract
Am 6122017 verkuumlndete US-Praumlsident Donald Trump
es sei an der Zeit Jerusalem offiziell als Hauptstadt Isra-
els anzuerkennen Mit der Planung zur Verlegung der US-
Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem solle umgehend
begonnen werden1 Damit stieszlig er international auf heftige
Reaktionen und vielfach auf Kritik Der folgende Beitrag
will untersuchen inwieweit diese begruumlndet sind und ob
Trump durch seine Ankuumlndigungen an die Grenzen des
Voumllkerrechts stoumlszligt oder sie uumlberschreitet
B Staatliche Souveraumlnitaumlt im Konflikt mit dem
Selbstbestimmungsrecht der Voumllker
Der Zentrale Streitpunkt hierbei ist die Frage nach dem voumllker-
rechtlichen Status Jerusalems welcher wiederrum maszliggeblich
von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen in der Stadt abhaumlngig ist
Staatliche Souveraumlnitaumlt ist die notwendige Bedingung gar
Grundlage des Voumllkerrechts2 Gemeint ist die Faumlhigkeit einer ju-
ristischen oder natuumlrlichen Person zu ausschlieszliglicher rechtli-
cher Selbstbestimmung3 Dabei ist zu unterscheiden zwischen
rechtlicher und faktischer Souveraumlnitaumlt erstere meint den recht-
maumlszligigen Titel letztere tatsaumlchliche Kontrolle und Herrschaft4
Durch den rechtmaumlszligigen Titel wird faktische Kontrolle zur voll
ausgereiften Souveraumlnitaumlt Die faktische Herrschaft ist - insbe-
sondere bei militaumlrischen Konflikten - leichter festzustellen als
die Souveraumlnitaumlt uumlber das betreffende Gebiet5
Sowohl Israel als auch Palaumlstinenser sehen Jerusalem als ihre
jeweilige Hauptstadt Rechtsanspruumlche auf Territorium ergeben
sich zum groszligen Teil aus dem voumllkerrechtlichen Selbstbestim-
mungsrecht6 welches damit die staumlrkste Legitimationsquelle fuumlr
Souveraumlnitaumltsanspruumlche ist7 Gleichzeitig besteht aber auch ein
Spannungsverhaumlltnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht
1 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember 2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-
jerusalem (Stand 24022019) 2 Hillgruber in Der Staat Vol 53 Nr3 2014 475 476 3 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 173 4 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 111 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 321 5 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllker-
rechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht Band 30 2016 173 181
der Voumllker in seiner offensiven Auspraumlgung (gerichtet auf eine
Aumlnderung des Territorialstatus8) und der Souveraumlnitaumlt der Staa-
ten Da das Selbstbestimmungsrecht im Einklang mit den Best-
immungen der UN-Charta gefoumlrdert werden soll wird es grund-
saumltzlich dem Souveraumlnitaumltsgrundsatz nachgeordnet9 Die UNO
bekraumlftigt gleichwohl das Recht der Palaumlstinenser auf Selbstbe-
stimmung als unabdingbar im Nahostkonflikt10
C Die Anerkennung im Voumllkerrecht
I Bedeutung Rechtsnatur und Arten
Die voumllkerrechtliche Anerkennung bezeichnet die einseitige Er-
klaumlrung eines Voumllkerrechtssubjekts eine bestimmte Sach- oder
Rechtslage fuumlr rechtmaumlszligig zu erachten11 Voraussetzung fuumlr die
Anerkennung eines Staates ist das Bestehen von Staatsgebiet -
volk und -gewalt im Sinne der Drei-Elemente-Lehre12 Fuumlr das
Staatsgebiet ist eine endguumlltige Festsetzung der Auszligengrenzen
nicht erforderlich es bedarf lediglich eines unbestrittenen Kern-
gebiets13 Wenngleich jeder Staat seine Hauptstadt frei waumlhlen
darf und hierfuumlr grundsaumltzlich keine Anerkennung benoumltigt geht
es bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gerade
auch um die territoriale Ausdehnung der effektiven Staatsgewalt
im nicht unbestrittenen Staatsgebiet denn die Anerkennung als
Hauptstadt impliziert die Anerkennung der Ausdehnung des
Staatsgebiets auf dem Territorium der Stadt Eine Anerkennung
betrifft das bilaterale Verhaumlltnis zwischen anerkanntem und an-
erkennendem Staat und ist daher sehr politisch gepraumlgt14 Im po-
litischen Sinne ist die Anerkennung konstitutiv im rechtlichen
Sinne dagegen hat sich die deklaratorische Theorie15 als vor-
zugswuumlrdig durchgesetzt16 Das bedeutet zunaumlchst eine be-
grenzte rechtliche Wirkung von Trumps Anerkennung Jerusa-
lems als Hauptstadt Israels Jerusalem wird nicht dadurch zur
Hauptstadt und zum Staatsgebiet Israels Es ist der Kontext des
6 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 239 7 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 240 8 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 41 9 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 8 RN 11 10 ARES6719 11 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 160-1 12 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 13 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 391 14 Rauschning FS Jaenicke 1998 375 379 394 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5
RN 173 15 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 174 16 Shaw International Law 2017 331
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
11
voumllkerrechtlichen und politischen Konflikts um den Status der
Stadt der der Anerkennung eine hohe Bedeutung verleiht
Es wird bei der Art der Anerkennung zwischen de facto und
de jure Anerkennung unterschieden Erstere beinhaltet keinen
diplomatischen Austausch hat einen politischen Charakter wird
als vorlaumlufig und weniger verbindlich bezeichnet und geht oft-
mals einer Anerkennung de jure voraus17 So erkannten die USA
den Staat Israel zunaumlchst nur de facto an nach vollzogenen
Wahlen auch de jure18
II Das Prinzip der Nichtanerkennung
Durch die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und
die damit verbundene Verlegung der US-Botschaft kann Trump
nur dann gegen Voumllkerrecht verstoszligen wenn eine Pflicht zur
Nichtanerkennung besteht Neben einer politisch motivierten
Nichtanerkennung (etwa die Nichtanerkennung Israels durch die
Arabische Liga) kann die Nichtanerkennung auf der voumllkerge-
wohnheitsrechtlich anerkannten Rechtspflicht zur Nicht-Aner-
kennung von Herrschaftsverbaumlnden die unter Verstoszlig gegen das
Gewaltverbot oder das Selbstbestimmungsrecht der Voumllker ent-
standen sind beruhen19 Das Prinzip dieser Rechtspflicht beruht
auf dem Grundgedanken dass es sich kein Rechtssystem erlau-
ben kann Verstoumlszlige gegen seine eigene Ordnung zu tolerieren20
Ein Wandel von dem fruumlher geltenden Effektivitaumltsgrundsatz ex
factis jus oritur nach dem das Recht seine Guumlltigkeit verliert
wenn kontinuierliche Rechtsbruumlche durch ihre Tolerierung er-
folgreich bleiben21 zeigte sich erstmals in der Stimson-Doktrin
einer US-amerikanischen politischen Absichtserklaumlrung von
1932 Unter Verstoszlig gegen den Kellogg-Pakt zur Aumlchtung des
Krieges oder die Voumllkerbundsatzung zustande gekommenen Zu-
staumlnden wurde hiernach die Anerkennung verweigert22 Seither
fand nach dem baldigen Konsens hinsichtlich des Gewaltverbots
eine Festigung des Legalitaumltsgrundsatzes ex injuria jus non ori-
tur statt Aus diesem Grundsatz ergibt sich dass die Anerken-
nung einer verbotenen Handlung ebenso widerrechtlich ist wie
die verbotene Handlung selbst23
Insbesondere durch die Friendly-Relations-Deklaration von
1970 hat sich der Grundsatz zur Pflicht erhaumlrtet 1986 hat der
IGH die vormals nicht rechtsverbindliche Friendly-Relations-
Deklaration als Voumllkergewohnheitsrecht anerkannt bezog sich
jedoch auf die gesamte Resolution nicht auf einzelne Vorschrif-
17 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 166 Brownlie 91 f Shaw International
Law 2017 341 18 Loudwin Die konkludente Anerkennung im Voumllkerrecht S 33 19 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 172 20 Patel Recognition in the Law of Nations S 111 21 H Lauterpacht Recognition in International Law S 427 22 Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 434 23 Vgl Wehberg FS Spiropoulos 1957 433 440 IGH Wall in the Occupied
Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 24 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 12 bezugnehmend auf IGH Military and Paramilitary Ac-
tivities in and against Nicaragua Merits Judgement ICJ Reports 1986 14 25 Talmon in TomuschatThouvenin The Fundamental Rules of the International
Legal Order Jus Cogens and Obligations Erga Omnes 2006 99 102 IGH Wall
in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 87 26 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 4
ten24 2004 nahm der IGH explizit auf die Pflicht zur Nicht-An-
erkennung Bezug er sieht sie als gewohnheitsrechtlich begruumln-
det an25
3 Die Entwicklung der Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
uumlber Jerusalem und der voumllkerrechtliche Status der
Stadt
Der voumllkerrechtliche Status Jerusalems und damit die Frage ob
eine Anerkennung rechtmaumlszligiger Weise erfolgen kann oder ob e
contrario die Pflicht zur Nicht-Anerkennung besteht haumlngt
maszliggeblich von den Souveraumlnitaumltsverhaumlltnissen ab Hierzu bie-
tet sich ein Abriss der historischen Entwicklung der Souveraumlni-
taumlt auf dem Territorium Jerusalems an
II Vom Britischen Mandat zum Teilungsplan
Nach dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des
Ersten Weltkriegs erhielt Groszligbritannien ein Mandat des Voumll-
kerbundes zur Administration des Mandatsgebiets Palaumlstina Je-
rusalem war waumlhrend dieser Zeit die Hauptstadt des Mandatsge-
biets26 Das Volk im Mandatsgebiet wurde nicht seiner Souve-
raumlnitaumlt beraubt sondern an seiner Ausuumlbung voruumlbergehend ge-
hindert27 Daher wird die genaue Souveraumlnitaumltslage seit diesem
Zeitpunkt treffend als bdquoVakuumldquo bezeichnet28 Insbesondere
war Palaumlstina inklusive Jerusalem zu diesem Zeitpunkt keine
terra nullius auf dem ein originaumlrer Gebietserwerb durch Ok-
kupation29 moumlglich gewesen waumlre
Nach der Aufloumlsung des Voumllkerbundes uumlbertrug Groszligbritan-
nien die Entscheidungsmacht zur Zukunft Palaumlstinas ndash nicht aber
die Souveraumlnitaumlt ndash an die UNO Der UN-Teilungsplan fuumlr Palaumls-
tina 1947 sah eine Beendigung des britischen Mandats und eine
Aufteilung in arabische und juumldische Gebiete vor ndash Jerusalem
sollte als corpus seperatum unter internationale Kontrolle ge-
stellt werden30 Der Teilungsplan verhinderte die Aufgabe der
Souveraumlnitaumlt im Sinne einer Dereliktion welche Palaumlstina zur
terra nullius gemacht haumltte31 Der Treuhandrat der UNO wurde
mit der Administration Jerusalems betraut Auch diese Admi-
nistration bedeutete lediglich die bdquobesitzendeldquo Gebietshoheit
keine rechtliche Souveraumlnitaumlt32 Dem Teilungsplan kam keine
Legislativwirkung zu33
27 Cattan in Journal of Palestine Studies Vol 10 Nr 3 1981 3 6 28 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 13 Draper in Koumlchler The
Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 Hirsch in Israel Law Review Volume 38 Issue 1-2 2005
298 300 29 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 36 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumll-
kerrecht S 331 30 UN ARES181 (II) 31 Draper in Koumlchler The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem 154 157 32 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 8 33 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 274 Fn 8 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy
Places S 16
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
12
Die Jewish Agency eine Art Vorlaumluferregierung Israels war
mit dem Teilungsplan einverstanden die arabische Seite auf-
grund der Unproportionalitaumlt gemessen an der Bevoumllkerungs-
zahl dagegen nicht34
II Erster Arabisch-Israelischer Krieg
In der Folge des nach der Proklamation des Staates Israels am
14051948 (dem Tag des Mandatsendes) ausbrechenden Kriegs
zwischen Israel und den arabischen Staaten wurde das haupt-
saumlchlich juumldisch bevoumllkerte West-Jerusalem von Israel und Ost-
Jerusalem wo uumlberwiegend Araber lebten von Jordanien mili-
taumlrisch besetzt35 Die Besetzungen werden teils schon als fakti-
sche Annexionen beider Seiten36 und als stillschweigend von der
UNO akzeptiert angesehen37 Als Annexion wird der einseitige
Akt eines Staates bezeichnet durch den dieser gegen den Willen
eines fremden Staates dessen Staatsgebiet zu seinem eigenen
macht38 Selbst wenn das Schweigen der UNO als Duldung in-
terpretiert wird kann sich diese nur auf das Vorliegen der de
facto Autoritaumlt beziehen und nicht die Anerkennung voll ausge-
reifter Souveraumlnitaumlt begruumlnden39 Die Aufteilung in West- und
Ostjerusalem wurde Teil des Waffenstillstandsabkommens vom
441949 zwischen Israel und Jordanien und als sog bdquogruumlne Li-
nieldquo bekannt40 Sie ist die Grundlage anerkannter politischer
faktischer Souveraumlnitaumlt41 Am 23011950 erklaumlrte Israel Jerusa-
lem zu seiner Hauptstadt und siedelte seine Regierung in West-
jerusalem an42 Damit schafft Israel vollendete Tatsachen mit
der Absicht der Dauerhaftigkeit (fait accompli) was einer de-
facto Annexion gleichkommt43
III Sechstagekrieg
Bei diesem Status der Teilung zwischen Ost- und Westjerusalem
blieb es bis zum Sechstagekrieg im Juni 1967 bei dem Israel
nach einem Uumlberraschungsschlag Ostjerusalem eroberte in
seine Verwaltung eingliederte44 Ob Israel oder seine Gegner
letztlich Aggressor des Sechstagekriegs waren ist bis heute um-
stritten45 Jedoch betont der Sicherheitsrat die Unzulaumlssigkeit
des Gebietserwerbs durch Krieg ohne bei der Formulierung auf
Aggression abzustellen46 Somit spielt es keine Rolle wer letzt-
lich Aggressor war denn klar ist dass die Besetzung Ostjerusa-
lems durch Waffengewalt erreicht wurde47
34 Saperia in Journal of East Asia and International Law Vol 3 Nr 1 2010
175 177 35 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 279 Cattan Palestine and International Law The Le-
gal Aspects of the Arab-Israeli Conflict S 23 f Korman The Right to Con-
quest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 36 Cattan Palestine and International Law The Legal Aspects of the Arab-Israeli
Conflict S 25 37 E Lauterpacht Jerusalem and the Holy Places S 23 38 HailbronnerKau in Vitzthum Voumllkerrecht 2010 RN 137 39 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-tonio Cassese 2008 272 281 40 42 UNTS 303 No 656 41 Korman The Right to Conquest The Acquisition of Territory by Force in International Law and Practice S 251 42 UN DPI2276 Chapter 12 S 4 43 vgl IGH Wall in the Occupied Palestinian Territory ICJ Reports 2004 136 RN 121 44 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 Cassese The Human Dimension of International Law Sel-ected Papers of Antonio Cassese 2008 272 284
Der UN Sicherheitsrat forderte zur sofortigen Beendigung
aller kriegerischen Aktivitaumlten und zum Ruumlckzug der israeli-
schen Streitkraumlfte aus (den) im juumlngsten Konflikt eroberten Ge-
bieten48 auf Dass auf zuvor besetzte Gebiete kein Bezug ge-
nommen wird wird als de facto Anerkennung der Souveraumlnitaumlt
innerhalb der vor dem Sechstagekrieg bestehenden faktischen
Grenzen gewertet49
IV Die Annexion Ostjerusalems durch Israel
Die de-jure Annexion folgt mit dem sog Jerusalemgesetz50
1980 welches rechtliche Anspruumlche auf die ganze Stadt als
ewige und unteilbare Hauptstadt Israels erhob51 Israel verstoumlszligt
damit gegen das in Art 2 (4) der UN-Charta festgelegte Gewalt-
verbot und gegen die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung52
Der Sicherheitsrat forderte Israel auf vom Festhalten an einer
Politik und an Maszlignahmen abzusehen die sich auf den Status
Jerusalems auswirken53 Als Israel dem nicht Folge leistete er-
klaumlrte der Sicherheitsrat das Jerusalemgesetz fuumlr null und nichtig
und forderte alle Mitgliedstaaten auf bestehende diplomatische
Vertretungen aus der heiligen Stadt abzuziehen54 Die rechtlich
bindende Resolution des Sicherheitsrates verurteilt eindeutig
das Vorgehen Israels als voumllkerrechtswidrig Es bestehen keine
Souveraumlnitaumltsrechte Israels auf Ostjerusalem
V Souveraumlnitaumltsanspruumlche der Palaumlstinenser
Auf der anderen Seite begruumlndeten die Palaumlstinenser ihren An-
spruch auf Jerusalem als Hauptstadt eines zukuumlnftigen unabhaumln-
gigen Staates vor allem damit dass vor der massenhaften Aus-
wanderung vieler Juden aus allen Laumlndern Europas waumlhrend des
Holocaust nach Israel Muslime die groumlszligte Bevoumllkerungsgruppe
im Gebiet des historischen Palaumlstina waren Koumlnig Hussein von
Jordanien erklaumlrte im Juli 1998 den Verzicht Jordaniens auf
Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Jerusalem und das Westjordanland
zugunsten der 1964 gegruumlndeten Palaumlstinensischen Befreiungs-
organisation PLO55 Diese wird seit 1974 von der Generalver-
sammlung als legitime Repraumlsentation des Volkes anerkannt56
45 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 52 46 SRES233 47 Wright in The Americal Journal of Internatinal Law Vol 64 Nr 2 1970
270 270 48 SRES242 engl from territories frnz des territoires 49 Eisner in Wisconsin International Law Journal Vol 12 1994 221 252 50 Basic Law Jerusalem Capital of Israel Sefer Ha-Chukkim No 980 of the
23th Av 5740 (5 August 1980) S 186 Englische Fassung unter httpswwwknessetgovillawsspecialengbasic10_enghtm (Stand
24022019) 51 Dawidowitz in Crawford ua The Law of International Responsibility Ox-ford Commentaries on International Law 2010 677 681 52 Randelzhofer in Simma The Charter of the United Nations A Commentary
Art 2 S 74 RN 14 53 SRES476 54 SRES478 55 Paech in Das Argument 321 59 Jahrgang Heft 12017 91 100 56 Shaw International Law 2017 196 ARES3236 (XXIX) APV2282
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
13
Am 15111988 rief die PLO in Algier den Staat Palaumlstina aus57
Die Staatsqualitaumlt Palaumlstinas ist jedoch umstritten Zum einen ist
trotz des jordanischen Verzichts die genaue Territorialhoheit zu
unbestimmt zum anderen ist das Ausuumlben einer effektiven
Staatsgewalt zweifelhaft58 Seit Ende 2012 erkennt die UNO Ge-
neralversammlung Palaumlstina als non-member observer state an
was als Vorstufe zur Vollmitgliedschaft gilt59 In der entspre-
chenden Resolution wird Jerusalem als Hauptstadt zweier Staa-
ten bezeichnet Die Weltgemeinschaft haumllt also am Streben nach
einer Zwei-Staaten-Loumlsung fest Eine Vollmitgliedschaft in der
UNO scheiterte bisher trotz der begruumlszligenden Haltung der Gene-
ralversammlung60 am Veto der USA im Sicherheitsrat61
VI Zwischenfazit
Die Darstellung zeigt dass der Status der Stadt nicht nur um-
stritten sondern noch ungeklaumlrt ist Eine verbindliche einver-
nehmliche Regelung gab es nicht Die exakten Souveraumlnitaumltsver-
haumlltnisse in Jerusalem befinden sich nach wie vor im Schwebe-
zustand Trotzdem ist Jerusalem die de facto Hauptstadt Israels
Israels Souveraumlnitaumltsanspruumlche auf Westjerusalem sind weniger
umstritten als diejenigen auf Ostjerusalem Durch die rechtliche
Anerkennung der Veraumlnderung des Status Ostjerusalems durch
die uumlberwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft oder durch
Organe der UN mit entsprechen Kompetenzen koumlnnte die zu-
naumlchst illegitime Autoritaumlt Souveraumln werden62 Dies meint nicht
die Genese von Staatlichkeit im Sinne der konstitutiven Theorie
sondern die Entstehung von Voumllkergewohnheitsrecht
E Trumps Politik und ihre voumllkerrechtlichen Grenzen
I Hintergruumlnde das Verhaumlltnis der USA und Israel
Die Ambiguitaumlt zwischen dem bisherigen Abstimmverhalten der
USA in der UNO und dem ploumltzlichen Umschwenken durch
Trump hat ihren Ursprung in der Gewaltenteilung63 Waumlhrend
die Exekutive oftmals im Einklang mit Haltung der Staatenge-
meinschaft handelte unternahm die nationale Legislative Ver-
suche sie hieran zu hindern64 Die Anerkennung der Rechtmauml-
szligigkeit des Status quo ist in der US-Politik kein Novum inner-
halb der Exekutive und auf auszligenpolitischer Ebene dagegen ist
Trumps sympathisierende Haltung eine Kehrtwende
Die US-amerikanische auszligenpolitische Haltung laumlsst sich
dahingehend zusammenfassen dass keine entschiedene Position
57 Unabhaumlngigkeitserklaumlrung des Staates Palaumlstina in Algier 15111988 Deut-
sche Fassung abrufbar unter der Webpraumlsenz der diplomatischen Mission Palaumls-
tinas in Deutschland httppalaestinaorguploadsmediaunabhaengigkeitser-klaerungpdf (Stand24022019) 58 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 138 59 ARES6719 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumllkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und
Voumllkerrecht Band 30 2016 173 190 60 ARES6719 61 A66371 S2011592 23 62 Cassese The Human Dimension of International Law Selected Papers of An-
tonio Cassese 2008 272 286 63 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 64 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 65 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 2 httpswwwjusticegovsitesde-faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
bezuumlglich des Status Jerusalems bezogen wurde denn dieser
solle in kuumlnftigen Verhandlungen der beteiligten Parteien fest-
gelegt werden Die Anerkennung Israels durch US-Praumlsident
Truman begruumlnde keine Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt
uumlber Jerusalem65 Eine Anerkennung Israelischer Souveraumlnitaumlt
unterblieb sogar bezuumlglich West-Jerusalems aufgrund von
Zweifeln an der Faumlhigkeit zur tatsaumlchlichen Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung66 wenngleich die USA Jerusalem als de facto Hauptstadt
Israels anerkannten67
Eine klarere Position vertrat der legislative Zweig Im Kon-
gress herrschte die Auffassung Jerusalem sei die rechtmaumlszligige
Hauptstadt Israels68 was zudem der uumlberwiegenden Auffassung
der US-amerikanischen Bevoumllkerung entspricht69 Diese Sicht-
weise versuchte der Kongress der Exekutive durch eine Reihe
von Gesetzesinitiativen aufzudraumlngen70 Der Jerusalem Em-
bassy Act of 1995 sieht die Verlegung der US-Botschaft von Tel
Aviv nach Jerusalem vor71 Jedoch liegt die verfassungsmaumlszligige
Entscheidungshoheit uumlber die Anerkennung beim Praumlsidenten
da nur die Exekutive Zugriff auf alle entscheidungsrelevanten
Informationen hat72 Daher musste der Act mit einer Klausel er-
lassen werden welche die Moumlglichkeit eines Aufschubs durch
den Praumlsidenten zur Wahrung der nationalen Sicherheit um je-
weils sechs Monate vorsieht73 Von diesem Vollstreckungshin-
dernis machten die US-Praumlsidenten seit 1995 Gebrauch Die
Botschaftsverlegung und Anerkennung der Hauptstadt ist eine
politische Entscheidung keine diplomatische Trump beugt sich
dem Druck der Legislative und erfuumlllt ein Wahlkampfverspre-
chen
II Die Vereinbarkeit von Trumps Vorgehen mit dem voumllkerrechtlichen Status Jerusalems
Die Frage nach der voumllkerrechtlichen Vereinbarkeit muss be-
zuumlglich der Anerkennung als Hauptstadt und der Verlegung der
Botschaft getrennt beantwortet werden
1 Die Anerkennung als Hauptstadt
a) Gesamtjerusalem als Gegenstand der Anerkennung
66 Kletter in Columbia Journal of Transnational Law Vol 20 1981 319 340 67 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 838 Zank in Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 68 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839-40 69 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 23 70 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 5 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 71 Jerusalem Embassy Act of 1995 Sec 3a (3) 3b httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 72 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 10 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019) 73 Supreme Court of the United States of America No 13-628 Zivotofsky v
Kerry Brief for the Respondent S 6 httpswwwjusticegovsitesde-
faultfilesosgbriefs201401012013-0628meraapdf (Stand 24022019)
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
14
Die Anerkennung von Israels Wahl seiner Hauptstadt ist nicht
gaumlnzlich neu Bereits am 6042017 erklaumlrte Russland Westje-
rusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen Gleichzeitig
wurde das Bestreben bekraumlftig Ostjerusalem solle die Haupt-
stadt eines kuumlnftigen Palaumlstinensischen Staates werden74 Trump
signalisierte ebenfalls seine weiterhin bestehende Unterstuumltzung
der Zwei-Staaten-Loumlsung und betonte keine Position zum fina-
len Status zu beziehen insbesondere nicht bezuumlglich der spezi-
fischen Grenzen israelischer Souveraumlnitaumlt75 Das erscheint je-
doch widerspruumlchlich da er gleichzeitig nicht zwischen Ost-
und Westjerusalem unterscheidet Wenngleich er sich nicht di-
rekt auf das Jerusalem in der israelischen Sichtweise bezieht
handelt er in Ausfuumlhrung des Jerusalem Embassy Act welcher
Jerusalem als bdquowiedervereintldquo durch die Folgen des Sechstage-
krieges bezeichnet76 Ferner bezieht er sich auf die tatsaumlchlich
bestehende Herrschaft Israels welche sich ebenfalls auf die ge-
samte Stadt erstreckt Im Wortlaut seiner Erklaumlrung vom
6122017 findet sich keine Unterscheidung zwischen Ost und
West und schon im Wahlkampf hatte er eine Anerkennung der
ungeteilten Stadt angekuumlndigt77
b) Anerkennung faktischer Souveraumlnitaumlt
Trump betont ndash ebenso wie die Botschafterin der USA bei der
UNO Nikki Haley ndash uumlber den finalen Status der Stadt also auch
uumlber die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse kein Urteil faumlllen zu wol-
len78 Es stellt sich folglich die Frage ob die Anerkennung oder
Akzeptanz der faktischen Situation von der Anerkennung recht-
licher Souveraumlnitaumlt zu unterscheiden ist Jedoch ist die Wahl der
Hauptstadt Ausdruck des inneren Souveraumlnitaumltsrechts Waumlhrend
de facto Herrschaft ohne rechtliche Souveraumlnitaumlt bestehen kann
ist die Wahl der Hauptstadt Ausdruck von Souveraumlnitaumltsaus-
uumlbung braucht daher einen Rechtsgrund Somit kommt eine An-
erkennung faktischer Souveraumlnitaumlt nicht in Betracht ohne zu-
gleich eine anerkennende Haltung bezuumlglich voll ausgereifter
Souveraumlnitaumltsrechte zu treffen
c) Anerkennung rechtlicher Souveraumlnitaumlt
Anknuumlpfend an das Abstellen auf tatsaumlchlich bestehende Herr-
schaftsverhaumlltnisse koumlnnte die Argumentation zur Rechtmaumlszligig-
keit der Anerkennung mit dem aus dem roumlmischen Recht stam-
menden Grundsatz uti possidetis ita possidetis (wie ihr besitzt
so sollt ihr besitzen)79 begruumlndet werden Das Prinzip baut auf
das Vorliegen rechtlicher Eingestaumlndnisse des vormaligen Sou-
74 Foreign Ministry statement regarding Palestinian-Israeli settlement
6 April 2017 httpwwwmidruenforeign_policynews-asset_pub-lishercKNonkJE02Bwcontentid2717182p_p_id=101_INSTANCE_cKNon-
kJE02Bwamp_101_INSTANCE_cKNonkJE02Bw_languageId=en_GB (Stand
24022019) 75 Statement by President Trump on Jerusalem Abgegeben am 6 Dezember
2017 1307 Uhr EST im Diplomatic Reception Room Abrufbar unter
httpswwwwhitehousegovbriefings-statementsstatement-president-trump-jerusalem (Stand 24022019) 76 Jerusalem Embassy Act Sec 2 (6) httpswwwcon-
gressgov104plawspubl45PLAW-104publ45pdf (Stand 24022019) 77 Dpa Trump wuumlrde ganz Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen Suumld-
deutsche Zeitung Meldung vom 25 September 2016 2207
httpwwwsueddeutschedenewspolitikwahlen-trump-wuerde-ganz-jerusa-lem-als-hauptstadt-israels-anerkennen-dpaurn-newsml-dpa-com-20090101-
160925-99-587350 (Stand 24022019) 78 SC13125 79 Torres Bernaacuterdez FS-Zemanek 1994 417 421
veraumlns zu einem bestimmten entscheidungserheblichen Zeit-
punkt auf80 Im Fall israelischer Gebietsanspruumlche uumlber Ostjeru-
salem fehlt es an diesen beiden Faktoren Bezuumlglich auf Westje-
rusalem begrenzte Souveraumlnitaumltsanspruumlche koumlnnte das Waffen-
stillstandsabkommen von 1949 herangezogen werden81 Die
bdquogruumlne Linieldquo koumlnnte dabei das territoriale Eingestaumlndnis sein
Jedoch wird der uti possidetis Grundsatz von konkreten voumllker-
rechtlichen Vereinbarungen verdraumlngt82 Eine solche besteht fuumlr
Jerusalem durch das Waffenstillstandsabkommen von 194983
Somit schlaumlgt auch die Anwendung des uti possidetis Prinzips
unter Hinzuziehung des Effektivitaumltsgrundsatzes fehl
Waumlhrend Mitte des 20 Jahrhunderts der gewohnheitsrecht-
liche Standard anerkannt war gewaltsame Gebietsaumlnderungen
fuumlr rechtmaumlszligig anzuerkennen laumlsst sich dies heute nicht mit der
Pflicht zur Nichtanerkennung unrechtmaumlszligiger Situationen ver-
einbaren84 Insbesondere bei der Bildung von Voumllkergewohn-
heitsrecht hat das Faktische eine normative Kraft es schafft je-
doch kein Recht85 Dies wird von Trump grundlegend verkannt
Auf die Abkehr von dem Prinzip ex factis ius oritur wurde be-
reits eingegangen86 Rechtliche Wirkung entfalten allein voumllker-
rechtliche Normen Die vorangegangenen Ausfuumlhrungen und
die Untersuchung des voumllkerrechtlichen Status Jerusalems zei-
gen dass es keine entsprechende voumllkerrechtliche Fundierung
fuumlr die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels gibt das
Voumllkerrecht dem sogar klar entgegensteht
Es wird diskutiert ob die Pflicht zur Nicht-Anerkennung un-
mittelbar anwendbar ist sobald die ausloumlsenden Tatbestandsvo-
raussetzungen vorliegen oder ob es eines entsprechenden Hin-
weises einer unparteiischen Autoritaumlt bedarf um zu verhindern
dass sich einzelne Staaten als Schiedsrichter aufspielen87 Die
Frage eruumlbrigt sich da entsprechende Resolutionen der UNO
vorliegen Es spielt keine Rolle dass die unrechtmaumlszligige Anne-
xion bereits fast 40 Jahre zuruumlck liegt denn die Pflicht zur
Nichtanerkennung ist in ihrer Dauer unbegrenzt88
Somit konnte zeigt sich im Ergebnis die Unvereinbarkeit ei-
ner Anerkennung israelischer Souveraumlnitaumlt uumlber Gesamtjerusa-
lem mit dem Voumllkerrecht
2 Die Verlegung der Botschaft
Davon getrennt ist abschlieszligend noch die Frage zu klaumlren ob
auch die Botschaftsverlegung gegen das Voumllkerrecht verstoumlszligt
Die Nichtigkeitserklaumlrung des Jerusalemgesetzes beinhaltete
80 Nesi in Max Planck Encyclopedia of International Public Law 2011 Uti Pos-
sidetis Doctrine RN 10 81 Szczeponek in Territoriale Souveraumlnitaumlt und Gebietshoheit Staats- und voumll-
kerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe fuumlr Politik und Voumllkerrecht
Band 30 2016 173 181 82 Blumenwitz FS Wuumlrzburg 2002 377 381 83 42 UNTS 303 No 656 84 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues and uncertainties S 7 85 Krieger Das Effektivitaumltsprinzip im Voumllkerrecht S 69 bezugnehmend auf
Jellineks allgemeine Staatslehre 86 Vgl oben (Fn22) H Lauterpacht Recognition in International Law S 426 87 Vgl Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger
Gebietsaumlnderungen S 146 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contempo-rary international law issues and uncertainties S 12 f 88 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 18
Schultz Grenzen des Voumllkerrechts Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015
15
auch die Aufforderung des Sicherheitsrates an alle Nationen die
diplomatische Missionen in Jerusalem aufgebaut hatten diese
aus der heiligen Stadt abzuziehen89 Daraufhin verlegten alle 13
in Jerusalem diplomatisch vertretenen Nationen ihre Botschaf-
ten nach Tel Aviv90 Jedoch trifft die entsprechende Resolution
keine Aussage uumlber die Dauerhaftigkeit des Ruumlckzugs Somit ist
zu fragen ob es daher grundsaumltzlich ausgeschlossen ist wieder
Botschaften nach Jerusalem zu verlegen Die Pflicht zur Nicht-
Anerkennung umfasst auch die Pflicht Handlungen zu unterlas-
sen die eine Anerkennung implizieren koumlnnten91 In Jerusalem
befinden sich unter anderem Generalkonsulate von Italien Grie-
chenland Groszligbritannien Frankreich und den USA92 Jedoch
geht im Gegensatz zu einer konsularischen Mission von einer
Botschaft eine hohe symbolische Wirkung aus93 Dem konklu-
denten Inhalt dieser Symbolkraft muumlsste explizit widersprochen
werden anderenfalls muumlsste die Verlegung der Botschaft als
konkludente Anerkennungserklaumlrung von Israelischer Souverauml-
nitaumlt uumlber das Gebiet des Botschaftsstandorts verstanden wer-
den94 Wenngleich die meisten diplomatischen Missionen in den
Hauptstaumldten aufgebaut werden enthaumllt die Wahl des Bot-
schaftsstandorts fuumlr sich genommen auch keine Aussage uumlber
den Status einer Stadt als Hauptstadt auch die USA unterhalten
in einigen Laumlndern Botschaften auszligerhalb der anerkannten
Hauptstadt95 Es bestuumlnde die Moumlglichkeit die Botschaft nach
Westjerusalem zu verlegen wo die Souveraumlnitaumltsverhaumlltnisse
weniger umstritten sind96 Angekuumlndigt ist der Umzug in das be-
reits bestehende Konsulat in Arnona97 Das Viertel wird von der
Grenze zwischen Ost und Westjerusalem durchzogen Das US-
Konsulat befindet sich auf der Waffenstillstandslinie von 1949
Somit wuumlrde nicht inhaumlrent eine Anerkennung uumlber Souveraumlni-
taumltsverhaumlltnisse erfolgen
Zusammenfassend laumlsst sich sagen dass der Verlegung der
Botschaft vor allem deshalb so hohe Bedeutung beigemessen
wird weil sie im selben Atemzug angekuumlndigt wird wie die An-
erkennung Gesamtjerusalems als Hauptstadt Israels und diese
somit symbolisch bekraumlftigt Fuumlr sich betrachtet waumlre ein Um-
zug moumlglich ohne die Grenzen des Voumllkerrechts zu uumlberschrei-
ten Dann muumlsste zugleich bekraumlftigt werden dass eine Aner-
kennung der Annexion von 1980 unterbleibt Der von Trump
gewaumlhlte Rahmen der Anordnung der Botschaftsverlegung ent-
haumllt jedoch eine konkludente Anerkennung Israelischer Souve-
raumlnitaumlt und verstoumlszligt damit gegen das Voumllkerrecht
III Internationale Bewertungen und Reaktionen
Als Reaktion auf Trumps Entscheidung sah ein von Aumlgypten
eingebrachter Resolutionsentwurf des Sicherheitsrates vor alle
89 SRES 478 90 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-
saumlnderungen S 53 91 Pert The ldquodutyrdquo of non-recognition in contemporary international law issues
and uncertainties S 15 92 Krumbiegel Die Pflicht zur Nicht-Anerkennung voumllkerrechtswidriger Gebiet-saumlnderungen S 53 93 Zank in In Israel Studies Vol21 Nr 3 2016 20 31 94 Ipsen Voumllkerrecht 2014 sect 5 RN 165 95 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The
Future of Jerusalem A Symposium 837 839 Fn 11 96 Watson in Catholic University Law Review Vol 45 1995-1996 Nr 3 The Future of Jerusalem A Symposium 837 839 840
Nationen aufzufordern keine diplomatischen Missionen in Je-
rusalem aufzubauen die Abhaumlngigkeit des finalen Status Jeru-
salems von zukuumlnftigen Verhandlungen zwischen Israelis und
Palaumlstinensern zu betonen und juumlngste Entscheidungen die dem
entgegenstuumlnden zu verurteilen Auszligerdem sollten Trends die
die Zwei-Staaten-Loumlsung gefaumlhrden reversiert werden98 Der
Entwurf scheiterte am 18122017 durch das Veto der USA mit
einer 14-1 Abstimmung
Einen Tag spaumlter verabschiedete die Generalversammlung
mit 128 Ja-Stimmen 9 Nein-Stimmen und 35 Enthaltungen eine
Resolution mit aumlhnlichem Tenor Unter anderem rief sie alle
Mitgliedstaaten dazu auf den Aufbau diplomatischer Missionen
in Jerusalem zu unterlassen99 Eine direkte Erwaumlhnung und Ver-
urteilung der von Trump eingeleiteten Schritte erfolgte gleich-
wohl nicht Die Resolution ist rechtlich nicht bindend hat aber
Symbolcharakter Die Haltung der Staatengemeinschaft laumlsst
sich als Verurteilung des Nichtnachkommens der voumllkerrechtli-
chen Pflicht die Annexion Ostjerusalems von 1980 nicht anzu-
erkennen qualifizieren
Die Reaktionen zeigen zudem dass die internationale Staa-
tengemeinschaft Trumps Entscheidungen fuumlr die weitere Ent-
wicklung des Nahostkonflikts fuumlr nicht friedensfoumlrderlich haumllt
was zumindest zunaumlchst durch die weitere Entwicklung bestaumltigt
wurde In den Tagen nach Trumps Verkuumlndung kam es in Jeru-
salem vermehrt zu Gewalt Palaumlstinensische Extremisten kuumln-
digten bdquoTage des Zornsldquo an100 Am Tag der Botschaftsverlegung
am 15052018 kam es zu Ausschreitungen mit Duzenden Toten
F Fazit
Jerusalems Sonderrolle als heilige Stadt dreier Weltreligionen
bringt eine emotionale Aufladung des Konflikts mit sich und er-
schwert den Friedensprozess da scheinbar wichtigere Werte das
Ziel in den Schatten stellen101 Fuumlr eine Internationalisierung
konnten sich beide Seiten nicht begeistern102 Ein beidseitiger
Verzicht auf Jerusalem als politische Hauptstadt koumlnnte der Son-
derrolle der Stadt als religioumlse Staumltte am besten gerecht werden
den Konflikt durch Vermeidung von Provokationen emotional
entladen und so den Friedensprozess foumlrdern
Die Autorin studiert im achten Fachsemester Rechtswissenschaf-ten an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt Freiburg mit dem Schwerpunkt bdquoDeutsches Europaumlisches und Internationales Oumlffentliches Rechtldquo Der Beitrag beruht auf einer Studienarbeit im Rahmen des Seminars bdquoGrundlagen und Grenzen staatlicher Souveraumlnitaumlt ndash aktuelle Prob-leme und voumllkerrechtliche Loumlsungenldquo bei Frau Prof Dr Voumlneky im Sommersemester 2018
97 Nauert Heather Press Statement Opening of US Embassy in Jerusalem
23 Februar 2018 httpswwwstategovrpaprsps201802278825htm
(Stand 24022019) 98 S20171060 99 AES-10L22 100 Reuters Israeli minister sees Trump sbquohintlsquo at Jerusalem Partition with Pales-tinians 8 Dezember 2017 httpswwwreuterscomarticleus-usa-trump-is-
rael-partitionisraeli-minister-sees-trump-hint-at-jerusalem-partition-with-pa-
lestinians-idUSKBN1E21OL (Stand 24022019) 101 Wilson in Middle East Journal Vol 23 No 1 1969 1 1 StoverMankaryous
in International Journal on World Peace Vol 25 Nr 4 Dezember 2008 115
129 102 Ben-DrorZiedler in Diplomacy amp Statecraft Volume 26 2015 636 639
Praktikanten Referendare Wissenschaftliche Mitarbeiter (mw)
Eins drauflegenWas gute Juristen noch besser macht
Besondere Talente verdienen besondere Foumlrderung Fuumlr diesen Anspruch steht unsere ReferendarAcademy Als eine der weltweit fuumlhrenden Anwaltssozietaumlten sind wir immer auf der Suche nach hochqualifizierten Nachwuchskraumlften (mw) fuumlr unsere Buumlros in Duumlsseldorf Frankfurt am Main und Muumlnchen Ausgezeichnete Examina und exzellentes Englisch setzen wir dabei voraus Im Rahmen unserer ReferendarAcademy bieten wir Ihnen als Referendar u a in Zusammenarbeit mit dem Repetitorium KAISERSEMINARE Intensivkurse zur Vorbereitung auf das Assessorexamen einen Uumlber blick uumlber unsere Rechts be reiche und eine Einfuumlh rung in relevante Business Skills Fuumlr die stetige Weiter bildung un-serer Anwaumllte sorgt die Clifford Chance Academy
Erfahrene externe und interne Referenten informieren uumlber aktuelle juristische Entwick lungen und ver mitteln Faumlhigkeiten und Kenntnisse die fuumlr eine Berater per-soumln lichkeit entscheidend sind Haben wir Ihr Inter esse ge weckt Wir freuen uns uumlber Ihre Bewerbung per E-Mail an karrierecliffordchancecom Ihre Ansprech partnerin Nicola von Tschirnhaus 069 7199-4477
Career starts with CInformationen zu uns und der ReferendarAcademy wwwclif fordchancecomkarriere
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 17
Die Problematik der europaumlischen Demokratie und
die rechtsschoumlpfende Taumltigkeit des EuGHs
-
von Soma Hegedős
Abstract
Eine Kardinalskritik in Bezug auf die Funktionsweise der
EU ist dass die EU eine bdquoantidemokratischerdquo Institution sei
sowie dass die Buumlrgerschaft der Mitgliedsstaaten ihre
Entscheidungen kaum beeinflussen kann Von diesem kri-
tischen Aspekt ausgehend wird die Beziehung zwischen
Demokratie und der EU unten ndash umfassend - untersucht
Ein zentraler Aspekt dieser Untersuchung ist die genaue
Betrachtung des Status und der Kompetenzen des EuGH
und zwar vor allem aus zweierlei Gruumlnden Zum einen ist
ein entscheidender Punkt der Kritiken die rechtsschoumlp-
fende Taumltigkeit des EuGH seit den Sechzigern bis heute
ohne ausreichende (demokratische) Legitimation Zum
anderen kann man mit der Pruumlfung seiner rechtsfortbilden-
den Taumltigkeit und seinen zur Rechtsschoumlpfung fuumlhrenden
Urteilsfeststellungen auch die Problematik der Demokratie
und der EU im Zeitalter der Globalisierung besser begrei-
fen
A Einleitung
Zahlreiche moderne Theoretiker - beispielsweise der ungarische
Gyula Mooacuter1 - sehen die Demokratie nicht nur als einen bloszligen
politikwissenschaftlichen Begriff oder eine Organisationsme-
thode von Gewalt an sondern als einen komplexeren Ausdruck
der auch die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen erklaumlren
kann Die Theorien die sich auf den pluralistischen Charakter
der Gesellschaften und des politischen Spektrums bzw auf die
Elitebildung fokussieren haben auf viele kritische Punkte hin-
gewiesen und in vielen Faumlllen die Durchfuumlhrbarkeit der Demo-
kratie infrage gestellt Nach ihren Thesen werden gewisse enge
Elitegruppierungen ndash fruumlher oder spaumlter ndash unmittelbaren Ein-
fluss auf die politischen Entscheidungen haben Hier ist die De-
mokratie-Vorstellung von Joseph Schumpeter zu erwaumlhnen in
deren Mittelpunkt der Konkurrenzkampf und der marktwirt-
schaftliche Wettbewerb stehen Schumpeter sieht das von den
Elitetheorien beleuchtete Problem darin so aufgeloumlst dass die
um die politische Macht kaumlmpfenden Eliten auch fuumlr die Voten
der Einzelnen kaumlmpfen muumlssen Und die Individuen koumlnnen
1 Vgl Gyula Mooacuter A demokraacutecia oumlrveacutenyei In Erdei-Fischer-Horvaacuteth
A demokraacutecia Egyetemi Nyomda Budapest 1945 s 96 ff 2 Vgl Schumpeter Joseph A Kapitalismus Sozialismus und Demokra-
tie A Francke Verlag Tuumlbingen 2018 S 365 ff 3 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie In Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 S 237
eben durch diesen um ihre Voten durchgefuumlhrten Wettbewerb
(bdquoKonkurrenzkampfldquo) Einfluss auf das oumlffentlichen Leben er-
werben2 Hans Kelsen hat es so gehalten dass diese Konfronta-
tion der Gerichte sowohl gegenuumlber der Gesetzgebung als auch
gegenuumlber der Regierung nicht stichhaltig sei Die strenge Tren-
nung der Gewalten schraumlnkt eben die Erfuumlllbarkeit des Volks-
willens ein3 Laut Giovanni Sartori sollte die Volksherrschaft
nach wie vor im Fokus einer demokratischen Staatsorganisation
stehen D h man muss auf solche Fragen eine sinnvolle Ant-
wort geben wie Was ist ein Volk uumlberhaupt und wie kann das
Volk den entscheidenden Einfluss auf die Herrschaft behalten4
In der Auffassung von Juumlrgen Habermas kann die Loumlsung dieser
Probleme durch die Institution eines Parlaments verwirklicht
werden5 In der Demokratie-Interpretation von Habermas ist we-
sentlich dass die zivile Gesellschaft eine tatsaumlchliche Kontrolle
uumlber die politische Sphaumlre und Verwaltung ausuumlbt und das Par-
lament ndash als Teil der Zivilgesellschaft - eine zentrale Rolle in
diesem Kontrollmechanismus spielt
Diese oben genannten Beispiele zeigen dass ein lebhafter
Diskurs uumlber die Interpretationsmoumlglichkeit und die Durchfuumlhr-
barkeit von Demokratie stattgefunden hat Das bdquoSortimentrdquo der
Vorstellungen uumlber die institutionelle Realisation der Demokra-
tie bdquoreicht von rousseauistischen uumlber elitenbezogene und plura-
listische sowie partizipationsorientierte Demokratiemodelle bis
hin zu den Spielarten marxistischer Staatstheorierdquo allerdings
darf das Erfordernis der Demokratie nicht ins bdquostaatstheoreti-
sche Ungewisse fuumlhrenrdquo ndash stellt Winfried Veil fest6 Daraus folgt
die Frage was jene festen Gedankengrundlagen sind aus denen
ein demokratisches Institutionsgefuumlge auch auf der europaumli-
schen ndash bzw transnationalen - Ebene konfiguriert werden kann
das zugleich auch uumlber rechtliche Bindekraft verfuumlgt
4 Vgl Sartori Giovanni DemokratietheorieWissenschaftliche Buchg
Darmstadt 1992 16 ff 5 Vgl Juumlrgen Habermas Faktizitaumlt und Geltung Frankfurt am Main
Suhrkamp 1992 S 430 ff 6 Veil Winfried Volkssouveraumlnitaumlt und Voumllkersouveraumlnitaumlt in der EU
Nomos Baden-Baden 2007 43
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 18
B Demokratiedilemma auf der Ebene der EU
I Das Europaumlische Parlament und die europaumlischen
Voumllker
Veil ndash die Situation vor dem in Kraft treten der Lissabon-Ver-
traumlge pruumlfend ndash sieht das so dass die Realisierung der Demokra-
tie auf EU-Ebene unter den heutigen gesellschaftlichen und po-
litischen Umstaumlnden keineswegs moumlglich sei Genauer gesagt
zweifelt er daran ob uumlberhaupt die Moumlglichkeit eines richtigen
europaumlischen repraumlsentativen Systems vorliegen koumlnne bdquo(hellip)
findet demokratische Repraumlsentation durch das Europaumlische
Parlament nicht statt Repraumlsentation erfordert naumlmlich mehr als
die bloszlige Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregelnrdquo7
Das Problem besteht einerseits im Mangel an einem europaumli-
schen bdquoDemosrdquo anderseits ist auch das Europaumlische Parlament
nicht dazu geeignet das Demos zu repraumlsentieren Die europaumli-
schen Voumllker sind nicht einheitlich weder kulturell noch
sprachlich noch politisch so kann der Diskurs der zum Funkti-
onieren der Demokratie unabdingbar notwendig ist nicht statt-
finden Es fehlt im Wesentlichen an der zur demokratischen
Meinungsbildung wichtigen bdquoBuumlhnerdquo zur Diskussion der Ange-
legenheiten auf Unionsebene Die Spannung zwischen dem Eu-
ropaumlischen Parlament und der Demokratie entsteht dadurch
dass die Kompetenzen des Europaumlischen Parlaments sehr be-
grenzt innerhalb der EU sind Aus diesem Grund kann das EP
den vom Demos durch die Wahlen ausgedruumlckten Volkswillen
nur eingeschraumlnkt zur Geltung bringen
Das andere grundlegende Problem ist der Verlauf der Euro-
pawahlen Das Ergebnis der Stimmabgabe spiegelt mehr die in-
neren Beziehungen der einzelnen Staaten den Zustand bdquoRegie-
rung-Oppositionrdquo ndash wieder als das Ergebnis jener gesellschaft-
lichen-politischen Dispute die uumlber die gemeinsamen bdquoeuropaumli-
schenrdquo Themen stattgefunden haumltten ndash eroumlrtert Veil8 Ein wei-
teres Dilemma ist die demokratische Legitimation der Instituti-
onen und Handlungen der EU genauer gesagt deren Mangels an
Legitimation Da die Subjekte des Voumllkerrechtes in erster Linie
die Staaten sind und die demokratische Legitimation von den
von Voumllkern begruumlndeten Staaten abgeleitet werden kann soll
die EU als spezieller sui generis Staatenverbund eine Parallelitaumlt
zwischen ihren Handlungen und dem Volkswillen aufweisen
Allerdings kann diese Parallelitaumlt in Bezug auf alle Hauptorgane
der EU nur schwach oder gar nicht nachgewiesen werden meint
Veil Zwar stellt dieser fest dass die demokratische Legitima-
tion nicht eine bdquoAlles oder Nichtsrdquo Frage sei vielmehr eine
bdquomehr oder wenigerrdquo Relation trotzdem bestreitet er ob uumlber-
haupt der akzeptable Mindestgrad der Legitimation jeglicher
EU-Organe noch vorhanden sei9 Umsonst kann man die insti-
tutionellen Grundlagen der EU mit voumllkerrechtlichen Vertraumlgen
sowie Volksabstimmungen legitimieren wenn die vertraglichen
Fundamente nicht mehr mit dem tatsaumlchlichen politischen Be-
trieb der EU vereinbart werden koumlnnen bdquoDas von den Gemein-
7 Veil aao S 157 8 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 9 Vgl dazu Veil aaO S 133 ff 10 Veil aaO S 273
schaftsvertraumlgen errichtete politische System deckt aber die lau-
fende Willensbildung der Gemeinschaftsorgane in legitimatori-
scher Hinsicht nicht mehr abrdquo ndash schreibt Veil10
II Demokratieverflechtung
Das sogenannte Lissabon-Urteil des deutschen BVerfG hat ver-
sucht auf diese Frage eine Antwort zu geben Ein Bundestagab-
geordneter hat 2008 eine Verfassungsbeschwerde gegen den
von Deutschland ratifizierten Vertrag von Lissabon bzw das
Bundesgesetz zum Vertrag von Lissabon eingereicht Nach der
Verfassungsbeschwerde wird der staatliche Charakter Deutsch-
lands mit dem Vertrag von Lissabon gefaumlhrdet zudem wurde
die Verletzung des Demokratiegebotes und das eigentliche Feh-
len der demokratischen Legitimation der EU moniert Das
BVerfG hat in seiner besonders detaillierten Begruumlndung darge-
legt dass auch der Vertrag von Lissabon das Problem des De-
mokratiedefizites nicht loumlsen koumlnne Paradoxerweise wurde zu-
gleich gesagt dass die EU keine bdquoDemokratiefaumlhigkeitrdquo besitze
und daruumlber hinaus darf sie keinen houmlheren Grad der Demokra-
tie disponieren als ihre Mitgliedstaaten Nach Marcus Houmlreth
wird als eine Folgerung des Urteiles die Problematik der sog
Demokratieverflechtung genannt Er begruumlndet dass die Sub-
jekte der demokratischen Legitimation weiterhin die Voumllker der
Mitgliedstaaten bleiben Die EU kann von der Legitimation
durch die mitgliedstaatlichen parlamentarischen Demokratien
nicht abruumlcken Aus diesem Grund ndash und aus der Gebundenheit
an das deutsche Verfassungsrecht ndash folgt dass der Wirkungs-
kreis der mitgliedstaatlichen Parlamente auf keinen Fall voll-
staumlndig ausgehoumlhlt werden darf Nach der Auffassung des deut-
schen BVerfG ist Demokratie ein Staatssystem in dem der
Mehrheitswille von den Parlamenten die durch die auf den glei-
chen Stimmrechten beruhenden Wahlen gewaumlhlt werden in
Form der Gesetzgebung und der Regierungsbildung kontinuier-
lich zur Geltung kommt Der Rahmen dieses Gefuumlges wird
dadurch gegeben dass es vor allem ein bdquoVolkrdquo gibt sowie eine
oumlffentliche Publizitaumlt die fuumlr das Volk die Diskussionen und den
Wettbewerb zwischen der Regierung und der Opposition trans-
parent abbilden kann Das Parlament kommt durch die mehr-
heitliche Entscheidung waumlhrend der Wahlen zustande was vor
allem den Wahlwillen der Bevoumllkerung abbildet und die Kapa-
zitaumlt hat den Volkswillen zu offenbaren Das deutsche BVerfG
hat sich in seiner Demokratieauffassung auf die parlamentari-
sche Souveraumlnitaumlt fokussiert und ausgesagt dass das Instituti-
onssystem der EU diesen Anforderungen nicht entspreche weil
die bdquoauszligerrechtlichen Voraussetzungenrdquo allzu unterentwickelt
sind Aus diesem Grund kann man die Demokratie auf EU-
Ebene nicht mit der nationalstaatlichen Stufe gleichsetzen ndash
fuumlhrt Houmlreth aus11
11 Marcus Houmlreth Die Demokratieverflechtungsfalle ndash Warum die EU
nach dem Lissabon-Urteil demokratisch defizitaumlr bleiben muss In
Lhotta ndash Ketelhut ndash Schoumlne Das Lissabon-Urteil Springer Fach-medien Wiesbaden 2013 S 48 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 19
III Wirtschaftliche Globalisierung und Demokratie
Auch die Machtstrukturen veraumlndern sich mit der Europaumlisie-
rung der Wirtschaft und der Gesellschaften wo Machtausuumlbung
zum bdquoRegierenrdquo wird das Regieren entterritorialisiert wird so
Richard Muumlnch Die Durchfuumlhrbarkeit der Demokratie er-
schwert sich mit der Relativierung der Machtausuumlbung uumlber
konkretes Gebiet und konkretes Volk Es gibt im Zentrum der
Politik nicht mehr den demokratischen Willen der sich durch
die politischen Dispute ausformt sondern die Entscheidungen
werden vom Wettbewerb determiniert Dementsprechend ndash
nach Muumlnch ndash vollzieht der EuGH das Programm der europaumli-
schen Liberalisierung und Individualisierung d h der Integra-
tion deren zentraler Handlungsbeauftragter er ist12 bdquoDie Insti-
tutionalisierung des transnationalen europaumlischen Rechtsraumes
ist in erheblichem Umfang das Werk des Europaumlischen Ge-
richtshofesldquo ndash meint Muumlnch13
Wegen der steigenden Bedeutung von der EU aumlhnlichen in-
ternationalen wirtschaftlichen Kooperationen beschaumlftigen sich
Wissenschaftler immer mehr mit Moumlglichkeiten der Durchsetz-
barkeit der Demokratie auf internationaler Ebene bdquojenseits des
Staatesldquo Drei wichtige Aspekte sind hier von groszliger Bedeu-
tung Der Mangel einer zentralen Macht (Regierung) und des
Parlamentes und die transnationale Transformation des oumlffentli-
chen Diskurses Diese drei Eckpunkte scheinen auch in Bezug
auf die demokratische Qualitaumlt der EU entscheidend zu sein die
unter den wichtigsten internationalen Zusammenschluumlssen ndash
wegen ihrer breiten Aufgabenbereiche und politischen Einfluumlsse
ndash den groumlszligten Demokratiebedarf hat14
C Richterrecht Juristokratie
Weltkonstitutionalisierung
I Richterrecht der politische Aktivismus des
Richters
Die Problematik des Richterrechts ist eine Achillesferse fuumlr die
demokratische Handlungsweise der unterschiedlichen richterli-
chen Foren (siehe z B bei Dworkin) Die Taumltigkeit der Verfas-
sungsgerichte sowie der internationalen Gerichtshoumlfe wurde
durch die richterliche bdquoRechtsschoumlpfungrdquo nunmehr so wesent-
lich dass man uumlber ein spezielles Phaumlnomen der sog bdquojuristo-
kratischenrdquo Tendenzen sprechen kann
Das Richterrecht ist ein altes Problem fuumlr die Rechts - und
Staatstheorie Fuumlr Friedrich Carl von Savigny der eine wichtige
Rolle in der Deutung des Richterrechtes gespielt hatte wurzelt
das Recht im bdquoVolksgeistrdquo als das Ergebnis einer geschichtli-
chen Entwicklung Der politische Aktivismus richtet sich nach
12 Vgl Muumlnch Richard Die Konstruktion der europaumlischen Gesellschaft
Zur Dialekt von transnationaler Integration und nationaler Desintegra-tion Campus Verlag FrankfurtNew York 2008 S 372 ff
13 Vgl Muumlnch aaO S 108 14 Vgl Dingwerth Klaus - Blauberger Michael - Schneider Christian
Postnationale Demokratie VS Verlag fuumlr Sozialwissenschaften Sprin-
ger Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden 2011 S 23 ff und
204 ff 15 Vgl Ruumlthers Bernd Die unbegrenzte Auslegung Mohr Siebeck
Auffassung von Philipp Heck letztendlich auf die Beeinflussung
der Gesetzgebung Wenn die Rechtsbildung durch die richterli-
che Rechtsprechung geschieht wird dem Richter also quasi eine
bdquopolitische Funktionrdquo verliehen Dies kann fuumlr die modernen
Demokratien wichtige Grundprinzipien verletzen das sind die
Konzeptionen uumlber die RechtssicherheitRechtstaatlichkeit und
das mit der Rechtsstaatsidee verbundene bdquogeschriebene Rechtrdquo
bzw bdquokodifizierte Rechtrdquo und die Idee der Gewaltenteilung Ob-
wohl die Ursachen der Abweichungen grundsaumltzlich historisch
sind kann der wesentliche bdquounuumlberwindbareldquo Unterschied zwi-
schen den Rechtskreisen common lawldquo und bdquocivil lawldquo immer
Sache von theoretischen Disputen sein15 bdquo(hellip) evolution of both
a codified and a judge made system of law is characterized by a
constant interplay between legislative and judicial actionrdquo ndash
schreibt Sauveplanne16 der meint ldquoa system of law must be cre-
ated and developed by the interaction between legislature and
judiciaryrdquo17
Es gibt unterschiedliche Ansichten die Substanz des Richter-
rechtes zu bestimmen Der Richter interpretiert das Recht nach
eigenen Anschauungen oder um es mit den Worten Bernd
Ruumlthers zu sagen bdquoder Richter stellt sich in einen Gegensatz zu
gesetzlichen Wertungenrdquo Die verbreitete Ansicht allerdings ist
dass das Richterrecht nichts anderes ist als Rechtsfortbildung in
einer bdquorechtsleerenrdquo Domaumlne sozusagen bdquounentdeckte Raumlumerdquo
die vom Gesetz noch nicht geregelt wurden Eine dritte bdquoweiter-
entwickelterdquo Auffassung uumlber das Richterrecht ist dass der
Richter die Luumlcken mit Wertungen ausfuumlllen soll wie zB im
Fall von Generalklauseln Mit dieser Ansicht verwandt ist der
vierte Typ ein Begriff der unterschiedliche Bedeutungen (In-
halt) haben koumlnnte und daher vom Richter konkretisiert wird18
II Richterrechttypologie und Luumlckenproblematik
Das Richterrecht bildet sich in allen Rechtsordnungen anders
heraus und ist von anderer Bedeutung In den zwei fuumlr die EU
so wichtigen Rechtsordnungen in der franzoumlsischen und deut-
schen gibt es Diskrepanzen im Vergleich in Bezug auf das
Richterrecht Man kann begrifflich das bdquoInterpretierenrdquo von der
bdquoRechtsfortbildungrdquo (Rechtsschoumlpfung) in der deutschen
Rechtstheorie abtrennen Der grundsaumltzliche Unterschied ist der
bdquoSchoumlpfercharakterrdquo der Rechtsfortbildung D h der Richter
uumlbertritt mit der Rechtsfortbildung die Textrahmen der Rechts-
norm waumlhrend er im Fall des Interpretierens nur den Textinhalt
erkennt Die Problematik der Rechtsluumlcke (siehe dazu mehr un-
ter II A) steht im Zentrum der Rechtsfortbildung d h eine Luuml-
cke die nicht vom Text des geschriebenen Rechts gedeckt ist
Diese Luumlcken koumlnnen verschiedenen Typs sein Einige Luumlcken
sind die Ergebnisse einer bewussten Entscheidung des Gesetz-
gebers der das Ausfuumlllen der Rechtsluumlcken der richterlichen
Rechtsprechung der Judikative uumlberlaumlsst In anderen Faumlllen ist
Tuumlbingen 2017 S 1 ff und 457 ff und JG Sauveplanne Codified
and judge made law The Role of Courts and Legislators in Civil and Common Law Systems North-Holland Publishing Company Amster-
dam Oxford New York 1982 16 Sauveplanne aaO S 25 17 Sauveplanne aaO S 28 18 Vgl Ruumlthers dazu aaO S 458 f und vgl Walter Kondrad Rechts-
fortbildung durch den EuGH Duncker amp Humblot Berlin 2009 S
41 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 20
die Luumlckenhaftigkeit der Regelung uumlberhaupt nicht absichtlich
Der Richter kann die Luumlcken mit seinen Beschluumlssen sozusagen
praeter legem (oder pactum) ausfuumlllen in diesem Fall wird die
Regelung im Endeffekt vom Richter ergaumlnzt Die Entscheidung
des Richters steht nicht gegen den moumlglichen Inhalt des Textes
obwohl sie nicht darauf basiert Der Beschluss geht im Fall der
bdquocontra legem (pactum)rdquo Rechtsfortbildung uumlber den Wortlaut
des Gesetzes (oder des Vertrages) hinaus oder steht im konkre-
ten Fall dem Gesetz diametral gegenuumlber Sowohl die Rechts-
fortbildung als auch die bdquoInterpretationrdquo kann in der franzoumlsi-
schen Rechtsordnung im Rahmen der sog bdquoInterpreacutetationrdquo statt-
finden Zudem ist das ein wesentlicher Unterschied im Ver-
gleich zum deutschen System dass also auch die Interpretation
zur Rechtsschoumlpfung fuumlhren kann Die Praxis des EuGHs fokus-
siert sich auf die bdquoInterpreacutetationldquo-Auffassung er macht also kei-
nen terminologischen Unterschied zum franzoumlsischen Recht
Allerdings ist eine inhaltliche Distinktion moumlglich Die Trennli-
nie befindet sich zwischen der Auslegung und Rechtsfortbil-
dung sodass die Auslegung innerhalb des Rahmens eines moumlg-
lichen Wortsinnes noch zumindest mit einer Sprachfassung bdquoab-
gedecktldquo werden kann Dagegen entspricht die Rechtsfortbil-
dung semantisch nicht mehr dem Wortsinn entweder ergaumlnzt sie
die vertraglichen Vorschriften oder die richterliche rechts-
schoumlpfende Taumltigkeit kann nicht mehr mit dem Vertragszweck
parallelisiert werden Ernsthafte Kritiken richten sich konkreter
auch gegen die richterliche Rechtsetzung des EuGHs teilweise
auch von diesem Gesichtspunkt Nach einigen Stellungnahmen
sollten die Grenzen seiner rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit bzw
seiner speziellen Befugnisse ausdruumlcklich in den Vertraumlgen be-
stimmt werden Man darf daher das bdquoVertragswerkldquo des Unions-
rechtes nur als unvollstaumlndig betrachten und die Rolle des
EuGHs als bdquoLegislativorganldquo nur beschraumlnkt akzeptieren19
III Vom Richterrecht zur Juristokratie
Das Problem ist dass die Rechtsauslegungsbefugnisse der Ver-
fassungsgerichte und der internationalen Gerichte immer staumlrker
mit Skepsis betrachtet werden Das Richterrecht das als Ergeb-
nis der richterlichen Rechtsauslegung entsteht erlangt nach ei-
nigen kritischen Betrachtungen nahezu so groszlige Bedeutung
dass man schon uumlber systemumfassende Veraumlnderungen dh
uumlber den Uumlbergang von Demokratie zur Juristokratie von der
Rechtsstaatlichkeit zur sog juristokratischen Regierungsform
sprechen kann Beacutela Pokol ungarischer Verfassungsrichter hat
diese Tendenz vor allem auf der Ebene der Taumltigkeit des Verfas-
sungsgerichtes nachgewiesen Diese Tendenz hat nach Pokol
politische und rechtstheoretische Gruumlnde Rechtstheoretischer
Grund sei zum Beispiel die Ruumlckkehr des weltlichen Natur-
rechts sowie die Staumlrkung der Auffassung uumlber die auf moral-
philosopischer Argumentation basierenden Menschenrechte ndash
19 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff (45-111) und Mittmann Patrick Die
Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europaumlischen Gemein-
schaften und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der Europaumlischen Union Peter Lang GmbH Frankfurt am Main 2000 S 235-244 und
S 269 20 Vgl Beacutela Pokol Der juristokratische Staat die Zerlegung seiner As-
pekte Nemzeti Koumlzszolgaacutelati Egyetem Working papers on state Gov-
ernance and Administration 201611 httparchivuni-nkehuup-
loadsmedia_itemsbela-pokol-der-juristokratische-staat-die-zerlegung-
schreibt Pokol20 Man kann unter anderem auch die Ausbreitung
der Rechtsauslegungsmoumlglichkeiten von den Gerichten her klas-
sifizieren die die starke Bindung der Rechtsprechung an den
Gesetzestext gelockert haben Die Grundlage dieser Wandlung
ist dass die Richter im Laufe der Interpretation nicht mehr das
gesucht haben was die subjektive Absicht der Gesetzgebung ge-
wesen ist sondern das was aufgrund der bdquoobjektiven Rationali-
taumltrdquo Ziel gewesen sein koumlnnte Eine dritte Seite dieser Veraumlnde-
rung ist die strukturelle Staumlrkung der Verfassungsgerichte ge-
genuumlber den Parlamenten Die Verfassungsgerichte konnten mit
actio popularis d h mit den gegen die Parlamente anwendbaren
einem dem Vetorecht aumlhnlichen Mittel Entscheidungen der Par-
lamente revidieren
bdquoAuf diese Weise verwandelt sich die Triple-Struktur der Poli-
tikStaatsverwaltungJustiz in die doppelte Struktur der durchpolitisier-
ten Justiz (mit dem Verfassungsgericht an der Spitze) und der unterwor-
fenen oumlffentlichen Verwaltung Die demokratischen Wahlen und die
durch sie entstehende legislative Mehrheit funktionieren nur als legiti-
mierender Schleier uumlber die tatsaumlchliche Machtausuumlbungrdquo
ndashPokol21
IV Juristokratische Tendenzen auf der
internationalen Buumlhne
Man kann die besondere Bedeutung und die immer staumlrker wer-
dende Tendenz der richterlichen Rechtsschoumlpfung auch auf in-
ternationaler Ebene wahrnehmen Von Bogdandy und Venzke
vertreten den Standpunkt dass die Arbeit der internationalen
Gerichte von bdquointernationaler Gerichtsbarkeitrdquo in einfache
Streitbeilegungsverfahren umbenannt werden sollte22 Der
Grund dafuumlr ist dass diese internationalen richterlichen Foren
wirklich mehr Funktionen erfuumlllen als nur das Schlichten diver-
ser Streitigkeiten zwischen Staaten Diese Funktion besteht zum
einen darin dass das Rechtsgefuumlhl d h die normative Kalkula-
tion und das Rechtsbewusstsein der Staaten und der internatio-
nalen Organisationen staumlrker wird Zu diesem Thema gehoumlrt
gleichermaszligen dass die staatlichen Akte aufgrund der Recht-
sprechung der internationalen Gerichte nach einem voumllkerrecht-
lichen Maszligstab uumlberpruumlft werden und wenn sie dieser Uumlberpruuml-
fung standhalten zugleich legitimiert werden koumlnnen beispiels-
weise dadurch dass sie den internationalen Standards entspre-
chen Dies entspricht der bdquoKontroll und Legitimationrdquo-Funktion
von Von Bogdandy Die wichtigste Rolle der internationalen
Gerichtshoumlfe ist die Rechtsschoumlpfung die mit den zwei anderen
oben genannten Funktionen in einem engen Zusammenhang
steht Zwei Typen der Rechtsschoumlpfung werden von von
Bogdandy unterschieden Der erste Typ ist die richterliche
Rechtsschoumlpfung in konkreten Streitfaumlllen Eine solche ist zum
seiner-aspekte-von-bela-pokoloriginalpdf S 18 Ff (2018 oktoacuteber
12) 21 Pokol aaO S 3 22 Von Bogdandy Armin ndash Venzke Ingo bdquoInternationale Streitbeteili-
gungldquo oder bdquointernationale Gerichtsbarkeitldquo In Arbeitspapiere Goe-
the Universitaumlt Frankfurt am Main 20164 httppublikatio-nenubuni-frankfurtdefrontdoorindexindexdocId39019 (2018 ok-
toacuteber 15)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 21
Beispiel die breitere Interpretation des Verbotes der Gewaltan-
wendung nach Artikel 2 der UNO-Charta im sog Nicaragua-
Urteil des Internationalen Gerichtshofs Der andere Typ der
Rechtsschoumlpfung ist die systemweite und bewusste Taumltigkeit
solcher internationalen meistens bdquoregional taumltigenrdquo sowie spe-
zialisierten Gerichte die das Rechtssystem in der mit Ihnen ver-
bundenen Sphaumlre mit Prospektivitaumlt bestimmen wollen Bei-
spiele dafuumlr sind gewisse Verfahrensregelungen seitens des Eu-
ropaumlischen Gerichtshofes fuumlr Menschenrechte ndash schreibt Von
Bogdandy
Tamara Ehs meint dass diese auf supranationalischer Ebene
erscheinenden juristokratischen Tendenzen auch mit der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH verbunden sind Nach Ehs hat
zwar der EuGH gegen die Politik das Recht bdquodes letzten Wor-
tesldquo aber dem EuGH fehlt das demokratische Moment23 Ehs
stellt fest dass der EuGH zum einen ndash innerhalb der EU ndash ein
europaumlisches Verfassungsrecht schaffen will zum anderen auch
politischen Aktivismus aufzeigt Die wichtigen Mittel dieses po-
litischen Aktivismus sind die Resolutionen in Vorabentschei-
dungsverfahren mit denen der EuGH tief hinter die mitglied-
staatlichen Grenzen reichen kann Allerdings sollte die Rolle des
EuGH auch in den weiteren internationalen Relationen gepruumlft
werden da das nach Ehs kein alleiniger Darsteller einer welt-
weiten Verfassungsordnung ist Solche weiteren bdquoElementeldquo
sind beispielsweise noch das WTO und IMF Im Zentrum dieser
Weltkonstitutionalisierung steht die Errichtung eines Systems
das auf den modernen neoliberalen Grundlagen der Weltwirt-
schaft beruht und das gegen die Ordnung der volksstaatlichen
Nationalwirtschaften gerichtet ist Daruumlber hinaus entspricht es
nicht den Prinzipien der demokratischen Repraumlsentation
D Die Rechtfertigungsversuche der
rechtsschoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH
I Das Kompetenzdilemma des EuGH bdquoeffet utileldquo
und die Ultra-vires-Handeln
Eines der groumlszligten Dilemmas in Bezug auf den Kompetenzkreis
des EuGH sowie das von ihm geschaffene Richterrecht ist die
Dualitaumlt der Grenzen und des Zwanges der auf Rechtsschoumlp-
fung gerichteten Taumltigkeit des EuGH bdquoDer EuGH balanciert
stets bei seiner Rechtsprechung zwischen Kompetenzgrenze
und Kompetenzpflicht (hellip) Einerseits darf er kompetenzrecht-
lich nur gewisses Richterrecht schaffen anderseits ist er aber
genau berufen das Notwendige und Moumlgliche zu entwickelnrdquo
ndash schreibt Michel daruumlber24 Diese Spannung haumlngt eng mit der
Luumlckenproblematik des Gemeinschaftsrechts zusammen In ers-
ter Linie stellte sich die Frage der Kompetenzen der souveraumlnen
Mitgliedstaaten ob die Luumlckenhaftigkeit der neuen europaumli-
schen Rechtsordnung nicht absichtlich ist Die Antwort des
EuGH auf diese Frage war ua im seinen CostaENEL- und van
23 Ehs Tamara Die neue Machtverteilung Von der Demo- zur Juristo-
kratie Momentum Quartely ndash Zeitschrift fuumlr sozialen Fortschritt
20124 233-247 httpswwwmomentum-quarterlyorgojs2in-
dexphpmomentumarticleview16691333 234 (2018 oktoacuteber 15) 24 Michel Morten Alexander Die Kompetenzentwicklung des Europaumli-
schen Gerichtshofes in seiner juumlngeren Rechtsprechung und ihre Integ-
rationseffekte in den Mitgliedstaaten Shaker Verlag Aachen 2002
159
Gend amp Loos ndash Rechtsspruumlchen angelegt Sein bdquoneinldquo bedeutete
dass das Unionsrecht ein neues komplettes Rechtssystem sogar
bdquoeine neue Voumllkerrechtsordnungldquo ausmachen solle Zwar ist die
Rolle des Integrationsgebotes und seine Auslegunsmittel die
sog bdquoeffet utileldquo-Formel in der Arbeit des EuGH ziemlich um-
stritten sie kann aber ihre Grundkonzeption der Rechtferti-
gungslogik der richterlichen Rechtsschoumlpfung gut darstellen
Mit der Anwendung ndash unter anderem ndash des effet utile-Grund-
satzes hat der EuGH nach dem Muster des franzoumlsischen
Conseil dlsquoEtat versucht die maximal bdquonuumltzliche Wirkungldquo zu
erreichen um diese selbstaumlndige Rechtsordnung ausgestalten zu
koumlnnen bdquoMoreover the fact that within the bdquoschematic effet
utilerdquo orientation of the ECJ the national law surroundings of
EC law are not considered may ultimately lead to the paradoxi-
cal result that the combined application of EC and national law
in a given specific case does not promote the effet utile of the
applicable European legislationrdquo ndash schreibt Schmid uumlber die an-
dere Seite dieser Problematik25 Der Zwang zur Rechtsentwick-
lung des EuGH folgt vor allem aus der Aufgabe der Rechtsaus-
legung und Rechtsanwendung die ihm von den Gruumlndungsver-
traumlgen als Verpflichtungen vorgeschrieben sind D h die
Schaffung des Richterrechtes ist in gewissen Faumlllen ausdruumlck-
lich notwendig Allerdings sollte es wichtige Grenzen geben die
die Grenzen der Verbands- bzw Organkompetenz des EuGH
markieren Ihre Uumlberschreitung bedeutet einen sog Ultra-Vires-
Akt Die richterliche Rechtsfortbildung darf keine sog bdquoKom-
petenz-Kompetenzrdquo-Befugnis bedeuten da die begrenzte Ein-
zelermaumlchtigung sich als ndash wiewohl nicht allgemeine aber ndash
wichtige Gebundenheit meldet D h der EuGH darf solche
Kompetenzen die in den Vertraumlgen nicht festgelegt sind weder
vorschreiben noch entziehen und muss die sog bdquoVerfassungsi-
dentitaumltldquo der Mitgliedstaaten respektieren26 Trotzdem wurden
zahlreiche solche richterlichen Entscheidungen seit den 1960zi-
gern getroffen bei denen die richtige Wahrung dieser Schranken
streitig geworden ist Die Entscheidungen (Franchovich- Bras-
serie du pecheur-Urteile)27 uumlber die Errichtung der sog europauml-
ischen Staatshaftung dienen als gute Beispiele Die Essenz die-
ser EU-Beschluumlsse besteht darin dass die einzelnen Mitglied-
staaten gegenuumlber ihren Staatsbuumlrgern mit der Ermoumlglichung
des Anspruchs auf Schadenersatz bezuumlglich der angemessenen
Uumlbernahme und Anwendung des Unionsrechtes verantwortlich
gemacht wurden Die Errichtung der Institution der Staatshaf-
tung ist wieder ein ernsthafter Schritt in die Richtung der In-
tegration gewesen und die zugleich auch Streit hervorgerufen
hat ob der EuGH uumlberhaupt uumlber angemessene Kompetenzen zu
einem solchen Schritt verfuumlgt Zu einer vollstaumlndigen Pruumlfung
der Kompetenzen des EuGH gehoumlrt die Aufdeckung zahlreicher
weiterer Teilbereiche (Subsidiaritaumlt effet utile usw) jedoch
muumlssen wir uns auf die folgenden Bemerkungen einschraumlnken
Die Schaffung eines solchen Richterrechtes das die der Staats-
haftung aumlhnlichen Rechtsfortbildung folgt kann nach Michel
25 Christoph U Schmid The ECJ as a Constitutional and a Private Law Court Bremen ZERP an der Univ Bremen Bremen 2006 S 24
26 Vgl dazu Walter aaO S 45 ff und 320 ff und Streinz
EUVAEUV 3 Aufl CHBeck Muumlnchen 2018 S 210 Rn 14-16 und dazu auch Schmid aaO S 22-28
27 (Rechtssachen C-690 und C-990 1991 sowie C-4693 und C-4893
1996)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 22
nur in jenen Faumlllen akzeptiert werden wo sie solchen Zielen
dient die nicht im Gegensatz zu den in den Gruumlndungsvertraumlgen
offenbarten Willen der Mitgliedstaaten stehen Auszligerdem brin-
gen sie die Rechtsstaatlichkeit und die Wirksamkeit des Euro-
parechtes voran Michel sieht das Problem darin dass solche Ur-
teile nur ausnahmsweise vorkommen sollten dagegen ist der
EuGH einerseits ndash mit den Worten von Michel ndash der bdquoWegbre-
cher der Integrationrdquo andererseits bdquoder Notgesetzgeberrdquo der EU
Der EuGH hat nunmehr ein gewisse bdquoquasi Kompetenzldquo die
dadurch legitimiert wird dass die Mitgliedstaaten solche Ent-
scheidungen des EuGH einfach stillschweigend akzeptieren28
bdquoDennoch muss man aus rechtstaatlicher Sicht wie aus Rechts-
sicherheitsgruumlnden die Akzeptanzkompetenz als echte Organ-
kompetenz des EuGH ablehnenrdquo ndash schreibt Michel29
II Die rechtliche Grundlage die bdquoWahrung des
Rechts zu sichernldquo
Die Grundlage des Richterrechtes das im Rahmen der rechts-
schoumlpfenden Taumltigkeit des EuGH geschaffen wird wird von ei-
ner permissiven Interpretation der Wendung bdquosichert die Wah-
rung des Rechtsrdquo in der Fachliteratur gegeben30 und sie umfaumlngt
nach dieser Interpretation auch die richterliche Rechtsfortbil-
dung des Unionsrechtes Diese breite Interpretation wird damit
begruumlndet dass der Richter nicht nur im sog bdquocommon lawldquo
Rechtskreis sondern auch in der europaumlischen Rechtstradition
mehr als bloszlig bdquoder Mund des Gesetzesldquo war Auch das BVerfG
hat sich mit dieser Frage in seinem UStRiL-Urteil beschaumlftigt
und sich auf die Uumlberlieferungen des Gemeinen Rechts des Rouml-
mischen Rechts bzw des englischen common law berufen Es
hat das festgestellt dass die Gruumlndungsvertraumlge auch aus der
Perspektive der europaumlischen rechtsgeschichtlichen Traditionen
interpretiert werden sollen Ein weiteres Auslegungsargument
ist dass die EU vor allem eine bdquoRechtsgemeinschaftldquo ist und
als solche braucht es die aktive integrierende Taumltigkeit des
EuGH damit das die Harmonie des Gemeinschaftsrecht verbuumlr-
gen kann bdquo(hellip) Der EuGH (muss) in gewissen Grenzen zur Ver-
wirklichung des Rechts Normen schaffen duumlrfen um das Recht
zu sichern wenn diese Sicherung im Wege der Auslegung nicht
zu erreichen ist ndash schreibt Walter31
E Der Versuch der demokratischen Legitimierung
der Taumltigkeit von EuGH
I Die Unabhaumlngigkeit und die juumlngsten Urteile des
EuGH
Die herausragende Bedeutung des EuGH innerhalb der EU
kommt aus seinem umfangreichen Wirkungsbereich sowie aus
sonstigen organisatorischen Umstaumlnden Solch ein bdquoorganisato-
rischer Umstandrdquo ist dass mehrere Mitglieder des Organismus
EU einander in den unterschiedlichen Verfahren ergaumlnzen und
28 Vgl dazu Michel aaO S 157 ff und 162 ff 29 Michel aaO S 170 30 Vgl dazu Michel aa O S 24 ff und Calliess-Ruffert-Blanke EUV-
AEUV das Verfassungsrecht der Europaumlischen Union mit Europaumli-
scher Grundrechtecharta Kommentar 5 Aufl CH Beck Muumlnchen
2016 S 311 ff Rn 12-18 und dazu auch Streinz aaO S 209 f
RN 12-16
kontrollieren ihre Arbeit sich in einer speziellen Wechselwir-
kung verwirklicht Daraus folgt dass die klassische These der
Gewaltenteilung sich in diesem Bezug nicht durchsetzt Der
EuGH verfuumlgt uumlber eine ziemlich groszlige Unabhaumlngigkeit Dazu
wesentliches Kompetenzpotenzial konzentriert sich in seiner
Hand Aus Hinsicht der Mitgliedstaaten ist die Position des
EuGH noch staumlrker Die Judikatur des EuGH schraumlnkt sowohl
die nationalen Parlamente sowie die Verfassungsgerichte als
auch die nationalen Gerichte stark ein Die nationalen (Verfas-
sungs-) Gerichte muumlssen auf das Unionsrecht sowie auf die Ur-
teile des EuGH Ruumlcksicht nehmen und daruumlber hinaus sogar an-
wenden wenn die gerichtliche Rechtsauslegung dem Unions-
recht entsprechen soll Aus diesem Grund verlagert sich das
Machtpotenzial von den Mitgliedstaaten hin zum EuGH Die de-
mokratische Legitimation dieses Machtpotentials wird sowohl
in der organisatorischen Struktur der EU als auch aus Richtung
der Mitgliedstaaten beansprucht
bdquoInsbesondere im Hinblick auf die enorme Bedeutung und Autoritaumlt
des EuGH und EuG im institutionellen Gefuumlge der EU scheint die Frage
nach deren demokratischer Legitimation unausweichlich und von
grundsaumltzlicher Bedeutung zu sein (hellip) Diese beiden Fundamentalprin-
zipien beeinflussen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander
verbunden und bauen ein Spannungsverhaumlltnis zueinander aufrdquo
ndash Kathrin F Baltes32
Die Kritiker des EuGH lassen nach Baltes ein sehr wichtiges
Postulat auszliger Acht die richterliche Unabhaumlngigkeit Die An-
forderung der Unabhaumlngigkeit zieht eine Grenzlinie fuumlr die Er-
weiterung der demokratischen Legitimation des EuGH Das Er-
fordernis der Unabhaumlngigkeit wurde auch in den juumlngsten Urtei-
len33 des EuGH bekraumlftigt Nach der Rechtsprechung des EuGH
ist die richterliche Unabhaumlngigkeit bdquovon grundlegender Bedeu-
tungldquo und ein wichtiger Eckpfeiler der modernen rechtsstaatli-
chen Demokratie und im Vergleich zu den zwei anderen Staats-
gewalten schreibt sie der Judikative spezielle Anforderungen
vor Der Richter der im gegebenen Fall Entscheidungen treffen
soll sollte vollstaumlndig unabhaumlngig von anderen Organisationen
und politischen und sonstigen Einfluumlssen sein Der Richter soll
auf die Gesetze Ruumlcksicht nehmen und darf bei der Ausuumlbung
seines Amtes von niemandem angewiesen werden und seine
Entscheidungen duumlrfen nicht von anderen (nicht gerichtlichen)
Organen uumlberpruumlft werden Der EuGH hat vor kurzem in seinem
Urteil ausgesprochen dass die unabhaumlngige Einrichtung des Ge-
richtes sowohl auf der Ebene der Union als auch auf der mit-
gliedstaatlichen Ebene unerlaumlsslich ist Sehr wichtig ist dass der
EuGH auch den ndash auf der Charta basierenden ndash Grundrecht-
schutz fest mit der richterlichen Unabhaumlngigkeit zusammenge-
bunden hat und zugleich als Bedingung einer bdquoreibungslosenldquo
justiziellen Kooperation bestimmt hat Zu der richterlichen Un-
abhaumlngigkeit gehoumlrt die bdquovoumlllige Autonomieldquo ndash hat der EuGH
31 Walter aaO S 145 32 Baltes Kathrin F Die demokratische Legitimation und die Unabhaumln-
gigkeit des EuGH und des EuG Peter Lang Frankfurt am Main 2011 S 3
33 (Rechtssachen C-6416 EUC2018117 und C-21618 PPU
EUC2018586)
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 23
betont Ein entscheidendes Moment ist also die Unabhaumlngigkeit
gegenuumlber nationalstaatlichen Einfluumlssen
II bdquoZeitgemaumlszligeldquo Legitimationsmodelle
Man muss zur umsichtigen Festsetzung der Position des EuGH
die Legitimationsart der EU untersuchen Die Errichtung der mit
den Nationalstaaten analog einhergehenden demokratischen Le-
gitimation ist ndash ohne Zweifel ndash problematisch in Bezug auf die
EU Allerdings betont Baltes gebe es zwar kein einheitliches
bdquoeuropaumlisches Demosrdquo aber das bdquoVolkrdquo ndash im Einklang mit den
europaumlischen gesellschaftlichen Tendenzen - ist nicht monis-
tisch kollektiv sondern soll pluralistisch individuell interpre-
tiert werden34 Dies ist ein entscheidender Punkt weil die EU
auf einer sog dualistischen Legitimationsbasis beruht Der si-
multane Status der mitgliedstaatlichen und europaumlischen Staats-
buumlrgerschaft ermoumlglicht die demokratische Legitimation sowohl
auf EU-Ebene die von der Institution des Europaumlischen Parla-
ments praumlsentiert wird als auch auf der Ebene der Mitgliedstaa-
ten die ndash auszligerhalb des EP ndash vom Ministerrat und dem Europauml-
ischem Rat realisiert wird Waumlhrend nach einigen die mitglied-
staatliche Legitimationsbasis Vorrang hat hat nach anderen die
bdquoeuropaumlischerdquo Legitimationsbasis Der EuGH hat sich schon in
seinen fruumlheren Urteilen (zB 13879 Roquette Freacuteres vs Rat)
eher fuumlr die letztere Variante ausgesprochen mit der Begruumln-
dung dass das EP bdquo(altough limited) it reflects at Community
level the fundamental democratic principle that the people
should take part in the exercise of power through the intermedi-
ary of a representative assemblyldquo Baltes unterstreicht ihre
Gleichwertigkeit als die Entwicklung der EU von Baltes als ein
solcher bdquodynamischer Prozessrdquo bezeichnet wird bdquoder nicht auf
ein konkretes starres und ausnahmsloses Prinzip beschraumlnkt
werden kannrdquo35
Laut der Klassifikation von Baltes kann die demokratische
Relation zwischen der EU und den Staatsbuumlrgern grundsaumltzlich
durch zwei unterschiedlich logische Mechanismen ferner durch
die Kombination derselben geschaffen werden Der erste Me-
chanismus ist die sog bdquoLegitimationsruumlckkopplungrdquo die darauf
fokussiert ob die Machtausuumlbung auf den buumlrgerlichen Willen
bzw auf dessen Initiative zuruumlckgefuumlhrt werden kann Unter-
schiedliche Schemata wurden als Methoden der Ruumlckkopplung
bearbeitet zB die Schemata der bdquoLegitimationskettenrdquo oder
des bdquoKontrollmodellsrdquo Im Fokus der Legitimationsketten steht
das Volk als die staumlndige und kontinuierliche Quelle der Staats-
gewalt Zwar gibt es Abweichungen zwischen den einzelnen un-
terschiedlichen praktischen Formen (institutionelle formelle
persoumlnliche inhaltliche Legitimation usw) aber ndash nach der all-
gemeinen Form des Schemas ndash das Volk soll das Parlament
waumlhlen und dem im Wesentlichen alle anderen oumlffentlich-recht-
lichen Anstalten unterordnen Die Regierungsmacht ist durch
ihre parlamentarische Verantwortlichkeit und auch durch kon-
kretes Weisungsrecht sowie durch Rechtsvorschriften die vom
34 Baltes aaO S 65 35 AaO S 83
Parlament als Legislative konstituiert werden begrenzt Die Le-
gitimationskette beruht auf dieser Dependenz Es ist sichtbar
dass die Jurisdiktion schwerer in die Legitimationskette einge-
fuumlgt werden kann und sie ist daher auch schwerer auf den Volks-
willen zuruumlckzufuumlhren Die Spannung kann schlieszliglich nur in
der Ausgestaltung der strengen Gesetzesbindung von richterli-
chen Amtsbefugnissen in diesem Legitimationsverstaumlndnis auf-
geloumlst werden Diese Verkettung ist deshalb leicht angreifbar
und daruumlber hinaus entsteht ein weiteres Problem die Legitima-
tionskette auf der Ebene der EU kann ungeachtet der Dualitaumlt
der nationalen sowie Unionsstaatsbuumlrgerschaft nur bdquoschwer-
lichrdquo aufgezogen werden Aus dem Loumlsungsversuch dieses Di-
lemmas sind die weiteren Modelle die mehr oder weniger als
Ergaumlnzungen des Schemas der Legitimationskette dienen ent-
standen Die sog personale Legitimation ist daher wichtig in
diesem Themenbereich weil ihre Vertreter meinen dass die Le-
gitimationskette allein eben darum nicht maszliggeblich ist weil
der Bewegungsraum der Richter nie vollstaumlndig eingeschraumlnkt
werden darf zum Beispiel wegen der Notwendigkeit der Ent-
wicklung bzw Interpretation des Unionsrechts Daraus folgt die
Forderung dass die Auswahl der Richter bdquodemokratischrdquo so
zum Beispiel durch Parlamentsausschuumlsse stattfinden sollte
Man muss ndash nach einer anderen bdquoLegitimationsergaumlnzungrdquo ndash
mit fachlichen Vorschriften bzw Standards die Legitimations-
kette verstaumlrken (zB Amtshaftung die Publizitaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens bzw der gerichtlichen Beschluumlsse) Das Kon-
trollmodell basiert ebenfalls auf der derivativen Partizipation
sowie auf der Ruumlckkopplung des Volkswillens aber weicht in-
haltlich von der Auffassung des Legitimationsmodelles ab Der
Entwickler dieses Modelles Axel Tschentscher betont die fach-
lichen und auch persoumlnlichen Faktoren Der entscheidende
Punkt in diesem Modell ist die unabhaumlngige Position des Rich-
ters von anderen Institutionen abzusichern In Tschentschers
Auffassung ist die richterliche Rechtsschoumlpfung bzw die An-
wendung des Richterrechts in einer demokratischen Ordnung
daher nicht problematisch weil die Legislative ein bdquopraktischesrdquo
Revisionsrecht hat Falls das Parlament anders beschlieszligt kann
es eine von der richterlichen Entscheidung abweichende Rechts-
norm schaffen ndash legt Baltes das theoretische System von Tsch-
entscher dar36
F Fazit
Wie man das auch basierend auf dem oben dargestellten
wahrnehmen kann koumlnnenmuumlssen wir den Demokratieldquoindexldquo
der europaumlischen Organisationsstruktur nunmehr auf mehreren
Ebenen analysieren und ndash zu einem authentischen angemesse-
nen Ergebnis ndash die Problematik der WTO-Struktur und der sog
bdquoJuristokratieldquo bzw bdquoWeltkonstitutionalisierungldquo (siehe oben
bei Ehs) das Dilemma des Parlamentarismus (siehe oben bei
Veil) und auch der Mitgliedstaaten (siehe oben z B bei den
Ultra-Vires Handlungen) etc zusammen betrachten und pruumlfen
Es bedarf daher noch weiterer Pruumlfungsschritte Daraus ergibt
sich dass wir uns auf die folgenden Feststellungen beschraumlnken
muumlssen
36 AaO S 86 ff
Hegedős Problematik der europaumlischen Demokratie Thema Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 24
Ein wichtiger Punkt ist dass bedeutende Theoretiker das un-
verzichtbare Element der Demokratie im Parlamentarismus
wahrnehmen Das Fehlen eines tatsaumlchlich funktionierenden
Parlamentes kann auf der Ebene der EU festgestellt werden weil
wichtige gesellschaftliche und politische Bedingungen dazu
nicht oder nur mangelhaft vorhanden sind Es ist zu betonen
dass der Mangel an Parlamentarismus daher problematisch ist
weil die europapolitischen richtunggebenden Entscheidungen
nicht vom Volk bzw nicht von den europaumlischen Buumlrgern be-
stimmt werden koumlnnen Wie im zweiten Teil dargestellt wurde
hat der EuGH ndash nach zB Michel - seit den Sechzigern diese
quasi (bdquoersatz- oder not-bdquo) gesetz- und richtunggebende Rolle
des Parlamentes teilweise uumlbergenommen Baltes weist ndash siehe
den dritten Teil der Untersuchung ndash auf die besondere Bedeu-
tung der institutionellen Unabhaumlngigkeit des EuGHs hin aller-
dings unterscheiden sich seine Legitimationskonzepte grund-
saumltzlich von den bdquotraditionellenldquo nationalstaatlichen Demokra-
tievorstellungen d h von der auf der Volkssouveraumlnitaumlt basie-
renden parlamentarischen Demokratie Falls die Befugnisse des
EuGH weiterhin so weitreichend bleiben kann man schwierig
das institutionelle Gefuumlge der EU nicht als juristokratische
Machtstruktur definieren In diesem Bezug scheint Hans Kel-
senrsquos Stellungnahme uumlber die Notwendigkeit der Einheit der
staatlichen Gewalten aus der Hinsicht der Demokratie voraus-
schauend und bemerkenswert zu sein Das Erfordernis der rich-
terlichen Unabhaumlngigkeit und das sehr groszlige Kompetenzpoten-
zial ohne wirklich funktionierende parlamentarische Gegenkon-
trolle bedeuten zusammen auf der Ebene eines sich noch immer
entwickelnden Staatenverbundes eine bedeutsame Machtkon-
zentration in der Hand des EuGH Also was unsere Grundfrage
angeht d h ob die europaumlischen Buumlrger wirklich einen demo-
kratischen effektiven Einfluss auf die Entscheidungen der EU
ausuumlben koumlnnen kann man nicht eindeutig mit bdquojaldquo oder bdquonein
beantwortet werden Muumlnch und auch Baltes schreiben uumlber eine
bdquozeitgemaumlszligeldquo Demokratievorstellung die die Gesellschaft plu-
ralistisch und individualistisch betrachtet Die sog bdquoOutputldquo-
oder Ergebnislegitimationsmodelle koumlnnen sich zwar als sehr
wichtige Bestandteile eines demokratischen Gefuumlges des EuGH
bzw der EU erweisen allerdings ersetzen sie nicht die demo-
kratische Funktion des zur Zivilgesellschaft gehoumlrenden (siehe
oben bei Habermas) Parlamentes Daruumlber hinaus liegt auch ein
weiteres Problem mit der Ergebnislegitimation vor Wie schon
im ersten Kapitel dargestellt wurde bedeutet die sog Elitebil-
dung immer eine ernsthafte Gefahr fuumlr die Demokratie Sofern
die Einzelnen als bdquoVolkldquo ihren Willen durch das Parlament nicht
zu validieren vermoumlgen und so auch Schumpeterrsquos Wettbe-
werbsmodell uumlber die bdquoHerrschaft der Politikerldquo marginalisiert
wird wird das Risiko der Herausbildung von Elitegruppierun-
gen noch beachtlicher Eine Demokratie muss den Rahmen des
politischen Kampfes (bdquoWettbewerbesldquo) der Mehrheits- und
Minderheitsansichten immer gewaumlhrleisten ferner das eine
Minderheitsmeinung zu einer Mehrheitsmeinung werden kann
Daraus folgt dass man unbedingt pruumlfen muss wie die Effizienz
des Parlamentarismus auch auf der Ebene der EU aussieht wie
die europapolitischen Auseinandersetzungen fuumlr die mitglied-
staatlichen Buumlrger wirksamer verdeutlicht werden koumlnnen und ndash
vor allem ndash wie die Kompetenzverteilung zwischen dem EP und
dem EuGH noch effektiver zugunsten der Prinzipien des Parla-
mentarismus ausgestaltet werden kann
Die Autorin hat bereits das erste juristische Staatsexa-men abgelegt und befindet sich derzeit im Masterstu-dium an der Universitaumlt zu Koumlln (Staatsrecht mit Bezuuml-gen zum Europa- und Voumllkerrecht)
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 25
Conditional consent as a valid legal ground for data processing
- a misbelief
-
Sonja Buumlhler
A Introduction
An inflationary use of personal data due to internet-con-
nected devices such as smart-TVs smartwatches fitbits
or smartphones and online services such as Spotify or
Netflix is taking place forming a valuable economic asset1
To counter this development there is a need to effectively
protect personal data of users Consumers often find
themselves in situations where they have no choice but to
agree to the processing of personal data if they want to
use a certain device or service
This article examines whether a term of use clause mak-
ing use of a device or service conditional on consenting to
data collection through the device is compatible with Arti-
cle 7(4) GDPR (II)2 Therefore it recalls the principle of
consent as a legal ground for processing (II1) and con-
siders under which conditions conditional consent is
freely given (II2) Thereby the article takes into account
the question whether a real choice of the user is denied
due to an imbalance of power I will argue that the imbal-
ance of power arises due to the form of the contract which
gives no opportunity for renegotiation (II21) I argue that
positive incentives to give consent cannot be considered
inadmissible force (II22) whereas factual dependency
and a lack of alternatives prevent free consent (II23)
Further I argue that withdrawing consent will most likely
lead to detriment and thus consent is invalid (II24) This
article will also show that data processing often is not nec-
essary for the contract and thus consent is very likely to
be invalid (II25) I will conclude that in many situations
conditional consent is not freely given under Art 7(4)
(II3)
In a second step I will discuss other safeguards of the
GDPR applying in this scenario (III) Those are especially
the principles of data processing namely the principle of
1 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regulation
(GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 2 All articles cited in the following are articles of the GDPR if not indicated
otherwise 3 Art 6(1) GDPR 4 Art 6(1)(a) GDPR For general information about consent as a justifica-
tion see D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford and Portland Oregon (2007) p 61 ff
purpose limitation (III1) data minimisation (III2) and ac-
countability (III3) I will conclude that consumers are not
always sufficiently protected by those safeguards from a
situation where they might be ldquoselling their soul for Netflixrdquo
(III4)
Hence the article considers other regulatory constraints
such as strengthening the rights of the user through con-
sumer protection law that are necessary in order to protect
users (IV)
After all I will find most of the conditional consents are
probably invalid and thus do not constitute a legal ground
for processing Currently the situation of the data subjects
in practice is not enhanced by the invalidity but the legal
situation has to be improved (V)
B Consent - when can conditional consent be
considered freely given
I Principle of consent as a legal ground for
processing data
Following the rule and exception doctrine of the GDPR pro-
cessing data is always considered unlawful except if one of the
legal grounds of Art 6 applies3 The legal ground considered in
this article is consent Data processing is lawful when the data
subject gave consent to it4 Very often consent will be given by
accepting privacy policies5 It is questionable if and under
which circumstances processing of personal data can be based
on consent in the special situation when consent is a condition
for using a device or service such as smart TVs Fitbits or Net-
flix
To illustrate the findings of this article I will use the online
service Netflix as an example Nevertheless the general find-
ings made in this article can be applied to any other kind of in-
ternet-connected device or online service if its use is conditional
on giving consent6
5 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 They state
The controller can achieve this either by way of contractual means (by
stating in the contract that it will only be performed if consent for certain processing is provided) or through technical means (eg through an app
which does not install or function if consent is not provided) 6 The problem of conditional consent arises also in context with tracking
walls when consent has to be given in order to be able to get access to a
website See therefore F J Zuiderveen Borgesius S Kruikemeier S C
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 26
II Freely given conditional consent - nearly
impossible due to imbalance of power
Consent is any freely given specific informed and unambigu-
ous indication of the data subjectrsquos wishes by which he or she
by a statement or by a clear affirmative action signifies agree-
ment to the processing of personal data relating to him or her7
This definition confirms that giving consent is an expression of
self-determination8 Out of those requirements for valid consent
the words freely given are of special interest in cases where
consent is conditional for the performance of a contract or for
providing a service
In those constellations the user is in an especially vulnerable
position and extremely likely to give consent to the use of per-
sonal data Whether consent that is conditional for the perfor-
mance of a contract or providing the service is really given
freely has to be considered carefully with special relevance9
As Recital 43 lines out consent should not provide a valid legal
ground for the processing of personal data in a specific case
where there is a clear imbalance between the data subject and
the controller10 The purpose of Art 7(4) is to ensure that con-
sent to the processing of personal data which is necessary for
conducting the contract or service is not bundled with consent
to data processing which is not necessary for the contract11
Nevertheless it does not contain an absolute ban that condi-
tional consent can be given freely but it has to be considered
with the utmost scrutiny for each case depending on the con-
text and circumstances
So to come back to our case the question arises whether
there is an imbalance of power between the user and the control-
ler (eg Netflix) that could preclude free consent A clear imbal-
ance is assumed in relation with public authorities and employ-
ers12 In this case the imbalance of power due to subordination
is apparent The question is whether the same degree of imbal-
ance can be established between the producers of smart devices
or providers of online services and their users
1 Imbalance expressed by form contract
First of all it has to be considered that the terms of contract usu-
ally cannot be renegotiated as they are part of a form contract
The two contracting parties are not at eye level but the user is
Boerman N Helberger Tracking Walls Take-It- Or-Leave-It Choices the GDPR and the ePrivacy Regulation (2017) European Data Protec-
tion Law Review pp 353-368 7 GDPR Art 4(11) Relevant Recitals of the GDPR are Recital 32 and 33 8 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 169 9 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 218 10 Recital 43 GDPR 11 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 B Kostić E Vargas Penagos The freely given
consent and the bundling provision under the GDPR (2017) Computer-
recht p 218 12 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 7 Recital 43 S 1 GDPR 13 See for this opinion also M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data
Protection through Consumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Re-
view Vol 5 Issue 1
in a weaker bargaining position and does in fact not have the
possibility to introduce his own interests into the contract The
user only has the possibility to accept the terms or not to con-
clude the contract13 This so called structural power of the con-
troller limits the private autonomy of the user14 Thus it appears
that the form of the contract and the way by with the contract is
concluded (namely without any possibility to negotiate or adjust
it) already implies an imbalance of power15
2 Imbalance due to lack of real choice - Impact of
negative and positive forces
Secondly an imbalance exists when the user has no real choice
whether or not to give consent Only if such a real choice exists
the consent is valid
For having a genuine and free choice consent has to be given
without external force Force can be negative in the form of
threat making a consent invalid but there is also positive force
which is an act of force that intends to influence the individual
in a positive way such as an inducement16 Positive force does
not itself make consent invalid and can be considered a weaker
kind of force Those influences can eg be of financial emo-
tional or practical nature17 Consent is still freely given even
when a small degree of positive pressure is exercised on the in-
dividual18 This is rather a resistible offer than an actual
threat19 An example is a shopping discount in return to using a
bonus card collecting user information It can be hard to draw a
line between a simple incentive and a real influence on the free-
dom of choice of the data subject20
But in the case of smart devices or online services the pres-
sure exerted on users to consent is not negative force but rather
positive force as the consent establishes the possibility to gain
access to a service or use a special device It expands the free-
dom of action of each user by giving the opportunity to use the
device or service There is an incentive to give consent in order
to use the device which is making life easier but that could also
be resisted This positive force as such does in my opinion not
amount to a limitation of the freedom of will and does not estab-
lish an imbalance of power
3 Imbalance due to lack of choice - Impact of factual
14 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
3 15 The article comes back to this issue and gives an answer how this prob-
lem could be tackled through consumer law See below at V 16 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 172 On unforced choice see also D Beyleveld R Brownsword Consent in the law Oxford
and Portland Oregon (2007) pp 131 f 17 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14 18 E Kosta Consent in European Data Protection Law Chapter Elucidation
of Consent in the Data Protection Directive (2013) p 173 19 R R Faden T L A Beauchamp A History and Theory of Informed Con-
sent (1986) p 340 20 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition
of Consent p 14
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 27
dependency and lack of alternatives
But even without negative force consent can still be unfree if
there is a factual dependency on the device or service and a lack
of alternatives If the service or device it is indispensable it is
likely that there is a relationship of dependency between the
controller and the data subject and thus there is no balance of
power21 This is even more likely if a controller does have a
monopoly22
Users clearly always have the choice not to use the device or
service at all Many modern electronic devices such as smart
watches Fitbits or smart TVs can (still) be replaced by devices
not connected to the internet and thus not requiring personal data
(like traditional watches TVs DVDs) In the current status of
the society people are not completely relying on internet-con-
nected devices So if there is an alternative on the market that
does not require personal data a free choice might be given23
Maybe this changes within the next centuries but right now
there is no dependency on smart devices or online services com-
parable to the dependency to your employee or public authori-
ties So from this point of view the data subject has a free
choice whether or not to give consent
But the question is how realistic it is that this choice can be
made against the use of smart devices or services It has to be
seen that in our modern society users are largely depending on
the use of electronic devices and services (such as laptops
smartphones or tablets) for example for school university and
work but also for their social and private life Choosing not to
use certain devices or services means excluding oneself from
many advantages benefits and possibilities The everyday use
of data processing devices will even increase in the future24
However the Article 29 Working Party in contrast takes a
different starting point It asks for a data-processing-free
choice within one controller and not a choice between different
market players25 The performance or conduct of a contract must
not depend on consent to data processing even if the user could
have access to an equivalent and reasonable service somewhere
else at the market where the user does not need to give consent
to data processing26 This seems convincing as otherwise the
freedom of choice would depend on the existence of equivalent
services or devices by other market players which is outside the
area of influence of the controller27 The choice is not between
21 A Golland Das Kopplungsverbot in der Datenschutz-Grundverordnung
Anwendungsbereich oumlkonomische Auswirkungen auf Web 20-Dienste
und Loumlsungsvorschlag (2018) Multimedia und Recht p 132 22 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 43 23 See for this view the example 31 on External choice in B Kostić E
Vargas Penagos The freely given consent and the bundling provision
under the GDPR (2017) Computerrecht p 222 24 See for more information and examples C Storr P Storr New Technol-
ogy Big Data and the Law The internet of things Right to Data from a
European Perspective (2017) pp 65 - 96 25 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9 f 26 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7
subparagraph 45 27 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 9
use or not use the device or service but between use one and
the same device or service with or without data processing28
This more user-friendly approach would require each control-
ler to offer an alternative to the conditional use of data So if
two versions of a product or service are offered eg a more ex-
pensive version where you do not have to give consent to data
processing the data subject has a real choice whether he or she
wants to pay with their data or not29
This approach can be criticized as consent in those cases
would technically speaking not be conditional anymore as the
service or device can also be used without the consent30 Offer-
ing two options would make conditional consent obsolete But
in my opinion this criticism mistakes that each of the two pos-
sible choices (pay more without data processing or pay less with
data processing) has to be considered separately When the user
decides not to pay money for the use of a service but to give
consent to the use of its data the consent in this particular situ-
ation is conditional But the user has a free and genuine choice
to get the same service without giving consent to data pro-
cessing
I conclude that in many cases a real choice has to be doubted
There might in some cases be a factual dependency on the de-
vice or service But even if there is no factual dependency there
is often a lack of real choice if the controller does not an offer
data-processing-free alternative
4 No free will due to detriment when withdrawing the
consent
Furthermore consent is only valid if it can be refused or with-
drawn without detriment31 Vice versa it is unfree if the user is
penalised or suffers detriment when withdrawing consent Pos-
sible detriment can be deception intimidation coercion or sig-
nificant negative consequences32
For better clarity Art 29 Working Party gives an example
constituting detriment33 In this example a lifestyle phone app
wants to get information about the movements of its users using
the accelerometer of the phone This data is not necessary for
the app to work Once the consent to use the accelerometer is
withdrawn the app only works to a limited extend This amounts
to detriment under Recital 42 GDPR and thus consent was not
valid
28 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 96 with further references 29 This opinion is also shared by L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU Gen-
eral Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 30 See for this criticims L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General Data
Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 31 Recital 42 last sentence 32 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 10 already Art 29 Data Protection Working Party Opinion 152011 on the Definition of Consent p 12 regarding consent
under Art 2 h DPD Art 2 lit h DPD stated Consent can only be valid if
the data subject is able to exercise a real choice and there is no risk of de-ception intimidation coercion or significant negative consequences if
heshe does not consent 33 See Example 8 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p 11
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 28
So in the case of smart devices and services their restriction
in use after withdrawing consent amounts to detriment If a user
does not give consent to data processing by his or her internet-
connected TV the TV cannot be used in the first place This
means the owner cannot use his or her property thoroughly And
if the consent is withdrawn later the TV can most probably not
be used anymore It is thus very likely that in most cases of con-
ditional consent detriment (eg regarding the usage of their
property) will happen meaning that the consent is not freely
given
5 Is consent not freely given when data processing
(or consent) is not necessary for performing the
contract
Art 7(4) states that for considering whether consent has been
given freely ldquoutmost account shall be taken of whether (hellip) the
performance of a contract (hellip) is conditional on consent to the
processing of personal data that is not necessary for the perfor-
mance of the contract Additionally Recital 43 S 2 GDPR pre-
sumes that consent is not given freely when consent is not nec-
essary for the performance34 The burden of proof to disprove
this assumption lies with the controller35
Considering the wording of Art 7(4) it is somewhat unclear
whether the words ldquothat is not necessaryrdquo relate to ldquoconsentrdquo or
to ldquothe processing of personal datardquo Comparing the English and
the German versions of the GDPR it catches the readerrsquos eye
that the German version quite explicitly relates the necessity-
requirement to the processing of personal data that is not nec-
essary for the performance of the contract (the translation would
literally be whether ldquoit is conditional on consent to the pro-
cessing of various36 personal data that are not necessary for the
performance of the contractrdquo)37 This difference in the German
version is regarded as being a translation error by some authors
claiming that the validity of consent should be considered de-
pending on whether consent is necessary for the performance of
the contract38 This finding also seems to be supported by Re-
cital 43 S 2 Recital 43 S 2 assumes that consent is not freely
34 Recital 43 sentence 2 GDPR Consent is presumed not to be freely given
() if the performance of a contract including the provision of a service
is dependent on the consent despite such consent not being necessary for
such performance 35 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 219 f 36 various was added by the author to clarify that personal data is in the
form of plural in the German text 37 Art 7(4) DSGVO bdquoBei der Beurteilung ob die Einwilligung freiwillig
erteilt wurde muss dem Umstand in groumlszligtmoumlglichem Umfang Rechnung getragen werden ob unter anderem die Erfuumlllung eines Vertrags ein-
schlieszliglich der Erbringung einer Dienstleistung von der Einwilligung zu
einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhaumlngig ist die fuumlr die Erfuumlllung des Vertrags nicht erforderlich sindldquo
38 This opinion is taken in L Feiler N Forgoacute M Weigl The EU General
Data Protection Regulation (GDPR) (2018) p 88 39 This is also the leading opinion in literature see eg P Voigt A von dem
Bussche The EU General Data Protection Regulation (GDPR) A Practi-
cal Guide (2017) p 96 40 Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on Consent under Reg-
ulation 2016679 p 8 41 This conclusion is also in line with the interpretation of Art 29 Data Pro-
tection Working Party Guidelines on Consent under Regulation 2016679
p 9
given if the performance of a contract including the provision
of a service is dependent on the consent despite such consent
not being necessary for such performance
However to base an interpretation on an alleged translation
error is not convincing Following a teleological approach in-
stead it is more likely that it plays a role whether data pro-
cessing is necessary and not whether consent is necessary39 The
purpose of Art 7(4) is to ensure that personal data processing is
not disguised nor bundled with the provision of a contract of a
service for which these personal data are not necessary40 Vice
versa if data processing is indeed necessary to perform the con-
tract or service Art 6(1)(b) will already be a legal ground for
processing So Art 7(4) in fact only applies to data processing
that is not necessary for the contract or service41
It is thus decisive whether the data processing is necessary
for the performance of the contract42
The meaning of necessary in Art 7(4) could be the same as
in Art 6(1)(b)43 Thereby a strict interpretation should be ap-
plied excluding everything that is ldquonot genuinely necessary for
the performance of a contract but rather unilaterally imposed on
the data subject by the controllerrdquo44 There needs to be a direct
and objective link between the processing itself and the purposes
of the contractual performance expected from the data45 So in
order to assess what is necessary the scope of the substance
and fundamental objective of the contract has to be consid-
ered46 This does not mean that processing is necessary for the
contract just because it is mentioned in the contract47 But pro-
cessing is necessary if it is a targeted and proportionate way of
achieving the purpose of the contract and it is not necessary if
the controller can reasonably achieve the purpose by some
other less intrusive means48 An example for necessary data
processing eg is the processing of credit card details in order to
conduct payments49
But let us take a closer look to the example of Netflix50 Net-
flix uses a lot of information such as demographics location
42 B Stemmer Beckscher Onlinekommentar Datenschutzrecht (2018) Art 7 subparagraph 41
43 B Kostić E Vargas Penagos The freely given consent and the bundling
provision under the GDPR (2017) Computerrecht p 220 44 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 45 Art 29 Data Protection Working Party Opinion on recent developments
on the Internet of Things p 15 46 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 47 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 48 ICO Guide to the General Data Protection Regulation (GDPR) Lawful
basis for processing August 2018 p 5 49 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 16 50 The information used here is taken from Netflix Privacy Policy available
at httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policy last access on
141218
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 29
language movie queues made by users ratings but also inter-
actions of the users such as scrolls mouse-overs clicks or the
time spent on a given page51 All this data is used to optimize
the user experience and give custom-fit recommendations in or-
der to make the user spend more time on Netflix The recom-
mendation system Netflix has is one of its main business driv-
ers52 But data is also shared with processing partners for adver-
tisement purposes53 It can be argued that the recommendation
of movies is also part of the contract between the user and Net-
flix This would be the case if the user and Netflix agree that
the recommendation is part of the service offered by Netflix In-
deed many users might appreciate the recommendations If this
is the case then the right legal ground for data processing would
not be consent but contract54
Following Art 29 Working Party building a profile of the
users tastes (hellip) based on his clickstream on a website is not
covered by the contract on delivering a certain good or service55
The purpose of the service (Netflix) is to offer access to movies
and series in return for a monthly payment Netflix can also offer
videos without knowing the personal preferences viewing hab-
its or location of the user All additional data that is eg used for
advertisement purposes is not needed for the contractual obli-
gations Thus a lot of data that Netflix processes is not neces-
sary and thus consent is presumed to be not freely given and thus
invalid56
III Conclusion
It has been shown that conditional consent has to overcome
many obstacles in order to be valid It is very likely that condi-
tional consent under Art 7(4) is not valid due to an imbalance
of power due to the form of the contract and the lack of a real
choice This is not only the case when a user depends on the
devices or services A lack of choice also exists if within one
market player there is no data-processing-free option Addi-
tionally when the withdrawal of consent for data processing that
is not necessary for the contract leads to a restriction of the use
of the device or the service consent is not freely given
In the end there is the presumption that conditional consent
to processing that is not necessary for the contract is unfree The
processing consented to is most of the time not necessary for the
contract Then consent is invalid meaning the processing bears
a legal ground and thus is illegal
51 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p4 52 X Amatriain Big amp Personal data and models behind Netflix recommen-
dation p2 53 see Netflix Privacy Policies available at httpswwwwhats-on-net-
flixcomprivacy-policygdpr-information last access on 141218 54 Art 6(1)(b) GDPR 55 Art 29 Data Protection Working Party 2014 Opinion 062014 on the no-
tion of legitimate interests of the data controller under Art 7 of Directive
9546EC p 17 56 Recital 43 S2 GDPR 57 Art 5 GDPR 58 Art 5(1)(b) GDPR
C Other safeguards of the GDPR
Nevertheless if data is processed by the controller there are still
other safeguards protecting personal data namely the principles
for data processing57 Those are the principles of lawfulness
fairness and transparency purpose limitation data minimisa-
tion accuracy storage limitation integrity and confidentiality
and accountability Of special interest regarding conditional
consent are the principles of purpose limitation data minimisa-
tion and accountability
I The principle of purpose limitation
The principle of purpose limitation stipulates that data can only
be collected for specified explicit and legitimate purposes and
shall not be further processed in a manner that is incompatible
with those purposes58 The aim of this principle is that the us-
ers know what the data is used for Only than they can make an
informed decision whether to give consent to data processing59
There is a close connection to the necessity requirement of Art
7(4) because there the purpose of the contract has to be consid-
ered as well60
The purpose of data processing has to be specified whereby
the level of detail should be considered on a case-to-case basis
in order to tell the user why the data is processed and what is
intended to be done with it61
As a result of the purpose limitation principle many services
have published their purposes in their privacy policies It has to
be examined critically whether the outlines purposes are de-
tailed enough Controllers will tend do give as little detail as
possible Eg in the case of Netflix you will find some cryptic
purposes like to enhance costumer experience and to fulfil an
obligation under law or contract62 So in theory purpose limita-
tion seems to be a good safeguard which in practice might easily
fail
Further purpose limitation might not be enough of protec-
tion as it is limited itself If data shall be reused then the con-
troller shall take into account various factors eg the terms of
contract (Art 6(4)(b)) But shall is not giving the same level
of protection as if the controller must take those into ac-
count63
II The principle of Data minimisation and right to be
forgotten
The principle of data minimisation64 means that the amount of
collected personal data must be adequate relevant and limited
59 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 032013 on purpose limi-
tation p 46 at the end 60 Art 29 Working Party 2014 Opinion 062014 on the notion of legitimate
interests of the data controller under Art 7 of Directive 9546EC p 17 61 P Voigt A von dem Bussche The EU General Data Protection Regula-
tion (GDPR) A Practical Guide (2017) p 89 62 Netflix Privacy Policy How we use your personal data availabe at
httpswwwwhats-on-netflixcomprivacy-policygdpr-processing last accessed 141218
63 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review p 5 64 Art 5(1)(c) GDPR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 30
to what is necessary in relation to the purpose for which they are
processed65 Personal data should be processed only if the pur-
pose of the processing could not reasonably be fulfilled by other
means66 What is adequate and relevant depends on the specific
purpose for processing so this principle is linked to the principle
of purpose limitation
Consent for processing that is not necessary for the perfor-
mance of the contract has to be scrutinized67 Whether pro-
cessing is necessary depends on whether it is adequate relevant
and limited to what is needed to achieve the determined purpose
Art 7(4) thus enforces the principle of data minimisation by its
necessity-requirement
Additionally data processing that cannot be consented to due
to Art 7(4) and thus has no legal ground The data subject
whose data have been processed without a valid legal ground as
a consequence of has the right to be forgotten68 which means
that the data has to be deleted
The principle of data minimisation thus is already inherent in
Art 7(4) As an infringement of this principle in context with
Art 7(4) will probably make the legal ground of consent invalid
controllers are well advised to be in compliance with this prin-
ciple
III Principle of accountability
The principle of accountability means that the controller is
responsible for compliance with data processing under the
GDPR69 It also includes a material obligation to demonstrate
compliance70 One expression of this obligation is that the bur-
den of proof whether free consent has been given lies with the
controller71
In the case of conditional consent consent is presumed not to
be freely given if it is not necessary for the performance of the
contract72 This means that the burden of proof in cases of con-
ditional consent is on the controller It has to proof that consent
was freely given and is thus valid The controller will only be
able to proof this that consent is valid if the consent is neces-
sary for the contract
IV Conclusion - are consumers sufficiently
protected from a situation where they might be
ldquoselling their soul for Netflixrdquo
This article has discussed the different scenarios in which con-
ditional consent is not valid due to Art 7(4) The data processing
65 Art 5 (1)(c) GDPR and also Recital 39 GDPR ICO Guide to the General
Data Protection Regulation (GDPR) Principle Data minimisation availa-ble at httpsicoorgukfor-organisationsguide-to-the-general-data-protec-
tion-regulation-gdprprinciplesdata-minimisation last access on
141218 66 Recital 39 GDPR 67 Art7(4) GDPR 68 Developed by ECJ ruling of 13 May 2014 Google Spain C-13112 Now
also in Art 17 Sec 1 lit a-f GDPR 69 Art 5(2) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010
on the principle of accountability p4 70 Art 29 Data Protection Working Party Opinion 32010 on the principle of
accountability at Nr 41
principles shall give additional protection As Art 7(4) already
includes a lot of those principles indirectly I conclude that they
hardly add a higher level of protection
Even though the consent is invalid in many cases of condi-
tional consent and controllers thus have no legal ground for pro-
cessing this does not stop controllers from using consent as a
legal basis for a lot of data processing Due to the overwhelming
power of large companies acting as controllers users do not
have a choice and often feel like they have to give their consent
even though the consent is invalid Eg it has been shown that
from the perspective of the majority of people in Europe there
is no alternative than to provide personal information if you
want to obtain products or services73 Users will probably not
even be aware that their consent is invalid The asymmetry in
power of the user and the controllers hinders an uproar of the
users against this practice Also it is in the interest of the users
to have access to the service or use the device It does not serve
their interests that the law just declares the consent invalid with-
out any further actions following
D Lack of consumer protection - what other
regulatory safeguards should be considered
But how could this lack of consumer protection be tackled One
could argue that market forces themselves will develop a higher
level of protection of personal data meaning that users would
prefer services that use less data But this is a very unlikely sce-
nario as many different factors come into play when a user
chooses a certain device (such as prize availability personal
preferences)74 Also reality has shown that the market fails to
protect privacy So there is an urgent need for the legislator to
increase consumer protection
A possible regulatory constraint could be that controllers are
obliged to offer two versions of a service or device of which
one does not process unnecessary data but charging a fee75 But
a legal obligation to offer two versions would be an interfer-
ence with the principle of party autonomy and freedom of con-
tract of the controller and thus would has to be justified76
A different legal constraint could be to combine EU con-
sumer protection and data protection law forming a data con-
71 Art 7(4) GDPR Art 29 Data Protection Working Party Guidelines on
Consent under Regulation 2016679 p9 72 Recital 43 GDPR 73 Special Eurobarometer 431 Data Protection June 2015 p 30 available
at eceuropaeucommfrontofficepublicopinionar-chivesebsebs_431_enpdf last access 141218
74 J Rauhofer Judith ldquoOne Step Forward Two Steps Back Critical observa-
tions on the proposed reform of the EU data protection frameworkldquo Jour-nal of Law and Economic Regulation (2013) Vol 6 No 1 2013 p 69
75 W Kerber Digital markets data and privacy competition law consumer
law and data protection (2016) Journal of Intellectual Property Law amp Practice p 862
76 Art 8 ECHR
Buumlhler Conditional consent Datenschutzrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 31
sumer law which could be beneficial especially as the con-
sumer market is more and more data driven77 Data protection
law deals with fair processing and protection of fundamental
rights and consumer protection law shall empower consumers
in situations where they have low bargaining power78 The lack
of power is the reasons why the users rights are not sufficient
to protect their privacy in practice A stronger interplay of data
protection and consumer law could strengthen the autonomy of
the users
As noted above it is not very helpful for the user if the data
processing is unlawful but no consequences follow This would
be different if the unlawfulness would result in concrete rights
for the user If a Smart-TV unlawfully processes data (eg be-
cause the consent is invalid) or cannot be used because the user
refuses to give consent an effective solution for the user would
be to have the right to return the TV79 Consumer law could in-
crease the options of users by offering remedies and strengthen
their market power80
Consumer law could further be used to assess the fairness of
terms and conditions on personal data and limit the possibility
of the controller to impose terms on the users81 This would be
possible as processing data is not considered the main subject
matter of the contract82 The conditions of the contract could be
assessed and conditional consent is probably likely to lead to
an unfair situation as the lack of real choice would be against
good faith83 As a consequence controllers cannot impose un-
fair terms on their users
E Conclusion and Prospect
I conclude that in the case of smart devices or online services
where consent is conditional to use them the consent is likely to
be invalid for various reasons It has been shown that the user
has no real choice due to an imbalance of power between him or
her and the controller This imbalance arises from the lack of the
possibility to renegotiate terms and conditions and from the lack
of data-processing-free alternatives Further consent is not free
as withdrawing will lead to detriment And consent is presumed
not to be valid in the many cases where data processing is not
necessary for the contract Other safeguards namely the data
processing principles of purpose limitation data minimisation
and accountability fail to add any additional protection as they
are already included in Art7(4) I also conclude that the effect
of invalidating the consent is of very little help for the data sub-
ject
77 This is eg suggested by N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1428 78 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-
tion law (2017) Common Market Law Review p 1436 79 See for this example N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna
The Perfect Match A closer look at the relationship between EU con-
sumer law and data protection law (2017) Common Market Law Review
p 1440 80 M Rhoen ldquoBeyond Consent Improving Data Protection through Con-
sumer Protection Lawrdquo (2016) Internet Policy Review Vol 5 Issue 1 p
It is therefore essential having in mind the importance of data
protection as a fundamental right84 and the exploding amount of
data processed to consider other legal constraints for the future
The weak point of data protection and the GDPR in my view is
the lack of remedies that are really useful for the data subject
A combination with consumer law could help to protect the data
subjects rights more efficiently The article has exemplified two
points Consumer law could be used to apply its fairness test to
the contract involving data processing between the data subject
and the controller limiting the possibilities of the controller and
thus balancing the difference in power And it could be used to
create remedies such as a right to return a device that cannot be
used without illegal data processing
Overall Art 7(4) has the best intentions to protect data sub-
jects but further steps need to be taken to transfer those good
intentions into the reality of data subjects
Die Autorin hat im Fruumlhjahr 2018 die erste juristische Staatspruumlfung an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau abgelegt Derzeit absolviert sie ein LLM-Studium in Intellectual Property Law an der University of Edinburgh Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Seminares Data Protection and Information Privacy auf Grundlage einer dort gestellten Essay-Frage entstanden
7 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1449
81 N Helberger F Zuiderveen Borgesius A Reyna The Perfect Match A
closer look at the relationship between EU consumer law and data protec-tion law (2017) Common Market Law Review p 1451 Monopolkom-
mission Competition Policy The challenge of digital markets Special Re-
port No 56 at para 341 82 This is at least the case in the Digital Content Directive 83 Art 3(1) of the Unfair Contract Terms Directive 84 Art 7 Charter of Fundamental Rights
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 32
Der Fall bdquoMagnus Gaumlfgenldquo
-Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der EMRK-
-
Sarah Baukelmann
Abstract
Der Fall Gaumlfgen hat die deutsche sowie die europaumlische
Rechtsprechung vor eine Herausforderung gestellt Die
abweichenden Meinungen der einzelnen RichterInnen1 in
den zwei ergangenen Urteilen zeigt das Dilemma mit dem
sich die fuumlnfte Kammer und die Groszlige Kammer des
EGMR konfrontiert sahen In diesem Fall wurde der Taumlter
zum Opfer der polizeilichen Vernehmungsmethode Frag-
lich ist unter welchen Voraussetzungen ein Straftaumlter sich
selbst als Opfer der Justiz bezichtigen kann Und wie geht
der Gerichtshof mit diesem Fall um der methodologisch
normativ und moralisch an die Grenzen des Rechts und
der bisherigen Rechtsprechung stoumlszligt Vorweg sei gesagt
nicht einheitlich
Diese Arbeit hat zum Ziel den Umgang die Methodik und
das Ergebnis zu beleuchten
A Einleitung I Fakten
Gefasst wurde der 27-jaumlhrige Student der Rechtswissenschaften
Magnus Gaumlfgen am Nachmittag des 30 Septembers als er ei-
nen mit Loumlsegeld bezahlten gemieteten Mercedes abholen
wollte2 Die Polizeibeamten die unter der irrtuumlmlichen An-
nahme standen dass das Entfuumlhrungsopfer Jakob noch am Le-
ben sei befragten den mutmaszliglichen Taumlter bis 1Uhr nachts
Am Morgen des 01Oktobers 2002 bevor der leitendende
Hauptkommissar seinen Dienst antrat fuumlhrte der Kriminal-
hauptkommissar Ennigkeit das Verhoumlr Zu diesem Zeitpunkt
wurde der Elfjaumlhrige schon seit vier Tagen vermisst Er drohte
Gaumlfgen auf Anordnung des Vizepraumlsidenten der Frankfurter Po-
lizei Daschner mit der Zufuumlgung von massiven Schmerzen von
1 In dieser Arbeit wird wenn es sich um Maumlnner und Frauen handelt die ver-
kuumlrzte Form der Beidnennung verwendet um geschlechtersensibler und in-klusiver Sprache gerecht zu werden
2 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 82 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 3 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Rn 96 abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018)
einer speziell fuumlr diese Zwecke ausgebildeten Person wenn er
den Aufenthaltsort des Kindes nicht preisgebe3 Von Angst mo-
tiviert nannte der Beschuldigte nach etwa zehn Minuten die
Fundstelle der Leiche
Magnus Gaumlfgen wurde am 28072003 wegen Mordes in Tat-
einheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge und
wegen falscher Verdaumlchtigung in Tateinheit mit Freiheitsberau-
bung in zwei Faumlllen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamt-
strafe verurteilt Zudem wurde die besondere Schwere der
Schuld festgestellt4
Die Polizeibeamten wurden wegen Noumltigung im Amt und
wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Noumltigung im
Amt fuumlr schuldig befunden und gegen beide Angeklagte eine
Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen Geldstrafen von
60 bzw 90 Tagessaumltzen zu je 60 Euro fuumlr Ennigkeit und 120
Euro fuumlr Daschner wurden hinsichtlich der Verurteilung ver-
haumlngt5
II Was und Warum
Die folgenden gerichtlichen Verfahren stellen in nur mehr als
einer Hinsicht bdquoGrenzfaumllleldquo sowohl fuumlr die deutsche als auch
die europaumlische Justiz dar die Exekutive uumlberschreitet ihre
rechtlichen Grenzen die Strafprozesspflege stoumlszligt an die Gren-
zen des Beweisverwertungsverbots und dessen Fernwirkung
der europaumlische Gerichtshof fuumlr Menschenrechte sieht sich mit
der Grenze des Grundrechtsschutzes insbesondere dem Verbot
der Folter und der Verfahrensgarantie des fairen Verfahrens
konfrontiert Kontrovers wird die Causa Gaumlfgen nicht nur in den
allgemeinen Medien diskutiert sondern ebenso im rechtswis-
senschaftlichen Diskurs6 Besonders deutlich wird dies anhand
der abweichenden Meinungen in den Urteilen des EGMR
III Wie
Die Disparitaumlt der Urteile sowie die -herrschenden und abwei-
chenden- Meinungen bezuumlglich der Rechtsfrage um den Entfall
4 LG FrankfurtM Urt v 28072003 ndash 22 KS 203 Tenor abrufbar unter
wwwopenjurdeu168232html (Abrufdatum 08082018) 5 LG FrankfurtM Urt v 20122004 ndash 527 KLs 7570 Js 20381403 (404) in
NJW 2005 S 692 (693) 6 Vgl aus dem umfangr Schrifttum zit nach Heinrich Goumltz Das Urteil gegen
Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes in NJW 2005
S 953 (953)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 33
der Opfereigenschaft und der Fairness des Verfahrens gilt es in
der Ausarbeitung dazustellen Zur Erreichung dessen ist es not-
wendig die Hintergruumlnde zu beleuchten und den Ablauf der
Verfahren auf deutscher Seite wiederzugeben
Daruumlber hinaus ist im anschlieszligenden Vergleich unter Her-
anziehung vergangener Rechtsprechung des EGMR der Ver-
fahrensgang nach Straszligburg zu beleuchten und zu erlaumlutern
Durch eine tripartitaumlre Darstellung (bisherige Rspr-EGMR I-
EGMR II) laumlsst sich das Urteil der Groszligen Kammer besser ta-
xieren und ein Gesamtergebnis zusammenfassen
B Hauptteil
I Deutscher Verfahrensgang 1 Urteil des LG Frankfurt
Anfaumlnglich erklaumlrte Gaumlfgen den Tod Jakobs nicht geplant zu
haben Nach eingehender Belehrung uumlber die Konsequenzen ei-
ner Aussage hat Gaumlfgen sich in der Hauptverhandlung aus freien
Stuumlcken erneut umfaumlnglich eingelassen und raumlumte letztlich je-
doch ein dass er bereits von Anfang an geplant hatte das Kind
zu toumlten und in dieser Absicht gehandelt habe Er umschrieb
sein Gestaumlndnis dann als den einzigen Weg seine schwere
Schuld zu akzeptieren und als die groumlszligtmoumlgliche Entschuldi-
gung fuumlr den Mord an dem Kind
Das Gericht stellte fest dass sich Gaumlfgen des Mordes schul-
dig gemacht hat und dabei mit direktem Vorsatz gehandelt hat
Ferner folgte die Feststellung von drei Mordmerkmalen Heim-
tuumlcke Habgier und Verdeckungsabsicht Der Taumlter wollte sich
die Maske seines luxurioumlsen Lebens aufrechterhalten Seine Op-
ferauswahl basierte auf der Vermoumlgenslage der Eltern sodass
eine hohe Loumlsegeldforderung realistisch blieb Hauptmotiv war
damit ein Gewinnstreben mit dem der Angeklagte ruumlcksichtslos
die Existenz eines Menschen opferte welches nur als abstoszligend
gewertet werden kann Auch ging es Gaumlfgen darum zu verde-
cken dass er sich des erpresserischen Menschenraubs strafbar
gemacht hat Daher toumltete er den einzigen Zeugen und Opfer die-
ser Straftat Das Fehlverhalten der Exekutive also der Polizei-
beamten koumlnne die rechtsprechende Gewalt nicht daran hin-
dern die Tatsachenfeststellungen nach Recht und Gesetz zu be-
werten und zu beurteilen
Die Kammer hat die Schwere der Schuld aufgrund einer zu-
sammenfassenden Wuumlrdigung von Tat und Taumlterpersoumlnlichkeit
unter Abwaumlgung der fuumlr und gegen den Angeklagten sprechen-
den Gesichtspunkte bejaht Als Gesamtstrafe ist eine lebens-
lange Freiheitsstrafe anzuerkennen
7 BGH Urt v 21052004 ndash 2 StR 3504 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrr2042-35-04php (Abrufdatum 09082018) 8 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (656) 9 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 10 Vgl BVerfG Beschl v 2742000 ndash 2 BvR 7594 in NJW 2000 S 3557
2 Verfahren Bundesgerichtshof
Gaumlfgen legte daraufhin Revision beim BGH in Karlsruhe ein
der diese jedoch mit der Begruumlndung dass die Nachpruumlfung kei-
nen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe7
als unbegruumlndet ablehnte
3 Verfahren Bundesverfassungsgericht
Es folgte eine Verfassungsbeschwerde die sich gegen die Ent-
scheidungen des LG und des BGH wandte in der Gaumlfgen die
Verletzung von Art 1 I GG sowie Art 104 I 2 GG ruumlgte da die
Behandlung der Polizei in Anbetracht seiner damaligen psychi-
schen und physischen Verfassung sowie des planmaumlszligigen
durch die Polizeihierarchie abgesicherten und von dem ernsthaf-
ten Willen zur (spurenlosen) Umsetzung getragenen Vorgehens
Folter iS des Art 3 EMRK gewesen sei8
Das BVerfG entschied dass die Begruumlndung nicht den An-
forderungen des Vorbringens gem sectsect 23I 2 92 BVerfGG ent-
spreche da es zum einen an der Darlegung der Grundrechtsver-
letzung durch die angegriffenen Maszlignahmen mangele und dass
die geltend gemachten Folge verfassungsrechtlich zwingend
sei9 Inwiefern die Ablehnung eines Verfahrenshindernisses die
verfassungsrechtlich verbuumlrgten Rechte des Beschwerdefuumlhrers
verletze10 hielt das BVerfG nicht fuumlr ausreichend dargestellt da
sich der Beschwerdefuumlhrer ausschlieszliglich gegen seine Verurtei-
lung durch das LG und auf die Verwerfung seiner Revision
durch den BGH11 beschraumlnke Die Verwertbarkeit der Beweis-
mittel betreffend wurde von beiden Gerichten das Beweisver-
wertungsverbot hinsichtlich der Aussagen gem sect 136a StPO an-
erkannt bzw die Fernwirkung desselbigen bzgl der Beweismit-
tel abgelehnt Die Verfassungsbeschwerde wurde mangels Zu-
laumlssigkeit abgelehnt
4 Amtshaftungsklage
Mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg lehnte das LG
Frankfurt den Anspruch auf Schadensersatz gegen das Land
Hessen ab Das OLG Frankfurt hat mit einem Beschluss v
2822007 die Ablehnung der Prozesskostenhilfe bestaumltigt12
II Europaumlische Rechtsprechung
Gaumlfgen als Beschwerdefuumlhrer hat sich an den EGMR gem Art
34 S 1 EMRK13 gewandt und behauptet dass er bei seiner poli-
zeilichen Vernehmung unter Verstoszlig gegen Art 3 gefoltert wor-
den sei Auszligerdem sei er in seinem durch Art 6 I garantierten
Recht auf ein faires Verfahren das ein Recht sich nicht selbst
zu bezichtigen einschlieszlige verletzt worden14 Sein Recht auf
Verteidigung sei ihm durch die Verwertung der Beweismittel
und des Gestaumlndnisses entzogen worden
11 BVerfG Beschl v 14122004 ndash 2 BvR 124904 in NJW 2005 S 656 (657) 12 OLG FrankfurtM Beschl v 2822007 ndash 1 W 4706 in NJW 2007 S 2494 13 Folgende Artikel ohne Kennzeichnung sind solche der EMRK 14 EGMR (V Sektion) Entschv 10042007 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland)
in NJW 2007 S 2461 (2462)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 34
1 Zulaumlssigkeit
Die Beschwerde ergibt fuumlr den Gerichtshof mit Hinblick auf
seine bisher erarbeiteten Rechtsprechungskriterien dass diese
Ruumlge nicht offensichtlich unbegruumlndet iS von Art 35 III ist
2 Verletzung von Art 3
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Schutz von Art 3 ist einer der wichtigsten und grundle-
gendsten Werte unserer demokratischen Gesellschaft15 Art 3
ist nicht einschraumlnkbar und gehoumlrt zu den Bestimmungen von
denen auch im Notstandsfall nicht abgewichen werden darf16
Auch wenn immer mal wieder die Frage der Abwaumlgung zwi-
schen den Risiken fuumlr die betroffene Person und der nationalen
Sicherheit auftauchte lehnte der Gerichtshof eine implizite Be-
grenzung strikt ab17 Selbst in den schwierigsten Umstaumlnden
wie im Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen
verbietet die Konvention Folter und unmenschliche oder ernied-
rigende Behandlung oder Bestrafung absolut ohne jede Aus-
nahme18 Daher hat es fuumlr Art 3 keine Bedeutung welche Straf-
tat dem Betroffenen vorgeworfen wird19
Um von Art 3 erfasst zu werden muss eine Misshandlung ein
Mindestmaszlig an Schwere erreichen Die Beurteilung dieses Min-
destmaszliges ist der Natur der Dinge nach relativ es ist abhaumlngig
von saumlmtlichen Umstaumlnden des Einzelfalls20 Der Zweck sowie
die Absicht und die Beweggruumlnde bilden Faktoren fuumlr die Ein-
ordnung der Behandlung21 So zum Beispiel die Erlangung eines
Gestaumlndnisses22 und der Kontext der fraglichen Behandlung23
Der Gerichtshof hat eine Behandlung als erniedrigend erach-
tet wenn sie dazu angetan ist bei den Opfern Gefuumlhle der Angst
Beklemmung und Unterlegenheit hervorzurufen die geeignet
sind sie zu demuumltigen zu entwuumlrdigen und moumlglicherweise ih-
ren koumlrperlichen oder geistigen Widerstand zu brechen24 Bei
der Beurteilung ob eine Bestrafung oder eine Behandlung er-
niedrigend iS des Art 3 ist wird das Gericht auch pruumlfen ob es
dem Zweck dient die betreffende Person zu erniedrigen und zu
benachteiligen und ob sie in Bezug auf die Folgen ihre Persoumln-
lichkeit in einer Weise beeintraumlchtigt die mit Art 3 unvereinbar
ist mit einer Behandlung die Gefuumlhle von Angst Angst und
Minderwertigkeit hervorruft die geeignet sind das Opfer zu er-
niedrigen oder zu entwerten und moumlglicherweise seinen physi-
schen oder moralischen Widerstand zu brechen oder das Opfer
15 EGMR Urtv 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 119 abrufbar unter
httphudocechrcoeintengi=001-58559 (Abrufdatum 2882018) 16 EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ 1997 S
1078 17 Vgl EGMR Urt v15111996 - 2241493 (ChahalUK) Rd 79 in NVwZ
1997 S 1078 18 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 wwwhu-
docechrcoeintengitemid[001-58559] (Abrufdatum 15082018) 19 EGMR Urtv 2822008 - 3720106 (SaadiItalien) Rn 139-140 in NVwZ
2008 S 1330 20 EGMR Urt v 1811978 Rn 162 in EuGRZ 1979 Seite 149 21 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 88 (Abrufdatum 21082018)
22 EGMR Urtv 8121996 - 2198793(AksoyTuumlrkei) Rd 64 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-58003 (Abrufdatum 28082018) 23 EGMR Urtv 20122000 - 3087396 (EgmezZypern) Rd 78 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59100 (Abrufdatum 28082018)
zu veranlassen gegen seinen Willen oder Gewissen zu han-
deln25 Art 1 UN-Antifolterkonvention postuliert dass bdquowenn
eine Behandlung erfolgt um () ein Gestaumlndnis zu erlangen oder
um zu bestrafen einzuschuumlchtern oder zu noumltigenldquo es sich um
Folter handelt Die bloszlige Bedrohung mit einem durch Art 3 ver-
botenen Verhalten kann mit dieser Bestimmung in Konflikt ge-
raten Die Bedrohung eines Menschen mit Folter koumlnnte demge-
maumlszlig unter bestimmten Umstaumlnden zumindest eine bdquounmensch-
liche Behandlungldquo darstellen26 Hat jedoch ein innerstaatliches
Verfahren stattgefunden so ist es nicht Aufgabe des Gerichts-
hofs anstelle der innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt zu
wuumlrdigen und es obliegt in der Regel diesen Gerichten die
ihnen vorliegenden Beweise zu wuumlrdigen27
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die angedrohte Bedrohung
wenn sie erfolgt waumlre als Folter anzusehen waumlre und ist vor die-
sem Hintergrund der Auffassung dass der Bf waumlhrend der Be-
fragung am 1102002 einer nach der Konvention verbotenen
unmenschlichen Behandlung ausgesetzt war28
c) EGMR II
Unter Beruumlcksichtigung der fuumlr die Beurteilung wesentlichen
Gesichtspunkte haben die gegen den Bf ausgesprochenen realen
und direkten Drohungen das Mindestmaszlig an Schwere erreicht
um das umstrittene Verhalten der Polizeibeamten in den Anwen-
dungsbereich von Art 3 zu bringen Das durch die Androhung
ausgeloumlste psychische Leiden dem der Bf ausgesetzt war ist
schwerwiegend genug um als eine nach Art 3 verbotene und
unmenschliche Behandlung gewertet zu werden aber nicht das
Niveau der Grausamkeit erreicht um sie als Folter zu bezeich-
nen29
d) Fazit
Die Verletzung von Art 3 wurde bereits von den innerstaatli-
chen Gerichten und der Kammer anerkannt Die Anwendbarkeit
von Art 3 insgesamt mithin das Vorliegen einer Behandlung
die dessen Tatbestand erfuumlllt begruumlndet die Groszlige Kammer aus-
fuumlhrlich und eng an den Kriterien der bisherigen Rspr ange-
lehnt30 Die Groszlige Kammer weicht mit dieser Einschaumltzung
nicht von ihrem vorherigen Rechtskurs ab31
24 EGMR Urt v 642000 - 2677295 (LabitaItalien) Rd 120 abrufbar unter wwwhudocechrcoeintengitemid[001-58559 (Abrufdatum
15082018) 25 EGMR 342001 - 2722995 (KeenanUK) Rd 110 abrufbar unter wwwhu-
docechrcoeintengi=001-59365 (Abrufdatum 28082018) 26 EGMR Urtv 2521982 - 751176 (Campbell CosansUK) Rd 23 abrufbar
unter httphudocechrcoeintengi=001-57455 (Abrufdatum 28082018)
27 EGMR Urtv 2291993 - 1547389 (KlaasDeutschland) Rd 29 Serie A Bd
269 28 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 69 ff 29 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3146) 30 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 31 Fuumlr Beispiele als Einordnung von Folter siehe Christoph Grabenwarter Ka-
tharina Pabel Europaumlische Menschenrechtskonvention ein Studienbuch
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 35
3 Opfereigenschaft
a) Bisherige Rechtsprechung
Der Gerichtshof verlangt fuumlr den Fortfall der Opfereigenschaft
1 dass der beklagte Staat den Eingriff aufhebt und anerkennt
dass eine Konventionsverletzung vorgelegen hat und 2 dass er
die Konventionsverletzung angemessen wiedergutmacht32 Eine
angemessene Wiedergutmachung der Konventionsverletzung
kann durch unterschiedliche Rechtsbehelfe bewirkt werden33
Im Zuge dessen hat der Gerichtshof festgestellt dass es nicht um
die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Beamten
sondern um die voumllkerrechtliche Verantwortung des Staates
ginge34 Die Zustaumlndigkeit des Gerichtshofs beschraumlnkt sich auf
Letztere In sbquovergleichbarenlsquo Faumlllen wurde beanstandet dass
keinerlei disziplinarischen Maszlignahmen gegen die Staatsbe-
dienstete eingeleitet wurden35 sowie das Unterlassen einer Sus-
pendierung oder die Entlassung bei Verurteilung36
b) EGMR I
Der Gerichtshof stellt fest dass die deutschen Gerichte die Kon-
ventionsverletzung ausdruumlcklich und der Sache nach anerkannt
haben37Zur Wiedergutmachung ist der Schuldspruch vom
20122004 gegen die Polizeibeamten zu nennen Unter Beruumlck-
sichtigung aller Umstaumlnde stellte der Gerichtshof fest dass der
Verstoszlig gegen Art 3 in der Androhung einer Misshandlung be-
steht (im Unterschied zu einer tatsaumlchlichen koumlrperlichen Miss-
handlung die die Schwelle fuumlr die Anwendbarkeit von Art 3
erreicht) Eine Wiedergutmachung fuumlr die Verletzung wurde
durch die wirksame Strafverfolgung und Verurteilung der ver-
antwortlichen Polizeibeamten mit der unzweifelhaft der Un-
rechtsgehalt der Misshandlung festgestellt wurde38 anerkannt
Diese Uumlberlegungen fuumlhren dazu dass der Bf nicht mehr be-
haupten kann Opfer einer Verletzung von Art 3 zu sein da die
innerstaatlichen Gerichte hinreichend Wiedergutmachung fuumlr
die gegen Art 3 verstoszligene Behandlung geleistet haben
c) EGMR II
Die Verletzung von Art 3 wurde durch die innerstaatlichen Ge-
richte ausdruumlcklich anerkannt Jedoch sei die Verurteilung zu
Geldstrafen iHv 60 bzw 120 Euro zu je 60 bzw 90 Tagessaumlt-
zen die auch noch zur Bewaumlhrung auszusetzen sind keine an-
gemessene Reaktion auf einen Verstoszlig gegen Art 3 Eine solche
bdquooffensichtlich unverhaumlltnismaumlszligigeldquo Strafe fuumlr die Verletzung
eines der wesentlichen Grundrechte der Konvention hat nicht
die abschreckende Wirkung die notwendig ist um neuen Ver-
stoumlszligen gegen das Verbot von Misshandlungen in kuumlnftig moumlgli-
6Aufl 2016 sect20 Rn 42 Maureen Spencer und John Spencer Human
Rights in a Nutshell 3 Aufl S89 32 Meyer-LadewigKulick Europaumlische Menschenrechtskonvention Handkom-
mentar 4 Auflage Art 34 Rd 31 33 EGMR Urt v 2932006 ndash 3681397 (ScordinoItalien) Rd 186 in NJW
2007 S1259 34 EGMR Urt v 1042001 - 2612995 (TanliTuumlrkei) Rd 111 abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-59372 (Abrufdatum 2882018) 35 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 63 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 36 EGMR Urtv 2112004 - 3244696 (AbduumllsametTuumlrkei) Rd 55 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-67228 (Abrufdatum 2882018)
chen schwierigen Situationen vorzubeugen39 Die von den deut-
schen Gerichten ergriffenen Maszlignahmen entsprechen keiner
Widergutmachung die jemand bekommen sollte wenn Art 3
verletzt worden ist Mangels ausreichender Wiedergutmachung
ist der Bf nach wie vor Opfer der Verletzung von Art 3
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die bulgarische Richterin Kalaydjieva konnte sich den Ausfuumlh-
rungen der Mehrheit (mit sechs zu einer Stimme) des Entschlus-
ses der Kammer nicht anschlieszligen Sie begruumlndet ihre Auffas-
sung damit dass die Verletzung von Art 3 bereits festgestellt
worden ist und dass die Opfereigenschaft nicht durch Entschauml-
digung wegfalle Vielmehr wuumlrde dies den Weg ebnen fuumlr die
Legitimierung von Zwang als Methode zur Beschaffung von Be-
weismitteln in Strafverfahren in denen bei wichtigen Faumlllen
die Devise Zahlen und Foltern gelte Danach koumlnnten Ver-
stoumlszlige gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder er-
niedrigender Behandlung im Namen der Gerechtigkeit begruumln-
det und beguumlnstigt werden40
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen stimmen mit der Mehrheit der GK uumlberein
weichen jedoch bei der Begruumlndung der Opfereigenschaft ab
Die innerstaatlichen Behoumlrden die uumlber die Erschoumlpfung aller
innerstaatlichen Rechtsbehelfe entscheiden haben die Verlet-
zung von Art 3 anerkannt Die GK hat bereits festgestellt dass
eine Widergutmachung nicht stattgefunden hat da die Wirkung
der Strafen keine ausreichende abschreckende Wirkung hatte
Fraglich ist allerdings ob die Waffe der Bestrafung als Abschre-
ckungswirkung der einzige Weg der Wiedergutmachung gewe-
sen waumlre Nach Auffassungen der drei RichterInnen unter Be-
ruumlcksichtigung der Gesamtumstaumlnde des Falls waumlre fuumlr die
festgestellte und anerkannte Verletzung von Art 3 ein Verwer-
tungsverbot fuumlr die konventionswidrig erlangten Beweise eine
angemessene und hinreichende Widergutmachung gewesen41
cc) Richter Casadevall ua
Die abweichende Meinung von Richter Casadevall der sich die
Richter Kovler Mijović Jaeger Jočiene und Loacutepez Guerra an-
geschlossen haben negiert die Opfereigenschaft des Bf sowie
die Feststellung der Verletzung von Art 3 Der andorranische
Richter schlieszligt sich der Rspr der Kammer an dass die Andro-
hung von Gewalt eine unmenschliche Behandlung darstellt
Dies wurde jedoch bereits von den deutschen Gerichten foumlrm-
lich anerkannt Die Begruumlndung des Gerichtshofs die Opferei-
Vgl Conclusions and Recommendations of the United Nations Committee
against Torture Turkey 27 May 2003 CATCCR305 37 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 77 38 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (700) Rd 80 39 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3147) 40 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 118-119 (Abrufdatum
16082018) 41 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 7 der abw Meinung (Ab-
rufdatum 17082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 36
genschaft nicht abzuerkennen war die milde Bestrafung der Po-
lizeibeamten obwohl es nicht seine Aufgabe ist uumlber die
Schwere der Schuld des Einzelnen zu entscheiden denn es han-
delt sich hierbei um Angelegenheiten die in die ausschlieszligliche
Zustaumlndigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte fallen42 Die
Opfereigenschaft des Bf ist nicht abhaumlngig von der Houmlhe der ge-
gen die Polizeibeamten verhaumlngten Strafen Ebenso ist die Frage
der Houmlhe der Strafen willkuumlrlich denn wird die Houmlhe der Strafe
zum Maszligstab gemacht so kann man sich fragen welches Straf-
maszlig fuumlr die Mehrheit wohl genuumlgt haumltte um die Feststellung
treffen zu koumlnnen dass die Opfereigenschaft des Bf entfalle Der
Richter erhebt Zweifel an dem Erfordernis einer Entschaumldigung
und an der Amtshaftungsklage die nicht einmal eine Entschaumldi-
gung zum Ziel hat sondern ein neues Verfahren und die erst drei
Jahre nach Eintritt des Schadens versucht wurde geltend zu ma-
chen Zweifelhaft ist auch der Tenor des Urteils denn letztlich
bestaumltigt der Gerichtshof das was die innerstaatlichen Behoumlrden
bereits anerkannt haben die Verletzung von Art 3
e) Fazit
Die GK verweist auf die Verfolgung der fuumlr die unmenschliche
Behandlung Verantwortlichen Beamten Die in der Rechtspre-
chung -uumlberwiegend in Urteilen uumlber Beschwerden gegen die
Tuumlrkei und Russland-43 verfestigten Kriterien fuumlr eine gruumlndli-
che und effektive Untersuchung bringt der EGMR auch hier zur
Anwendung Raschheit Verfahrensdauer Ergebnisse der Un-
tersuchung und anschlieszligender Strafverfahren einschlieszliglich
disziplinaumlrer Maszlignahmen44 Dies erscheint auf dem ersten Blick
auch angemessen da mit der Verletzung von Art 3 eine Verlet-
zung des garantierten Rechtsschutzes vorliegt Jedoch weisen
die Urteile vorheriger Faumllle Unterschiede in der Schwere der
Misshandlung auf die bis hin zu Folter und zu einer Verletzung
von Art 2 durch Staatsbedienstete gehen Im vorliegenden Gaumlf-
gen Fall handelt es sich um eine 10-minuumltige unmenschliche Be-
handlung Die Faumllle NiklovaBulgarien TanliTuumlrkei und Ab-
duumllsametTuumlrkei bei denen die Opfer in Polizeigewahrsam auf-
grund von Folter gestorben sind gleichzusetzen mit der Andro-
hung von Gewalt uumlberzeugt nicht Die Grundsaumltze sind in der
bisherigen Rspr entwickelt worden in Faumlllen in denen gegen
die verantwortlichen Polizeibeamten keinerlei disziplinarische
Sanktionen eingeleitet worden sind Die vermeintliche Kritik
dass Daschner und Ennigkeit nicht suspendiert wurden schlaumlgt
ebenfalls fehl da beide bereits waumlhrend der Untersuchungen
und des Strafverfahrens von Positionen entfernt wurden in de-
nen sie in direkter Verbindung mit der Untersuchung von Straf-
taten standen45 Wenn die Beurteilung des Mindestmaszliges fuumlr die
42 Vgl EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 123 (Abrufdatum 17082018)
43 Vgl EGMR Urtv 3092004 ndash 5022299 (Krastanov) Rd 48 EGMR
Urtv1772008 ndash 284330202 (Camdereli) Rd 28 44Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 45 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129) 46 EGMR Urt v 1811978 - 531071 (IrlandUK) Rn 162 in EuGRZ 1979
S149 47 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S 3128 (3129)
Schwere einer Behandlung also relativ ist abhaumlngig von saumlmtli-
chen Umstaumlnden des Einzelfalls wie die Dauer der Behandlung
ihre physischen und psychischen Folgen46so scheint die Frage
die Richter Casadevall aufgeworfen hat wann die Schwere der
Bestrafung ausreichend gewesen waumlre fuumlr einen Entfall der Op-
fereigenschaft unbeantwortet zu bleiben Trotz Erfuumlllung aller
formalistischen Voraussetzungen entscheidet die GK uumlber die
general-praumlventive Eignung der Strafe einen Anspruch des Fol-
teropfers auf eine bestimmte Mindestbestrafung die die Verlet-
zung beseitigt47Dem Gerichtshof obliegt es nicht uumlber inner-
staatliches Recht zu fuumlr die verurteilten Polizeibeamten zu urtei-
len Die Schutzrichtung des Art 3 zielt nach erfolgtem Fehlver-
halten darauf ab das Entstehen einer Gleichguumlltigkeit zu verhin-
dern nicht aber auch entscheiden48 so seine eigene Rspr im Jahr
2007
4 Verletzung Art 6
a) Bisherige Rechtsprechung
Das Recht zu Schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen ist
nicht ausdruumlcklich in Art 6 erwaumlhnt ergibt sich aber aus dem
Grundsatz eines fairen Verfahrens und entspricht allgemein an-
erkannten internationalen Standards49 Wird eine strafrechtliche
Verurteilung ausschlieszliglich auf ein durch Verletzung von Art 3
gewonnenes Beweismittel gestuumltzt kann darin eine Verletzung
von Art 6 liegen50 Wenn es sich um Beweise handelt die nur
indirekt durch den Art3 verletzende Methoden erlangt wurden
ist es in der Regel zwar erforderlich dass diese Beweise in ei-
nem Strafverfahren nicht verwendet werden51 Eine Frage nach
Art6 I kann aufgeworfen werden wenn es sich um Beweise
handelt die unter Verletzung von Art3 erlangt worden sind
selbst wenn die Zulaumlssigkeit solcher Beweise bei der Verurtei-
lung des Beschuldigten nicht ausschlaggebend gewesen ist52
Wird das Recht zu schweigen durch eine Maszlignahme verletzt
die gegen Art3 verstoumlszligt so sind in der Folge dann wenn ein
Fall der Folter vorliegt auch koumlrperliche Beweismittel die auf-
grund der Folterung erlangt werden koumlnnen unverwertbar ohne
dass es auf eine Abwaumlgung ankaumlme53 Die Verwertung rechts-
widrig erlangter Beweise kann zu einer Verletzung des Art 6 I
1 fuumlhren eine solche wird aber selbst bei Verletzung anderer
Konventionsrechte nur nach Umstaumlnden des Falles nicht aber
per seacute anerkannt soweit die Beweise unter Beachtung der Natur
der Verletzung in der adversatorischen Hauptverhandlung unbe-
hindert angefochten werden koumlnnen54
48 EGMR Urtv 20122007 - 788803 (NiklovaBulgarien) Rd 163 abrufbar un-
ter wwwhudocechrcoeintengi=001-84112 (Abrufdatum 2882018) 49 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 129 50 EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006 S
3117 (3123) 51 Grabenwarter und Pabel Fn 80 sect24 Rn 71 52 EGMR Entschv912003 - 5491900 (Iccediloumlk Tuumlrkei) Rd 3 abrufbar unter
www httphudocechrcoeintengi=001-22982 (Abrufdatum 28082018)
53 Meyer-LadewigHarrendorfKoumlnig Fn 77 Art 6 Rd 133 54 Karsten Gaede Fairness als Teilhabe ndash Das Recht auf konkrete und wirksame
Teilhabe durch Verteidigung gemaumlszlig Art 6 EMRK S322
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 37
b) EGMR I
Die wesentliche Grundlage fuumlr das Urteil des LG ist allein das
neue und umfassende Gestaumlndnis das er nach qualifizierter Be-
lehrung in der Hauptverhandlung als erwiesen ansah waumlhrend
alle anderen Beweismittel einschlieszliglich der beanstandeten
sachlichen Beweismittel eine Nebenrolle spielten und nur ver-
wertet wurden um den Wahrheitsgehalt dieses Gestaumlndnisses zu
uumlberpruumlfen55
Folglich kommt das Gericht zu dem Ergebnis dass keine der
beanstandeten Beweismittel bei der Uumlberpruumlfung der Schuld
eine Rolle spielten und dass die Verteidigungsrechte des Bf in-
folge ihrer Zulassung nicht beeintraumlchtigt wurden Im Ergebnis
liegt durch die Verwertung kein Verstoszlig gegen das Gebot des
fairen Verfahrens gem Art 6 I und III vor
c) EGMR II
Der Bf behauptet dass die Verwertung der Beweismittel in dem
gegen ihn gefuumlhrten Strafverfahren eine erhebliche Rolle bei sei-
ner Verurteilung gespielt haumltte
Problematisch ist der Anwendungsbereich der Ausschlussre-
gel von Beweismitteln die durch eine Verletzung von Art 3 ge-
wonnen wurden Bisher besteht keine gaumlngige Rspr weder bei
den Konventionsstaaten noch den Gerichten anderer Staaten o-
der Institutionen die uumlber die Wahrung von Menschenrechten
zu wachen haben
Ein Ausschluss so erlangter Beweismittel wuumlrde die Strafver-
folgung erheblich in ihrer Wirksamkeit beeintraumlchtigen Auf der
anderen Seite stehen die Opfer oder Familienangehoumlrigen der
Opfer die Interesse an der Aufklaumlrung der Straftat haben wie es
im vorliegenden Fall auch der Fall ist Ein von Wesentlichkeit
gepraumlgtes oumlffentliches Interesse an der Integritaumlt des gerichtli-
chen Verfahrens das die Werte unserer zivilisierten Gesell-
schaft schuumltzt ist vorhanden damit die erarbeiteten Grundsaumltze
nicht an Bodenhaftung verlieren Eine Zulassung der illegal er-
worbenen Beweismittel koumlnnten eine Veranlassung sein das ab-
solute Verbot des Art 3 zu umgehen oder bei wirksamem
Schutz des Einzelnen gegen solche Methoden ein Verbot der
Zulassung
Im vorliegenden Fall ist zu beachten dass die rechtswidrige
Vernehmungsmethode angewandt wurde um das in Art 2 ma-
nifestierte Grundrecht des Kindes auf Leben zu retten Die Kon-
vention verpflichtet die Vertragsstaaten auch das Recht auf Le-
ben zu schuumltzen56 Jedoch kann weder der Schutz menschlichen
Lebens noch eine strafrechtliche Gefaumlhrdung um den Preis einer
Gefaumlhrdung der Garantie des absoluten Rechts von Art 3 aus-
gesetzt werden ohne die Werte zu opfern und die Justiz in Verruf
zu bringen Die Fairness des Verfahrens ist hingegen nur betrof-
fen wenn feststeht dass sich der Verstoszlig gegen Art 3 auf den
Ausgang des Verfahrens gegen den Angeklagten ausgewirkt hat
anders gesagt wenn er die Entscheidung uumlber seine Schuld und
die Strafe beeinflusst hat57
55 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 in NStZ 2008 S699 (701) Rd 106 56 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) EGMR Urt v 28101998 - 2345294 (OsmanUK) in Slg
1998-III S3159-3160 Nr 115-116 57 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Fuumlr das LG Frankfurt waren nicht die Beweismittel ein-
schlieszliglich der beanstandeten koumlrperlichen Beweismittel we-
sentliche Grundlage fuumlr das Urteil sondern allein das neue und
umfassende Gestaumlndnis das nach qualifizierter Belehrung in der
Hauptverhandlung abgelegt wurde Die umstrittenen bdquoeinge-
faumlrbtenldquo Beweismittel waren nicht notwendig und haben nicht
dazu gedient die Schuld des Bf zu beweisen oder die Strafe fest-
zustellen
Dass der Bf in der Hauptverhandlung keine andere Wahl ge-
habt haben soll ist der erneuten qualifizierten Belehrung und
dem Hinweis des Gerichts dass seine bisher getaumltigten Gestaumlnd-
nisse nicht gegen ihn verwertet werden koumlnnen entgegenzustel-
len Zumal er zugegeben hat sein Gestaumlndnis aus Reue abzuge-
ben
Die GK ist nicht der Meinung dass die Verletzung von Art
3 im Ermittlungsverfahren Einfluss auf das in der Hauptver-
handlung abgelegte Gestaumlndnis hatte Die Rechte der Verteidi-
gung und das Recht sich selbst zu bezichtigen wurden ebenfalls
beachtet Folglich ist Art 6 I iVm III nicht verletzt
d) Abweichende Meinungen
aa) Richterin Kalaydjieva
Die Absolutheit von Art 3 ziehe eine Verletzung der Selbstbe-
lastungsfreiheit nach sich und somit einen Verstoszlig gegen Art 6
Der Gerichtshof unterscheide nicht zwischen durch Zwang er-
worbene Aussagen und durch von Zwang erworbene Beweis-
mittel Die Verwertung der Beweismittel im vorliegenden Fall
und der angebliche Verlust der Opfereigenschaft stellt einen ge-
faumlhrlichen Ansatz dar der zu einer illegalen Beschaffung von
Beweismitteln solange das Verhaumlltnis zwischen Nutzen und
Schaden vertretbar ist verleite
Ob die Beweismittel ggf zu einem spaumlteren Zeitpunkt aufge-
funden worden waumlren ist nicht ob dem Gericht daruumlber zu spe-
kulieren Die Frage ist ob das Recht auf die Selbstbelastungs-
freiheit wirksam ausgeuumlbt wurde ohne sich dabei auf illegal er-
langte Beweismittelverwertung zu stuumltzen Angeblich so das in-
nerstaatliche Gericht sei der Umfang der Beweisverwertung nur
auf die Uumlberpruumlfung des Gestaumlndnisses beschraumlnkt Tatsche je-
doch ist dass ohne die Beweismittelverwertung die nach inner-
staatlichem Recht das Gestaumlndnis nicht haumltten uumlberpruumlfen koumln-
nen die Qualifizierung von erpresserischen Menschenraub zu
Mord nicht haumltte stattfinden koumlnnen58
Die Frage der Verfahrenseinstellung ist keine Abwaumlgung
zwischen der Gefahr oder Schwere einer Misshandlung gegen
die Gefaumlhrlichkeit fuumlr die Gemeinschaft denn dies kommt
der Feststellung gleich dass der Schutz der nationalen Sicher-
heit es rechtfertigt die Gefahr einer Misshandlung des Betroffe-
nen eher in Kauf zu nehmen59 Festzustellen ist ob zur Schuld-
feststellung ein Zugriff auf die durch Androhung von Zwang er-
langten Beweismittel hinzugezogen wurden selbst wenn es nur
zur Uumlberpruumlfung eines Gestaumlndnisses galt Durch den Ruumlckgriff
58 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 124 (Abrufdatum 16082018)
59 EGMR Urt v 3062008 ndash 2297805 abrufbar unter wwwhrr-straf-
rechtdehrregmr0522978-05-1pdf Rd 117 (Abrufdatum 16082018)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 38
auf die illegal erlangten Beweismittel ist die Unschuldsvermu-
tung und damit die Fairness des Verfahrens eingeschraumlnkt
Die einzige Heilung fuumlr den Verstoszlig gegen Art 6 und die Ab-
sprache der Opfereigenschaft sei ein neues Verfahren
bb) RichterInnen Tulku Zienmele und Bianku
Die RichterInnen weichen von der mehrheitlichen Meinung ab
dass keine Verletzung von Art 6 Abs I und III stattgefunden
hat Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ergebe
sich aus der Zulassung der Beweismittel die unmittelbar aus
Art 3 sichergestellt worden sind und unter selbstbelastenden
Umstaumlnden erlangt worden sind Deren Zulassung ist eine fun-
damentale und auszligerordentlich wichtige Grundsatzfrage die die
Fairness iSv Art 6 betrifft Die bisherige Rspr habe Gestaumlnd-
nisse die unter einer Verletzung von Art 3 gewonnen wurden
als immer unzulaumlssig betrachtet Uneindeutig war bisher der
Umfang des Verwertungsverbots fuumlr sachliche Beweismittel
Nach Auffassung der RichterInnen kann ein Strafverfahren in
dem Beweismittel die infolge eines Verstoszliges gegen eine derart
absolute Konventionsvorschrift erlangt wurden zugelassen und
bdquoin welchem Umfang auch immerldquo zur Entscheidung herange-
zogen werden nicht fair sein60 Unfair sei selbst wenn unter an-
gemessenen Verfahrensgarantien erlangt Beweismittel verwer-
tet werden denen auch nur der Makel von Druck oder Zwang
anhaftet Die Diskrepanz zwischen der Zulaumlssigkeit der Aussa-
gen und der Zulaumlssigkeit der Beweismittel gefaumlhrde durch deren
Begruumlndung das absolute Rechte Der angeblichen Unterbre-
chung der Kausalkette koumlnnen sich die RichterInnen nicht an-
schlieszligen Die Trennung die der Gerichtshof vornimmt zwi-
schen der Verurteilung wegen Mordes und dem bdquoeingeschlage-
nen Wegldquo im Rahmen der Beweisverwertung sei unrealistisch
und formalistisch Die in der Ermittlungsphase geschehene Ver-
letzung ziehe seine nachteiligen Folgen in dem sich ergebenden
Verfahren da die Bedeutung der Ermittlungsphase einen Rah-
men bestimmen kann fuumlr den Ansatz eines Gerichts Die nach-
teiligen Folgen haumltten fuumlr eine Wiedergutmachung komplett be-
seitigt werden koumlnnen durch ein Beweisverwertungsverbot und
einer bdquosauberen Durchfuumlhrungldquo des Verfahrens Die StA haumltte
den Bf wegen erpresserischen Menschenraubs mit Todesfolge
anklagen und damit den wirksamen Schutz aufrechterhalten
koumlnnen Fraglich erscheint jedoch die Unterscheidung zwischen
Beweismitteln Zumal sich die Frage stellt warum wenn die
bdquounsauberen Beweismittelldquo nicht zur Verurteilung dienten sie
uumlberhaupt zugelassen werden mussten Nach Einschaumltzung der
teilweise abweichenden Meinung hatten die Beweismittel Ein-
fluss auf den Ausgang des Verfahrens und eine Heilung durch
die Unverwertbarkeit der Gestaumlndnisse des Bf nuumltzte ihm wenn
uumlberhaupt nur wenig Im Gegenteil da die Zulaumlssigkeit derer
60 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) abrufbar unter
wwwhudocechrcoeintengi=001-139477 Rd 2 der abw Meinung (Ab-rufdatum 17082018)
61 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149) 62Vgl EGMR Urtv 1172006 ndash 5481000 (JallohDeutschland) in NJW 2006
S 3117 (3123) 63 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131)
die Freiheit sich zu verteidigen erheblich oder gar voumlllig ein-
schraumlnkt ist eine Verurteilung nahezu unausweichlich Die
Amtstraumlger handelten zwar in einer schwierigen und sehr ange-
spannten Situation doch gerade in kritischen Zeiten duumlrfen ab-
solute Werte nicht aufs Spiel gesetzt werden Die Umstaumlnde aumln-
dern nichts an der Tatsache dass sie durch einen Verstoszlig gegen
Art 3 sachliche Beweismittel erlangten die spaumlter in dem Straf-
verfahren gegen den Beschwerdefuumlhrer verwertet und zur Be-
gruumlndung herangezogen wurden Da es sich um ein absolutes
Recht handelt sind alle Verstoumlszlige dagegen schwerwiegend und
die wirksamste Moumlglichkeit dieses absolute Verbot durchzuset-
zen ist eine strenge Anwendung des Verwertungsverbots im
Hinblick auf Art 6
e) Fazit
Die GK schlieszligt sich in ihrem Urteil im Wesentlichen dem an
was die Kammer in ihrem Entschluss bewertete Der Bf hatte
die Moumlglichkeit der Bekaumlmpfung der bdquovergiftetenldquo Beweise vor
dem LG deren Ausschluss er auch in seinem Antrag vor der
Hauptverhandlung beantragte Durch die qualifizierte Beleh-
rung uumlber das Schweigerecht und den Umstand dass keine sei-
ner fruumlheren Aussagen als Beweis gegen ihn verwendet werden
duumlrfe wurde der Bf in den Status quo ante versetzt61 Jedoch
stimmt das Argument der bulgarischen Richterin Kalaydjieva
nachdenklich In seiner vorherigen Rspr hat der EGMR keine
Unterscheidung zwischen Aussagen und koumlrperlichen Beweisen
gemacht Im Gegenteil in Urteilen wie Jalloh als einem Dro-
gendealer seine Beute durch die Zufuumlhrung von Brechmitteln
entwendet wurde wurde die Zulassung der illegal erworbenen
Beweismittel als moumlgliche Verletzung von Art 6 I gewertet62
Dem koumlnnte das oumlffentliche Interesse der Verurteilung von Gaumlf-
gen entgegenstehen die es im oben genannten Beispiel nicht
gab63 Man gewinnt den Eindruck dass der EGMR etwas hin-
und hergerissen ist zwischen der Absolutheit des Art3 und dem
bdquoweicherenldquo Fairnessgebot bis er sich zur Abwaumlgung iRv Art6
durchringt64
Einen Ausweg scheint der EGMR in der Schuldbegruumlndung
zu finden Dies erscheint jedenfalls schon beinahe konstruiert
und uumlberzeugt wenig da auf der einen Seite die koumlrperlichen
Beweise keine Rolle spielen und auf der anderen Seite genau
dieselben den Wahrheitsgehalt des Gestaumlndnisses uumlberpruumlfen
sollen Die in Jalloh offen gelassene Frage der indirekten Ver-
wertbarkeit ist nun beantwortet und laumlsst insofern eine bdquoHinter-
tuumlrldquo offen65 indem ein Ausschluss von Beweisen erforderlich
sein koumlnnte aber nur fuumlr den Fall des Einflusses auf das Ge-
staumlndnis oder die Strafe66
65 Christoph Grabenwarter Androhung von Folter und faires Strafverfahren ndash
Das (vorlaumlufig) letzte Wort aus Straszligburg in NJW 2010 S3128 (3131) 66 EGMR Urt v 162010 ndash 2297805 (GaumlfgenDeutschland) in NJW 2010 S
3145 (3149)
Baukelmann Fall Gaumlfgen Rechtsschutz im Rahmen der EMRK Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 39
5 Ergebnis
Das endguumlltige Urteil aus Straszligburg uumlberrascht Der Gerichtshof
bleibt sich den Grundsaumltzen des Art 3 treu Umso mehr uumlber-
rascht die Bewertung der innerdeutschen Strafprozesspflege und
die Verhaumlngung der Strafen Um die Absolutheit von Art 3 zu
schuumltzen bestimmt sich der Gerichtshof selbst als Kontrol-
linstanz fuumlr die Schwere von Strafen Aus Angst Art 3 wuumlrde
unterwandert beschlieszligt die GK dass sich Gaumlfgen weiter als
bdquoOpferldquo der Justiz iSv Art 34 I bezeichnen darf Es finden sich
in dem endguumlltigen Urteil Abweichungen der bisherigen Rspr
die sich weniger rechtlich als moralisch erklaumlren lassen Eine
Abwaumlgung fuumlr eine Beweisverwertung ist kritisch zu betrach-
ten67 Die abweichenden Meinungen streuen begruumlndete Zweifel
in die zugebenermaszligen neue Leitlinie des EGMR
III Gesamtfazit
Die moralische und rechtliche Problematik wird deutlich an der
scharfen Meinungsspaltung der Jurisprudenz Die Mehrheit der
5 Kammer und die Minderheit der GK sowie die innerdeut-
schen Gerichte stimmen uumlberein dass die milde Strafe der Poli-
zisten die Verletzung von Art3 kompensiere Vorherzusehen
war es nicht dass der EGMR der Rspr der deutschen Gerichte
zustimmt und Einigkeit herrscht Der absolute Schutz von Art3
bleibt bewahrt und der Umfang des Beweisverbots ist nach wie
vor -wenn auch etwas weniger- ungeklaumlrt
C Ausleitungsteil
Anknuumlpfend an die anfangs aufgestellten Herausforderungen
und die Ausgangsproblematik dieser Arbeit laumlsst sich folgendes
sagen der EGMR hat neues Terrain betreten
Methodologisch bestand die Grenzerfahrung in der Erhaltung
des Rechtsschutzes fuumlr Gaumlfgen als Rechtssubjekt und Grund-
rechtstraumlger Die objektive Bewertung stellt sich bereits als her-
ausfordernd dar
Normativ war zu entscheiden ob die Androhung von Gewalt
unter Folter fiel und ob die Androhung vergleichbar mit brutalen
und gewaltsamen Vernehmungsmethoden war Die Herausfor-
derung bestand darin zu entscheiden ob dies nicht das ganze
Strafverfahren Gaumlfgens gefaumlhrdete und seine Verurteilung
Moralisch ist zu unterscheiden zwischen dem Unrechtsgehalt
der Tat und dem Unrechtsgehalt der Behandlung Strafe sollte
nicht dem Zweck der Vergeltung dienen Fuumlr die begangene Tat
wurde Gaumlfgen zu lebenslanger Haft verurteilt Seine Rechte als
Grundrechtstraumlger stehen ihm ebenso zu wie die Anspruumlche Ver-
letzungen geltend zu machen Die Grundsaumltze unseres Rechts-
staates wurden uumlber Jahrhunderte lang erarbeitet und erkaumlmpft
und sind gerade in Anbetracht unserer Historie unumstoumlszliglich
Der zu behandelnde Fall ist nicht nur von juristischer Schwie-
rig- und Spitzfindigkeit sondern auch von moralischer Unwei-
gerlich stellen wir die Uumlbereinstimmung unseres Rechts und un-
seres Rechtsempfindens in Frage Damit scheinen wir jedoch
nicht alleine zu sein denn auch die RichterInnen in Straszligburg
stehen vor dem Menschenwuumlrdedilemma zwischen Opfer und
67 Naumlher dazu Karsten Gaede Fairness als Teilhabe 2007 S810 ff
Taumlter Die Schwierigkeit in diesem besonderen Fall war es den
Taumlter einer Straftat als Opfer der Polizei und des Rechtsstaates
zu betrachten was auf den ersten Blick schon fast antagonistisch
wirkt Der schuldig gesprochene Gaumlfgen hat alle Rechtsmittel
auf deutscher und europaumlischer Ebene ergriffen Es faumlllt schwer
zuzugeben seine Penetranz und sein Kampf um das Recht auch
als bdquorechtensldquo zu bewerten In Rechtsfragen die der EGMR zum
ersten Mal anders interpretiert hat fragt man sich in diesem Zu-
sammenhang was uumlberhaupt Recht-sprechen bedeutet Somit er-
reicht der Fall nicht nur die Grenze des Strafrechts und des Oumlf-
fentlichen Rechts sondern auch der Rechtsphilosophie in der
die Trennung von Recht und Moral ein zentrales Thema dar-
stellt Es reicht hin bis zu der Frage ob es unrichtiges Recht
gesetzliches Unrecht gebe und was das bdquoRechtldquo uumlberhaupt sei68
bdquoWas rechtens sei (quid sit iuris) das ist was die Gesetze an einem
gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben kann
der Rechtsgelehrte noch wohl angeben aber ob das was sie wollten
auch recht sei und das allgemeine Kriterium woran man uumlberhaupt
Recht sowohl als Unrecht (istum et iniustum) erkennen koumlnne bleibt
(ihm) wohl verborgenhellipldquo
ndash Immanuel Kant
Der Fall Magnus Gaumlfgen bleibt in vielerlei Hinsicht
-juristisch sowie moralisch- grenzwertig
Die Autorin studiert an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg im Breisgau im achten Semester Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus der Seminararbeit die im WS 201819 im Rahmen des trinationalen Eucor-Seminars ge-schrieben und verteidigt wurde Das Seminar wurde angebo-ten von Prof Dr Jestaedt (Freiburg) unter dem Namen bdquoRechtsschutz und Verfahrensgarantien im Rahmen der Eu-ropaumlischen Grundrechtecharta und der Menschenrechtskon-ventionldquo Die Autorin ist seit 2014 Mitglied der Freilaw-Re-daktion und leitet seit 2017 die Chefredaktion Sie befindet sich derzeit in der Examensvorbereitung
68 Christian Fahl Angewandte Rechtsphilosophie ndash bdquoDarf der Staat folternldquo in
JR 2004 S 182 (185)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
40 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Der Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen
-
Samuel Hahn
A Einleitung
Es ist eine dem liberalen Gedankengut des 19 Jahrhun-
derts entstammende Idee dass der Mensch nicht nur Buumlr-
ger ist sondern der Staatsverband lediglich einen Teil der
Persoumlnlichkeit absorbiert Neben der oumlffentlichen Rolle als
Staatsbuumlrger existiert noch eine private Rolle in der sich
der Mensch ganz individuell ausleben kann Diese Privat-
heit sichert ein ungestoumlrtes Zu-sich-selbst-Verhalten der
Person ohne das ein Herausbilden einer authentischen
Identitaumlt unmoumlglich ist1 Nun hat jedoch der Staat haumlufig
ein Interesse daran in den privaten Bereich der Buumlrger
vorzudringen Gerade im Rahmen strafprozessualer Er-
mittlungen ist dies der Fall da Straftaumlter ihre Verfehlungen
selten publik machen sondern diese so weit wie moumlglich
vor der Oumlffentlichkeit verbergen Dem Staat bleibt bei der
Strafverfolgung also nichts anderes uumlbrig als die private
Sphaumlre seiner Buumlrger auszuforschen Waumlhrend dies fruuml-
her mehr oder minder offen in Form von Haus- und Perso-
nendurchsuchungen geschah ermoumlglicht die heutige
Technik heimliche Uumlberwachungsmaszlignahmen die es
dem Buumlrger unmoumlglich machen seine innersten Vorgaumlnge
in einer fuumlr ihn kontrollierbaren Sphaumlre zu bewahren Da
diese innersten Vorgaumlnge fuumlr eine autonome Charakter-
entwicklung unentbehrlich sind gebietet es die Men-
schenwuumlrde dass der Staat dem Buumlrger ein Herzstuumlck der
Privatheit einen Kernbereich der privaten Lebensgestal-
tung ganz selbst uumlberlaumlsst und ihn nicht staatlichen Inte-
ressen unterordnet Die vorliegende Arbeit widmet sich
der Entstehung dieser Rechtsfigur und dem Schutz der
sich aus ihr ergibt
I Terminologie
Das BVerfG an dessen Rechtsprechung sich diese Arbeit orien-
tiert hat hinsichtlich der Benennung des absolut geschuumltzten
Bereichs keine klare Nomenklatur entwickelt Es bezeichnet ihn
uneinheitlich als bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo2 bdquoIntim-
sphaumlreldquo3 bdquounantastbaren Bereich privater Lebensgestaltungldquo
4
bdquoabsolut geschuumltzten Kernbereich privater Lebensgestaltungldquo5
1 Roumlssler Der Wert des Privaten S 275 2 BVerfGE 6 S 55 (81) 3 BVerfGE 32 S 373 (379) 4 BVerfGE 27 S 1 (6) 5 BVerfGE 80 S 137 (153)
und bdquoKernbereich der Persoumlnlichkeitldquo6 Die Terminologie in
dieser Arbeit wird daher ebenso variieren Einzig auf die Ver-
wendung des Terminus der Intimsphaumlre wird verzichtet da es
unklar ist ob das BVerfG diese begriffliche Identitaumlt konsequent
aufrechterhaumllt7
II Untersuchungsgegenstand
Gegenstand dieser Arbeit ist anhand der Rechtsprechung des
BVerfG den Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
strafprozessualen Ermittlungsverfahren zu untersuchen Dabei
wird im Besonderen auf Widerspruumlche in den Entscheidungen
des Gerichts eingegangen und gepruumlft was diese fuumlr den Kern-
bereichsschutz bedeuten Die Untersuchung beschraumlnkt sich da-
bei auf den fuumlr die Strafverfolgung besonders bedeutungsvollen
Schutz vor Informationserhebung aus dem Kernbereich privater
Lebensgestaltung Aufgrund seiner engen Verbindung zur Men-
schenwuumlrdegarantie hat jeder Schutz vor staatlichen Maszlignah-
men eine gewisse Kernbereichsrelevanz Zum Zwecke einer
Analyse des reinen von anderen Grundrechten losgeloumlsten
Kernbereichsschutzes sollen in dieser Arbeit andere Konstella-
tionen mit Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung
wie der Schutz der Kommunikation mit zeugnisverweigerungs-
berechtigten Personen auszligen vor bleiben
III Gang der Untersuchung
Im Folgenden wird zuerst die Entwicklung der Kernbereichs-
rechtsprechung durch das BVerfG dargestellt und analysiert
Anhand der auftretenden Diskrepanzen wird anschlieszligend eine
moumlgliche Relativierung des Kernbereichsschutzes gepruumlft und
schlieszliglich wird die Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
anhand seines juumlngsten Urteils neu interpretiert
B Entwicklung des Kernbereichs privater
Lebensgestaltung durch das BVerfG
Der Gedanke eines Kernbereichs der Persoumlnlichkeit auf den der
Staat nicht zugreifen kann hat in der Rechtsprechung der deut-
schen Verfassungsgerichtsbarkeit lange Tradition8
6 BVerfGE 34 S 238 (245) 7 Dies bejahend Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
S 14 kritisch Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 256 8 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (161) Dammann Der Kernbereich der privaten
Lebensgestaltung S 23
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 41
Bereits 1957 sprach das BVerfG in der sog Elfes-Entscheidung
erstmals von einer bdquoSphaumlre privater Lebensgestaltungldquo die dem
einzelnen Buumlrger verfassungskraumlftig vorbehalten sei9 Es leitet
dies aus der Menschenwuumlrde ab Der Gesetzgeber darf die buumlr-
gerlichen Freiheitsrechte bei entsprechenden entgegenstehen-
den Interessen zwar einschraumlnken die Menschenwuumlrde aller-
dings ist unantastbar woraus folgt dass bdquoein letzter unantastba-
rer Bereich menschlicher Freiheit besteht der der Einwirkung
der gesamten oumlffentlichen Gewalt entzogen istldquo10
Diesen absolut geschuumltzten Bereich sah das BVerfG lange al-
lein in der nichtkommunikativen Sphaumlre11
Er war gekennzeich-
net durch Gedanken die der Buumlrger allein sich selbst anver-
trauen wollte ein forum internum in dem er bdquosich selbst besitztldquo
und zu dem bdquodie Umwelt keinen Zutritt hatldquo12
Ein Raum in
welchem die innere Daseinsbewaumlltigung die Auseinanderset-
zung mit sich selbst und die Rechenschaftsablegung gegenuumlber
sich selbst stattfinden13
Nach der damaligen Rechtsprechung
war der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung grundsaumltz-
lich nicht beruumlhrt sobald die Handlung einen Sozialbezug auf-
wies also die Persoumlnlichkeitssphaumlre eines anderen Menschen
beruumlhrte14
Damit waren auch intime zwischenmenschliche Be-
ziehungen vom absoluten Schutz der Persoumlnlichkeit ausge-
schlossen15
In seinem Tagebuchurteil16
relativierte das BVerfG dieses
harte Exklusionskriterium dahingehend dass nicht entscheidend
sei ob uumlberhaupt ein Sozialbezug bestehe sondern vielmehr
dessen bdquohoumlchstpersoumlnlicher Charakterldquo und bdquoin welcher Art und
Intensitaumlt aus sich heraus die Sphaumlre anderer und die Belange
der Gemeinschaft beruumlhrtldquo werden bdquoDer Mensch als Person
auch im Kernbereich seiner Persoumlnlichkeit verwirklicht sich
notwendig in sozialen Bezuumlgenldquo17
Zugleich schraumlnkt das Ge-
richt den Umfang des Schutzes dahingehend ein dass bdquoGesprauml-
che die Angaben uumlber begangene Straftaten enthalten [hellip] dem
Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Le-
bensgestaltungldquo zuzuordnen und deshalb auch nicht von dessen
absolutem Schutz erfasst sind18
C Urteil groszliger Lauschangriff
Zwar hatte das BVerfG in den vorangegangenen Entscheidun-
gen seine Rechtsprechung zu einem absolut geschuumltzten Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit stetig fortgefuumlhrt einen staatlichen
Eingriff in denselben jedoch nie bejaht Die Entscheidung fiel
stets auszligerhalb des Kernbereichs naumlmlich im Bereich der Ab-
waumlgung zwischen Individualschutz und Gemeinwohlinteresse
nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes19
Dies aumln-
derte sich im Urteil zum groszligen Lauschangriff20
dem in der
9 BVerfGE 6 S 32 (41) 10 BVerfGE 6 S 32 (41) 11 BVerfGE 27 S 1 (6) BVerfGE 33 S 367 (377) 12 BVerfGE 27 S 1 (6) 13 Warntjen Heimliche Zwangsmaszlignahmen und der Kernbereich S 54 14 BverfGE 6 S 389 (433) 15 Benda Gefaumlhrdungen der Menschenwuumlrde S35 16 BVerfGE 80 S 367 17 BVerfGE 80 S 367 (374) 18 BVerfGE 80 S 367 (374) 19 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (14) Hervorhebung
hier
Entwicklung der Kernbereichsrechtsprechung besondere Be-
deutung zukommt21
Erstmals stellte das Gericht eine Verlet-
zung des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit fest22
Es skizziert
sorgfaumlltig und wesentlich detaillierter als in fruumlheren Entschei-
dungen sein Kernbereichskonzept entwickelt Schutzvorkehrun-
gen und zeigt Konsequenzen eines Eingriffs auf
I Bestimmung des Kernbereichs
Entscheidend fuumlr eine Einbeziehung des Sachverhalts in den
Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist das Kriterium der
Houmlchstpersoumlnlichkeit23
Gespraumlche und Aumluszligerungen sind dann
vom Kernbereich erfasst wenn es um bdquoausschlieszliglich innere
Eindruumlcke und Gefuumlhleldquo geht der bdquoBereich des Houmlchstpersoumlnli-
chenldquo betroffen ist und ein bdquoBezug des konkreten Gespraumlchs
zum Persoumlnlichkeitskernldquo nicht fehlt24
Konsequent nimmt das
Gericht eine Kernbereichsverletzung auch bei umfassenden
Uumlberwachungen an deren Ergebnisse bdquozur Grundlage eines Per-
soumlnlichkeitsprofils werden koumlnnenldquo25
Auch hinsichtlich des
Straftatenbezugs lockerte das Gericht seine Exklusionskriterien
Waumlhrend das entscheidungstragende Votum im Tagebuchbe-
schluss bereits einen mittelbaren Straftatenbezug genuumlgen lieszlig
um eine Kernbereichsrelevanz zu verneinen26
scheint sich der
Senat im Urteil zum groszligen Lauschangriff dem abweichenden
Votum des Tagebuchbeschlusses27
anzuschlieszligen28
bdquoAuf-
zeichnungen oder Aumluszligerungen im Zwiegespraumlch die zum Bei-
spiel ausschlieszliglich innere Eindruumlcke und Gefuumlhle wiedergeben
und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten gewinnen
nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug dass sie Ursa-
chen oder Beweggruumlnde eines strafbaren Verhaltens freizulegen
vermoumlgenldquo29
Das heiszligt lediglich Aumluszligerungen mit unmittelbarem Bezug zu
einer geplanten oder begangenen Tat sind nicht vom Kernbe-
reich erfasst30
Nicht beruumlhrt sei der Kernbereich allerdings
wenn der Betroffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssach-
verhalts selbst keinen Wert lege wobei nicht jede Kundgabe an
einen anderen Menschen auf das Fehlen eines Geheimhaltungs-
willen schlieszligen lasse es kaumlme vielmehr auf die Vertraulichkeit
der Kommunikation an31
II Schutz des Kernbereichs
Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist unantastbar
und jeglichem staatlichen Zugriff entzogen Die inhaltsbezo-
gene Kernbereichsdefinition des BVerfG schafft das Dilemma
dass Strafverfolgungsbehoumlrden vor der Uumlberwachung gar nicht
wissen koumlnnen ob der Kernbereich des Uumlberwachten betroffen
ist Erst durch die Spaumlhmaszlignahme selbst laumlsst sich anhand des
20 BVerfGE 109 S 279 21 Denninger in Roggan Lauschen im Rechtstaat S 13 (13) bdquogroszliges Urteilldquo 22 BVerfGE 109 S 279 (311) 23 BVerfGE 109 S 279 (313 320) 24 BVerfGE 109 S 279 (319 320) 25 BVerfGE 109 S 279 (323) 26 BVerfGE 80 S 367 (377) 27 BVerfGE 80 S 367 (381) 28 So auch SK-StPOWolter sect 100c Rn 60 29 BVerfGE 109 S 279 (319) 30 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 43 31 BVerfGE 109 S 279 (319)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
42 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Inhalts der Aumluszligerung oder Aufzeichnung das Vorliegen einer
Kernbereichsrelevanz feststellen Dann aber wurden die houmlchst-
persoumlnlichen Informationen bereits von den Behoumlrden wahrge-
nommen Das BVerfG stellt deswegen folgendes fest bdquoDie
Uumlberwachung muss in Situationen von vornherein unterbleiben
in denen Anhaltspunkte bestehen dass die Menschenwuumlrde
durch die Maszlignahme verletzt wirdldquo32
Damit loumlst das BVerfG das Dilemma dahingehend auf dass
die allein uumlber die Betroffenheit des Kernbereichs Gewissheit
verschaffende dabei aber zugleich denselben potentiell verlet-
zende Maszlignahme bereits dann unterbleiben muss wenn sie
wahrscheinlich den Kernbereich verletzen wuumlrde Zu vermuten
sei dies beispielsweise beim groszligen Lauschangriff auf Privat-
wohnungen oder wenn der Uumlberwachte mit Personen des
houmlchstpersoumlnlichen Vertrauens kommuniziere33
Diese Vermu-
tungswirkung kann jedoch widerlegt werden wenn Indikatoren
dafuumlr vorliegen dass der Kernbereich nicht betroffen ist34
Auch
dann darf lediglich bdquoeine fuumlr die Bewertung des Gespraumlchsin-
halts unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Menschen-
wuumlrde erforderliche erste Sichtungldquo durchgefuumlhrt werden bei
der groumlszligtmoumlgliche Zuruumlckhaltung geboten ist35
Diese Vorkehrungen koumlnnen letztendlich aber eine Erhebung
kernbereichsrelevanter Daten nicht ausschlieszligen sondern nur
das Risiko minimieren36
Deswegen fuumlhrt das BVerfG weiter
aus bdquoFuumlhrt die akustische Wohnraumuumlberwachung im Uumlbrigen
unerwartet zur Erhebung von absolut geschuumltzten Informatio-
nen muss sie abgebrochen werden und die Aufzeichnungen
muumlssen geloumlscht werden jede Verwendung solcher im Rahmen
der Strafverfolgung erhobener absolut geschuumltzter Daten ist aus-
geschlossenldquo37
Das Verwertungsverbot kernbereichsrelevanter
Daten erstreckt sich damit nicht nur auf die Verwendung als Be-
weismittel im Hauptverfahren sondern auch auf die Verwen-
dung als Spurenansatz fuumlr weitere Ermittlungen38
Dieses zweistufige Schutzkonzept der Vermeidung der Erhe-
bung kernbereichsrelevanter Daten auf der ersten Ebene zusam-
men mit der Loumlschpflicht und des umfassenden Verwertungs-
verbots auf der zweiten Ebene wird vom BVerfG seither in staumln-
diger Rechtsprechung als notwendige Voraussetzung fuumlr den
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aufrecht erhalten39
D Widerspruumlche in der Kernbereichsrechtsprechung
des BVerfG
Umso mehr uumlberrascht es dass das BVerfG seither in mehreren
Urteilen Eingriffe in den Kernbereich faktisch gebilligt hat So
hat es beispielsweise die Telekommunikationsuumlberwachung
32 BVerfGE 109 S 279 (318) 33 BVerfGE 109 S 279 (321) 34 BVerfGE 109 S 279 (332) 35 BVerfGE 109 S 279 (332) 36 Roxin FS-Boumlttcher S 159 (168) 37 BVerfGE 109 S 279 (318) 38 Ausdruumlcklich BVerfGE 109 S 279 (318) 39 BVerfGE 113 S 348 (391f) BVerfGE 120 S 247 (388f) BVerfGE 129
S 208 (245f) 40 So auch Reiszlig StV 2008 S 539 (542) 41 BVerfG NJW 2012 S 833 (837) 42 BVerfG NJW 2012 S 833 (837)
gem sect 104a StPO fuumlr verfassungsmaumlszligig erklaumlrt obwohl dort
keinerlei Prognose notwendig ist ob in der abzuhoumlrenden Kon-
versation kernbereichsrelevante Aumluszligerungen zu erwarten sind
Dies steht in direktem Widerspruch zum zweistufigen Schutz-
modell des BVerfG das Uumlberwachungsmaszlignahmen nur dann
zulaumlsst wenn eine Kernbereichsverletzung zumindest unwahr-
scheinlich ist40
In Faumlllen in denen es bdquopraktisch unvermeidbarldquo
ist dass Ermittlungsbehoumlrden kernbereichsrelevante Informati-
onen zur Kenntnis nehmen sei es bdquoverfassungsrechtlich nicht
gefordert den Zugriff wegen des Risikos einer Kernbereichs-
verletzung auf der Erhebungsebene von vornherein zu unterlas-
senldquo41
Selbst bei konkreten Anhaltspunkten dass der Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung von einer Maszlignahme beruumlhrt
werden wird hat diese nur bdquogrundsaumltzlichldquo zu unterbleiben42
Mit dieser Rechtsprechung schlieszligt das BVerfG an sein 2008
ergangenes Urteil zur Online-Durchsuchung43
an Feststellend
dass die Datenerhebung bei der Online-Durchsuchung aus tech-
nischen Gruumlnden automatisiert erfolgt und damit eine vorherige
Unterscheidung zwischen Daten mit und ohne Bezug zum Kern-
bereich quasi unmoumlglich ist forderte es bereits dort von den ent-
sprechenden gesetzlichen Ermaumlchtigungen lediglich bdquodarauf
hinzuwirken dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten
soweit wie informationstechnisch und ermittlungstechnisch
moumlglich unterbleibtldquo44
Es genuumlge dann bdquofuumlr hinreichenden Schutz in der Auswer-
tungsphase zu sorgenldquo und bdquodurch geeignete Verfahrensvor-
schriften sicherzustellen dass dann wenn Daten mit Bezug zum
Kernbereich privater Lebensgestaltung erhoben worden sind
die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung und ihre Auswirkun-
gen fuumlr die Persoumlnlichkeit und Entfaltung des Betroffenen so ge-
ring wie moumlglich bleibenldquo45
Damit wandeln sich so die zu-
naumlchst als Ergaumlnzung konzipierten Verfahrensvorschriften der
zweiten Stufe zum einzigen Stuumltzpfeiler des Kernbereichsschut-
zes46
Besonders irritiert dass das BVerfG sich sowohl im Urteil
zur Online-Durchsuchung47
als auch bei der Billigung des sect
100a Abs 448
auf seine Kernbereichsrechtsprechung im Abhoumlr-
Urteil bezieht Waumlhrend es damals aber noch Maszlignahmen fuumlr
unzulaumlssig erklaumlrte die wahrscheinlich in den Kernbereich ein-
dringen49
laumlsst es nun Uumlberwachungen zu obwohl eine Erfas-
sung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unvermeidbar
ist50
Diese Urteile stehen in einem starken Widerspruch sogar
gegenteilig zur fruumlheren Rechtsprechung sodass die Frage be-
rechtigt ist ob das BVerfG nicht laumlngst von dem Konzept eines
absolut geschuumltzten Kernbereichs der Persoumlnlichkeit abgewi-
chen ist
43 BVerfGE 120 S 274 44 BVerfGE 120 S 274 (338) 45 BVerfGE 120 S 274 (338) 46 Schwabenbauer Heimliche Eingriffsmaszlignahmen S 283 mit Verweis auf
BVerfG 113 S 348 (392) bdquoHinzu muumlssen Vorkehrungen kommen die si-
chern dass Kommunikationsinhalte des houmlchstpersoumlnlichen Bereichs nicht
gespeichert und verwertet werden duumlrfenldquo 47 BVerfGE 120 S 274 (338) 48 BVerfGE NJW 2012 S 833 (837) 49 BVerfGE 109 S 279 (318) 50 BVerfGE 120 S 274 (338)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 43
E Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Diesen Schluss ziehen viele Stimmen in der Literatur51
Teil-
weise wird vermutet dass dies eine Reaktion auf den nach der
Entscheidung zum groszligen Lauschangriff erhobenen Vorwurf
der Praxisuntauglichkeit darstellt52
Vor diesem Hintergrund
gibt es auch Unterstuumltzer fuumlr die vermeintliche Entscheidung des
BVerfG den Kernbereich nun doch der Abwaumlgung mit oumlffentli-
chen Interessen zugaumlnglich zu machen53
Im Folgenden soll nun gepruumlft werden ob das BVerfG seinen
vormals absoluten Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
tatsaumlchlich aufgegeben und zugunsten staatlicher Strafverfol-
gungsinteressen relativiert hat
I Prozessuale Relativierung infolge der Disponibilitaumlt
des Verwertungsverbots
Hauck54
meint eine Relativierung des Kernbereichsschutzes
darin zu erkennen dass der BGH es Beschuldigten eroumlffnet auf
das Verwertungsverbot von Beweismitteln mit Kernbereichsre-
levanz zu verzichten und ihnen so zur Zulaumlssigkeit zur verhel-
fen55
Er vertritt dies mit der Begruumlndung dass wenn sich der
Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit aus der Menschen-
wuumlrde herleite welche unstreitig indisponibel sei somit auch
der Kernbereichsschutz selbst indisponibel sein muumlsse56
Unab-
haumlngig davon ob die Menschenwuumlrde tatsaumlchlich indisponibel
ist57
schuumltzt der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung
aber nicht unmittelbar die Menschenwuumlrde selbst sondern eine
sich aus der Menschenwuumlrde ergebende Sphaumlre der Privatheit
die dem Buumlrger auch bei uumlberragenden entgegenstehenden staat-
lichen Interessen zugestanden werden muss Was von diesem
Kern der Privatheit umfasst ist bestimmt sich anhand von zwei
Faktoren der Houmlchstpersoumlnlichkeit und dem Sozialbezug
Wenn mangels Sozialbezug bdquoallein [hellip][die] eigene Sphaumlre tan-
giert istldquo58
kann der Buumlrger Elemente seiner houmlchstpersoumlnli-
chen Sphaumlre beliebig aus dem geschuumltzten Kernbereich der Pri-
vatheit entlassen indem er sie freiwillig der Oumlffentlichkeit zu-
gaumlnglich macht Dieser Ansicht ist auch das BVerfG wenn es
ausfuumlhrt der Kernbereich sei nicht betroffen wenn der Be-
troffene auf die Geheimhaltung eines Lebenssachverhalts selbst
keinen Wert lege59
Dieses Ergebnis ist auch dahingehend sinn-
voll dass Beweisverwertungsverbote regelmaumlszligig Schutzinteres-
sen des Beschuldigten dienen60
Es waumlre deshalb widerspruumlch-
lich dem Beschuldigten die Einbringung von entlastenden Be-
weisen mit dem Argument zu verwehren sie unterfielen seinem
Kernbereich privater Lebensgestaltung obwohl offensichtlich
kein Geheimhaltungswille besteht Insofern unterscheidet sich
51 Hoffmann-Riem JZ 2008 S 1009 (1021) Dammann Der Kernbereich der
privaten Lebensgestaltung S 51 Schwabenbauer Heimliche Zwangsmaszlig-
nahmen S 283 Sachs JuS 2012 S 374 (375) Baldus JZ 2008 S 218
(224) 52 Volkmann AnwBl 2009 S 118 (123) 53 So bspw Boumlckenfoumlrde JZ 2008 S 925 (932) 54 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 55 BGHSt 51 S 1 (4) bdquoAuch uumlber ein derartiges Verwertungsverbot kann der
Angeklagte disponieren soweit allein seine eigene Sphaumlre tangiert istldquo 56 LR-StPOHauck sect 100a Rn 140 57 So naumlmlich MKS-GGStarck Art 1 Rn 114 58 BGHSt 51 S 1 (4)
das disponible absolute Verwertungsverbot des Kernbereichs-
schutzes von dem indisponiblen absoluten Verwertungsverbot
des sect 163a Abs 3 S 2 welches seinen Grund darin hat dass
Aussagen die unter den dort genannten Umstaumlnden hervorge-
bracht worden sind auch in ihrem Beweiswert zweifelhaft er-
scheinen61
Eine Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung daran festzumachen
dass der BGH das absolute Beweisverwertungsverbot des Kern-
bereichsschutzes zur Disposition gestellt hat ist somit nicht ge-
rechtfertigt
II Materielle Relativierung durch funktionale
Auslegung des Kernbereichsbegriffs
Ein haumlufiger Vorwurf ist auch das BVerfG relativiere den abso-
luten Schutz des Kernbereichs indem es Aumluszligerungen die einen
unmittelbaren Bezug zu konkreten Straftaten haben vom
Schutzbereich ausschlieszligt62
Viele meinen darin zu erkennen
dass das Gericht beim Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlich-
keit entgegen seiner Proklamation63
doch auf Abwaumlgungsuumlber-
legungen zuruumlckgreift ndash nur eben nicht erst bei der tatsaumlchlichen
Anwendung des Kernbereichsschutzes sondern bereits bei der
Bestimmung der Reichweite desselben64
Absolut geschuumltzt
waumlre demnach nur was diesen Abwaumlgungsvorgang mit staatli-
chen Interessen erfolgreich durchlaufen hat65
Dieser Vorwurf
wird damit begruumlndet dass es anders nicht erklaumlrbar sei Aumluszlige-
rungen mit Straftatenbezug vom Schutzbereich auszunehmen
Fraglich ist ob dies zutrifft Das Kriterium das das BVerfG zur
Bestimmung des absolut geschuumltzten Kernbereichs des Privaten
heranzieht ist die Houmlchstpersoumlnlichkeit des Inhalts und in wel-
cher Art und Intensitaumlt er aus sich heraus die Belange der Ge-
meinschaft beruumlhrt66
Dabei ist klar dass bloszlige Erzaumlhlungen o-
der Prahlereien uumlber die Begehung von Straftaten sowie deren
Planung schon mangels Houmlchstpersoumlnlichkeit nicht in den
Schutzbereich fallen Relevant wird das Ausschlusskriterium
des Straftatenbezugs erst bei Aumluszligerungen houmlchstpersoumlnlicher
Art beispielsweise dem vielzitierten Mordgestaumlndnis unter Ehe-
leuten67
Eine Straftat selbst kann weil sie gegen Regeln ver-
stoumlszligt die fuumlr ein gemeinsames Zusammenleben in einer Gesell-
schaft unerlaumlsslich sind niemals ein privater Akt sein68
Da je-
der Buumlrger der Gesellschaft die Einhaltung dieser Normen
schuldet beruumlhren Aussagen bezuumlglich der Nichteinhaltung der
strafrechtlichen Verbote stets die Belange der Gemeinschaft
Somit haben Aussagen mit Straftatenbezug auch immer einen
Sozialbezug und sind damit nie nur houmlchstpersoumlnlich Das
BVerfG schlieszligt jedoch nicht (mehr) alle Aumluszligerung mit sozial-
bezogenem Inhalt kategorisch vom Schutz des Kernbereichs
59 BVerfG 109 S 279 (318) 60 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 492 61 MuumlKo-StPOKudlich Einleitung Rn 491 62 Dammann Der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung S 51 63 BVerfG 109 S 279 (314) 64 Baldus JZ 2008 S 218 (224) Lindemann JR 2006 S 191 (198) LR-
StPOHauck sect 100a Rn 138 65 Baldus JZ 2008 S 218 (224) 66 BVerfGE 109 S 279 (314) 67 Meyer-GroszlignerSchmidt sect 100c Rn 16 68 Vgl LR-StPOHauck sect 100a Rn 151 auch Rogall FS-Fezer S 61 (67)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
44 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
aus er differenziert nach Art und Intensitaumlt Ebendieser Diffe-
renzierung ist es geschuldet wenn es feststellt dass Aumluszligerun-
gen die bdquoUrsachen und Beweggruumlnde eines strafbaren Verhal-
tens freizulegen vermoumlgenldquo69
trotz Straftatenbezugs vom Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit erfasst sind
Insofern findet tatsaumlchlich eine Abwaumlgung statt jedoch nicht
in der Art dass aufgrund des Strafverfolgungsinteresses Aumluszlige-
rungen die zur Aufklaumlrung von Straftaten fuumlhren koumlnnen vom
absoluten Kernbereich ausgeschlossen sind sondern schlicht
ob eine Aumluszligerung der houmlchstpersoumlnlichen Privatsphaumlre zuzu-
rechnen ist oder nicht Dies bemisst sich auf der einen Seite am
selbstreflektierenden Charakter der Aumluszligerung also in welchem
Maszlig sie bdquosich als individuelle Entfaltung im Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung darstelltldquo70
und auf der anderen Seite bdquoin
welcher Art und Intensitaumlt sie aus sich heraus die Belange der
Gemeinschaft beruumlhrtldquo71
also wie unmittelbar und konkret sie
Bezug auf den oumlffentlichen Akt der Straftatbegehung nimmt
Dass das BVerfG eine Abwaumlgung mit dem Strafverfolgungsin-
teresse nicht vornimmt zeigt sich auch daran dass die Schwere
der konkreten Straftat auf die sich die Aumluszligerung bezieht fuumlr den
Straftatenbezug keine Rolle spielt72
Es liegt in der Natur einer inhaltsbezogenen Kernbereichsde-
finition nicht operationalisierbar zu sein maszliggebend sind im-
mer die Besonderheiten des jeweiligen Falles73
Uumlber den Straf-
tatenbezug gibt das BVerfG den Entscheidungstraumlgern ein star-
kes Indiz fuumlr einen Sozialbezug an die Hand so wie das Selbst-
gespraumlch ein starkes Indiz fuumlr die Houmlchstpersoumlnlichkeit der Aumlu-
szligerungen ist Ob eine Aumluszligerung in den Kernbereich der Persoumln-
lichkeit faumlllt wird sich immer anhand des Zusammenspiels die-
ser beiden Faktoren bestimmen So koumlnnen selbst Aumluszligerungen
die sich unzweifelhaft unmittelbar auf eine Straftat beziehen und
damit Belange der Gemeinschaft betreffen aber in einem
Selbstgespraumlch getaumltigt wurden aufgrund des uumlberragend
houmlchstpersoumlnlichen Charakters des Selbstgespraumlchs unter den
absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
fallen74
In der Regel75
werden solche Aumluszligerungen aber die Be-
lange der Gemeinschaft in einer Art und Intensitaumlt beruumlhren
dass sie nicht dem Kernbereich zugerechnet werden koumlnnen
Hinter dieser Wertung steckt aber keine heimliche Abwaumlgung
mit Strafverfolgungsinteressen sondern lediglich eine konse-
quente Anwendung der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchst-
persoumlnlichkeit von Aumluszligerungen
III Widerspruumlchlichkeit des Gestattens von Eingriffen
in den absolut geschuumltzten Bereich
Es stellt sich also die Frage wie es mit dem absoluten Schutz
des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit zusammenpasst dass das
BVerfG in seinen juumlngeren Entscheidungen Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen auch dann zulieszlig wenn Eingriffe in den Kernbereich
69 BVerfGE 109 S 279 (319) 70 BVerfGE 109 S 279 (314) 71 BVerfGE 109 S 279 (314) 72 Vgl BVerfGE 109 S 279 (319 343) das die Schwere der Tat als nur fuumlr
die Verhaumlltnismaumlszligigkeit relevant betrachtet siehe auch Schwabenbauer
Heimliche Grundrechtseingriffe Fn 470 73 BVerfGE 109 S 279 (314) 74 Vgl BGHSt 50 S 206 (213)
praktisch unvermeidbar waren Zwar werden die Konsequenzen
dieser Eingriffe die kernbereichsrelevanten Daten geloumlscht und
nicht weiter verwertet dies aumlndert jedoch nichts daran bdquodass
stets ein Eingriff in diesen Kernbereich zunaumlchst hingenommen
wirdldquo wie sich bereits in der noch sehr kernbereichsschutz-
freundlichen Entscheidung zum groszligen Lauschangriff die Rich-
terinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt in einer abweichen-
den Meinung aumluszligerten76
Wie kann es also sein dass das
BVerfG in einem Satz den absolut geschuumltzten Kernbereich pri-
vater Lebensgestaltung proklamiert der jedem staatlichen Ein-
griff entzogen ist und im naumlchsten Satz Eingriffe in diesen
Kernbereich ausdruumlcklich zulaumlsst wenn sie nicht vermeidbar
sind
1 Exkurs Demontierung der Unantastbarkeit der
Menschenwuumlrde
Dieser augenscheinliche Widerspruch in der Rechtsprechung
des BVerfG hat mehr Sprengkraft als es auf den ersten Blick
scheint Manche folgern aus den Diskrepanzen dass das
BVerfG offensichtlich nicht willens sei den Kernbereich der
Persoumlnlichkeit tatsaumlchlich absolut zu schuumltzen77
Andere jedoch
gehen noch weiter und argumentieren dass wenn sich der aus
der Menschenwuumlrde herleitende Kernbereich privater Lebens-
gestaltung als abwaumlgungs- und relativierungsoffen erweise
auch der Absolutheitsanspruch der Menschenwuumlrdegarantie aus
Art 1 Abs 1 GG selbst in Zweifel zu ziehen sei78
Das BVerfG
sei bei dem Versuch die Wuumlrdegarantie in konkreten grund-
rechtlichen Problemlagen nutzbar zu machen gescheitert79
Die
Folge daraus sei dass es keine absolut geschuumltzten Rechtsguumlter
geben koumlnne nicht einmal im Bereich der Menschenwuumlrde80
Anhand der Rechtsprechung zum Kernbereichsschutz soll die
Menschenwuumlrdegarantie insgesamt gegenuumlber Abwaumlgungen mit
staatlichen Sicherheits- bzw Strafverfolgungsinteressen geoumlff-
net werden Wenn dies aber zutrifft was bedeutet dies fuumlr die
verbotenen Vernehmungsmethoden aus sect 136a StPO Fuumlr das
Folterverbot Hat das BVerfG tatsaumlchlich klammheimlich diese
Buumlchse der Pandora geoumlffnet
a) Menschenwuumlrde als Achtungsgebot
Den obigen Uumlberlegungen liegt die Vorstellung zugrunde dass
jede staatliche Wahrnehmung von Informationen die dem Kern-
bereich der Persoumlnlichkeit zuzurechnen sind eine Menschen-
wuumlrdeverletzung darstellt Poscher bietet eine andere Interpre-
tation der Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich priva-
ter Lebensgestaltung Fuumlr ihn wurzeln die oben gezeigten teil-
weise dramatischen Konsequenzen die ein Teil der Literatur aus
der Kernbereichsrechtsprechung zieht in einem tiefer liegenden
Missverstaumlndnis des Menschenwuumlrdeschutzes dass sich auch in
der Verraumlumlichung des Kernbereichsschutzes zeige81
Die
75 BT-Drucksache 154533 S 14 76 BVerfG 109 S 279 (383) 77 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 265 78 So Baldus JZ 2008 S 218 (224) 79 Baldus JZ 2008 S 218 (225) 80 MaunzDuumlrig-GGHerdegen Art 1 Rn 50 Rogall FS-Fezer S 61 (86) 81 Poscher JZ 2009 S 269 (274)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 45
Menschenwuumlrde sei aber kein ideeller Raum der durch einen
Eingriff in den Kernbereich privater Lebensfuumlhrung verletzt
werden koumlnne so wie ein Eindringen in die Wohnung das Recht
aus Art 13 Abs 1 GG verletze Vielmehr sei der Satz aus Art 1
Abs 1 GG woumlrtlich gemeint bdquoDie Wuumlrde des Menschen ist un-
antastbarldquo ist demnach keine Forderung sondern eine Feststel-
lung Der Staat koumlnne die Wuumlrde des Menschen nie verletzen
verletzbar sei lediglich der Achtungsanspruch der sich aus ihr
ergibt82
Dieser Achtungsanspruch wuumlrde aber nicht bereits
dadurch verletzt dass der Staat in bestimmte Freiheitsraumlume
eindringe im Extremfall koumlnne der Staat einen Angreifer sogar
toumlten ohne seine Wuumlrde zu verletzen indem er ihn zumindest
als einen Feind achte83
Der aus der Menschenwuumlrde flieszligende
Achtungsanspruch sei erst dann verletzt wenn in der Rechtsver-
letzung gerade eine Missachtung der Wuumlrde zum Ausdruck
komme so beispielsweise bei der Folter wo die Verletzung der
koumlrperlichen Unversehrtheit gerade darauf gerichtet ist die ver-
nuumlnftige Willensbildung und damit das zu negieren was den
Menschen als Gattung auszeichnet Poscher macht damit die In-
tention des Staates zum wesentlichen Kriterium der Verletzung
der Wuumlrdegarantie aus Art 1 Abs 1 GG Wenn ein Polizist auf
Streife zufaumlllig aufgrund eines geoumlffneten Fensters intime De-
tails wahrnehme liege darin keine Menschenwuumlrdeverletzung
und auch nicht wenn Beamten bei der Durchsuchung der Woh-
nung eines Drogenhaumlndlers in einer Schublade auf intime Pho-
tographien desselben stoszligen84
Eine Verletzung des Achtungs-
anspruchs bestehe erst dann wenn der Staat (gezielt) auf den
Kernbereich zugreift um Daten aus dem Kernbereich fuumlr seine
Zwecke zu nutzen denn damit zeige er dass er alle Bereiche der
Persoumlnlichkeit instrumentalisiert und seinen Zwecken unterord-
net85
Die Achtung der Menschenwuumlrde verlange demnach dass
die nicht-intendierte Erfassung von kernbereichsrelevanten Da-
ten so weit als moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen
erfolgende nicht-intendierte Kenntnisnahmen umgehend unter-
brochen werden anfallende Kernbereichsdaten sofort vernichtet
und besonders in keiner Weise verwendet werden
b) Zwischenergebnis
Mit der Ruumlckbesinnung auf die Menschenwuumlrdegarantie als
Achtungsanspruch laumlsst sich der Widerspruch in der Kernbe-
reichsrechtsprechung des BVerfG zumindest insoweit erklaumlren
als dass er nicht mehr als Beweis fuumlr die offizielle Aufgabe des
Absolutheitsanspruches der Menschenwuumlrdegarantie angefuumlhrt
werden kann Das Konzept des Gerichts beruhe demnach nicht
auf einer relativierenden Abwaumlgung der Menschenwuumlrde gegen
staatliche Sicherheitsinteressen sondern auf einem Urteil uumlber
das was der aus der Menschenwuumlrde folgende Achtungsan-
spruch gegenuumlber nicht-intendierten Folgen staatlichen Han-
delns gebietet86
2 Kernbereich der Persoumlnlichkeit als
82 Poscher JZ 2009 S 269 (274) auch BVerfGE 96 S 375 (399) 83 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 84 Poscher JZ 2009 S 269 (275) 85 Poscher JZ 2009 S 269 (275)
Achtungsgebot
Den moderateren Vorwuumlrfen das BVerfG halte unabhaumlngig da-
von ob darin eine Relativierung des Absolutheitsanspruches der
Menschenwuumlrdegarantie zu sehen ist oder nicht zumindest sei-
nen absoluten Schutz des Kernbereichs nicht konsequent durch
schafft diese Interpretation jedoch noch keine Abhilfe Poscher
geht indessen noch einen Schritt weiter indem er das Achtungs-
gebot der Menschenwuumlrde auf den Kernbereich der Persoumlnlich-
keit uumlbertraumlgt
bdquoDer aus der Menschenwuumlrdegarantie abgeleitete Kernbe-
reichsschutz gilt nicht der Abdichtung eines physischen oder
ideellen Raums sondern der Achtung vor bestimmten Lebens-
aumluszligerungen von hoher Relevanz fuumlr die psychologische und so-
ziale Integritaumlt eines Grundrechtstraumlgers in welchen Raumlumen
auch immer sie sich ereignenldquo87
Diese Theorie die in der Literatur als Konstruktion kritisiert
wurde88
im Hinterkopf behaltend soll im Folgenden ein Blick
in die aktuellste Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des
Kernbereichs privater Lebensgestaltung geworfen werden
F Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016
Am 20 April 2016 entschied das BVerfG89
anlaumlsslich einer
Verfassungsbeschwerde dass die Ermaumlchtigung des Bundeskri-
minalamts zum Einsatz von heimlichen Uumlberwachungsmaszlignah-
men zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus
zwar im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar ist die der-
zeitige Ausgestaltung von Befugnissen aber in verschiedener
Hinsicht dem Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatz nicht genuumlgt Teil
des Urteils waren dabei die Ausfuumlhrungen zu den verfassungs-
rechtlich vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen fuumlr den Kern-
bereich privater Lebensgestaltung Diese Ausfuumlhrungen sollen
nun daraufhin analysiert werden ob sie neue Erkenntnisse zu
den augenscheinlichen Diskrepanzen in der Kernbereichsrecht-
sprechung des BVerfG bieten koumlnnen
I Untermauerung der Uumlberlegungen zur Exklusion
des Straftatenbezugs
In den obigen Uumlberlegungen zur Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung wurde
der Versuch unternommen zu erlaumlutern warum dieses Krite-
rium kein Beweis fuumlr die Relativierung des absoluten Schutz des
Kernbereichs ist sondern lediglich die konsequente Anwendung
der Kriterien zur Bestimmung der Houmlchstpersoumlnlichkeit von Aumlu-
szligerungen Demnach koumlnnen auch Aumluszligerungen mit konkretem
Straftatenbezug in den Kernbereich der Persoumlnlichkeit fallen
wenn die Elemente der Auseinandersetzung mit dem eigenen
Gewissen und der Selbstreflexion die fuumlr eine individuelle Ent-
faltung unerlaumlsslich sind den Gesamtinhalt der Aumluszligerung stark
genug praumlgen Nach dem BGH der ein Selbstgespraumlch trotz
konkretem Straftatenbezug zum Kernbereich der Persoumlnlichkeit
86 Poscher JZ 2009 S 269 (276) 87 Poscher JZ 2009 S 269 (276) Hervorhebung hier 88 So Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270 89 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 -
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
46 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
zaumlhlte bestaumltigt nun auch das BVerfG in seiner juumlngsten Ent-
scheidung diese Interpretation indem es in aller Deutlichkeit
ausfuumlhrt
bdquoAuch koumlnnen trotz Straftatenbezugs Situationen in denen
Einzelnen gerade ermoumlglicht werden soll ein Fehlverhalten ein-
zugestehen oder sich auf dessen Folgen einzurichten wie
Beichtgespraumlche oder vertrauliche Gespraumlche mit einem Psy-
chotherapeuten oder einem Strafverteidiger der houmlchstpersoumlnli-
chen Privatsphaumlre unterfallen die dem Staat absolut entzogen
istldquo90
Damit laumlsst das BVerfG nun auch Aumluszligerungen mit unmittel-
baren Bezug zu konkreten Straftaten in den Kernbereich privater
Lebensgestaltung fallen Bei der in fruumlheren Entscheidungen91
noch so kategorisch anmutenden Exklusion straftatbezogener
Aumluszligerungen vom Kernbereich privater Lebensgestaltung han-
delt es sich somit um eine Vermutung die ihre Ausnahme in
Aumluszligerungen findet die in besonders hohem Maszlige der individu-
ellen Reflektion und Selbstentfaltung dienen und damit den So-
zialbezug des straftatbezogenen Inhalts uumlberwiegen
II Bestaumltigung des Achtungsgebots der
Menschenwuumlrde
Seit das BVerfG Uumlberwachungsmaszlignahmen zulieszlig obwohl
eine Erfassung kernbereichsrelevanter Daten praktisch unver-
meidbar war musste es viel Kritik einstecken Der schaumlrfste
Vorwurf war mit der Relativierung des absoluten Schutzes des
Kernbereichs auch die Menschenwuumlrde selbst Abwaumlgungsuumlber-
legungen zugaumlnglich zu machen Vermutlich um diesen Ten-
denzen ein Ende zu setzen stellte das Gericht in seinem neuen
Urteil klar
bdquoDer Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist
strikt und darf nicht durch Abwaumlgung mit den Sicherheitsinte-
ressen nach Maszliggabe des Verhaumlltnismaumlszligigkeitsgrundsatzes re-
lativiert werden [hellip] Dies bedeutet jedoch nicht dass jede tat-
saumlchliche Erfassung von houmlchstpersoumlnlichen Informationen stets
einen Verfassungsverstoszlig oder eine Menschenwuumlrdeverletzung
begruumlndetldquo92
Damit scheint das Gericht Poschers Interpretation der Men-
schenwuumlrdegarantie als Achtungsanspruch zu bestaumltigen Indem
es feststellt dass zum Schutz des Kernbereichs Vorkehrungen
zu treffen sind bdquodie eine unbeabsichtigte Miterfassung von
Kernbereichsinformationen nach Moumlglichkeit ausschlieszligenldquo93
orientiert es sich nicht nur stark an der Formulierung Po-
schers94
sondern erwaumlhnt uumlberhaupt erstmals das Kriterium der
90 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
122 91 BVerfGE 80 S 367 (374) BVerfGE 109 S 279 (319) 92 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 93 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
126 Hervorhebung hier 94 Poscher JZ 2009 S 269 (275) bdquo[hellip] dass das nicht-intendierte Eindringen
[in den Kernbereich] soweit als moumlglich vermieden wirdldquo 95 Kant Die Metaphysik der Sitten Teil 2 sect 38 96 BVerfGE 109 S 279 (313)
staatlichen Intention im Zusammenhang mit der Kernbereichs-
rechtsprechung und laumlsst damit den Schluss auf eine sich auf das
Kantlsquosche Instrumentalisierungsverbot95
beziehende Interpreta-
tion der Menschenwuumlrde zu Dies ist insoweit wenig uumlberra-
schend da das BVerfG bereits im Abhoumlrurteil von einem abso-
lut geschuumltzten Achtungsanspruch der Menschenwuumlrde
sprach96
Ausdruumlcklich bdquoDie akustische Wohnraumuumlberwa-
chung zu Strafverfolgungszwecken verstoumlszligt dann gegen die
Menschenwuumlrde wenn der Kernbereich privater Lebensgestal-
tung nicht respektiert wirdldquo97
III Bestaumltigung des Achtungsgebots des
Kernbereichs
Erstaunlich am juumlngsten Urteil des BVerfG zum Kernbereichs-
schutz ist dass es diesen Achtungsanspruch auf den Kernbe-
reich privater Lebensgestaltung uumlbertraumlgt Absolut geschuumltzt ist
demnach nicht der Kernbereich selbst sondern das Achtungsge-
bot des Kernbereichs Wie bei der Menschenwuumlrde liegt dem-
nach nur dann eine Verletzung des Kernbereichs bzw des Ach-
tungsgebots desselben vor wenn der Kernbereich missachtet
wird also der Staat bewusst auf den Kernbereich zugreift um
die houmlchstpersoumlnlichen Inhalte fuumlr Strafverfolgungszwecke zu
instrumentalisieren So schreibt das BVerfG
bdquoDer Kernbereich privater Lebensgestaltung beansprucht ge-
genuumlber allen Uumlberwachungsmaszlignahmen Beachtungldquo98
und kurz darauf noch deutlicher
bdquoDie Verfassung verlangt [hellip] fuumlr die Ausgestaltung der
Uumlberwachungsbefugnisse die Achtung des Kernbereichs als eine
strikte nicht frei durch Einzelfallerwaumlgungen uumlberwindbare
Grenzeldquo99
Ausdruumlcklich wird hier als Eingriffsgrenze staatlicher Uumlber-
wachungsmaszlignahmen nicht der Kernbereich privater Lebensge-
staltung selbst sondern die Achtung vor demselben angefuumlhrt
Uumlberraschend distanziert sich das BVerfG damit von einem
raumlumlich-gedachten Kernbereich der bei einem Eingriff verletzt
ist obwohl Formulierungen in fruumlheren Urteilen noch auf ein
solches Verstaumlndnis hindeuten100
Bei genauerer Betrachtung
jedoch taucht die Rhetorik von der Achtung des Kernbereichs
bereits in der Entscheidung zur akustischen Wohnraumuumlberwa-
chung auf Dort ist die Rede von einem bdquoverfassungsrechtlichen
Gebot unbedingter Achtung einer Sphaumlre des Buumlrgers fuumlr eine
ausschlieszliglich private ndash eine houmlchstpersoumlnliche ndash Entfal-
tungldquo101
Auch im Urteil zur Online-Durchsuchung spricht das
Gericht von einer bdquoverfassungsrechtlich gebotenen Achtung des
Kernbereichs privater Lebensgestaltungldquo102
97 BVerfGE 109 S 279 (314) 98 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
123 99 BVerfG Urteil des Ersten Senats vom 20 April 2016 - 1 BvR 96609 - Rn
124 100 Bspw BVerfGE 120 S274 (338) bdquoDer Gesetzgeber hat [hellip] sicherzustel-
len dass [hellip] die Intensitaumlt der Kernbereichsverletzung [hellip] so gering wie
moumlglich [bleibt]ldquo ndash scheinbar Verletzung des Kernbereichs durch Eingriffe 101 BVerfGE 109 S 279 (313) 102 BVerfGE 120 S 274 (339)
Hahn Schutz des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit Strafprozessrecht Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 47
Es scheint als haumltte Poscher mit seiner Interpretation der
Menschenwuumlrde und der vorsichtigen Uumlbertragung dieses Kon-
zepts auf den Kernbereichsschutz ins Schwarze getroffen Legt
man dieses Verstaumlndnis uumlber die Urteile zum Kernbereichs-
schutz die bei einer Interpretation des Kernbereichs als absolut
geschuumltzten Raum so widerspruumlchlich erscheinen loumlsen sich die
Diskrepanzen in der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG
in Luft auf Eine versehentliche Wahrnehmung kernbereichsre-
levanter Informationen stellt demnach noch keine Kernbereichs-
verletzung dar sondern erst wenn der Staat damit seine Miss-
achtung zum Ausdruck bringt Letztendlich ist diese Interpreta-
tion recht naheliegend denn wenn sich der Kernbereich der Per-
soumlnlichkeit aus der Menschenwuumlrde ergibt dann ist es logisch
dass der Staat zum Kernbereich das gleiche Verhaumlltnis hat wie
zur Menschenwuumlrde naumlmlich dass er sie zu achten hat
IV Konsequenz eines Achtungsgebots des
Kernbereichs der Persoumlnlichkeit
Die Frage die sich nun stellt ist Was verlangt das Achtungsge-
bot des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Genau dies ist
es was das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Kernbe-
reichsschutz herausgearbeitet hat und im oberen Teil der Arbeit
dargestellt wurde Die Schutzvorkehrungen sind damit keine
Kriterien die einen absoluten Schutz garantieren sollen sondern
das was das BVerfG fuumlr notwendig haumllt um die staatliche Ach-
tung vor dem Kernbereich der Persoumlnlichkeit auszudruumlcken
Dass er Eingriffe zulaumlsst obwohl die Erfassung kernbereichsre-
levanter Daten praktisch unvermeidbar ist basiert auf der Wer-
tung dass der Achtung des Kernbereichs genuumlge getan ist wenn
das nicht-intendierte (denn gezielt kernbereichsausforschende
Maszlignahmen waumlren zweifellos eine Missachtung) Eindringen
soweit wie moumlglich vermieden wird trotz der Bemuumlhungen er-
folgende unbeabsichtigte Kenntnisnahmen umgehend zu unter-
brechen anfallende Kernbereichsdaten sofort zu vernichten und
in keiner Weise zu verwenden
Nun koumlnnte man diese Wertung mit dem Standpunkt anzwei-
feln dass die einzige Form mit der die Achtung des Kernbe-
reichs ausgedruumlckt werden kann darin besteht die Eingriffe die
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu unbeabsichtigten
Wahrnehmungen kernbereichsrelevanter Daten fuumlhren grund-
saumltzlich zu unterlassen103
Wenn der Staat Uumlberwachungsmaszlig-
nahmen durchfuumlhrt obwohl eine Erfassung kernbereichsrele-
vanter Daten praktisch unvermeidbar ist ist dies nicht anders
als wenn gezielt auf den Kernbereich privater Lebensgestaltung
zugegriffen wird schlieszliglich sind zwangslaumlufige Folgen einer
Handlung von der Handlungsintention stets miterfasst104
Letz-
teres Argument laumlsst sich zumindest dogmatisch dadurch ent-
kraumlften dass Uumlberwachungsbeamte regelmaumlszligig darauf hoffen
werden gerade keine kernbereichsrelevanten Daten zu erheben
um die Ergebnisse ihrer Uumlberwachung uumlberhaupt verwerten zu
koumlnnen Den Ansatz die Achtung vor dem Kernbereich gebiete
es Maszlignahmen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der
Kernbereichsberuumlhrung kategorisch zu unterlassen strikt durch-
103 So bspw SachsKrings JuS 2008 S 481 (485f) 104 Schwabenbauer Heimliche Grundrechtseingriffe S 270
zusetzen wuumlrde bedeuten dass etliche Strafverfolgungsmaszlig-
nahmen wie beispielsweise die klassische Wohnungsdurchsu-
chung in Privatwohnungen ebenfalls unzulaumlssig waumlren Letzt-
endlich genuumlgt es jedoch nicht dem BVerfG vorzuwerfen seine
Kriterien wuumlrden dem Achtungsgebot des Kernbereichs der Per-
soumlnlichkeit nicht gerecht Es muumlsste vielmehr gezeigt werden
inwiefern ein Staat der alles praktisch und technisch Moumlgliche
unternimmt um den Kernbereich der Persoumlnlichkeit seiner Buumlr-
ger vor Wahrnehmungen zu schuumltzen der sich jede Verwertung
versagt und zudem eine unabhaumlngige Uumlberwachung einrichtet
trotz dieser Anstrengungen seine Missachtung zum Ausdruck
bringt105
G Fazit
Anhand der Interpretation des absolut geschuumltzten Kernbereichs
als Achtungsgebot ist es moumlglich die Kernbereichsrechtspre-
chung des BVerfG mit sich selbst in Einklang zu bringen Die
Aufloumlsung der oben diskutierten augenscheinlichen Widerspruuml-
che duumlrfte das Verstaumlndnis fuumlr die bundesverfassungsgerichtli-
che Judikatur foumlrdern und die zukuumlnftige Diskussion um den
Schutz des Kernbereichs erleichtern Ob der faktische Kernbe-
reichsschutz davon ebenso profitiert ist fraglich Die Verlage-
rung der Debatte auf die Wertung was die Achtung vor dem
Kernbereich gebiete laumlsst dem BVerfG bei seiner Rechtspre-
chung wesentlich mehr Wuumlrdigungsspielraum und gibt Kriti-
kern weniger handfeste Argumente an die Hand als eine raumlum-
lich-gedachte absolute Grenze Die Kernbereichsklausel des sect
100a Abs 4 StPO bleibt jedoch auch bei dieser Interpretation
mangelhaft denn wenn den Behoumlrden erlaubt wird auch bei An-
haltspunkten auf eine Beruumlhrung des Kernbereichs abzuhoumlren
kann von einer Achtung desselben keine Rede sein Unzweifel-
haft hat die Rechtsfigur des Kernbereichs der Persoumlnlichkeit im
Vergleich zum Abhoumlrurteil an Wert verloren sie aumlhnelt nun eher
einer Konkretisierung der Menschenwuumlrdegarantie bei informa-
tionserhebenden Maszlignahmen Zwar ist die Nutzbarmachung der
Menschenwuumlrde in dieser Form eine begruumlszligenswerte Entwick-
lung die Idee eines tatsaumlchlich absolut geschuumltzten Bereichs
menschlicher Freiheit in den der Staat um keinen Preis eindrin-
gen kann war jedoch ein erfrischender Gegentrend zu der Ten-
denz Individualinteressen prinzipiell dem kollektiven Nutzen
unterzuordnen Die Scheu vor dieser Entwicklung wird es auch
sein was das BVerfG bis heute dazu bewegt in jedem Urteil
wieder die Unantastbarkeit des Kernbereichs zu proklamieren
und diese dem liberalen Verfassungsstaat entstammende Idee
des jedem staatlichen Zugriff entzogenen Freiheitsraumes am
Leben zu erhalten
Der Autor hat sein erstes juristisches Staatsexamen an der Albert-Ludwigs-Universitaumlt in Freiburg 2018 abgelegt Des Weiteren war er seit 2015 am Max-Planck-Institut ebenfalls in Freiburg taumltig und war wissenschaftlicher Mitarbeit beim Lehrstuhl Prof Dr Perron (Frei-burg) bis er im April 2019 sein Referendariat am LG Freiburg begon-nen hat Die Arbeit entstand im Rahmen eines interdisziplinaumlren Se-minars zum Thema Cybercrime digitale Ermittlungen und Daten-schutz im WS 20162017
105 Poscher JZ 2008 S 269 (275)
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
48 ISSN 1865-0015 wwwfreilawde
Buchrezension bdquoFamilienrechtldquo
-
Prof Dr Nina Dethloff
Tino Haupt
Das Familienrecht hat insbesondere in den letzten Jahren
stark im oumlffentlichen Interesse gestanden Beispielhaft ge-
nannt sei hier die sogenannte bdquoEhe fuumlr alleldquo Nach mona-
telangen emotional in der Oumlffentlichkeit gefuumlhrten Debat-
ten hat der Bundestag sich am 30 Juni 2017 mit einer
deutlichen Mehrheit fuumlr den Bundesratsentwurf und somit
die Eheoumlffnung entschlossen
Hervorzuheben sind auszligerdem die in letzter Zeit erfolgten
Aumlnderungen zur Bekaumlmpfung von Kinderehen und stetige
Entwicklungen im Abstammungsrecht
Gut geeignet fuumlr das Erlernen all dieser Gebiete ist das
Werk von Nina Dethloff zum Familienrecht
I Allgemeines zur Autorin und zum Lehrbuch
Nina Dethloff ist Professorin an der Universitaumlt Bonn und dort
Inhaberin des Lehrstuhls fuumlr Buumlrgerliches Recht Internationales
Privatrecht Rechtsvergleichung und Europaumlisches Privatrecht
Zuletzt war sie unter anderem Vorsitzende der Abteilung fuumlr
Familienrecht bei dem 72 Deutschen Juristentag in Leipzig
(Thema Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach
Trennung und Scheidung ndash Reformbedarf im Sorge- Umgangs-
und Unterhaltsrecht)
Das hier behandelte Lehrbuch zum Familienrecht wurde von
Guumlnther Beitzke begruumlndet und in der 26 und 27 Auflage von
Alexander Luumlderitz bearbeitet Mit der 28 Auflage wurde die
Bearbeitung von Nina Dethloff uumlbernommen Im Jahr 2018 ist
das Werk in der 32 Auflage im Verlag CH Beck erschienen
und ist fuumlr einen Preis von 3290 euro im Buchhandel erhaumlltlich
II Zum Inhalt
Die Autorin gliedert 548 Seiten Lehrbuchtext in eine Einleitung
sowie drei Kapitel und diese in insgesamt 17 Paragraphen Die
drei Kapitel des Werkes tragen die Titel bdquoEhe und Partner-
schaftldquo bdquoFamilieldquo und bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo
Vor dem Einstieg in die eigentliche Materie erlaumlutert die
Autorin in einer Einleitung von 25 Seiten die Hintergruumlnde des
Rechtsgebietes bdquoFamilienrechtldquo Deutlich wird hierbei die hohe
praktische Relevanz des Familienrechts aufgrund der enormen
Anzahl an familienrechtlichen Streitigkeiten Dargestellt wird
auszligerdem der Zusammenhang des Familienrechts mit dem
Verfassungsrecht sowie dem internationalen Recht Auch eine
Erlaumluterung der wichtigsten Reformgesetze und der elementaren
Begriffe erfolgt
Mit diesem Grundwissen ausgeruumlstet stellt die Autorin im 1
Kapitel (bdquoEhe und Partnerschaftldquo) den Gang der Ehe dar der mit
dem Verloumlbnis beginnt und haumlufig mit der Ehescheidung endet
Dargestellt wird auszligerdem die eingetragene Lebenspartner-
schaft (wobei diese mit der erfolgten Oumlffnung der Ehe erheblich
an Relevanz verloren hat) und die praktisch auszligerordentlich
relevante faktische Lebensgemeinschaft das heiszligt Lebensge-
meinschaften die ohne Eheschlieszligung oder Begruumlndung einer
Lebenspartnerschaft erfolgen Etwas zu kurz geraten hier die
Ausfuumlhrungen zu den vermoumlgensrechtlichen Anspruumlchen bei
Beendigung der Gemeinschaft Um der Bedeutung insbesondere
in Klausuren gerecht zu werden koumlnnte vor allem die
Darstellung des Bereicherungsrechts in diesem Zusammenhang
ausfuumlhrlicher erfolgen
Neben dem Eherecht ist das Verwandtschaftsrecht das zweite
groszlige Gebiet welches im familienrechtlichen Teil des BGB ge-
regelt ist Die Autorin behandelt diese Aspekte im 2 Kapitel
welches den Titel bdquoFamilieldquo traumlgt Uumlberzeugend ist hier das auch
immer wieder klausurrelevante Abstammungsrecht Neben der
Darstellung der Abstammung von der Mutter und dem Vater
werden auch kontrovers diskutierte Themen wie Leihmutter-
schaft und Babyklappen anschaulich und zum weiteren
Nachdenken anregend behandelt Die weiteren Ausfuumlhrungen
betreffen unter anderem den Unterhalt und die elterliche Sorge
aber auch die Thematik der Pflegefamilie und der Adoption
Abschlieszligend behandelt die Autorin in einem 3 Kapitel wel-
ches den Titel bdquoSchutzverhaumlltnisseldquo traumlgt Fragestellungen die
im Zusammenhang mit Vormundschaft Rechtlicher Betreuung
und Pflegschaft entstehen
Im Anhang findet sich auszligerdem die Duumlsseldorfer Tabelle
mit Stand zum 112018 welche eine Richtlinie fuumlr den durch
den Barunterhaltspflichtigen an das Kind zu zahlenden Unter-
halt gibt
Hinsichtlich des inhaltlichen Aufbaus laumlsst sich feststellen dass
die einzelnen Paragraphen mit teils kurzen manchmal auch laumln-
geren Faumlllen eingelaumlutet werden die dann im Laufe der jeweili-
gen Darstellung geloumlst werden Das Buch erfuumlllt somit auch teil-
weise die Funktion von Fallbuumlchern und kann diese deshalb
ersetzen Hinzu kommen am Ende eines jeden Paragraphen
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen welche das gerade
Erlernte noch einmal abfragen und somit vertiefen Die
Haupt Rezension Familienrecht Rezension Freilaw 12019
wwwfreilawde ISSN 1865-0015 49
Loumlsungen zu diesen Fragen finden sich erst gesammelt am Ende
des Buches sodass die Motivation groumlszliger ist zunaumlchst einmal
selbst uumlber die Loumlsung nachzudenken anstatt sofort die Muster-
loumlsung nachzulesen Zudem finden sich immer wieder Angaben
zum relevanten Schrifttum
III Stellungnahme
Die Neubearbeitung des Lehrbuchs zum Familienrecht ist auch
in der 32 Auflage erfolgreich verlaufen
Alle relevanten Gesetzesaumlnderungen und die Entwicklungen
in der Rechtsprechung und der Literatur sind angemessen verar-
beitet Fuumlr eine schnelle Wiederholung des Familienrechts kurz
vor der Klausur eignet sich das Werk aufgrund des nicht gerade
geringen Umfangs nicht unbedingt Hier bieten sich kompaktere
Darstellungen zum Familienrecht an Gerade bei der Erstellung
von Haus- und Seminararbeiten sowie der tiefergehenden Vor-
bereitung auf die Klausur im Familienrecht etwa fuumlr das Erste
Juristische Staatsexamen oder den Schwerpunktbereich kommt
einem die ausfuumlhrliche Darstellung jedoch zugute Auszligerdem
kann durch die uumlbersichtliche Aufteilung in Kapitel und Para-
graphen schnell das Gesuchte gefunden werden Gerade fuumlr die
familienrechtlichen Klausuren im Studium kann somit eher als
bdquoSpezialwissenldquo Anzusehendes wie zB die Ausfuumlhrungen zur
Duumlsseldorfer Tabelle auch weggelassen werden
Erfreulich waumlre die Aufnahme eines Paragraphenverzeich-
nisses ndash dieses sucht man vergeblich Insbesondere bei Unklar-
heiten oder sonstigem Lesebedarf zu einer bestimmten Norm
erweist sich dieses als besonders hilfreich Unterstuumltzend bei der
Suche nach bestimmten Begriffen im Buch und deshalb auch
uumlberzeugend ist hingegen das umfangreiche und dennoch
anschaulich gestaltete Sachverzeichnis
Der Autor ist Wiss Mitarbeiter am Lehrstuhl fuumlr Deutsche und Europaumlische Rechtsgeschichte Kirchenrecht und Buumlrgerliches Recht (Prof Dr Anja Amend-Traut) an der Juristischen Fakultaumlt der Universitaumlt Wuumlrzburg sowie Wiss Mitarbeiter bei Freshfields Bruckhaus Deringer in der Praxisgruppe Globale Transaktionen in Frankfurt am Main
Schick Einfuumlhrung in die Logik Rezension Freilaw 12019
ISSN 1865-0015 wwwfreilawde 50
Buchrezension bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo
Drphil habil Alexander Aichele Dr phil Jakob Meier Prof Dr iur Joachim Renzikowski Sebas-
tian Simmert MA
-
von Stefan Schick
Wer sich als Jurist mit einem Buch zur Logik als wissenschaft-
licher Disziplin konfrontiert sieht stellt sich hierbei zunaumlchst die
Frage warum er sich mit dieser Materie die wohl auf den ersten
Blick der Mathematik zuzuordnen ist beschaumlftigen sollte Diese
Frage beantworten die Autoren selbst zu Beginn Wie jede Wis-
senschaft versucht die Rechtswissenschaft die Welt in ihrem Ge-
genstandsbereich (Recht) durch Aussagen zu analysieren Fuumlr
die Frage ob eine Aussage anwendbar ist und wie verschiedene
Aussagen in Beziehung zu setzen sind ist die Logik die ent-
scheidende Grunddisziplin Logik ist damit die Grundvorausset-
zung jeder sinnhaften Aussage und des informationsvermitteln-
den Kommunizierens
Die bdquoEinfuumlhrung in die Logik und ihren Gebrauchldquo ist im Jahr
2015 im CHBeck Verlag Muumlnchen (Reihe bdquoJura kompaktldquo)
in Erstauflage erschienen Das vierkoumlpfige Autorenteam ist in-
terdisziplinaumlr wobei Prof Dr Joachim Renzikowski der den
Lehrstuhl fuumlr Strafrecht Rechtsphilosophie und Rechtstheorie
an der Martin-Luther-Universitaumlt Halle-Wittenberg innehat fuumlr
die spezifische juristische Fachkompetenz sorgt Die Abhand-
lung beruht auf einer gleichnamigen Vorlesung im Winterse-
mester 20092010 an der Martin-Luther Universitaumlt Halle-Wit-
tenberg
Die Abhandlung gliedert sich in fuumlnf groumlszligere Abschnitte Im
ersten dieser Abschnitte werden zunaumlchst die Grundbegriffe und
Grundmodelle der wissenschaftlichen Logik erlaumlutert insbeson-
dere wird der Begriff als Grundgegenstand der Logik naumlher aus-
geleuchtet Der zweite Abschnitt beschaumlftigt sich in der Folge
mit der Verbindung mehrerer Begriffe also der Aussage Dabei
werden die konstruktiven Grundvoraussetzungen sinnhafter
Aussagen erarbeitet darauf folgend verschiedene Arten von
Aussagen und besondere Auspraumlgungen solcher klassifiziert
Der dritte Abschnitt beschaumlftigt sich dann mit der Beziehung
mehrerer Aussagen zueinander Dabei geht es vor allem darum
vom Wahrheitsgehalt einer Aussage auf den Wahrheitsgehalt
anderer Aussagen zu schlieszligen Dies wird von den Autoren als
der Kernbereich der wissenschaftlichen Logik identifiziert Im
vierten Abschnitt geht es um die sog Deontische Logik Darun-
ter versteht man den spezifisch rechtswissenschaftlichen Be-
reich der Logik also das Verhaumlltnis von Handlungen und Nor-
men Im fuumlnften und letzten Abschnitt wird die Urteilsbegruumln-
dung des BGH im bekannten Jauchegruben-Fall unter logi-
schen Gesichtspunkten untersucht Hier schwingt auch deutliche
Kritik an der Vernachlaumlssigung der Logik als wissenschaftlicher
Disziplin im Bereich juristischer Methodenlehre mit Abge-
schlossen wird die Abhandlung dann mit einem formalen Uumlber-
blick
Grundsaumltzlich positiv faumlllt die Bemuumlhung der Autoren auf
die komplexe Materie der wissenschaftlichen Logik auch fuumlr
Neulinge auf diesem Gebiet anschaulich zu erklaumlren Schoumln sind
in diesem Zusammenhang auch die vielen juristischen Bei-
spiele Der Umfang der Darstellung ist mit 86 Seiten uumlberschau-
bar Jedoch waumlre es der Lesbarkeit in diesem Zusammenhang
zugutegekommen wenn fuumlr eine groumlszligere Schriftgroumlszlige einige
Seiten mehr in Kauf genommen worden waumlren
Zugegebenermaszligen handelt es sich bei der bdquoEinfuumlhrung in die
Logik und ihren Gebrauchldquo weder um eine Lektuumlre die fuumlr das
Studium unmittelbar weiterhilft noch um eine einfache Bettlek-
tuumlre Wer sich aber fuumlr Hintergruumlnde ndash insbesondere auch fach-
uumlbergreifend ndash interessiert und eine gewisse Freude am abstrak-
ten Denken mitbringt kann von dieser Grunddarstellung klar
profitieren Diese Freude am abstrakten Denken ist aber auch
notwendig so sind die Ausfuumlhrungen teilweise ndash trotz der ge-
lungenen Veranschaulichung ndash sehr komplex was aber selbst-
verstaumlndlich auch der komplexen Thematik geschuldet ist
Der Autor promoviert und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei in Muumlnchen
UN
SE
RE
ST
AN
DO
RT
E
Weitere Informationen finden Sie auf unserer Website | wwwschrade-partnerde
Seit 1976 betreuen wir Unternehmen und Unternehmer in allen Fragen des Wirtschaftsrechts Mit fuumlnf Standorten im suumldlichen Baden-Wuumlrttemberg und einem in Berlin sind rund 35 Rechtsanwaumlltinnen und Rechtsanwaumllte immer genau dort wo unsere Mandanten uns brauchen
bdquoWir geben der Wirtschaft Rechtldquo
Unser Credo praumlgt unsere taumlglichen Aufgaben Wir bieten ein breites Spektrum an Fachwissen und verfuumlgen uumlber einen groszligen Erfahrungsschatz in folgenden Kernkompetenzfeldern
- Gesellschaftsrecht - Handelsrecht - Unternehmenskauf (MampA) Unternehmensumstrukturierung - Arbeits- und Dienstvertragsrecht - Aktienrecht - Erbrecht und Unternehmensnachfolge - Sanierungs- und Restrukturierungsberatung Insolvenzrecht - Vergabe- und Kartellrecht - Prozessfuumlhrung Litigation - Steuer- und Wirtschaftsstrafrecht - Recht des Gesundheitswesens
Wir arbeiten standortuumlbergreifend und interdisziplinaumlr Selbstverstaumlndlich werden neben den rechtlichen auch saumlmtliche steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Aspekte beruumlcksichtigt Deshalb pflegen wir eine enge Zusammenarbeit mit Steuerberatern und Wirtschaftspruumlfern Auszligerdem stehen unsere Beratungskonzepte immer in einem vernuumlnftigen finanziellen Verhaumlltnis zur Aufga-benstellung
Sie moumlchten uns besser kennenlernen Sprechen Sie uns gerne jederzeit an
BERLIN Georgenstraszlige 23 10117 Berlin Telefon +4930235024-0 Telefax +4930235024-99 berlinschrade-partnerde
LAHR Stefanienstraszlige 45 77933 Lahr Telefon +49782199039-30 Telefax +49782199039-59 lahrschrade-partnerde
TUTTLINGEN Bahnhofstraszlige 44 78532 Tuttlingen Telefon +497461965093-10 Telefax +497461965093-99 tuttlingenschrade-partnerde
FREIBURG Hermann-Herder-Straszlige 4 79104 Freiburg Telefon +49761389469-0 Telefax +49761389469-99 freiburgschrade-partnerde
VILLINGEN-SCHWENNINGEN Max-Planck-Straszlige 11 78052 Villingen-Schwenningen Telefon +49772120626-0 Telefax +49772120626-100 villingenschrade-partnerde
SINGEN Hegau-Tower Maggistraszlige 5 78224 Singen Telefon +49773159145-500 Telefax +49773159145-510 singenschrade-partnerde
Wer sind wir
FREILAW ist die studentisch-juristische Zeitschrift der Albert-Ludwigs-Universitaumlt
Freiburg und besteht als Projekt Freiburger Studierender bereits seit 2006 Die
Zeitschrift erscheint in drei bis vier Ausgaben jaumlhrlich online und teilweise auch
gedruckt Neben wissenschaftlichen Artikeln veroumlffentlichen wir auch solche die uumlber
das Fachliche hinausgehen und fuumlr Jurastudierende lesenswert sind In unseren
Ausgaben veroumlffentlichen wir daruumlber hinaus regelmaumlszligig Erfahrungsberichte uumlber
Auslandsaufenthalte sowie Interviews im Rahmen der Berufsperspektive fuumlr Juristen
Warum gerade Ihr Egal ob Ihr im ersten oder letzten Semester seid Ihr koumlnnt euch bei uns jederzeit in die
Redaktionsarbeit einbringen oder sogar eigene Artikel veroumlffentlichen
Was erwartet Euch Wir haben Aufgaben in vielen Bereichen von der Redaktionsmitarbeit der Pflege
unseres Internetauftritts bis hin zur Oumlffentlichkeitsarbeit uvm Euch erwartet eine
angenehme Arbeitsatmosphaumlre in einem netten und motivierten Team
Was erwarten wir
Kreative und motivierte Mitarbeiter die Interesse an der Weiterentwicklung des
Journals haben
Worauf wartet Ihr Kommt einfach zur naumlchsten Redaktionssitzung vorbei
Die Termine der Redaktionssitzung werden auf unserer
Homepage (wwwfreilawde) und auf unserer
Facebook-Seite (wwwfacebookcomfreilaw) bekanntgegeben