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458 MedR 2005, Heft 8 Weiß, EU-Verfassungsvertrag und Biotechnologie tigt werden. In diesem Zusammenhang kann auch das oben angedeutete Finanzierungsproblem gelöst werden: Wenn die Einlagerung im ausschließlichen Interesse des Kindes und naher Angehöriger für die Betroffenen zu teuer ist, bleibt außer der Verwerfung des Blutes – als denkbar schlechtester Lösung des Interessenkollisionsproblems – immerhin noch die Möglichkeit eines für alle Beteiligten akzeptablen Kom- promisses. Wie dieser Kompromiss im Einzelnen auszusehen hat, kann ich natürlich im Detail nicht für alle relevanten Konstellationen festlegen. Hier sind zu viele Variablen im Spiel. Es kommt insofern auf die näheren Umstände an. Je nachdem, was genau mit dem Blut geschehen soll und wie der jeweils aktuelle Erkenntnisstand beschaffen ist, lassen sich unterschiedliche Regelungen als angemessene Auflö- sung des Kollisionsproblems begreifen. Immerhin lässt sich skizzenhaft Folgendes sagen: Grundsätzlich muss das Kind im Bedarfsfall eine vorran- gige Zugriffsmöglichkeit zumindest auf einen Teil seines Blutes behalten. Die Versorgung nach den allgemeinen Zu- teilungskriterien lässt sich ihm gegenüber nicht rechtferti- gen. Auch dürfen im Hinblick auf die in Frage stehenden Zeiträume von 10, 20 oder gar mehr Jahren die Eltern für ihr älter werdendes Kind nicht ohne Not Festlegun- gen treffen, die dem einwilligungsfähig Gewordenen nicht zumutbar sind. Konkret heißt das: Spätestens mit Errei- chen der Volljährigkeit muss dem Betreffenden die Mög- lichkeit erhalten bleiben, über die weitere Verwendung sei- nes Blutes selbst zu entscheiden. Schließlich ist der voll- ständige Verbrauch des Blutes zu fremdem Nutzen tunlichst zu vermeiden 37 . In Einklang mit dem Kindeswohl steht er nur, wenn eine angemessene Kompensation, z.B. durch eine Entschädigung, stattfindet. Eine solche angemessene Entschädigung verstieße nicht etwa gegen ein rechtliches Kommerzialisierungsverbot 38 . Spezialgesetzlich ist ein sol- ches Kommerzialisierungsverbot – soweit ersichtlich – zu- mindest derzeit für den hier interessierenden Bereich nicht in Kraft. Und selbst wenn sich der Gesetzgeber entschließen sollte, ein solches Kommerzialisierungsverbot zu normie- ren, wäre davon eine angemessene Entschädigung als bloßer Nachteilsausgleich nicht erfasst. Kurzum: Es ist durchaus möglich, Blut für das Kind selbst, für nahe Angehörige und sogar für fremde Dritte in recht- lich einwandfreier Form zu entnehmen und einzulagern, sofern das Kind im Grundsatz eine vorrangige Zugriffs- möglichkeit behält. Es ist auch zulässig, einen Teil des Blu- tes für Dritte – etwa für bestimmte Forschungszwecke – zu verwenden und dabei auch zu verbrauchen, wenn der verbleibende Rest noch einen den Interessen des Kindes genügenden Wert besitzt. Ein vollständiger Verbrauch für Dritte ist allenfalls ultima ratio und nur bei angemesse- nem Nachteilsausgleich – etwa in Gestalt einer vorrangigen Zugriffsmöglichkeit auf fremdes Blut im Falle eigenen Be- darfs – akzeptabel. Nach alledem sollten sich potentielle Nabelschnurblut-Interessenten gut überlegen, welchen Vor- schlag sie den Eltern unterbreiten. Der Vorschlag muss so beschaffen sein, dass die berechtigten Interessen des Kindes nicht auf der Strecke bleiben. Andernfalls liegt gegenüber dem Kind eine Rechtsverletzung vor, die unter gewissen Voraussetzungen auch strafrechtlich als Eigentums- oder gar als Körperverletzung geahndet werden kann. 37) Von besonderem Interesse ist insoweit die Möglichkeit der Expan- sion – also der Vermehrung der Stammzellen ,ex vivo‘; vgl. dazu etwa Wils, EthikMed 2002, 71, 75. 38) Zur Problematik der Kommerzialisierung von menschlichen Kör- persubstanzen s. allgemein Müller (Fn. 4). Wolfgang Weiß DOI: 10.1007/s00350-005-1475-8 EU-Verfassungsvertrag und Biotechnologie Die Biotechnologie gilt als Schlüsselindustrie auch in der EU. Im Rahmen der ehrgeizigen Lissabonner Vision der EU, bis zum Jahre 2010 der führende, wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden, hat die EG ihre große Bedeutung erkannt und auch eine Strategie für die Biotechnologie in der EU entwickelt 1 . Die Innovationskraft der bestehenden For- schung soll gesteigert und die Weltmarktstellung der Bio- technologieindustrie in Europa weiter ausgebaut werden. Dazu gehört auch die Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens im Interesse und im Einklang mit der Vision. Technologische Innovation bedarf gerade in sensiblen Be- reichen wie der Biotechnologie der rechtlichen Begleitung und des rechtlichen Schutzes der erzielten Ergebnisse. Der vorliegende Beitrag will die Frage untersuchen, in- wieweit das Inkrafttreten der neuen EU-Verfassung künftig den gemeinschaftsrechtlichen Rahmen für die Biotechno- logie verändern wird. Insbesondere geht es um eventuelle Veränderungen bei den Rechtsetzungs- und Vollzugskom- petenzen und bei den Kompetenzausübungsschranken für die EG. Dazu ist zunächst auf den bestehenden gemein- schaftsrechtlichen Rahmen für die Biotechnologie einzu- gehen (I.). Besonderes Augenmerk gilt dabei den für eine primärrechtliche Bewertung des bestehenden Biotechnolo- giesekundärrechts wichtigen Fragen der EG-Kompetenzen. Dann werden die Neuentwicklungen in der EU-Verfassung erörtert (II.) I. Der EG-rechtliche Rahmen für die Biotechnologie 1. Rechtsetzungskompetenzen Obschon der Begriff der Bio- oder Gentechnologie im EGV nicht auftritt, hat die EG durchaus Kompetenzen, auch in diesem Bereich Regelungen zu erlassen. Denn sie ist zuständig für den Gesundheitsschutz, für den Umweltschutz und für die Harmonisierung der nationalen Bestimmungen, die sich auf den Binnenmarkt auswirken. Alle diese Sach- bereiche sind von der Biotechnologie betroffen, weil sie Priv.-Doz. Dr. iur. Wolfgang Weiß, Universität Bayreuth, D-95440 Bayreuth 1) Biowissenschaften und Biotechnologie – Eine Strategie für Europa, Dok KOM (2002) 27. S. hierzu auch den Fortschrittsbericht der Kommission über die künftige Ausrichtung, Dok KOM (2003) 96 endg.

EU-Verfassungsvertrag und Biotechnologie

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458 MedR 2005, Heft 8 Weiß, EU-Verfassungsvertrag und Biotechnologie

tigt werden. In diesem Zusammenhang kann auch das obenangedeutete Finanzierungsproblem gelöst werden: Wenn dieEinlagerung im ausschließlichen Interesse des Kindes undnaher Angehöriger für die Betroffenen zu teuer ist, bleibtaußer der Verwerfung des Blutes – als denkbar schlechtesterLösung des Interessenkollisionsproblems – immerhin nochdie Möglichkeit eines für alle Beteiligten akzeptablen Kom-promisses. Wie dieser Kompromiss im Einzelnen auszusehenhat, kann ich natürlich im Detail nicht für alle relevantenKonstellationen festlegen. Hier sind zu viele Variablen imSpiel. Es kommt insofern auf die näheren Umstände an. Jenachdem, was genau mit dem Blut geschehen soll und wieder jeweils aktuelle Erkenntnisstand beschaffen ist, lassensich unterschiedliche Regelungen als angemessene Auflö-sung des Kollisionsproblems begreifen. Immerhin lässt sichskizzenhaft Folgendes sagen:

Grundsätzlich muss das Kind im Bedarfsfall eine vorran-gige Zugriffsmöglichkeit zumindest auf einen Teil seinesBlutes behalten. Die Versorgung nach den allgemeinen Zu-teilungskriterien lässt sich ihm gegenüber nicht rechtferti-gen. Auch dürfen im Hinblick auf die in Frage stehendenZeiträume von 10, 20 oder gar mehr Jahren die Elternfür ihr älter werdendes Kind nicht ohne Not Festlegun-gen treffen, die dem einwilligungsfähig Gewordenen nichtzumutbar sind. Konkret heißt das: Spätestens mit Errei-chen der Volljährigkeit muss dem Betreffenden die Mög-lichkeit erhalten bleiben, über die weitere Verwendung sei-nes Blutes selbst zu entscheiden. Schließlich ist der voll-ständige Verbrauch des Blutes zu fremdem Nutzen tunlichstzu vermeiden37. In Einklang mit dem Kindeswohl stehter nur, wenn eine angemessene Kompensation, z. B. durcheine Entschädigung, stattfindet. Eine solche angemesseneEntschädigung verstieße nicht etwa gegen ein rechtliches

Kommerzialisierungsverbot38. Spezialgesetzlich ist ein sol-ches Kommerzialisierungsverbot – soweit ersichtlich – zu-mindest derzeit für den hier interessierenden Bereich nichtin Kraft. Und selbst wenn sich der Gesetzgeber entschließensollte, ein solches Kommerzialisierungsverbot zu normie-ren, wäre davon eine angemessene Entschädigung als bloßerNachteilsausgleich nicht erfasst.

Kurzum: Es ist durchaus möglich, Blut für das Kind selbst,für nahe Angehörige und sogar für fremde Dritte in recht-lich einwandfreier Form zu entnehmen und einzulagern,sofern das Kind im Grundsatz eine vorrangige Zugriffs-möglichkeit behält. Es ist auch zulässig, einen Teil des Blu-tes für Dritte – etwa für bestimmte Forschungszwecke –zu verwenden und dabei auch zu verbrauchen, wenn derverbleibende Rest noch einen den Interessen des Kindesgenügenden Wert besitzt. Ein vollständiger Verbrauch fürDritte ist allenfalls ultima ratio und nur bei angemesse-nem Nachteilsausgleich – etwa in Gestalt einer vorrangigenZugriffsmöglichkeit auf fremdes Blut im Falle eigenen Be-darfs – akzeptabel. Nach alledem sollten sich potentielleNabelschnurblut-Interessenten gut überlegen, welchen Vor-schlag sie den Eltern unterbreiten. Der Vorschlag muss sobeschaffen sein, dass die berechtigten Interessen des Kindesnicht auf der Strecke bleiben. Andernfalls liegt gegenüberdem Kind eine Rechtsverletzung vor, die unter gewissenVoraussetzungen auch strafrechtlich als Eigentums- oder garals Körperverletzung geahndet werden kann.

37) Von besonderem Interesse ist insoweit die Möglichkeit der Expan-sion – also der Vermehrung der Stammzellen ,ex vivo‘; vgl. dazuetwa Wils, EthikMed 2002, 71, 75.

38) Zur Problematik der Kommerzialisierung von menschlichen Kör-persubstanzen s. allgemein Müller (Fn. 4).

Wolfgang Weiß DOI: 10.1007/s00350-005-1475-8

EU-Verfassungsvertrag und Biotechnologie

Die Biotechnologie gilt als Schlüsselindustrie auch in derEU. Im Rahmen der ehrgeizigen Lissabonner Vision derEU, bis zum Jahre 2010 der führende, wettbewerbsfähigsteund dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Weltzu werden, hat die EG ihre große Bedeutung erkanntund auch eine Strategie für die Biotechnologie in derEU entwickelt1. Die Innovationskraft der bestehenden For-schung soll gesteigert und die Weltmarktstellung der Bio-technologieindustrie in Europa weiter ausgebaut werden.Dazu gehört auch die Weiterentwicklung des rechtlichenRahmens im Interesse und im Einklang mit der Vision.Technologische Innovation bedarf gerade in sensiblen Be-reichen wie der Biotechnologie der rechtlichen Begleitungund des rechtlichen Schutzes der erzielten Ergebnisse.

Der vorliegende Beitrag will die Frage untersuchen, in-wieweit das Inkrafttreten der neuen EU-Verfassung künftigden gemeinschaftsrechtlichen Rahmen für die Biotechno-logie verändern wird. Insbesondere geht es um eventuelleVeränderungen bei den Rechtsetzungs- und Vollzugskom-petenzen und bei den Kompetenzausübungsschranken fürdie EG. Dazu ist zunächst auf den bestehenden gemein-schaftsrechtlichen Rahmen für die Biotechnologie einzu-gehen (I.). Besonderes Augenmerk gilt dabei den für eineprimärrechtliche Bewertung des bestehenden Biotechnolo-

giesekundärrechts wichtigen Fragen der EG-Kompetenzen.Dann werden die Neuentwicklungen in der EU-Verfassungerörtert (II.)

I. Der EG-rechtliche Rahmen für die Biotechnologie

1. RechtsetzungskompetenzenObschon der Begriff der Bio- oder Gentechnologie imEGV nicht auftritt, hat die EG durchaus Kompetenzen,auch in diesem Bereich Regelungen zu erlassen. Denn sie istzuständig für den Gesundheitsschutz, für den Umweltschutzund für die Harmonisierung der nationalen Bestimmungen,die sich auf den Binnenmarkt auswirken. Alle diese Sach-bereiche sind von der Biotechnologie betroffen, weil sie

Priv.-Doz. Dr. iur. Wolfgang Weiß,Universität Bayreuth, D-95440 Bayreuth

1) Biowissenschaften und Biotechnologie – Eine Strategie für Europa,Dok KOM (2002) 27. S. hierzu auch den Fortschrittsbericht derKommission über die künftige Ausrichtung, Dok KOM (2003) 96endg.

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Risiken für die menschliche Gesundheit und den Schutzder natürlichen Umwelt begründen kann und weil nationaldivergierende Gesetzeswerke in diesem Bereich der Funk-tion des Binnenmarktes schaden können.

Demgemäß wurden die einschlägigen EG-Richtlinienund Verordnungen zur Biotechnologie in variabler Kompo-sition gestützt auf die Rechtsetzungskompetenzen im Agrar-bereich, Art. 37 Abs. 2 EGV, im Gesundheits- und Um-weltschutzbereich, Art. 152 Abs. 4 und Art. 175 EGV, imBereich der Binnenmarktharmonisierung, Art. 95 EGV, undschließlich früher auch noch auf die Vertragsabrundungs-kompetenz des Art. 308 EGV2. Bedeutsam ist auch nochdie Kompetenz der EG für Rahmenprogramme für For-schung und technologische Entwicklung gemäß Art. 166EGV und dahingehende Leitlinien.

2. Grundstrukturen des Biotechnologie-Sekundärrechts

Der derzeitige sekundärrechtliche Rahmen für die Biotech-nologie in der EG folgt im Grundsatz einem technologie-spezifischen Ansatz3. Es wird nicht primär auf das Produktabgestellt, sondern auf die Technologie, die Verwendungfindet. Das stützt sich auf die Annahme, dass die Verwen-dung einer bestimmten Technologie Risiken mit sich brin-gen kann, so dass die neue Technologie an sich zu regeln ist.Das Regelwerk der EG weist aber neben dem technologie-spezifischen Ansatz zunehmend auch produktbezogene Ele-mente auf. Es finden sich also sowohl horizontale rechtlicheRegelungen, die mit der Biotechnologie und insbesondereder Gentechnik zusammenhängende Fragen in allgemeinerWeise regeln, als auch vertikale, produktspezifische Rechts-akte. Beide Regelungstechniken verfolgen in der EG dasZiel, Gesundheits- oder Umweltschutz auf hohem Niveauzu sichern.

Zu den allgemeinen, horizontalen Regelwerken gehö-ren die sog. Systemrichtlinie 90/219, die das Arbeiten mitGVO in geschlossenen Systemen, also in Fabrik oder La-bor regelt, und die (neue) Freisetzungsrichtlinie 2001/18über die absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderterOrganismen4, die sich auf das Arbeiten mit GVO außer-halb geschlossener Systeme, also das Freisetzen von GVOin die Umwelt, und auf ihr Inverkehrbringen bezieht. Zuden allgemeinen Regeln ist auch die sog. Biopatentrichtlinie98/44 zu zählen, die die Patentierbarkeit biotechnologischerErfindungen harmonisiert, ferner die VO 1946/2003 überdie grenzüberschreitende Verbringung von GVO.

Einen produktspezifischen Ansatz verfolgen demgegen-über die speziellen Gesetzgebungen für Arzneimittel, Le-bens- und Futtermittel und Pflanzenschutzmittel und Saat-gut, die sich besonderen Fragen und Risiken beim In-verkehrbringen bestimmter gentechnischer Erzeugnisse zu-wenden und insoweit präventive Verbote mit Erlaubnisvor-behalt einführen. Im einzelnen sind hier zu nennen dieVO 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfah-ren für die Genehmigung und Überwachung von Human-und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäi-schen Arzneimittel-Agentur, die VO 1829/2003 über ge-netisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel und dieVO 1830/2003 über die Rückverfolgbarkeit und Kenn-zeichnung von genetisch veränderten Organismen und überdie Rückverfolgbarkeit von aus genetisch veränderten Or-ganismen hergestellten Lebensmitteln und Futtermitteln.

Dabei soll im Grundsatz das ,,one door one key-Prinzip“gelten: Die Vermarktung biotechnologischer Erzeugnissesoll durch ein Genehmigungs- oder Zulassungsverfahrengeklärt werden. Die produktbezogene Rechtsetzung sorgtim Grundsatz dafür, dass die technologiespezifische allge-meine Freisetzungsrichtlinie bezüglich des Inverkehrbrin-gens von genetisch veränderten Lebensmitteln oder Arznei-mitteln keine Anwendung mehr findet5.

Unbeschadet des Streits über die genaue Reichweite derKompetenzen der EG kann jedenfalls im Grundsatz festge-halten werden, dass diese Sekundärrechtsmaßnahmen auf diebereits genannten Bestimmungen des EGV gestützt werdenkönnen. Fraglich ist die EG-Kompetenz für diese Sekun-därrechtsakte aber insbesondere dort, wo sie abweichendvom Grundsatz des indirekten Vollzugs des Gemeinschafts-rechts durch die Mitgliedstaaten zunehmend an die Stelledes mitgliedstaatlichen Vollzugs einen gemischt national-gemeinschaftsrechtlichen oder gar einen unmittelbar ge-meinschaftsrechtlichen Vollzug setzen. Im EG-Biotechno-logierecht findet sich eine starke Tendenz zur Vergemein-schaftung des Verwaltungsvollzugs.

3. Vergemeinschaftung des Verwaltungsvollzugsim Biotechnologierecht

Grundsätzlich wird EG-Recht dezentral, indirekt von denMitgliedstaaten vollzogen. Jedoch findet sich für einige we-nige Bereiche seit jeher ein zentraler Vollzug durch EG-Stellen. Wegen der grundsätzlich fehlenden Verwaltungs-kompetenz und des fehlenden Verwaltungsunterbaus der EGist das auf wenige Ausnahmen beschränkt6. Gerade im Be-reich der Biotechnologie zeigt sich aber, dass das Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht gilt. Infolge sekundärrechtlicherVorgaben ist die Zuständigkeit für die Zulassung bio- undgentechnisch hergestellter Arzneimittel und von gentech-nisch veränderten Organismen als oder in Lebens- und Fut-termitteln zentralisiert. Es wurden eigene Zulassungsverfah-ren eingerichtet, die die Entscheidungszuständigkeit für dieGenehmigungen der Kommission zuweisen7.

Das Verfahren für die Zulassung bio- und gentechnischhergestellter Arzneimittel wird sogar ausschließlich von EG-Stellen durchgeführt. Ein Zulassungsantrag ist bei der Eu-ropäischen Arzneimittelagentur einzureichen. Nach derenVorbereitungsarbeiten entscheidet die Kommission, u. U.der Rat im Regelungsausschussverfahren, vgl. Art. 10 i. V.mit Art. 87 VO 726/20048.

Für die Zulassung genetisch veränderter Lebensmittel oderFuttermittel, also Lebens- oder Futtermittel, die GVO ent-halten, aus ihnen bestehen oder daraus hergestellt wur-den, ohne selbst GVO zu enthalten9, wurde ein gemischtnational-gemeinschaftliches Zulassungsverfahren durch dieVO 1829/2003 eingeführt. Die Zuständigkeit für die Ge-nehmigung oder ihre Ablehnung wurde grundsätzlich beider Kommission verortet, Art. 7 VO 1829/2003; die na-tionalen Behörden sind nur für die Entgegennahme desAntrags und eine Erstbewertung zuständig, Artt. 5 und 6

2) So die ArzneimittelVO 2309/93. Die NachfolgeVO 726/2004wurde auf Artt. 95 und 152 IV b EGV gestützt.

3) Dazu bereits Schaub, Biotechnologie in der Rechtsordnung der EU,in: Gesellschaft für Rechtspolitik (Hrsg.), Bitburger Gespräche –Jahrbuch 1994, 1994, S. 61, 64 ff.

4) ABl.EG 2001, Nr. L 106/1.5) Vgl. Art. 5 Abs. 5 a. E. VO 1829/2003; Art. 6 Abs. 2 a. E. der VO

726/2004.6) Näher Huber, Recht der europäischen Integration, 2. Aufl.

2002, S. 322 ff., Rdnrn. 5 f.; Streinz, Europarecht, 6. Aufl. 2003,Rdnr. 466.

7) S. die VO 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahrenfür die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tier-arzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, ABl.EG 2004, Nr. L136/1, und die VO 1829/2003 übergentechnisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl.EG2003, Nr. L 268/1. Dazu Blattner, Europäisches Produktzulassungs-verfahren, 2003; Wagner, Europäisches Zulassungssystem für Arznei-mittel und Parallelhandel, 2000, S. 169 ff.

8) S. auch Streinz/Ritter, Arzneimittelrecht, in: Dauses (Hrsg.), Hand-buch des EU-Wirtschaftsrechts, C. V., Rdnr. 52.

9) Vgl. Begründungserwägung 3 der VO 1829/2003.

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VO 1829/2003. Die Entscheidung wird im Regelungsaus-schussverfahren nach Art. 35 II VO 1829/2003 getroffen.

In der Freisetzungsrichtlinie ist das Zulassungsverfahrennicht im selben Maße zentralisiert, doch hat die Kommis-sion hier immer noch einen erheblichen Einfluss: Die Frei-setzungsrichtlinie sieht einen mehrstufigen Verfahrensablaufvor, der nach einer nationalen Verfahrenseinleitung zu ei-nem Übergang der Entscheidungskompetenz auf die EGführen kann. Anders als etwa die Systemrichtlinie 90/219,die nur gegenseitige Informationspflichten der Mitglied-staaten statuiert, sieht die Freisetzungsrichtlinie 2001/18ein EG-Verfahren zum Informationsaustausch, aber darüberhinausgehend ein Verfahren zur Beteiligung der anderenMitgliedstaaten in allen Genehmigungsverfahren vor (Art. 11Freisetzungsrichtlinie). Das ist angezeigt, da durch die Frei-setzung und v. a. dann durch das Inverkehrbringen der GVOdie GVOs das geschlossene System verlassen und die In-teressen anderer Mitgliedstaaten betroffen werden können.Konsequenterweise ist daher die Mitwirkung der anderenMitgliedstaaten beim Inverkehrbringen intensiver10. Die Zu-lassung für das Inverkehrbringen gentechnisch veränderterOrganismen als Produkte oder in Produkten ist bei dennationalen Stellen zu beantragen11; daran schließt sich je-doch ein Konsultationsverfahren mit den anderen Mitglied-staaten und der Kommission12. Erheben die Behörden an-derer Mitgliedstaaten oder die Kommission Einwände ge-gen eine beabsichtigte Genehmigung des Inverkehrbringensund behalten sie diese bei (die Richtlinie sieht eine Er-örterung offener Fragen in Art. 15 I 3 vor und ermög-licht damit eine Beilegung von Differenzen13), so findetein Gemeinschaftsverfahren statt (Art. 18 Richtlinie). DieEntscheidung wird dann auf europäischer Ebene im Re-gelungsverfahren gemäß dem Komitologiebeschluss unterBeteiligung eines Ausschusses aus Vertretern der Mitglied-staaten getroffen (Art. 30 Richtlinie)14. Die Kommissionund u. U. der Rat sind damit zur bindenden15 Entscheidungberufen16. Leider legt die Richtlinie keine Kriterien dafürfest, wann die Kommission von ihrer EinspruchsmöglichkeitGebrauch machen darf. Sie kann daher ohne Einschrän-kungen begründete Einwände gegen die Verkehrsfähigkeiterheben17 und dadurch die Zuständigkeit auf die EG-Ebeneüberleiten; sie ist nicht darauf beschränkt, spezifisch euro-päische Interessen geltend machen zu müssen18. Die Ent-scheidung auf europäischer Ebene entfaltet keine unmittel-bare Außenwirkung gegenüber dem Anmelder; vielmehrmuss die verfahrensbeendende Entscheidung diesem ge-genüber von der zuständigen nationalen Behörde erlassenwerden (Art. 18 II Richtlinie)19. Formal bleibt es damitbeim indirekten Vollzug, da gegenüber dem Anmelder stetsnur die nationale Behörde handelt. Inhaltlich wird derenEntscheidung aber im Gemeinschaftsverfahren bestimmendvorgeprägt.

Die Hochzonung des Verwaltungsvollzugs ist nicht un-problematisch. Zwar führt die Einbeziehung der anderenMitgliedstaaten und der Kommission in die Entscheidungs-findung dazu, dass die Entscheidung auf eine breite Basisgestellt wird und daher das zugelassene Produkt im gesamtenBinnenmarkt verkehrsfähig ist (s. Artt. 19, 22 Freisetzungs-richtlinie20, Art. 13 Arzneimittelverordnung 729/2004 undArt. 7 Abs. 5 Lebens- und Futtermittelverordnung 1829/2003). Ferner wird die Einheitlichkeit der Anwendung derrechtlichen Kriterien gesichert. Das könnte grundsätzlichdie Vergemeinschaftung des dezentralen Vollzugs in beson-ders sensiblen Materien rechtfertigen.

Dennoch ist diese Hochzonung kritisch zu sehen. Zumeinen stellt sich beim rein zentralen Vollzug, aber auch beiden mehrstufigen vergemeinschafteten Verwaltungsverfah-ren die Frage nach der Kompetenzgrundlage für die Ver-waltungsfunktion der EG-Kommission, gerade auch ange-sichts der unklaren Kriterien für einen zuständigkeitsüber-

leitenden Einspruch durch die Kommission im Rahmender Freisetzungsrichtlinie. Schließlich ließen sich die durchdie Vergemeinschaftung der Zulassungsverfahren erzieltenVorteile für die Verkehrsfähigkeit der Produkte auch durcheine gegenseitige Anerkennung nationaler Verwaltungsent-scheidungen erreichen. Andererseits begründen die mehr-stufigen vergemeinschafteten Verwaltungsverfahren, die ersteinmal bei einer nationalen Stelle beginnen, die Möglich-keit zum forum shopping. Bei ablehnender Erstprüfung ei-nes Antrags auf Inverkehrbringen von GVO durch einenMitgliedstaat kann die Zulassung bei einem anderen ver-sucht werden21, da die Ablehnung dann die Entscheidungeiner anderen Behörde nicht präjudiziert22. Problematischinfolge der Einbeziehung der EG-Ebene in den Vollzuggestaltet sich schließlich auch der Rechtsschutz. Die ge-

10) Bei der Freisetzung ist sie beschränkt auf Beteiligung zu Informa-tion, verbunden mit der Möglichkeit zu rechtlich unverbindlichenStellungnahmen. Über die Freisetzung wird damit rein nationalentschieden. Näher Mesenburg, Erosion staatlicher Vollzugsbefug-nisse im Gentechnikrecht, 2003, S. 130 ff., 143.

11) Die Zuständigkeit bestimmt sich dabei nach dem Ort des erstenInverkehrbringens (Art. 13 Richtlinie).

12) Eine Konsultation ist nach der Richtlinie 2001/18 anders als frü-her unter Richtlinie 90/220 auch vorgesehen für den Fall einerbeabsichtigten Ablehnung, vgl. Art. 14 Abs. 2 Unterabs. 2.

13) Erfolgt eine Einigung, dann darf die nationale Behörde davon inihrer abschließenden Entscheidung nicht abweichen; das Mitspra-cherecht der Kommission und der anderen Behörden ändert abernichts am nationalen Charakter der Entscheidung.

14) Zur Rolle der Komitologieausschüsse beim Vollzug des EG-RechtsDemmke/Haibach, DÖV 1997, 710, 715 ff.

15) EuGH, Rs. C-6/99, Slg. 2000, I-1651, Rdnrn. 47, 55 – Greenpe-ace France (zur Vorläufer-Richtlinie 90/220); Mesenburg (Fn. 10),S. 155 f. Kritisch zur Begründung des EuGH Heselhaus, Indivi-dualrechtsschutz in Genehmigungsverfahren der EG im Recht derBiotechnologie, in: Nowak/Cremer (Hrsg.), Individualrechtsschutzin der EG und der WTO, 2002, S. 110 f., der die Bindung aberauch bejaht, ebd. S. 115.

16) Schmidt=Aßmann/Ladenburger, Umweltverfahrensrecht, in: Renge-ling (Hrsg.), Europäisches und deutsches Umweltrecht, 2. Aufl.2003, Bd. I, § 18, Rdnrn. 69, 88.

17) Als Einwände sind denkbar etwa Gefährdungen für Mensch oderUmwelt, ferner sozio-ökonomische und ethische Gründe, Herde-gen/Dederer, EG-Recht, Erläuterung zu Richtlinie 2001/18, unterVIII.3., S. 50, in: Herdegen (Hrsg.), IP GenTR, Bd. 1.

18) Kritisch zu den immensen Einflussmöglichkeiten der Kommissionauch Mesenburg (Fn. 10), S. 145, dortige Fn. 567.

19) S. auch Caspar, DVBl. 2002, 1437, 1438.20) Herdegen/Dederer (Fn. 17), unter VIII 3 und 5., S. 51, 54 f. Sie

gehen dabei vom Vorliegen eines transnationalen Verwaltungsaktsaus; so auch Heselhaus (Fn. 15), S. 109. Da jedoch schon dasVerfahren zum Erlass der Zulassung durch Einbezug der euro-päischen Ebene vergemeinschaftet ist, handelt es sich nicht umeine rein auf nationaler Ebene erlassene und mit transnationa-ler Wirkung ausgestattete Verwaltungsentscheidung. Die Zulassungnach der Richtlinie 2001/18 sollte daher vom transnationalen Ver-waltungsakt unterschieden und als mehrstufiger gemeinschaftlicherVerwaltungsakt bezeichnet werden, vgl. Caspar, DVBl. 2002, 1437,1438 f.; Lienhard, NuR 2002, 13, 16. Letzterer ist nationaler Ver-waltungsakt, zumindest solange die außenwirksame abschließendeEntscheidung von der nationalen Stelle erlassen wird. Ein Bei-spiel für einen auf EG-Recht zurückzuführenden transnationalenVerwaltungsakt wäre die Zulassung herkömmlicher Arzneimittelim dezentralen Verfahren ohne Einbeziehung europäischer Stel-len; diese Zulassungsentscheidungen unterliegen einer gegenseiti-gen Anerkennung und entfalten daher transnationale Wirkungen.Dazu Herdegen/Spranger, EG-Recht, Erläuterung zu VO 2309/93,Rdnr. 2, in: Herdegen (Hrsg.), IP GenTR, Bd. 1. Zum transnatio-nalen Verwaltungsakt Ruffert, Die Verwaltung 2001, 453.

21) Mesenburg (Fn. 10), S. 148. Von v. Kameke, GemeinschaftlichesGentechnikrecht: Die Freisetzungsrichtlinie 90/220/EWG, 1995,S. 81, als Genehmigungstourismus bezeichnet. A. A. Heselhaus(Fn. 15), S. 109.

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mischte Zuständigkeit von EG und Mitgliedstaaten kann fürden Bürger Rechtsschutzdefizite herbeiführen. Die Rechts-schutzmöglichkeiten nach nationalem und nach EG-Rechtbedürfen der besseren Abstimmung, der Individualrechts-schutz nach EG-Recht einer Verbesserung23. Zur Klärungvon Haftungsverantwortlichkeiten ist auch eine eindeutigeVerantwortungszurechnung nötig.

II. Neue Impulse durch die künftige EU-Verfassung

Die künftige Verfassung bringt Veränderungen in der Kom-petenzordnung mit sich. Ferner findet sich erstmals ein ver-bindlicher expliziter Grundrechtskatalog. Auch die Ziele derUnion werden teilweise neu formuliert. Alle diese Verän-derungen in der künftigen Verfassung könnten sich künftigauch auf den gemeinschaftsrechtlichen Rahmen für die Bio-technologie auswirken. Den Veränderungen wird nachfol-gend für die Ziele, die Rechtsetzungs- und Vollzugskompe-tenzen und für die Grundrechte als Kompetenzausübungs-schranken nachgegangen werden.

1. Der Raum der Forschung als neues Ziel der EUIn Art. III-248 Abs. 1 EUVV wird – neben einem Raumder Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – für die künf-tige EU dann – anders als im bisherigen Art. 163 EGV –auch die Gestaltung eines europäischen Raumes der For-schung als Ziel vorgegeben; dieses Ziel ist zwar in der zen-tralen Zielnorm des Art. I-3 EUVV nicht genannt, sondernbegegnet dort nur als Förderung des wissenschaftlichen undtechnischen Fortschritts. Das ändert indes nichts an sei-ner Verbindlichkeit. Der europäische Raum der Forschungschließt nach Art. III-248 EUVV ausdrücklich den freienAustausch wissenschaftlicher Erkenntnisse und Technolo-gien ein. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses Ziel dieAuslegung der Biopatentrichtlinie wird beeinflussen kön-nen. Zunächst wäre denkbar, dass dadurch die Patentier-barkeit wissenschaftlicher Erfindungen eingeschränkt wer-den könnte. Der europäische Raum der Forschung mitseinem freien Austausch von wissenschaftlichen Erkennt-nissen und Technologien könnte mit herangezogen wer-den, um die Grenzen der Patentierbarkeit gemäß der ordrepublic-Klausel des Art. 6 Biopatentrichtlinie auszufüllen24

oder aber gesteigerte Anforderungen an die Patentierungetwa von DNA-Sequenzen zu formulieren. Es wurden Be-denken geäußert, die Biopatentrichtlinie könne die For-schung blockieren25. Vorzugswürdig ist aber, in Art. III-248Abs. 1 EUVV eine Bestätigung des Forschungsprivilegs imPatentschutz26 zu sehen, das in der Biopatentrichtlinie fehlt,aber dringender Klarstellung hinsichtlich seiner Grenzenbedürfte27.

2. RechtsetzungskompetenzenHinsichtlich der Rechtsetzungskompetenzen ist zunächstfestzuhalten, dass die bisherigen einschlägigen Rechtsgrund-lagen der EG für ihre biotechnologischen Regelwerke ausdem Bereich Agrarrecht, Gesundheits- und Umweltschutzund Binnenmarktharmonisierung weiterhin in der EU-Ver-fassung nahezu unverändert fortbestehen werden, s. Art. I-18 (= Art. 308 EGV), Art. III-172 (= Art. 95 EGV),Art. III-231 (= Art. 37 EGV), Art. II-234 (= Art. 175EGV) und Art. III-278 (früher Art. 152 EGV) als geteilteKompetenz nach Art. I-14 Abs. 2 lit. k. Die Biotechnologiefindet sich nach wie vor nirgendwo ausdrücklich erwähnt.Allerdings wurde – wie gesehen – die Förderung des wis-senschaftlichen und technischen Fortschritts als neues Zielder EU erstmals in Art. I-3 Abs. 3 EUVV verankert.

Darüber hinaus wird der Art. 152 EGV für den Bereichdes Gesundheitswesens angereichert durch einige Ergänzun-gen, die der EG ausdrücklich neue Harmonisierungskom-

petenzen gewähren und die auch von Relevanz für die Bio-technologie sind. So sieht Art. III-278 Abs. 4 lit. c EUVVkünftig Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- undSicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinproduktevor, ferner (korrespondierend zu Art. III-278 Abs. 1 lit. bEUVV) in lit. d Maßnahmen zur Beobachtung, frühzei-tigen Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenz-überschreitender Gesundheitsgefahren. (Diese Novellierun-gen wurden erst durch die Regierungskonferenz eingefügtund waren im Entwurf des Konvents noch nicht vorhan-den.) Die beiden neuen Kompetenzen dienen der weiterenKonkretisierung der Vergemeinschaftung der gemeinsamenSicherheitsinteressen im Gesundheitsbereich nach Art. I-14Abs. 2 lit. k EUVV und können gerade auch Maßnahmenim Bereich der Biotechnologie legitimieren. Sie beziehensich – wie bisher – nicht nur auf Unterstützungs- oderErgänzungsmaßnahmen, sondern lassen gerade die Harmo-nisierung nationaler Rechtsbestimmungen zu (Art. III-278Abs. 4 ordnet eine Abweichung von Art. I-17 lit. a undArt. I-12 Abs. 5 EUVV an; dadurch soll klargestellt wer-den, dass es hier nicht nur um eine Koordinierungs- undUnterstützungskompetenz geht, sondern um eine geteilteZuständigkeit28).

Die Zuständigkeiten der EG im Bereich technischer In-novation wurden somit mit dem EUVV ausgeweitet, diebisherigen einschlägigen Rechtsetzungskompetenzen wei-tergeführt und im Hinblick auf Gefahren für Sicherheitund Gesundheit angereichert. Damit ist der Weg geebnetfür die weitere intensive gemeinschaftsrechtliche Begleitungder Biotechnologie.

3. Verwaltungs-/VollzugskompetenzenDer Grundsatz des mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzugsdes EU-Rechts, wie er bisher schon verankert war29, wurdeim EUVV bekräftigt. So lässt er sich nicht mehr nur imUmkehrschluss aus der fehlenden Anordnung einer allge-meinen Verwaltungskompetenz der EU (vgl. zum Prin-zip der begrenzten Einzelermächtigung künftig Art. I-11Abs. 1 EUVV) gewinnen. Vielmehr werden die Mitglied-

22) Über die Ablehnung des Inverkehrbringens entscheidet die na-tionale Behörde letztverbindlich. Vgl. Erwägungsgrund 38 undArt. 14 Abs. 2 Spiegelstrich 1 der Freisetzungsrichtlinie 2001/18(letzteres für den Fall der Rücknahme des Antrags). Ferner Mesen-burg (Fn. 10), S. 148.

23) Erinnert sei hier nur an die sehr eingeschränkte Klagebefugnissog. nicht-privilegierter Kläger im Rahmen der Nichtigkeitsklagegegen EG-Rechtsakte.

24) Zu den Schranken der ,,öffentlichen Ordnung“ und der ,,gu-ten Sitten“ im Europäischen Patentübereinkommen vgl. Laus-mann=Murr, Schranken für die Patentierung der Gene des Men-schen, 2000.

25) Calliess/Meiser, JuS 2002, 426, 426.26) Vgl. Art. 27 lit. b des Gemeinschaftspatent-Übereinkommens und

Art. 9 lit. b Entwurf GemeinschaftspatentVO. Dazu näher etwaHolzapfel Das Versuchsprivileg im Patentrecht und der Schutzbiotechnologischer Forschungswerkzeuge, 2004, S. 53 ff.; Strauss,GRUR 1998, 314, 318. S. jetzt auch Art. 10 Abs. 6 der Humanarz-neimittelkodex-Richtlinie 2001/83 i. d. F. der Richtlinie 2004/27(ABl.EG 2004, Nr. L 136/34), die bis zum 30. 10. 2005 umzu-setzen ist.

27) Vgl. Gold/Gallochat, The European Biotech Directive, ELJ 2001,331, 357; ferner für Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2001/83 inneuer Fassung (s. oben, Fn. 26) Epping/Gertsberger, PharmR 2003,257, 264 f.

28) Vgl. die Erläuterung im Dokument CIG 4/03 der Regierungs-konferenz, S. 335.

29) S. die Erklärung Nr. 43, die die Konferenz der Vertreter derMitgliedstaaten in ihrer Schlußakte zum Vertrag von Amsterdamangenommen hat; Text wiedergegeben etwa bei Danwitz, DVBl.1998, 431.

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462 MedR 2005, Heft 8 Weiß, EU-Verfassungsvertrag und Biotechnologie

staaten in Art I-37 Abs. 1 EUVV zur effektiven Durch-führung des Unionsrechts verpflichtet. Art. II-111 EUVVnennt das Prinzip der Durchführung des EU-Rechts durchdie Mitgliedstaaten zur Klärung des Anwendungsbereichesder Grundrechte. Art. III-285 EUVV bezeichnet die effek-tive Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaa-ten als entscheidend für die ordnungsgemäße Funktion derUnion.

Allerdings ist nunmehr in Art. I-37 Abs. 2 EUVVausdrücklich die sekundärrechtliche Übertragbarkeit vonDurchführungsbefugnissen an die Kommission und aus-nahmsweise den Rat vorgesehen, wenn die Einheitlichkeitder Durchführung des Gemeinschaftsrechts dessen bedarf.Diese Durchführungsmaßnahmen beziehen sich – wie bis-her bei Art. 202 Spiegelstrich 3 EGV30 – auf Einzelfallent-scheidungen und auf Durchführungsrechtsakte. Durchfüh-rungsmaßnahmen gemäß Art. I-37 EUVV sind EuropäischeVerordnungen31 und Beschlüsse, also allgemeine Geltungentfaltende Maßnahmen und Einzelfallentscheidungen (vgl.Art. I-33 Abs. 1 EUVV); das verdeutlichen Art. I-37 Abs. 4und Art. I-35 EUVV. Die stärkere Beteiligung der Kom-mission bei der Durchführung des Unionsrechts gebietetsomit nicht zwingend, dass die Kommission Einzelfallent-scheidungen trifft.

Dennoch werden damit die bisherigen Möglichkeiten zurDurchführungsdelegation nach Art. 202 EGV aufgegriffenund in allgemeiner Weise ausgeweitet, da die einschrän-kende Formulierung des Art. 202 EGV (,,nach Maßgabedieses Vertrags“) künftig fehlt, die dafür sorgte, dass derRat nicht unter Rückgriff auf Art. 202 EGV der EG neueKompetenzen im Vollzug des Gemeinschaftsrechts zubilli-gen konnte32. Hinzu kommt, dass die Exekutivfunktion derKommission nunmehr in neuer Weise explizit in Art. I-26 EUVV (allerdings ,,nach Maßgabe der Verfassung“) be-tont wird. Damit scheinen die Grundlagen gelegt zu sein,dass die Kommission eine stärkere Rolle beim Verwal-tungsvollzug einnimmt. Die derzeit durchaus bedenklichenVergemeinschaftungen des Verwaltungsvollzugs insbesonderedurch die Schaffung zentralisierter Zulassungsverfahren beieuropäischen Stellen werden daher wohl künftig nicht mehrin gleicher Weise wie derzeit kompetenziellen Bedenkenbegegnen. Die letzte Grenze dürfte dort verlaufen, wo derauch im EUVV betonte Grundsatz des mitgliedstaatlichenVollzugs gänzlich aufgehoben würde.

Es bleiben aber Herausforderungen für den Rechtsschutzbestehen, da auch die künftige Verfassung die Klagemög-lichkeiten einzelner gegen Rechtsakte der EG grundsätz-lich vom Vorliegen einer unmittelbaren und individuel-len Betroffenheit abhängig macht, vgl. Art. III-365 Abs. 4EUVV33. Allerdings ist für Rechtsakte mit Verordnungscha-rakter, also gerade und auch für Durchführungsmaßnahmen,nur noch die unmittelbare Betroffenheit nötig, so dass inso-weit eine gewisse Erleichterung der Direktklagemöglichkeiteingeführt wird. Die genaue Auslegung und Handhabungdieser Bestimmung bleibt aber abzuwarten. Außerdem sinddie Mitgliedstaaten ausdrücklich aufgefordert, die erforder-lichen Rechtsbehelfe zum wirksamen Rechtsschutz zu ge-währleisten, so Art. I-29 Abs. 1 UAbs. 2 EUVV. Rege-lungen für eine Verantwortungszurechnung im gemischtenVerwaltungsvollzug bringt der EUVV ebenso wenig.

4. Grundrechte als Kompetenzausübungsschranken

Die künftige EU-Verfassung wird die Grundrechtecharta alsTeil II der Verfassung übernehmen. Grundrechte erweiternnicht nur gemäß Art. II-111 Abs. 2 EUVV nicht die Auf-gaben oder Zuständigkeiten der EU, sondern entfalten da-rüber hinaus infolge ihrer unmittelbaren Bindungswirkungfür die EU auch noch einschränkende Wirkungen, die etwafür den Inhalt von Sekundärrechtsakten negative Vorgaben

mit sich bringen. Die Grundrechte sind insoweit negativeAufgabennormen.

Von Relevanz für die Biotechnologie ist insbesonderedie Menschenwürde, die nunmehr in Art. II-61 EUVV(= Art. 1 der Grundrechtecharta) verankert wurde, aberbereits jetzt als allgemeiner Rechtsgrundsatz des EG-Rechtsgemäß Art. 6 Abs. 2 EUV gilt34. Wesentlich wichtiger ist in-des Art. II-63 Abs. 2 EUVV, der im Rahmen des Rechtesauf körperliche Unversehrtheit (und überraschenderweisenicht im Rahmen des Bekenntnisses zur Menschenwürde)für medizinische und biologische Maßnahmen drei Verboteund ein Gebot zur Beachtung aufgibt. Konkret geht esum die Respektierung der Selbstbestimmung des Patien-ten durch das Erfordernis der Zustimmung zu einer ärzt-lichen Behandlung (1. Spiegelstrich) und um das Verboteugenischer Praktiken, das Verbot des reproduktiven Klo-nens von Menschen und das Kommerzialisierungsverbot,den menschlichen Körper oder Teile davon als solche zurGewinnerzielung zu nutzen (2.–4. Spiegelstrich). Diese Ge-und Verbote entfalten Mindestdirektiven für die Regulie-rung der Biotechnologie, sind nicht abschließend (,,insbe-sondere“), aber unhintergehbar, d. h. sie unterliegen keiner-lei Einschränkungen und Ausnahmen (,,muss ... beachtetwerden“). Der allgemeine Gesetzesvorbehalt nach Art. II-112 Abs. 1 EUVV begründet keine Einschränkungen, dadiese Ge- und Verbote gerade grundlegende Wesensgehalts-garantien darstellen35. Die Vorgaben des Art. II-63 Abs. 2EUVV sind außerdem relevant als Maßstäbe für die For-schungsförderung der EU36, wie sich bereits jetzt zeigt37;die Forschungsfreiheit nach Art. II-73 EUVV wird dadurcheingeschränkt38. Ferner dürfen die Mitgliedstaaten darüberhinausgehen und stärkere Schutzstandards in ihren Verfas-sungen verankern, Art II-113 EUVV.

Nach Art. II-63 Abs. 2 EUVV dürfen Biopatente nichtfür Zwecke des reproduktiven Klonens oder für Teile desmenschlichen Körpers als solche erteilt werden39. Die Se-kundärrechtsakte zu GVO dürfen nicht dazu führen, dass

30) Er sieht die Ermächtigung der Kommission zu Durchführungs-befugnissen vor. Darunter fallen sowohl Ausführungsrechtsakte(Durchführungsverordnungen) als auch Einzelfallentscheidungen,Hummer/Obwexer, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 202, Rdnr. 33.

31) Die Europäischen Verordnungen werden ausdrücklich als Durch-führungsakte angesehen (Art. I-33 Abs. 1 UAbs. 4 EUVV).

32) Vgl. Hummer/Obwexer (Fn. 30), Rdnrn. 17–19. Eine Rechts-grundlage ist Art. 202 Spiegelstrich 3 EGV nur für die Komi-tologiebeschlüsse, da die Festlegung von Modalitäten für die Be-fugnisausübung in Art. 202 EGV explizit vorgesehen ist.

33) Dazu näher Cremer, EuGRZ 2004, 577.34) EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 = EuZW 2001, 691,

Rdnr. 70 – Biopatentrichtlinie. Dass der EuGH dort Menschen-würde als ein subjektives Recht ansieht, wird aus den anderenSprachfassungen deutlich; dazu näher Rengeling/Szczekalla, Grund-rechtsschutz, 2004, Rdnr. 569. Allerdings scheint der EuGH späterin Rs. C-36/02, Urt. v. 14. 10. 2004, Rdnrn. 34 f. – Omega Spiel-hallen, zwischen der Menschenwürde als allgemeinem Rechts-grundsatz des Gemeinschaftsrechts und als selbständigem Grund-recht zu differenzieren.

35) A. A. Dujmovits, RdM 2001, 72, 78. Differenzierend Rengeling/Szczekalla (Fn. 34), Rdnr. 618, die eine Rechtfertigung bei weiterAuslegung der Verbote für denkbar erachten.

36) So auch Streinz, in: ders. (Hrsg.) (Fn. 30), Art. 3 GR-Charta,Rdnr. 5.

37) Im Rahmen des 6. Forschungsrahmenprogramms der EU (2002–2006), ABl.EG 2002, Nr. L 232/1, ist eine Negativliste unterBezugnahme auf die Grundrechtecharta enthalten. In der Stamm-zellforschungsentscheidung, ABl.EG 2002 Nr. L 294/1, sind inArt. 6 Abs. 3 konkrete Leitlinien hierzu enthalten. Für die For-schung an Embryos und embryonalen Stammzellen werden Gel-der nur im Regelungsausschussverfahren bewilligt; insoweit bestehtderzeit ein Moratorium. Dazu näher Rengeling/Szczekalla (Fn. 34),Rdnr. 570 bei und in dortiger Fn. 118.

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Weiß, EU-Verfassungsvertrag und Biotechnologie MedR 2005, Heft 8 463

damit der Boden für diese von den EU-Grundrechten ver-botenen Maßnahmen bereitet wird. So könnte das Ver-bot eugenischer Praktiken dahingehend relevant werden,dass die Keimbahntherapie zu untersagen ist und dass Gen-tests nicht für versicherungstechnische Zwecke40, nicht fürAbtreibungen und Zwecke der Präimplantationsdiagnostik(PID) verwendet werden dürfen, die durchaus zweckorien-tierte Selektion darstellen41. Die Schutzpflicht aus der Men-schenwürde nach Art. II-61 EUVV könnte die EU ver-pflichten, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten diesbezüglicheRegelungen zu erlassen. Allerdings wird davon ausgegan-gen, dass infolge der Entstehungsgeschichte und des Hin-weises in den Erläuterungen des Konvents auf die Hand-lungen, wie sie im Statut des römischen Strafgerichtshofunter Strafe gestellt sind, nur eugenische Praktiken ab ei-ner gewissen Schwelle und als hoheitlich verordnete odergeduldete Zwangsmaßnahmen untersagt sind, während pri-vate Maßnahmen davon nicht erfasst sein sollen42. Da-her sei zu Fragen der PID oder der eugenischen Indika-tion für Schwangerschaftsabbrüche aus dem Eugenikver-bot nichts zu gewinnen, da es dabei um private Eugenikgehe43. Zwingend vorgegeben wird eine solch einschrän-kende Auslegung aber weder vom Wortlaut des Art. II-63Abs. 2 EUVV noch von den diesbezüglichen Erläuterun-gen. Eine Erheblichkeitsschwelle ist in den Erläuterungennicht zu finden. Ohnehin fordern die Erläuterungen keinezwingende Beachtung, sondern sind bei der Auslegung nurgebührend zu berücksichtigen (vgl. Präambel zu Teil IIund Art. II-112 Abs. 7 EUVV)44. Da die Entstehungsge-schichte von Normen bislang im EG-Recht für ihre Aus-legung durch den EuGH kaum eine Rolle spielte, kannman nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass das künftiganders sein wird.

Das ausdrückliche Verbot des reproduktiven Klonens lässtdas therapeutische Klonen oder das Klonen zu wissenschaft-lichen Zwecken (etwa zur Herstellung embryonaler Stamm-zellen) unberührt. Dazu enthält sich der EUVV jeder Aus-sage. Es liegt somit am Sekundärrecht oder an den Mitglied-staaten, dieses zu verbieten, wie etwa in Deutschland, odereingeschränkt zu erlauben, wie etwa in Großbritannien45.Die Maßgaben, die Art. II-63 Abs. 2 EUVV für die künftigeSekundärrechtssetzung zur Biotechnologie mit sich brin-gen wird, bleiben angesichts der Auslegungsfähigkeit und-bedürftigkeit des Art. II-63 Abs. 2 EUVV abzuwarten.Daran ändern auch die Standards der einschlägigen Euro-paratsübereinkommen (Bioethikkonvention und ihr ErstesZusatzprotokoll zum Klonverbot), auf die die Erläuterun-gen zur Grundrechtecharta verweisen46, nur wenig, da auchdie Vorgaben der Übereinkommen in manchen Aspekten –letztlich aufgrund eines Dissenses über zentrale Inhalte –unklar und auslegungsfähig sind47. Der EuGH wird hierMaßstäbe entwickeln müssen. Weiterhin lassen die Vorga-ben des Art. II-63 Abs. 2 EUVV zentrale Fragen wie dienach dem Beginn des menschlichen Lebens und dem Schutzdes Embryos und der Verwendbarkeit von Stammzellen48

letztlich offen. Die neue Richtlinie über Qualitäts- undSicherheitsstandards für die Beschaffung und Verwendungvon menschlichen Geweben und Zellen (sog. Gewebericht-linie) verhält sich im Einklang damit neutral und will Ent-scheidungen der Mitgliedstaaten über die Verwendung oderNichtverwendung spezifischer Arten menschlicher Zellen,einschließlich Keimzellen und embryonaler Stammzellen,nicht beeinträchtigen49. Dem Verbot des reproduktiven Klo-nens kann man insoweit nur den Hinweis entnehmen, dassauch der Embryo in einem bestimmten Maße geschütztwird50. Art. 18 der Bioethikkonvention, die wegen der Ver-weisung in den Erläuterungen relevant ist, verlangt nur an-gemessenen Schutz des Embryos in vitro und verbietet dieSchaffung von Embryos nur zu Forschungszwecken. KeinArgument für den Schutz ungeborenen Lebens lässt sich

aus dem Begriffswechsel vom Schutz der Person in Artt. 2und 3 Grundrechtecharta zum Schutz des ,,Menschen“ (soArtt. II-62, 63 EUVV) gewinnen, da dieser Terminologie-wechsel sich nur in der deutschen Übersetzung findet, nichtaber im englischen oder französischen Text. Dort steht stattPerson/Mensch sowohl in der Grundrechtecharta als auchim EUVV ,,everyone“ bzw. ,,toute personne“, in Über-einstimmung mit der Terminologie in Art. 2 EMRK. Fürdiese Begrifflichkeit (in der deutschen Fassung ,,Mensch“)ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte biszuletzt offen gelassen worden, ob sie nur den geborenenMenschen umfasst51. Eine Entscheidung zur EMRK müssteohnehin nicht zwingend vom EuGH übernommen wer-

38) Vgl. die Verweisung auf Art. 1 (II-61 EUVV) in den Erläuterun-gen zu Art. II-73 EUVV. Damit sind die Mindestgarantien desArt. II-63 Abs. 2 EUVV mitgemeint, da sich dessen drei Ver-bote letztlich – entgegen der Stellung im Grundrechtsteil – ausder Menschenwürde und nicht aus der körperlichen Unversehrt-heit ergeben. Zum Schutz der Menschenwürde als Fundament desRechts auf Leben und Unversehrtheit vgl. die Erläuterung desKonvents zu Art. II-61 EUVV, wo die Menschenwürde als das ei-gentliche Fundament der Grundrechte erkannt wird, und Schmidt,ZeuS 2002, 631.

39) Die Biopatentrichtlinie schließt in Art. 6 Abs. 2 Verfahren zumKlonen von Menschen generell von der Patentierbarkeit aus. Dasist nun für das reproduktive Klonen primärrechtlich festgeschriebenund unveränderbar.

40) Zu den Rechtsfragen eines Zugriffs von Versicherungen auf Gen-daten Damm, MedR 2004, 1, 15 f.; rechtsvergleichend Simon, Gen-diagnostik und Versicherung, 2001.

41) Vgl. auch Art. 12 Convention on Human Rights and Biomedicine(ETS 164): ,,Tests which are predictive of genetic diseases or whichserve either to identify the subject as a carrier of a gene responsiblefor a disease or to detect a genetic predisposition or susceptibility toa disease may be performed only for health purposes or for scien-tific research linked to health purposes, and subject to appropriategenetic counselling.“ Des weiteren untersagt Art. 13 Interventio-nen wie die Keimbahntherapie, die zu dauerhaften Veränderungendes Erbguts führen. Demgegenüber will v. Bubnoff, ZeuS 2001,165, 192, den Europaratsübereinkommen keine eindeutigen Hin-weise zur PID entnehmen.

42) Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grund-rechte, 2003, Art. 3, Rdnr. 44.

43) Dujmovits, RdM 2001, 72, 77.44) Dazu Dorf, JZ 2005, 126, 130.45) V. Bubnoff, ZeuS 2001, 165, 191.46) ETS 164 – Convention on Human Rights and Biomedicine, v.

4. 4. 1997 und ETS 168 – Convention on Human Rights and Bio-medicine (Additional Protocol) on the Prohibition of Cloning ofHuman Beings, v. 12. 1. 1998. Einschlägig sind hier insbesonderefür Art. II-63 Abs. 2 Spiegelstrich 1 Art. 5, für den 2. SpiegelstrichArt. 12, für den 3. Spiegelstrich Art. 21 der Konvention und fürArt. II-63 Abs. 2 Spiegelstrich 4 EUVV die Artt. 1 und 2 des 1.Zusatzprotokolls.

47) Vgl. etwa Riedel, Die Menschenrechtskonvention zur Biomedizindes Europarats, in: Taupitz (Hrsg.), Das Menschenrechtsüberein-kommen zur Biomedizin des Europarates, 2002, S. 34 f.

48) Die Regel in Art. 18 der Convention on Human Rights andBiomedicine gebietet nur angemessenen Schutz und verbietet dieZüchtung von Embryos für Forschungszwecke.

49) So Erwägungsgrund 12 der Richtlinie 2004/23 zur Festlegungvon Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaf-fung, Testung, Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und Ver-teilung von menschlichen Geweben und Zellen, ABl.EG 2004,Nr. L 102/48. In Erwägungsgrund 22 wird die Beachtung derGrundrechtecharta betont.

50) Borowsky (Fn. 42), Art. 3, Rdnr. 42. Die soeben (Fn. 49) erwähnteRichtlinie stellt die mitgliedstaatliche Regelung der Verwendungvon Stammzellen in den Kontext der Wahrung der Grundrechte.Den Verfassungs- und Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten dürfteein gewisser Schutz des Embryos entsprechen, vgl. Rengeling/Szczekalla (Fn. 34), Rdnr. 596.

51) Entscheidung v. 8. 7. 2004 (53924/00), Tz. 84 f – Vo v. France.

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464 MedR 2005, Heft 8 Deutsch, Neues zur ärztlichen Aufklärung im Ausland

den, da die EMRK nur ein Mindeststandard ist, Art. II-112Abs. 3 S. 2 EUVV, und sich keine mit Art. II-63 EUVVvergleichbare Garantie in der EMRK findet.

Schließlich kann das Gebot der vorherigen Einwilligungdes Betroffenen nach Art. 62 Abs. 2 Spiegelstrich 1 EUVVProbleme für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Art. 4der Richtlinie 2001/2052 bereiten, der Forschungsversuchean Minderjährigen in weiterem Maße zulässt als Art. 17Abs. 2 der Bioethikkonvention. Der Konflikt zwischen derRichtlinie und der Bioethikkonvention53 wird angesichtsder Verweisung in den Erläuterungen auf die Konventionrechtlich unmittelbar virulent.

3. Fazit

Es steht zu erwarten, dass die künftige EU-Verfassung demRecht der Biotechnologie in der EU und insbesondereden primärrechtlichen Standards für das einschlägige Se-kundärrecht einige neue Impulse geben wird. Die Ver-fassung hält nicht nur die bereits bestehende Ausrichtungder Binnenmarkt-, Gesundheits- und Umweltpolitik auf ein

hohes Schutzniveau für Gesundheit und Umwelt aufrecht,das von besonderer Relevanz auch für die Biotechnologieist, sondern bringt einige Neuerungen. Die Forschungs-ausrichtung der EU wird durch das Bekenntnis zu einemeuropäischen Raum der Forschung verstärkt. Im Hinblickauf gemeinsame Sicherheitsinteressen wird die Gemeinschaftausdrücklich zur Harmonisierung der Qualität und Sicher-heit von Arzneimitteln und Medizinprodukten ermächtigt.Die Einführung europäischer, zentraler Genehmigungs- undZulassungsverfahren in sensiblen Bereichen wie der Bio-technologie wird sich künftig leichter begründen lassen.Die einschlägige Sekundärrechtssetzung der EU wird dabeidurch den künftigen Grundrechtskatalog auf die Wahrungethischer Mindeststandards verpflichtet, deren genauer In-halt indes noch entwickelt werden muss.

52) Richtlinie 2001/20/EG zur Angleichung der Rechts- und Ver-waltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung derguten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prü-fungen mit Humanarzneimitteln, ABl.EG 2001, Nr. L 121/34.

53) Näher zu dieser Divergenz Laufs, MedR 2004, 583, 589 f.

Erwin Deutsch

Neues zur ärztlichen Aufklärung im Ausland ---Englische und französische Gerichte positionieren sich neu

I. Rätsel im Bereich der ärztlichen Aufklärung

Die ärztliche Aufklärung hat häufig zu unterschiedlichenDeutungen beim Haftungsgrund, beim Haftungsumfang undbeim Beweis geführt. Fraglich ist schon, ob es sich bei derAufklärungspflichtverletzung um einen selbständigen Tat-bestand oder, jedenfalls in der Praxis, um eine Hilfskon-struktion der Haftung im Falle nicht nachgewiesenen Be-handlungsfehlers handelt. Man hat insoweit auch von einem,,Auffangtatbestand“ gesprochen1. Als Haftungsgrund wer-den von der h. M. die Körperverletzung, von der Gegen-meinung die Verletzung des Persönlichkeitsrechts genannt2.Vertragsrechtlich gesehen scheint die Aufklärung zunächsteine Nebenpflicht des Arztes im Rahmen der Behandlungzu sein. In diesem Fall wäre der Patient mit dem Beweisder Verletzung belastet. Dies ist jedoch regelmäßig dadurchumgangen worden, dass die Frage nicht scharf genug gestelltworden ist3. Auch hat die Einwilligung als Rechtfertigungim Deliktsrecht interferiert. Die eigentliche Schwierigkeitbei der Aufklärung besteht in der psychischen Komponentebeim Patienten: Wie hätte er sich im Falle der geschehenenAufklärung verhalten?

II. Die englische Gerichtsbarkeit positioniertsich neu bei der Aufklärung und der Beweislast

1. AufklärungshorizontIn einer Entscheidung aus dem Jahre 1985 hat das House ofLords in der Sache Sidaway v. Board of Governors entschie-den, dass der Arzt den Patienten über Nebenwirkungen derBehandlung aufzuklären habe. Entscheidend sei dabei derStandard des Kreises der Fachärzte. Wenn diese der Über-zeugung sind, dass der Patient aufgeklärt werden musste,

hatte dieses zu geschehen. Auf die Erwartung des Patien-ten kam es nicht an, jedenfalls nicht bis zur Grenze desMissbrauchs4. Ein Lordrichter, nämlich Lord Scarman wichvon der Mehrheit ab und verlangte unter Hinweis auf dieamerikanische Rechtsprechung5, dass der Arzt, insbesonderevor Operationen, das Recht des Patienten auf volle Unter-richtung zu wahren habe. Allerdings stimmte auch LordScarman mit der Mehrheit überein, dass die Klage abzu-weisen sei, da die Klägerin nicht habe beweisen können,dass der Arzt seine Pflicht verletzt habe. Die Operationhatte ein Risiko von ein bis zwei Prozent möglicher Ver-letzung des Spinalkanals und der Nervwurzeln. Das Risikowurde der Patientin verschwiegen, verwirklichte sich aber

Prof. Dr. iur. Dr. h.c. mult. Erwin Deutsch,Universität Göttingen, Juristische Fakultät,Goßlerstraße 19, D-37073 Göttingen

1) Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2005, § 13, Rdnr. 69; vgl. auch Franzki,Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozess, 1982, S. 120 ff.

2) Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002,§§ 63, 67. Für die Verletzung des Persönlichkeitsrechts sind eingetre-ten Wiedhölter, Arzt und Patient als Rechtsgenossen, in: Stiftung zurFörderung wissenschaftlicher Forschung über Wesen und Bedeu-tung der freien Berufe (Hrsg.), Die Aufklärungspflicht des Arztes,1962, S. 71 ff.; Laufs, NJW 1979, 1230; Hart, Autonomiesicherungim Arzthaftungsrecht, in: FS f. Heinrichs, 1998, S. 291, 308 ff.

3) Zur Einordnung der Aufklärungslast als Vertragspflicht des Arztesnach neuem Recht vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl.2003, Rdnr. 190.

4) Sidaway v. Board of Governors of the Bethlehem Royal Hospitaland the Maudsley Hospital (1985) A. C: 871.

5) Vgl. Canterbury v. Spence (1972) 464 F.2d 772.