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EUGEN FINK GESAMTAUSGABE A

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EUGEN FINK GESAMTAUSGABE A

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Eugen FinkExistenz und Coexistenz

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Eugen Fink Gesamtausgabe

Herausgegeben von Stephan Grätzel, Cathrin Nielsen undHans Rainer Seppunter Mitwirkung von Annette Hilt und Franz-Anton Schwarz

Wissenschaftlicher Beirat:Damir Barbarić (Zagreb), Rudolf Bernet (Leuven),Walter Biemel†, Ronald Bruzina (Lexington),Renato Cristin (Triest/Berlin), Natalie Depraz (Paris),Wolfhart Henckmann (München), Annette Hilt (Mainz),Guy van Kerckhoven (Brüssel), Pavel Kouba (Prag),Alfredo Marini (Mailand), Javier San Martín (Madrid),Käte Meyer-Drawe (Bochum), Yoshihiro Nitta (Tokio),Helmuth Vetter (Wien)

Abteilung IVSozialphilosophie und Pädagogik

Band 16Existenz und Coexistenz

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Eugen Fink

Existenz und CoexistenzHerausgegeben vonAnnette Hilt

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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INTERNATIONALE EUGEN FINK-FORSCHUNGSSTELLE MAINZ

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz: SatzWeise, Bad WünnenbergHerstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

ISBN 978-3-495-46307-9

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Inhalt

Haupttexte

Existenz und Coexistenz (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Traktat über die Gewalt des Menschen (1974) . . . . . . . . . . . . . 287

Ergänzende Vorlesungen (Auszüge)

Experiment der Freiheit (1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

Ontologie der Arbeit (1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515

Seminarprotokolle

Philosophische Probleme des Dialektischen Materialismus (1959) . . . . 533

Elemente der Staatsphilosophie (1960, Übung) . . . . . . . . . . . . . . 659

Seminardispositionen

Masse und Elite (1950, phil.-päd. Übung) . . . . . . . . . . . . . . . . . 695

Volkssouveränität und Technokratie (1958/59, Übung) . . . . . . . . . . 717

Das philosophische Problem des „Historischen Materialismus“(1956, Übung, Pro-Seminar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735

Ergänzende Texte

Mensch und Mitmensch in der Industriegesellschaft (1965) . . . . . . . 747

Der Bürger und der Staat (1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759

Revolution und Bewußtsein (1969) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777

Ontologische Probleme der Gemeinschaft (1953/58) . . . . . . . . . . 785

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Technik und Freiheit (1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807

Volk und Wissenschaft (1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843

Der Mensch als Projekt (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857

Die menschliche Freiheit und der Zivilisationsapparat (1971) . . . . . . 877

Der Mensch im ökonomisch-technologischen Apparat . . . . . . . . . . 889

Notizen

Der Staat und der Mensch (1933/34) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929

Aus dem Merk-Buch (1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931

Gespräch mit Heidegger (11. März 1953) . . . . . . . . . . . . . . . . 965

Anhang

Entstehungskontexte und textkritische Anmerkungen . . . . . . . . . 971

Nachwort der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 979

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Inhalt

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Haupttexte

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Existenz und Coexistenz

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Einleitung: Vorbegriff des Problemsmenschlicher Gemeinschaft

Die menschliche Gemeinschaft und die Lebensinterpretation – die menschlicheGemeinschaft: primär ein Selbstverhältnis des menschlichen Daseins im Elementder Selbstdeutung. Die Verwunderung als Verwandlung des Weltverhältnissesdes Menschen: die „verkehrte Welt“. Die Sache der Philosophie. Der Menschsich selbst das fernste Wesen – die Frage des Sokrates.*

— 1 —

[Eingeschobenes Blatt von der 1968/69 gehaltenen Vorlesung:] Die Vor-lesung trägt den Titel ‚Existenz und Co-Existenz‘ [gestrichen: ‚Co-Existenzund Erziehung‘], sie nennt damit etwas, was jeder kennt, womit man ver-traut ist, was mannigfach im Gespräch steht, – sie ist somit ein Versuch, dasBe-kannte zu er-kennen und Selbstverständliches einer ausdrücklichen Fra-ge zu würdigen, sie verfolgt die zugleich philosophische und erziehungs-theoretische Absicht, die Seinsverfassung der menschlichen Gemeinschaftals solcher zu erhellen, um das Erziehungsphänomen wesentlicher ver-stehen zu können. Der Gedankengang gliedert sich demnach so, daß zuerstdie Frage nach der Menschengemeinschaft im Vordergrund steht, um danneine co-existenziale Interpretation der Erziehung vorzubereiten.[Handschriftlich über dem Typoskript: Vorbemerkung: Pädagogikstudium!]

Die „menschliche Gemeinschaft“ ist das große und bedeutsame Thema,dem wir in dieser Vorlesung einiges Nachdenken widmen wollen. Gegen-stand also sind wir selbst; das Nachdenken geht uns an; wir stehen vonvornherein im Spannungsfeld jenes leidenschaftlich [im Vorlesungs-Typo-skript: und zumeist unkritischem Interesse] beteiligten Interesses, das alle-zeit der Mensch an sich selber nimmt. Er ist für sich zwar nie im gleichenSinne „interessant“ wie eine Sache. Gewiß mag oft das sachgerichtete Inter-esse in einer aufdringlichen Art vorherrschen, dort etwa, wo unruhige Neu-gier oder auch ernsthafte Entdeckerlust sich an die Dinge hingibt, – doch ist

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* Die Zusammenfassungen vor den einzelnen Kapiteln wurden für die Erst-Publikation beiK & N von F.-A. Schwarz verfasst.

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es nicht schwer, in solchen Außen-Verhaltungen gleichsam maskierte For-men der menschlichen Selbstbekümmerung zu erkennen. Zuweilen ist sol-che Sachlichkeit ein Symptom einer inneren Leere, einer Langweile, dieeinen Zeitvertreib braucht, oder auch Zeichen einer Flucht; ganz rar undselten ist jene große Form, in welcher das menschliche Dasein sich in einenklaren und reinen Bezug zu den Dingen bringt. Zumeist wurzeln die sach-lichen Perspektiven unseres Lebensvollzugs, offen oder versteckt, in demeinen brennenden Anliegen, das unser eigenes Leben ist. Der Mensch ist,allem zuvor, an sich selbst interessiert; ihm geht es um sein einmaliges,unwiderrufliches, aber auch nicht wiederholbares Dasein; er strebt nachGlück, nach Eudaimonie, nach Heil. Das bittere Los der Sterblichen aber ist,daß sie nicht mit untrüglicher Sicherheit wissen, worin das wahre Glückbesteht, – daß sie es nur ahnen, es suchen müssen und doch immer in dieIrre gehen. In der Tat ist niemand vor dem Tode glücklich zu preisen, – abernicht etwa nur deshalb, weil jäh Glück umschlagen kann in Unglück, wieLiebe in Leid, sondern weil, solang ein Mensch atmet, seine Interpretationdes Glücks zerbrechen kann.Wenn der antike Mythos erzählt, Zeus habe imBündnis mit allen Göttern, um die Menschen zu strafen, die übermütiggeworden durch den Feuerraub des Prometheus, die Pandora geschaffen,ihr die Büchse mit allen Übeln gegeben, und sie habe sie vorwitzig geöffnetund alle Übel freigelassen, nur die Hoffnung sei zurückgeblieben, so ist daskeineswegs eine „trostreiche Legende“. Vielmehr ein Wink, der hinweistauf die tragische Situation unseres Lebens. Denn gerade die Hoffnung, dasVerhalten zur Zeit als Zeit, läßt allererst den Gegensatz von Übel und Gu-tem aufbrechen; das Tier verspürt Schmerz und Lust, aber verhält sich nichtdazu aus demHorizont einer Lebenstaxation heraus. Der leidenschaftlich ansich selbst interessierte Mensch, dem es umWert und Unwert seines ganzenLebens geht, bleibt gerade in seinem innersten Interesse unbefriedigt; erentwirft Lebensdeutungen und ist doch beunruhigt vom Zweifel an ihremRecht, an ihrer Gültigkeit. Und ammeisten verstört uns dabei, daß wir nichtden Maßstab kennen, an welchem Recht oder Unrecht der Lebensinterpre-tationen zu bemessen wäre.

Sind über den Menschen, der wir je selber in der Weise der Selbst-bekümmerung sind, im gleichen Sinne verbindliche und objektiv allgemeingültige Aussagen mög|lich wie über einen physikalischen oder organischenSachverhalt? Oder auch wie über eine historische Tatsache? Denn nicht aufden bekannten und oft diskutierten Unterschied wollen wir jetzt hinaus von„naturwissenschaftlicher“ und „geisteswissenschaftlicher“ Methodik bzw.Gegenstandssphäre. Vielmehr geht es hier einzig um den Unterschied zwi-schen dem Verhalten zu fremdem Seienden, zu solchem, das wir nicht sind,und dem mitmenschlichen Verhalten, das immer durchstimmt ist von derfragilen und fragwürdigen Glücksauslegung des Menschenlebens. Die

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Existenz und Coexistenz

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menschliche Gemeinschaft ist kein fremder Gegenstand, dem wir kühl, neu-tral und unvoreingenommen gegenüberstehen könnten; wir leben im Raumdieser Gemeinschaft, – sie ist der gemeinsame und doch so vielfach strittigeLebensvollzug unseres Miteinanderseins. Sofern wir existieren, umfängt,hält, trägt uns die menschliche Gemeinschaft; auch das einsamste Indivi-duum bleibt noch in ihrem Horizont. Doch das, was jeden Einzelnen vonuns umgreift, was Mensch mit Mensch zusammenschließt, diese „Gemein-schaft“ ist nicht einfach ein tatsächlicher Naturbefund, den wir nur fest-stellen können, – ein Befund, der vorhanden ist wie der Termitenbau, derBienenstock, der Heringsschwarm, die Krähenwolke. Die menschliche Ge-meinschaft ist wesentlich durch Selbstverständnis bestimmt. Zu ihr gehörtimmer eine Auslegung ihrer selbst. Die Menschen leben nicht bloß in Ge-meinschaften, sie reflektieren sie immer auch im Gespräch. Und solche Re-flexion ist keine nachträgliche Zutat, sie ist gerade das Element, wodurchund worin die Gemeinschaft lebt. Der Mensch ist das zoon politikon in derWeise, daß er auch das zoon logon echon ist, er ist das politische Lebewesen,sofern er immer auch das vernünftige, sprachbegabte Lebewesen ist. Dasbesagt nicht nur, die menschliche Gemeinschaft ist im Medium des sprach-lichen Verstehens ausgebreitet, sie lebt als Gespräch, als ein Aufeinander-hören und Miteinanderreden; die Gemeinschaft ist vielmehr selbst jeweilsim Pathos der Leidenschaft angesprochen; über den faktischen mensch-lichen Gemeinschaften flattern wie Paniere die sprachhaften Sinndeutun-gen; die Innigkeit erkennt sich im Bilde, das sie von sich selbst hat. Dasjeweilige Selbstverständnis braucht dabei noch gar nicht die Form einer kla-ren und durchgearbeiteten Begrifflichkeit zu haben; zumeist versteht eineGemeinschaft sich aus der Präsenz eines „Sinnes“, der alle Mitglieder um-fängt, versteht sich in einem Symbol, in einemmagischen Zeichen, in einemFetisch. Es wäre ein billiger Zynismus, darauf hinzuweisen, wieviel Feti-schismus noch in unseren aufgeklärten Zeiten lebendig ist überall dort, womenschliche Gemeinschaften sich gegeneinander zu behaupten suchen.Aber auch in der primitivsten Gemeinschaft, sofern sie nur eine mensch-liche ist, ist es die Macht des Sinnbildes, die zusammenschließt und eint.Eine menschliche Gemeinschaft ist wesentlich durch das geprägt, was sieals Gemeinschaft will und meint. Sie ist nicht zuerst einfach da und gewinntspäter eine Auffassung, eine Vorstellung von sich; das „Bewußtsein“ ist hierkeine nachträgliche Zutat zu einem vordem schon gegebenen Bestand; es istein wesentliches Ingrediens jedes Menschenbundes. Paradox formuliert: dieGemeinschaft konstituiert sich primär in ihrem Sinnentwurf vom Wesender Gemeinschaft. Es gibt nicht einfach Gemeinschaften wie es Berge, Wol-ken, Viehherden gibt, die „an sich“ bestehen. Gemeinschaften sind notwen-dig immer auch „für sich“, sind Weisen der Selbstverhaltung. Sie sind, so-

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fern sie sich zu sich verhal|ten, sich im Licht des eigenen Sinnentwurfesauffassen, ein Bild ihrer selbst mit sich führen.

Ein Staat besteht nicht bloß als ein geordneter Lebensverband, er hatimmer auch seine Ideologie, – eine Kirche lebt aus dem Bewußtsein ihrerSendung. Weder Staatsideologie, noch kirchliches Sendungsbewußtseinbrauchen dabei die Form einer expliziten Theorie zu haben. Weil man aberzumeist sich an den Spätformen begrifflichen Bewußtseins orientiert, an derpolitischen Weltanschauung oder der Theologie, übersieht man leicht dieursprünglicherenWeisen der symbolhaften Sinndeutung, in denen ein ganzelementares Selbstverhältnis der menschlichen Gemeinschaften sich schonausgesprochen hat. Hier liegen die großen und entscheidenden Problemeeiner philosophischen Erhellung dessen, was überhaupt „Gemeinschaft“,„Miteinandersein“ im Menschenlande ist. Das Feld des symbolischen Ver-stehens reicht weit über das begriffliche hinaus, durchstimmt unser Men-schentum in einer profunden Tiefe und schwingt auch im lebendigen Wortder Sprache, in ihrer magischen Gewalt, – und auch das Unsägliche ist nurdie äußerste Möglichkeit, wobei das Sagen anlangt. Auch das Schweigen istein Grundmodus der verstehenden Rede. Ein Selbstverhältnis der Gemein-schaft kann auch dort noch bestehen, wo das tragende Verstehen eingehülltbleibt in den Bann des Tabu.

Und das ist nicht bloß bei den primitiven Gestalten des Menschen-lebens der Fall, auch in hochentwickelten, differenzierten Formen der Ge-meinschaft bleibt gleichsam ein unterirdischer, geheimer Sinn, den die deu-tende Rede ausspart, den sie nur umgrenzt; das Unausgesprochene bildet dieSinnmitte alles offenbaren Sinnes, den Wurzelboden, aus dem jener auf-wächst. All dies ist nicht als eine soziologische Feststellung gesagt; wir wol-len nur hinweisen auf das Grundphänomen, daß die menschliche Gemein-schaft in einer Dimension von „Sinn“ existiert und immer auch bewegt istdurch einen Entwurf, ein Sinn-Bild von „Gemeinschaft überhaupt“. Mitanderen Worten, Gemeinschaft ist keine vorhandene und keine gegebeneTatsache, die man nur zu konstatieren und zu beschreiben hätte, – sie istprimär ein Selbstverhältnis des menschlichen Daseins; sie existiert im Ele-ment der Vorstellung, der Selbstdeutung. In jeder Gemeinschaft ist nichtallein eine Gesamtauslegung des Seienden im ganzen am Werk, sondernvor allem auch eine Auslegung dessen, was und wie eine Gemeinschaft seinsoll. Menschen sind die wunderlichen Geschöpfe, die sich so zusammentun,daß die gleiche Ansicht darüber, wie ein „Bund“ sein soll, gerade das Motivbildet, den Bund zu stiften. Das ist zunächst ganz formell ausgedrückt. Na-türlich bedeutet „Ansicht“ nicht die flache und beliebige Alltagsmeinung,sondern ist der vorerst neutrale Terminus, der ebensosehr das symbolischewie das begriffliche Verstehen umschließt.

Wenn wir nach der Natur der menschlichen Gemeinschaft fragen, so

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stehen wir dabei schon in einer bestimmten Situation, wir stehen auf demBoden geschichtlicher Traditionen, auf dem Boden von Sinndeutungen desMenschenlebens. Diese Tradition umgrenzt auch das Feld von Gemein-schaftsformen, die wir kennen, als erlebte und durchlebte kennen. Wir be-wegen uns wie unsere Mitmenschen in den gleichen Schemata von „Sinn“.Wir sind die Kinder unserer Zeit, sind die Erben von Antike, Christentumund Aufklärung. Eine lange Geschichte scheint, auf den | ersten Blick, denVorteil zu bringen, daß Deutungen des Daseins sich bewährt haben, – daßdie Lebenserfahrung vieler Geschlechter sich aufgesammelt habe undfruchtbar geworden sei, – daß konstante und verläßliche Formen der Ge-meinschaft sich herausgebildet hätten und sogar zu einer klaren Durchsichtund begrifflichen Durchdringung gekommen wären. Jedermann weiß heu-te, daß wir Spätlinge und historisierenden Erben „ärmer“ sind als je einZeitalter, daß wir aus der Geschichte weder klug für den Tag, noch weisefür immer geworden sind; wir haben eine lange Tradition hinter uns, unddamit auch eine lange Arbeit des mühsam ringenden Begriffs, den gemein-schaftlich erlebten Sinn auszuformen in gültige Theoreme. Aber diese Tra-dition – trägt sie uns noch, oder ist sie bereits die lange Kette, die der mo-derne Mensch als Gefangener nachschleift? Zwar gibt es heute noch vielwilden, glühenden und fanatischen Glauben, aber solchem Dogmatismusist der verräterische Zug eigen, daß er sich behaupten muß gegen „Anders-gläubige“, um sich bestätigt zu fühlen. „Glauben“ ist in großem Maße eineSache des Willens geworden, der kämpferischen Selbstbehauptung, die denGegner so bitter nötig hat. Das politisch-weltanschauliche Kampfgeschreider partikulären Glaubensgruppen ist nicht weniger ein Zeichen des „her-aufgekommenen Nihilismus“, als es die müde, skeptische Resignation dererist, die sich am Gezänk nicht beteiligen. Haben wir heute noch eine verbind-liche Form der Gemeinschaft, – sind uns nicht alle Institutionen fraglich undfragwürdig geworden? Es ist eine banale Tatsache, daß wir im Wirbel einerAuflösung begriffen sind, – daß das gesellschaftliche Gefüge heillos erschüt-tert ist, – daß sittliche und religiöse Traditionen kraftlos werden, – daß ex-treme, unversöhnbare Positionen im politischen Streit bezogen werden, unddaß am meisten schwankt der Sinn der menschen-einenden Gemeinschaft.Mehr denn je ist deswegen gerade die Auslegung, die man der Gemeinschaftgibt, das Feld, wo sich die Geister scheiden. Hier ist ein neuralgischer Punktunserer geistigen Situation. Hier gibt es, anscheinend, nur „heiße Eisen“.Von vornherein gerät man in den Verdacht, Parteigänger zu sein, wenn mansich damit überhaupt einläßt. Es gibt, sagt man, hier keine Neutralität. Undwie im alten Athen der Gesetzgeber den Tod für den bestimmt hatte, der imBürgerkrieg sich der Parteinahme enthielt, um abzuwarten, wer siegenwird, so ist auch heute die „apragmosyne“ verfemt. Es fragt sich nur, ob esbloß die Möglichkeiten gibt, sich entweder auf eine Seite zu schlagen, oder

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in skeptischer Unentschiedenheit zu verharren. Vielleicht ist es auch mög-lich, über das Wesen von Gemeinschaft einmal nachzudenken. Und da wirdman vielleicht sagen, die zunächst so heillos erscheinende Situation unseresZeitalters birgt auch eine echte und große Chance in sich.Wenn so heftig diegegensätzlichsten Ansichten über Gemeinschaft aufeinanderprallen, wennVölkergruppen, Kontinente zur Verteidigung ihrer Lebensauffassung sichbis an die Zähne bewaffnen, – wenn „Person“ und „Kollektiv“ zu überspitz-ten Kampfparolen werden, wenn Christentum und Heidentum wieder inSchärfe auseinandertreten, wenn die abendländische Tradition sich zersetztund überlieferte Lebensformen hohl klingen, dann ist doch wohl auch diehohe Zeit gekommen für eine philosophische Fragestellung. Wir sind zu-mindest nicht mehr in fragloser Weise „befangen“ in einer überkommenenLebensdeutung; wir sehen jede These schon bestritten, sehen sie zusammenmit der Gegenthese. Zu|mindest haben wir die Unschuld verloren einerselbstverständlichen Geborgenheit. Die sozialen Phänomene sind uns garnicht mehr „problemlos“ gegeben; sie führen für uns heute immer schonverdächtige, zweideutige Charaktere mit sich. Ist damit bereits der Philoso-phie „vorgearbeitet“? Ist die existentielle Unsicherheit, die Doppelbödigkeitunseres Lebens, die Leere in unserem Glauben, das schlechte Gewissen beiallem Fanatismus, – ist dergleichen eine Haltung, die zur Philosophie über-leiten kann? Ist die „Fragwürdigkeit“ aller uns geläufigen Lebensdeutungenschon eine Vorgestalt der philosophischen Frage? Keineswegs. Es ist eher eingefährlicher Irrtum, zu meinen, die Philosophie gäbe der ohnehin schonbestehenden Fraglichkeit einen besonderen dramatischen Akzent, – sieüberhöhe nur ein vorhandenes Problem, steigere es durch eine konsequenteAusschöpfung. Diese landläufigeMeinung verkennt dasWesen der Philoso-phie von Grund auf. Die philosophische Frage entspringt nicht dem Zweifel,als jener bekannten Art, wie wir uns zu Unsichergegebenem verhalten, –entspringt nicht dem Verdacht und dem Mißtrauen, das wir in dies oderjenes setzen, – entspringt nicht dem Erkenntnisdrang, mit dem wir hinaus-greifen über das Feld des Bekannten. Und ebenso wenig ist die philosophi-sche Frage nur eine Intensivierung einer nihilistischen Lebensstimmung.Aristoteles nennt als Ursprung der Philosophie das Staunen. Das ist keinepsychologische Feststellung, mit der über den seelischen Vorgang im Be-wußtsein des Denkers etwas ausgesagt werden soll. Dagegen spricht auchnicht, daß Aristoteles die Verwunderung in einen engen Zusammenhangbringt mit Freiheit und Göttlichkeit. Philosophie ist ihm das „am meistenWissen seiende Wissen“ (Aristoteles, Met. A2 982a32–b2), das in der Ver-wunderung entspringt, in der menschlichen Freiheit wurzelt und dabei dochden Menschen in die Nähe der Götter stellt. Die Verwunderung ist vor al-lem eine Verwandlung des Weltverhältnisses des Menschen, nicht ein see-lischer Akt in der Bewußtseinsdimension. Die Verwunderung ist ein Um-

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schlag des Seienden, das uns plötzlich ein anderes, rätselhafteres Gesichtzeigt. Wir sind geneigt, diesen „Umschlag“ nur in uns zu verlegen; wirsagen etwa, wir hätten plötzlich eine andere Weltansicht und dgl.; die sub-jektivistische Denkart, die uns gewöhnlich beherrscht, verhindert, daß wirdas Wesen der Verwunderung rein in den Blick bringen. Wir sagen etwa:jeder von uns kennt die Verwunderung als ein bekanntes „Erlebnis“. In deralltäglichsten Form ist sie uns geläufig im Zusammenhang einer Über-raschung, im Zusammenstoß mit dem Unerwarteten, Auffälligen, Fremd-artigen usf. In unserer normalen und gewohnten Umgebung, wo alles be-kannt ist, alles seinen Platz hat, wir mit dem Lauf der Dinge vertraut sind,kommt es gelegentlich vor, daß irgend etwas sich „unerwartet“ benimmt,nicht am Platze ist, wo wir es hingelegt haben, ein Mensch plötzlich Seitenzeigt, die wir nicht vermutet hätten; wir verwundern uns also über das, wasaus dem vertrauten und bekannten Bild unserer Umwelt herausfällt, – wasganz unerwartet auftritt, in seiner Neuheit auffällig wirkt. Aber solche ge-legentlichen Einbrüche unserer Vertrautheit mit der umgebenden Umweltsind nichts Absonderliches; dergleichen ist dem Stil nach bekannt, es kommtimmer wieder vor; wir rechnen sogar mit solchen unvorhergesehenen Zwi-schenfällen, wo der Erwartungsstil unserer Erfahrung durchbrochen wird,aber auch über solche Brüche sich immer wieder schließt. Dies ist die ober-flächlichste „Art“ von Verwunderung. | Größere Macht hat die Verwun-derung aber dann, wenn wir ins Staunen geraten über „merkwürdige“,„seltsame“, „geheimnisvolle“ Dinge und wir in den Schmerz eines empfun-denen Nichtverstehens gestoßen werden, aus dem nun ein heftiges Verlan-gen nach Einsicht aufsteigt. Die Verwunderung treibt uns auf die Bahn einesaktiven Vorgehens gegen das Rätselhafte, sie bringt uns in Bewegung, wirwerden gedrängt, die Dinge zu erforschen, so zwar, daß sich hinter jedemgelösten Rätsel neue Rätsel auftun; mit dem wachsenden Wissen wächstauch die Verwunderung, die immer vorausläuft und als Antrieb wirkt; vonden nahen Dingen gehen wir über zu den ferneren, verwundern uns überden Lauf des Mondes und der Sterne und den Wandel der Jahreszeiten; wirwerden immer mehr in den großen Zusammenhang der Dinge hineinge-rissen; so geht derWeg derWissenschaft im Geleit der Verwunderung. Abernoch viel rätselhafter als das, was uns zunächst fernsteht und durch Metho-den der Wissenschaft aufgedeckt werden kann, sind die offenbaren „Ge-heimnisse“, die unser Leben umstellen: wir wissen nicht, woher wir kom-men, was uns ins Dasein wirft, und wissen nicht, wohin wir gehen und wasuns wegnimmt; wir sind uns selbst überlassen, und auf uns wartet der Tod.Wenn auch wir zumeist uns gegen dieses Dunkel verschließen und absper-ren, so kann doch plötzlich der Schrecken der Verwunderung uns überfallenund die Seltsamkeit, Gefährdung und Verlorenheit unseres Daseins spürbarmachen; um die Sphäre der Vertrautheit herum steht dann plötzlich die

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schweigende Zone der Geheimnisse, das Menschenleben gleicht dann einemerleuchteten Haus, im Nahen übersehbar, bekannt und heimisch, – aberdraußen steht die Nacht, die unheimliche, durch die alle „Sicherheit“ zu-nichte wird. Was uns in Schauern als das Unheimliche anrührt, haben wiran den Rand des Lebens hinausgedrängt, es als die Wildnis stehen gelassenan der Grenze des urbaren Feldes, wo wir wohnen und Weg und Steg ken-nen. Doch können wir diese Grenze immer verteidigen? Oder fallen vondort her die Schläge des Schicksals, kommt von dort der Bote mit der stum-men, aber unüberhörbaren Botschaft? Gelingt es uns, das Furchtbare undUnheimliche draußen zu lassen? Und selbst wenn es jemals gelänge, bedeu-tete dies nicht die Abschnürung des Menschentums von seinen tiefsten Er-fahrungen? Die Dichter und die Denker sind niemals in solcher abwehren-den Verschließung gegen das Unheimliche möglich; sie sind „wehrlos“ und„offen“, sie existieren in der Verwunderung der rühmenden Rede und desfragenden Denkens. Das Wesen der Verwunderung bleibt dem psychologi-schen Zugriff unerreichbar. Er vermag vor allem nicht zu fassen, was mandie „Tiefe“ der Verwunderung nennen könnte. Tiefe ist nicht ein Intensi-tätsgrad eines Erlebnisses, sondern die Mächtigkeit, wie Welt sich zeigt. ImAlltag leben wir in der Welt in der Weise einer flachen, gängigen Vertraut-heit; man kennt sich aus. Die geringste Tiefe hat die Verwunderung dort, wosie sich entzündet am Fremdartigen, Unbekannten, Auffälligen. Tiefer istdas Staunen dort, wo man sich Gedanken macht über Dinge, die man zwarkennt, deren Bekanntheit aber uns nicht mehr genügt; noch tiefer und aus-greifender jene Verwunderung über das Unerforschliche, dem man sich inEhrfurcht und scheuem Respekt nahen mag. Aber die tiefste und umgrei-fendste Verwunderung ist die über das ganz Selbstverständliche, über das,was man schon immer kennt, und woran man bislang keinen Gedanken ver-schwendete, – wo man | nicht ins Staunen gerät über seltsame, absonder-liche Dinge, die ganz aus dem Üblichen herausfallen, sondern gerade übersolches, was ganz problemlos scheint, z.B. über das Dingsein schlechthin,über das Seiende als solches; ein fragendes Staunen also über das unbegreif-liche Wunder, daß und wie und warum überhaupt es Seiendes gibt. In sol-cher Verwunderung ist der Unterschied des Bekannten und Unbekannten,des Vertrauten und Fremdartigen als ein fixer Unterschied unterlaufen: ge-rade das Bekannte ist als solches das schlechthin Rätselhafte, – die Fragegreift ins Ganze alles Seienden. Allerdings darf man nicht in den Fehlerverfallen, diesen Hinweis auf die unterschiedliche „Tiefe“ der Verwun-derung aufzufassen im Sinne einer Typologie. Das Staunen läßt sich nichtin „Arten“ aufteilen; vielmehr kommt es darauf an, daß wir sein Weseneinheitlich begreifen; was wir zunächst so nach dem „Tiefgang“ unterschie-den haben, ist in Wahrheit eine Bewegungsrichtung. Was im Alltag nurgelegentlich sich ereignet, ist ein kurzes Aufblitzen einer verdeckten

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Grundmöglichkeit; wir beruhigen uns gleich wieder und stellen das Fragenein; gewöhnlich geben wir dem forttreibenden Zug des Staunens nicht nach,wir lassen die Verwunderung nicht um sich greifen wie ein fressendes Feuer;aber es ist ihre wahre Natur, einmal entzündet, zu wachsen wie ein Brand;wenn wir uns ihr überlassen, dann lodert bald das ganze Haus unserer müh-sam gefügten umweltlichen Vertrautheit und wird schließlich zum Welt-brand, in dem ein gewohntes Bild des Ganzen versinkt und ein neues viel-leicht, wie der Phönix aus der Asche, ersteht. Die Verwunderung löst sich inder Frage; Fragen ist die menschliche Antwort auf das, was uns als Verwun-derung überfällt. Das Fragen ist von Haus aus „uferlos“, aber seine Ufer-losigkeit zeigt es nicht in der Art, wie Narren tausend Dinge fragen, sondernin der disziplinierten Zucht eines strengen Gedankenweges. Deshalb konnteSokrates über einen alten Schuh philosophieren, weil er dem inneren Zugdes Problems sich überließ und von jedem, auch dem geringfügigsten Dingins Ganze geführt wurde. Das war ihm kein Kunstgriff, um das Interesseseiner Zuhörer einzufangen; seine Kunst bestand darin, der VerwunderungRaum zu geben, sie ausschwingen zu lassen. In ihr spürte er die Leitung desdelphischen Gottes. Verwunderung ist nicht etwas, was wir selbst herstellenkönnen; sie widerfährt uns wie ein Überfall. Und doch ist sie nicht das Ge-schenk einer göttlichen Gnade, die sich nur Erwählten zuneigt. Der Mensch,sofern er die Dinge das Seiende nennt, solches, was kommt und schwindetund keinen Bestand hat, doch mit dem Namen des Beständigsten anspricht,ist schon in einen Widerspruch verstrickt, der mit seinem Dasein gegebenist. Jeder hat diese Mitgift, wenn auch nur wenige sie gebrauchen. Das Stau-nen „schläft“ nur in den meisten Menschen, aber ist als Möglichkeit injedem Wesen, das die Sprache und damit das Ansprechen von Seiendemvermag. Das Staunen, das uns widerfährt, wirft uns aus einer Vertrautheitheraus, in der wir bislang geborgen waren; gerade das Vertraute wird nun-mehr unvertraut, das Gewöhnliche ungewöhnlich, das Bekannte unbe-kannt. Aber ist eine solche Rede zutreffend? Hört das bisher Vertraute auf,bekannt zu sein? Schlägt es wirklich in sein Gegenteil um? Zunächst ist unsder Gegensatz von „vertraut“ und „unvertraut“ selber vertraut, bekanntund geläufig. Um die Nahzone unserer Umwelt, wo wir uns auskennen,haben wir die unbekannte Ferne herumgelagert; wir können in die Ferneeindringen und führen dann das bisher | „Unbekannte“ in Bekanntes über;oder wir dringen in der Nahsphäre hinter die Oberfläche der Dinge, erfor-schen Seiten, die noch unzugänglich waren usf.; andererseits gibt es dasPhänomen des Vergessens, wo Bekanntes uns wieder entschwindet, unbe-kannt wird. Der Gegensatz, mit dem wir so operieren, gehört selbst zu un-serem alltäglichen Lebensverständnis. In der Verwunderung geschieht nunkeinesfalls dies, daß bekanntes und vertrautes Seiendes in einem bekanntenSinne „unbekannt“ würde; vielmehr ereignet sich das Bestürzende: die ver-

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traute Umwelt wird in einem ganz unbekannten Sinne unvertraut und frag-würdig; die bisherige Bekanntheit verschwindet nicht, aber sie genügt nichtmehr, demMenschen wird gerade sein bisheriges Heimischsein unheimlich.Die Verwunderung verkehrt alles: sie ist die „verkehrte Welt“. Sie hatimmer die Struktur des Ent-setzens, sie wirft uns aus dem Gehäuse einerbergenden Vertrautheit, sie entsetzt uns in die Unheimlichkeit. Eine solcheCharakteristik ist aber ganz aus der Erfahrung eines Menschentums gespro-chen, dem in der fragenden Verwunderung zunächst die „Welt untergeht“,das das Staunen in dem grauen Gewand der Verzweiflung erlebt. Für dieGriechen war das thaumazein aber der blitzhafte Aufgang eines tieferenWeltblicks; noch auf dem schrecklichen Antlitz der Gorgo lag ihnen einGlanz des Schönen, der alles Anwesende und ans Licht Gekommene be-scheint.

Unser Exkurs über die Verwunderung dient der Abwehr eines weitver-breiteten Mißverständnisses, jener Meinung nämlich, als sei die Fragwür-digkeit aller Lebensdeutungen, die als „Kulturkrise“ und „Nihilismus“ einbeliebtes Thema für Feuilletons geworden ist, bereits schon eine günstigeVorbereitung für die philosophische Frage nach dem Wesen der mensch-lichen Gemeinschaft. Gewiß, ehrwürdige Traditionen sind erschüttert, dieGültigkeit von Werttafeln in Zweifel gezogen, die durch die ganze Erinne-rung des Menschengeschlechtes zurückreichen; unser Zeitalter hält sich imAusmaß seines Katastrophenbewußtseins für unübertroffen. Und doch istdie Philosophie zu unserer Zeit nicht näher und nicht weiter, als sie zu allenZeiten war. Die Philosophie stellt einen Glauben nie so in Frage, wie es der„Unglaube“ tut; sie meldet nicht Zweifel an einem Wertsystem an, wie esdie moralische Anarchie macht; sie ist nicht „gottlos“ wie der vulgäre Athe-ismus, – aber ebensowenig ist sie einfach schlicht gläubig, moralisch undgottesfürchtig. Der Radikalismus ihrer Fragen unterläuft solche gängigenAlternativen. Für sie ist der ganze Spannungsbogen von dogmatischer Exi-stenz in Lebensdeutungen bis zur skeptisch-nihilistischen „Bodenlosigkeit“der Bereich, den sie im ganzen in Frage stellt. Sache der Philosophie istallein: zu erkennen, was in Wahrheit ist. Kann sie dann die Natur dermenschlichen Gemeinschaft erkennen, ganz unbekümmert darum, was dieMenschen als „Gemeinschaft“ ausgeben? Sind Gemeinschaften irgendwel-che Verhalte, die an sich bestehen, gleichgültig, was man darüber für Auf-fassungen hat? Kann der Philosoph ignorieren, welche Sinndeutungen von„Gemeinschaft“ bei den Menschen des Alltags eben umlaufen? Die Ein-gangsthese war: menschliche Gemeinschaften sind keine Ordnungsbefunde,die von der sie durchlebenden Sinndeutung ablösbar sind. Die Selbstinter-pretation ist ein wesentliches Moment der Gemeinschaft selber. Die Seins-weise von so etwas wie „Gemeinschaft“ ist schwierig und undurchsichtig, –nicht zuletzt deswegen, weil wir im Felde der Philosophie immer | noch

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nicht die Kategorien entwickelt haben, die für die genuine Erfassung desmenschlichen Miteinanderseins zureichen.

Der Mensch ist sich zwar das nächste Wesen – aber er sucht sich zu-meist zu verstehen nach Maßgabe des fremdartigen Seins der Dinge, – derSteine, Bäume, Tiere. Von dort her holt er die Modelle, die vorzeichnensollen, wie er sich erkennen möge. Im ontologischen Verstehen ist derMensch sich das fernste Wesen. Unnütz und müßig erscheint dem Sokratesdie Erläuterung der Mythologeme über die Natur, solang eben der Menschsich nicht selber kennt. Ein Naturerklärer, so meint er im platonischen Dia-log „Phaidros“, sei nicht zu beneiden, wenn er die bunte Fülle mythischerGestalten ins recht Vernünftige übersetzen wolle, „weil er dann notwendigauch die Kentauren ins Gerede bringen muß und hernach die Chimaira, unddann strömt ihm herzu ein ganzes Volk von Gorgonen und Pegasen undanderen unendlich vielen und unbegreiflich wunderbaren Wesen, und werdie – ungläubig – einzeln auf etwas Wahrscheinliches bringen will, der wirdmit einer wahrlich unzierlichen Weisheit viel Zeit verderben. Ich aber habedazu ganz und gar keine Zeit – und der Grund davon ist: ich kann nochimmer nicht, nach dem delphischen Spruch, mich selbst erkennen. Lächer-lich also kommt es mir vor, solange ich darin noch unwissend bin, an andereDinge zu denken. Daher lasse ich es gut sein und nehme an, was man all-gemein darüber glaubt und denke nicht an solche Dinge, sondern an michselbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet undungetümer als Typhon, oder ein einfacheres milderes Wesen, das sich seinesgöttlichen und edlen Teiles erfreut“ (Platon, Phaidros, 229d 5 – 230a6).

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Das Selbstverständliche: das Feld der wesenhaftesten Fragen. Das heutige „Krisen-bewußtsein“ und die Leitfrage der abendländischen Philosophie. Die ontologischeBesonderheit des Menschseins: regionale Ontologie und die „Vorurteile“. DerMensch: „animal rationale“? Die traditionellen Versuche –Mensch,Welt, Gott: „me-taphyisca specialis“. Die Geschichte der menschlichen Selbstinterpretation als Bann.Das Seinsproblem und seine regionale Differenzierung als unausdrücklicher Hori-zont; Vermeidung traditioneller Vorentscheidungen. Gemeinschaft und Einzel-mensch, Liebe und Tod, die Pietät, das zukünftige Geschlecht, das Verhalten zumGöttlichen. Dinge im Sozialbereich: „Tatsachen“ oder „Tathandlungen“? OperativeVoraussetzungen der Sozialphilosophie: Schemata. Seinsverfassung der Sozialphä-nomene – Unzulänglichkeit der Kategorien von Naturding und Kunstding. Gemein-schaft ein viel ursprünglicheres Phänomen?

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Wenn es wahr ist, daß die Philosophie – wie Platon und Aristoteles sagen –aus der Verwunderung entspringt, so kommt doch wohl es entscheidenddarauf an, daß wir bei unserem Versuch, die menschliche Gemeinschaft zueinem Thema des Nachdenkens zu machen, in den freien Raum eines ur-sprünglichen Staunens gelangen, – daß wir die Erfahrung machen, wie selt-sam [im Vorlesungstyposkript gestr.: und rätselhaft] und fast unbegreiflichdie „Lebensoffenheit“ der Menschen füreinander ist und wie rätselhaft diein solchem Miteinander-sein gründenden Gemeinschaftsformen sind. Hiergeht es ja nicht um Dinge, die entlegen, fern und unbekannt wären, die manerst einmal freilegen und entdecken müßte, sondern um ganz vertraute,bekannte und geläufige Elemente unseres Daseins, – um Vollzugsformen,Sinngestalten unserer tagtäglichen Lebenswirklichkeit, – um die „selbstver-ständliche“ Weise unserer gemeinsamen, gegenseitig verflochtenen, in Lie-be und Streit vereinigten Existenz. Gerade die selbstverständliche Vertraut-heit der sozialen Phänomene bildet die Hemmung und das Hindernis, sie zubegreifen. Etwas anderes ist: darin leben, sich in den Beziehungen ausken-nen, existierend davon Gebrauch machen; und ein anderes ist: denkend die-ses Medium unseres Lebens zu durchdringen und auf angemessene Begriffezu bringen. Der | Fisch, der sich im Wasser tummelt, in ihm seine Beutesucht, hat das Wasser nicht als einen abständigen Gegenstand sich gegen-über; es ist ihm vielmehr das vertraute und durch solche Vertrautheit ent-zogene Medium, sein „ungegenständliches“ Lebenselement; erst wenn derFisch demWasser entrissen wird, erfährt er imModus des Verlustes und derEntbehrung das Wasser als solches. Auf dem Trockenen zappelnd, entdeckter sozusagen erst, was zuvor Geborgenheit im Element war. Dieses eigen-tümliche Wesen des „Elements“, verborgen zu sein, solange es umfangendbirgt, und entborgen zu sein, wenn es verloren ist, spielt in der Philosophieeine große Rolle, sofern sie daran ein bedeutsames Gleichnis hat. Es sei z.B.nur an Platons Deutung des „Lichtes“ (vgl. Platon, Politeia, 6. Buch, 507c–508c) erinnert: das Licht ist das, was Sehen und Gesehenwerden, Auge undFarbe ermöglicht, – aber es ist zumeist selbst nicht als solches gesehen; derSehende lebt im Licht, durchsieht es, aber erblickt es nicht eigens; das seinerNatur nach ammeisten Sichtbare ist gerade das, was als dieses amwenigsten„gesehen“ wird; es ist allzu selbstverständlich. Das Selbstverständliche, daswas jeder kennt und jedermann versteht, ist eigentlich an ihm selbst garnicht verstanden; es bildet das Feld, das Medium, worin das geläufige Ver-stehen sich hält, – aber gerade weil durch es verstanden wird, bleibt es sei-nerseits unverstanden. So wie das Licht als Bedingung des Sehens zumeistnicht als solches gesehen wird, so werden auch die Bedingungen des alltäg-lichen Verstehens ihrerseits nicht verstanden: sie haben sich entzogen in die

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graue Unscheinbarkeit des Trivialen und Selbstverständlichen. Und doch isthier der Ort der eigentlichen großen Wunder und Rätsel, hier ist das Feldder wesenhaftesten Fragen. Vielleicht geschieht in der Philosophie etwasÄhnliches wie beim Fischfang, geschieht es uns dabei auch, daß wir heraus-gerissen werden aus dem bergenden Wasser, daß wir erst durch die Not derEntbehrung den Schmerz des Wissens erfahren. Die Bekanntheit undselbstverständliche Vertrautheit der Grundphänomene der menschlichenGemeinschaft bedeutet also nicht, daß wir in diesem Bereich schon „begrei-fen“, d.h. denkend verstehen, vielmehr ist die selbstverständliche Aus-kenntnis gerade die sicherste Weise, den Begriff niederzuhalten, – die Fragegar nicht aufkommen zu lassen. Aber auch die moderne Erschütterung derLebensverhältnisse, die viel beredete Kulturkrise, sagten wir, bedeutet nichteine größere Chance für die Philosophie, das Problematische und Fragwür-dige der menschlichen Gemeinschaft in den Griff zu bekommen. Dennwenn auch in solchen „Krisen“ die Bodenständigkeit des Menschentumszerbricht, viele Lebensformen als hohle und entleerte Konventionen sichentlarven, eine Ratlosigkeit und eine Stimmung verzweifelter Gleichgültig-keit um sich greift, so ist doch solche „Lebensproblematik“ vor allem eineexistentielle Not, nicht eine Not des Denkens. Im Verhältnis zum philoso-phischen Begriff ist das moderne „bodenlose“ Dasein nicht weniger naiv alsdie Bodenständigkeit glücklicherer Zeiten. In die Dimension der Verwun-derung, aus welcher die Frage des Denkens entspringt, gelangen wir nicht,wenn wir nur im Dunstkreis des allzu-heutigen „Krisenbewußtseins“ ver-bleiben. Wir müssen einen radikaleren Abstand zu den Lebensphänomenengewinnen, in denen wir befangen dahinleben, ob glücklich oder unglücklich.

Und zu einem solchen radikaleren Abstand kommen wir, wie ich mei-nen möchte, im Geleit der Leitfrage der abendländischen Philosophie, imGeleit der Frage | nach dem Sein; sie führt uns in die älteste und noch immernicht ausgeschöpfte Verwunderung des denkenden Menschengeistes. Es istdas Staunen, das im Grunde unseres Wesens lebt und das „der Menschheitbestes Teil“ ist: die wunderliche Frage, was denn das „Ist“, das wir immer-fort mit der größten Selbstverständlichkeit gebrauchen, eigentlich selber seiund wie denn das Sein, das den seienden Dingen zukomme, beschaffen wäre.Die Frage nach dem Sein des Seienden nennt man seit langem „Metaphy-sik“. Es ist hier nicht unsere Sache, Umfang, Struktur und Problembereichder allgemeinen Metaphysik zu umgrenzen. Wir fragen ja nur nach einemTeilbereich der Wirklichkeit, nach einem engen, beschränkten Bezirk; wirfragen nur nach dem Menschen – und auch hier nur nach der menschlichenGemeinschaft. Inmitten der ungeheuren Fülle des Wirklichen ist doch of-fenbar der Mensch ein recht geringfügiges Ding, ein Lebewesen von ziem-lich gebrechlicher Verfassung, nicht mehr sicher wie das Tier, verletzlichund gefährdet, ein Wesen, das sich notwendig ein „Gehäuse“ baut in Sitte

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und Institution. Der Mensch ist offenbar eine Unterart in der Art der Lebe-wesen, eine Region für sich. Jede „Region“ von Seiendem, die Dinge glei-chen Wesens umspannt, hat ihre eigene, unverwechselbare Seinsweise, diesich von der Seinsweise anderer Dingbereiche unterscheidet: Pflanzen sind,was und wie sie sind, anders als Steine, und diese anders als Tiere, und dieseanders als Zahlen und so weiter. Das Sein des Seienden differenziert sichnach mannigfaltigen Dimensionen unterschiedlicher Seinsweisen; eine Re-gion umfaßt solches, was in der Art und Weise, zu sein, gleichförmig ist; siehat einen und denselben „ontologischen Stil“ in allen ihren einzelnen Ex-emplaren. Die Klärung und Fixierung des jeweiligen Seinsgepräges einesDingbereichs, einer Region, und die Formulierung der geeigneten Grund-begriffe dieser Region ist jeweils Aufgabe einer „regionalen Ontologie“.Unbestreitbar bleibt es ein zentrales Anliegen der Philosophie, den all-gemeinen und ursprünglichen Sinn von „Sein überhaupt“ zu erhellen; alsallgemeine Metaphysik wird sie immer den besonderen ontologischen „Dis-ziplinen“, die es mit den jeweilig verschiedenen Seinsweisen der Grund-bereiche zu tun haben, vorgeordnet bleiben müssen; ja sogar werden dieBereiche ihre wesentliche Durchsichtigkeit erst gewinnen können von derprinzipiellen Auslegung des Seienden als solchen her, gesetzt [im Vor-lesungstyposkript gestr.: Heideggers Wort mag Geltung haben], daß alle„regionalen Ontologien“ solange „blind“ sind, als sie eben nicht verwurzeltwerden in einer Interpretation des Sinnes von Sein schlechthin.

Die Frage nach dem Menschen, bzw. nach seiner Sozialität, ist, wie esden Anschein hat, eine regional besonderte, – eine spezielle ontologischeFragestellung nach einem Teilgebiet der Wirklichkeit, einem Teilgebiet, dassich durch eine ganz eigentümliche und eigenständige Seinsweise auszeich-net, die es abscheidet von den Seinsverfassungen aller anderen Gebiete.Wenn wir angeben sollen, worin denn nun die ontologische Besonderheitdes Menschseins liege, wie und in welcherWeise es vom Sein des Tieres, desLebewesens überhaupt verschieden sei, geraten wir schnell in Verlegenheit.Es ist ein weiter und mühsamer Weg von der dunklen Ahnung um die Un-ableitbarkeit des Menschen vom Tierreich bis zur klaren, begriffshellen Ein-sicht. Auf diesem Wege eine Strecke weit wenigstens zu gehen, ist die Ab-sicht dieser Vorlesung.Wie weit wir kommen, hängt davon ab, ob es gelingt,die Seinsverfas|sung des Menschen gegen die Vorurteile in den Blick zubringen, die uns alltäglich beirren. Diese „Vorurteile“ liegen gleichsam inzwei Ebenen. Einmal sind es die Selbstdeutungen, die als Moment zu jederfaktischen menschlichen Gemeinschaft gehören. Wir können sie nicht bei-seite lassen, wenn wir die Gemeinschaftsstrukturen betrachten; wir könnennicht sine ira et studio sie untersuchen und beschreiben, denn sie sind ja daslebendige Innere, der Geist einer Gemeinschaft. In der Sphäre des mensch-lichen Selbstverhaltens ist nicht eine untersuchende Einstellung möglich

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wie gegenüber vorhandenen Naturdingen; deren Sein ist fertig und kann inseiner Fertigkeit, in seinem Vorliegen erforscht und erhellt werden, ohnedaß „Meinungen“, „Ansichten“, „Vorurteile“, die über jene Dinge beste-hen, berücksichtigt werden müßten. Das wahre Verhältnis zum Natur-gegenstand ist das objizierende objektive [die beiden vorherigen Wörterhandschriftlich im Typoskript der Vorlesung hinzugefügt] Wissen. Auchdas Wissen ist Stückwerk, es ist unvollständig; aber ist doch, soweit es ebenreicht, ein solcher Bezug, der andere Bezüge des bloßen Meinens und Wäh-nens zunichte macht. Der Wahn ist für das Sein des Naturdinges selbernicht konstitutiv. Wohl aber ist es die wahnhafte Selbstdeutung einer Ge-meinschaft. Das Sein dieser Gemeinschaft wird durch das Wähnen mit-bestimmt. Und es gibt mehr menschliche Gemeinschaften, die Wahn zuihrer Grundlage haben, als solche, in denen das Licht des delphischen Impe-rativs „Erkenne dich selbst“ leuchtet.

Die gewichtigeren Vorurteile aber liegen in einer viel tieferen Schicht.Wir wiesen schon darauf hin, daß der Mensch, um sich selbst bekümmert,sich zwar das nächste und am meisten angehende Wesen ist, – daß er aber„ontologisch“, d.h. in der Weise der seinsbegrifflichen Auslegung, sich dasfernsteWesen ist: verstehend lebt er von sich weg, auf die Dinge zu, und nurim Rücklauf von den fremden Dingen und verhaftet den Denkmitteln, die erin der Explikation der Dinge ausgebildet hat, kommt er wieder auf sichselbst zurück. Er ist für sich die ontologische Verlegenheit schlechthin. Dasverstehende Lebewesen, das die Seinsweisen aller fremden Dinge verstehtund sie im Geschichtsgang der metaphysischen Philosophie in Begriffen,den sogenannten „Kategorien“ zu fixieren verstand, hat es immer nochnicht zu einer hinreichenden Klärung seiner eigenen Seinsweise gebracht;der Mensch ist sich immer noch ein Labyrinth. Das Verstehen versteht sichnicht selbst; durch die „Selbstverständlichkeit“ seiner Funktion ist es sichselber gleichsam entzogen. Im Gleichnis gesprochen: der Fisch weiß nichtsvon seiner Natur, ein Wassertier zu sein; er kennt nicht das Medium, woriner lebt, und kennt deswegen nicht sein eigenes Wesen.

Wenn in der Tat der Mensch gerade durch seine Selbstvertrautheit sichentzogen, ja sogar sich selbst entfremdet ist, weil er sich allzu sorglos ausden ontologischen Vorbildern des von ihm verstandenen fremden Seiendenher interpretiert, dann ist es mit der vorhin skizzierten „regionalen Ontolo-gie“ nicht eine einfache Sache. Vorhin hatten wir, – harmlos, – den Bereichdes Menschen als eine Region neben anderen Regionen aufgeführt. Wirhatten dabei aus einem utopischen Standort gesprochen. Denn wo in allerWelt haben wir jemals jenen Überblick über die Grundbezirke des Seienden,der uns ein Nebeneinander vonMensch und Tier und Baum und Stein zeig-te? Solche Überschau ist vielleicht nur dem Gotte möglich; dem Menschenist sie versagt: er sieht nur aus seiner Perspektive das Ganze des Seienden – |

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und das Auge seines Verstehens hat seinen „blinden Fleck“ dort, wo er sichselbst zu fassen sucht. Die unausgetragene Spannung zwischen ihm selbstund den Dingen, die er nicht ist, beunruhigt in vielfältigen Graden der In-tensität das ontologische Denken der überlieferten Metaphysik.

Ein tiefgehender Unterschied zwischenMensch und allen anderen Din-gen ist seit je behauptet worden, aber gerade die Art, wie er bestimmt wur-de, zeigt deutlicher und schärfer noch, daß diese Unterscheidung sich aufdem Boden einer „Nivellierung wider Willen“ bewegt. Denn die Besonder-heit des Menschenwesens wurde gleichsam in „Charakteren“ und „Quali-täten“ fixiert: der Mensch ist kein Tier, aber bleibt das „animal rationale“;das Auszeichnende der Vernunft wird der tierischen Grundlage nur auf-gestockt; er ist nicht vergänglich wie sonst alle anderen Dinge, er hat eine„unsterbliche Seele“, sagt man, – aber diese angebliche Unsterblichkeit bliebinsofern unterbestimmt, als die Seinscharaktere der vergänglichen Dingedamit nur überlagert wurden. Die Seinsweise des Menschen wurde nichtim ganzen aus der behaupteten Unsterblichkeit entwickelt; der Mensch giltals ein „freies Wesen“, aber seine Freiheit besteht zusammen mit einemUnterbau vegetativ-animalischer Natürlichkeit. Irgendwie wirken alle dieseVersuche, durch einen besonderen auszeichnenden Charakter den Men-schen ontologisch von den anderen Dingen insgesamt unterscheiden zuwollen, verunglückt. Ein Hund, der rechnet und als Schaunummer im Va-riété auftritt, bleibt nach wie vor ein Hund, – und ein „animal“, das dieprächtige und respektable „Eigenschaft“ der Ratio hat, ist trotz allem einTier. Es ist nur eine offene Frage, ob „Vernunft“ und „Freiheit“ und „Un-sterblichkeit“, massiv gesprochen, Vorzüge des Menschen sind – oder obdergleichen grundsätzlich und wesenhaft aus der Seinsverfassung dermenschlichen Weltoffenheit erst wirklich zu begreifen sind. Wenn auch dietraditionellen Versuche, die Einzigartigkeit des Menschen zu begründen,gescheitert sind, so bleibt doch das Problem immer in einer brennendenSchärfe wach und erregend. Für die überkommeneMetaphysik ist das Men-schenland nicht irgendeine kleine Ecke im Kosmos, eine Unterart der Säu-getiere, eine spezielle hochentwickelte Sorte von intelligenten Affen, – nichtein verlorener Winkel, nicht, wie Nietzsche es einmal drastisch formulierte:eine mikrobenähnliche Milbe auf dem Schimmelüberzug eines winzigenWandelsterns des „in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenenWeltalls“ (F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sin-ne, KSW, München 1980, Bd. 1, S. 875); für die Metaphysik ist nicht dernaturwissenschaftliche moderne Aspekt leitend; der Mensch ist für sie einbedeutsamer Grundbereich des Wirklichen. Mensch – Welt und Gott sinddie zentralen Themen der „metaphysica specialis“. Zwischen Gott und dieAllheit aller anderen Dinge gestellt, wird die Bedeutung des Menschen un-endlich. Das ist aber nicht nur eine Folge der christlichen Religion, welche

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dem Menschentum diesen großen Akzent gab und die Weltschöpfung deu-tete als ausgerichtet auf den Menschen: „in ihm hat Gott die Welt geliebt“,um seinetwillen schuf er Tag und Nacht, Himmel und Erde, Land und Meerund jegliches Getier und Gewächs. Der Einbruch der christlichen Religion indie antike Welt hat ein Motiv gesteigert und überhöht noch, das bereits dorterwacht war: psyche pos panta, „in gewisser Weise ist die Seele alles“ (Ari-stoteles, De Anima, 431b21). Die Differenz, die aufklafft zwischen demMenschen und den anderen Seienden, beunruhigt immer wieder die Phi|lo-sophie und gewinnt viele und vielerlei Ausprägungen. Erinnert sei jetzt bloßan die cartesianische Grundunterscheidung von res extensa und res cogi-tans, an Leibnizens Unterschied von Phänomen und Monade, von Reichder Natur und Reich der Geister (oder auch Reich der Gnade), an KantsUnterschied zwischen einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysikder Sitten, zwischen dem Menschen als Glied einer Naturordnung der Er-fahrungswelt und dem Menschen als Bürger der intelligiblen Welt, – zwi-schen Notwendigkeit und Freiheit. Die Identitätsphilosophie des DeutschenIdealismus war, ebenso wie früher Spinozas Metaphysik des „deus sive na-tura“ in ihrer Einssetzung, in ihrem Andenken des Absoluten, selbst imAbstoß bezogen auf den Unterschied des Reellen und Ideellen, der Naturund der Freiheit. Die damit nur genannten Probleme liegen außerhalb un-serer begrenzten thematischen Aufgabe, – aber sie bilden, geschichtlich ge-sehen, den Hintergrund unserer Frage nach dem Wesen der menschlichenGemeinschaft; wir sind, ob wir es wollen oder nicht, wissen oder nicht wis-sen, von dieser Geschichte beeinflußt mit jeder Frage, die wir in diesemFelde stellen; der Mensch ist kein schlichtes, unmittelbar gegebenes „Phä-nomen“ für uns; – die Art, wie er sich seit Jahrhunderten sieht und wie ersich zu fassen und zu erhaschen suchte, bestimmt unvermeidlich unserenAnsatz; diesem Bann zu entrinnen, wäre, wenn es hoch kommt, überhauptnur dann möglich, wenn es uns gelänge, in der Auseinandersetzung mit derGeschichte der menschlichen Selbstinterpretation neue Einblicke in die We-sensverfassung des Menschseins zu erarbeiten.

So weitfliegend ist unser Vorhaben nicht. Uns geht es um einen Ver-such, ein Problemverständnis zu wecken und zu vertiefen im konkretenHinblick auf bestimmte Phänomene der sozialen menschlichen Welt, ohneausdrücklich eine solche Untersuchung in eine rein ontologische Erörterungmünden zu lassen. Allerdings bildet das Seinsproblem und seine regionaleDifferenzierung den unausdrücklichen Horizont, in welchem wir uns haltenwollen; aber mit so schweren Dingen soll die Vorlesung nicht belastet wer-den. Wir wenden uns Themen zu, die im Lebenskreis von jedem Einzelnenvon uns liegen, – von jedem schon einmal als Frage erlebt, von manchenvielleicht sogar als ein bedrängendes Problem, als Not erfahren. Aber insolcher Zuwendung üben wir eine kritische Vorsicht, wir versuchen vor

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allem „Vorentscheidungen“ zu vermeiden, die sich uns nahelegen aus derTradition. Zu vermeiden suchen heißt allerdings nicht, sie vermeiden kön-nen; aber wir wollen nicht in dumpfer und blinder Gedankenlosigkeit ausden Vorgaben der Geschichte nur übernehmen. Eine skeptische, spähend-prüfende Haltung ist es, was wir anstreben. Sie kann sich schon darin äu-ßern, daß wir Fragezeichen setzen, wenn geläufige Schemata sich anbietenund andrängen. Wonach fragen wir, wenn wir nach der menschlichen Ge-meinschaft fragen? Ist uns die Bahn einer solchen Frage denn ohnehin klar?Genügt es denn nicht, daß wir einfach bestimmte Phänomene des sozialenLebens aufzählen, um anschließend an die Untersuchung und Erforschungzu gehen? Und da müssen wir wieder antworten: die Phänomene, um die essich hier handelt, sind als solche gar nicht erst aufzustöbern oder aus einemVersteck hervorzuziehen, sie machen ja vielfältig die Wirklichkeit unserestagtäglichen Lebens aus; was aber aufzustöbern und hervorzuziehen ist, istihr Unbegriffensein, das sich in pure und plumpe Ver|trautheit verhüllt hat.Der Mensch lebt in Gemeinschaft, in Gemeinschaften der verschiedenstenund mannigfaltigsten Art; keiner lebt „allein“ im Sinne von „unbezüglich“;sofern ein Mensch überhaupt ist, ist er schon aufgetan und aufgebrochenfür das Mitdasein der Mitmenschen; er ist nie und niemals ein in sich ver-schlossenes, abgekapseltes „Subjekt“; Verschlossenheit als menschlicherCharakterzug, der der Schwermut nahe ist, ist vielmehr eine Modifikationdes Miteinanderseins. Jeder ist Mitmensch, ob er will oder nicht, und alsMitmensch ist er der Andere des Anderen. Aber es bleibt eine erst noch zuerörternde Sache, ob die Gemeinschaft begriffen werden kann im Ausgangvon der Mitmenschlichkeit, also im Ausgang von einem Wesenszug desEinzelmenschen. Geht nicht eher die Gemeinschaft den einzelnen Mitglie-dern vorauf, derart, daß sie jene in ihre Einzelheit und Gliedschaft entläßt?Oder ist auch diese ganze beliebte Antithetik, die bald den Vorrang des Ein-zelnen, bald den Vorrang der Gemeinschaft behauptet, unangemessen, weilsie mit Vorstellungen von „Ganzem“ und „Teil“ operiert, die ihre Auswei-sung und ihre Gültigkeit bei solchem Seienden haben, dessen Seinsart prin-zipiell von der des Menschen verschieden ist? Verbirgt sich in jenem altenStreit nicht ein Streit über den Vorrang des mechanischen oder des organi-schen Denkens? Wird hier die Sozialität nicht entweder am Modell desSandhaufens oder an dem des Bienenstocks orientiert? Ferner finden wirdoch Gemeinschaftsformen vor, in die man hineingeboren wird, die mansich nicht wählt; wie man seine Eltern nicht aussuchen kann, so auch nichtseine Sippe, seinen Stamm, sein Volk. Was sind diese „biologischen Verbän-de“ aber? Reicht die biologische Auffassung aus, die von den elementarenFormen von Pflanze zum Tier und schließlich zum Menschen aufsteigt –und gerade in solchem „Aufsteigen“ ihn niederzieht in das, was er angeblichüberhöhen soll? Was ist überhaupt der wahre Sinn von dem geschachtelten

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Ineinander immer größerer Lebenskreise und Sozialverbände? Ist das räum-liche Bild von „Nähe“ und „Ferne“ am Ende nicht irreführend? Muß nichtNähe und Ferne ganz anders verstanden werden, wenn sie einen „mit-menschlichen“ Sinn haben? Das Miteinandersein, das zwischen Menschund Mensch waltet, – ist dies toto genere verschieden von der Art und Wei-se, wie Menschen mit anderem Lebendigen verstehend zusammen sind?Sind Beziehungen zwischen Menschen und Tieren, z.B. Haustieren, eineabgeschwächte und stumme Abart der Freundschaft – oder ist die Sym-pathie, die das Lebendige verbindet, etwas wesentlich anderes als die zwi-schenmenschliche Sympathie? Darauf kann man nicht sofort antworten,denn die Frage ist so zu plump und unentwickelt gestellt; es gilt erst, sie zudifferenzieren, „auszuarbeiten“.

Weiterhin kann man so geradezu fragen: hat der Mensch „Gemein-schaft“ nur mit seinesgleichen? Gleich und Gleich gesellt sich gern; aberdie Quelle aller Menschenkinder ist doch die Liebe zwischen Mann undFrau. Aber gibt es etwas, könnte man mit Zarathustra fragen, was sich frem-der wäre als Mann und Weib? (vgl. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra,Von den drei Bösen, KSW, München 1980, Bd. 4, S. 237) Und ist nicht dieseFremdheit das große Geheimnis der Anziehung der Geschlechter? Es isthöchst ungewiß, ob man je damit auskommt, die menschliche Liebe, als dieUrzelle aller Gemeinschaft, im biologischen Aspekt nur zu betrachten. Istdie „Liebe“ ein romantisches Thema, das nicht einer ernsthaften philoso-phischen Frage zugänglich ist? Sie ist vielleicht ernster, als die frivolenWitzlinge glauben; man darf sie aller|dings nicht verwechseln mit den klei-nen Gefühlchen, die einen ab und zu im Spielfeld des Reizes anwandeln; siesteht immer in der Nachbarschaft des Todes, ja ist am Ende die innigsteWeise, wie der Mensch um seine Sterblichkeit und zugleich Unsterblichkeitweiß. Wenn aber die Liebe einen inneren Sinnbezug hat zum Tode, so stehtja der Tod als sinngebende Macht in die menschliche Gemeinschaft herein;Gemeinschaft ist vielleicht nicht nur ein Bund der Lebenden, nicht nur einMiteinandersein von Zeitgenossen; Gemeinschaft ist auch zwischen den Le-benden und Toten, den Gegenwärtigen und den Ahnen – und auch denUngeborenen, den Künftigen. Alle Vorsorge, Arbeit, Staatsgründung be-zieht sich auf den Horizont der Zukunft, aber nicht einen leeren und unbe-stimmten, sondern auf den erfüllten erhoffter Nachkommen. Der großeStaatsmann wird nicht bewegt von der Nächstenliebe, ihn treibt die Fern-stenliebe; er lebt in der Zwiesprache mit den künftigen Geschlechtern.Wenn dies nicht bloße Phrasen sind einer Schönrednerei, die den Eigennutzund denMachthunger verbrämen, – wenn der wahre Staatsmann nicht bloßan das allgemeine „gegenwärtige“ Wohl der lebenden Generation seinesVolkes denkt, wenn er hinaussorgt ins Künftige, dann ist hier doch wohleine ganz seltsame Form der Gemeinschaft gegeben: zwischen einem Men-

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schentum, das gegenwärtig existiert, und einem überhaupt noch nicht exi-stenten. Gibt es hier auch die Struktur der Umkehrung, daß der Andere derAndere meiner selbst ist? Und weiter ist zu fragen, ob denn solche merk-würdigen Formen nur Abwandlungen, Modifikationen sind. Ist die Ge-meinschaft, die in der Pietät die Lebenden mit den Toten verbindet oder inder politischen Tat den Lebenden mit dem ungeborenen Geschlecht der Zu-kunft, ein „Randphänomen“, ein Phänomen, zu dessen Verständnis einRückgang auf die Normalform der Gemeinschaft zwischen Lebenden not-wendig ist? Oder könnte es am Ende sein, daß Lebende nur deswegen für-einander und miteinander und gegeneinander zu sein vermögen, weil diekurze Spanne ihres gleichzeitigen Anwesens ihren Sinn aus den Bezirkender Abwesenden erhält? In der Pietät gegen die Toten wurde der Menscherstmals Mensch, erfuhr er das Leben als Leben. Nicht ist die Sage umsonst,daß es der Opfertod von Heroen und Königen war, welcher Städte begrün-dete. Und endlich noch eine Frage: Kann eine Gemeinschaft, eine Stadt, einStaat bestehen gleichsam als ein Relationengefüge zwischenMenschen, mö-gen es Lebende oder auch Abgestorbene sein? Wir aufgeklärten Leute desXX. Jahrhunderts werden diese Frage rasch bejahen, sie sogar als eine ganzund gar überflüssige und nichtssagende Frage ansehen. Menschliche Ge-meinschaft ist nichts anderes als Gemeinschaft, Verbindung, Bündnis zwi-schenMenschen, – weiter nichts. Hat hier die Aufklärung recht? Oder kom-men anfänglich die Menschen primär überein in dem, was sie verehren? Istder Drang, anzubeten, ein sozialer Faktor ersten Ranges? Sind die ursprüng-lichen Gemeinden nicht die Gemeinden eines Gottes? Mythen und Sagenund Heilige Schriften erzählen, daß die Götter den Menschen die Ehe ge-lehrt, das Feuer des Herdes, die Sitte und die Kunstfertigkeiten. Die un-geheuere, gar nie zu überschätzende Bedeutung der Religion, – weil mannicht groß genug von ihr denken kann, – hat mehr Städte und Menschen-bünde gegründet als alle Kriegshelden. Gehört also das Verhalten zumGött-lichen wesentlich mit in das soziale Ur-phänomen? Ist es einer der stiften-den Faktoren, – oder kommt eben Religion unter | anderen Arten desmenschlichen Benehmens vor? Ist sie eine soziale Tatsache, letztlich zu-fällig, kontingent? Eine Reihe von Phänomenen haben wir genannt: „Mit-mensch“, Einzelner, Verband, Mitsein mit Tieren, die Liebe, der Tod, diestaatsmännische Tat, die Vorsorge, die Arbeit, die Pietät, die Religion.

Die Aufzählung ist keineswegs vollständig, es fehlen noch ganz ent-scheidende Titel, wie z.B. die Sprache, das Recht, die Kunst, die Wissen-schaft und auch die Philosophie. Mit einer Aufzählung, und wäre sie nochso reichhaltig, ist aber zunächst gar nichts gewonnen. Nur auf die Durch-dringung der Phänomene kommt es an, – auf eine Einsicht in ihre Seins-weise, ihre genuine Verfassung. Bei dem rohen und unzulänglichen Katalogspringt, auch bei einem oberflächlichen Hinblick, uns sofort ein merkwür-

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diger Unterschied in die Augen. Die soziale Welt ist offensichtlich durcheinen merkwürdigen Unterschied aufgespalten. Da gibt es Dinge wie dieSexualität und andererseits die Ehe; die Blutsverwandtschaft und anderer-seits die Familie; die Sippe, das Volk und andererseits den Staat, die Polis; esgibt Dinge im Sozialbereich, die gegeben scheinen, unableitbar, vorhandenwie elementare Tatsachen der Natur, – und dann auf der anderen Seite „Ge-bilde“, die der Mensch selbst hervorgebracht hat, die er geschaffen hat, – dienicht ohne ihn und seine Aktion bestehen. Man ist geneigt, zuzugeben, daßeben im Felde des Sozialen „Tatsachen“ und „Tathandlungen“, Gegebenhei-ten der Natur und Aktionen der Freiheit vorkommen und jeweils mitein-ander verspannt sind. Die beiden Seiten verhalten sich etwa wie „Stoff“ und„Form“; die Sexualität als biologisches Datum wird durch den freien Ent-schluß zweier Menschen von einer geistigen Sinngestalt überformt undwird so zur Ehe. Die Sozialphilosophie operiert seit langem schon mit die-sem Schema von „Stoff“ und „Form“, von „Natur“ und „Freiheit“, von„Sinnlichkeit“ und „Geist“, um die zweideutig schillernde Seinsverfassungder Sozialphänomene begrifflich explikabel zu machen. Das unausdrück-liche Modell dieser Versuche ist aber vorwiegend der Unterschied von Din-gen, die von Natur aus da sind, von Natur sind, was sie sind, wie Berge,Sterne, Bäume, Käfer, Menschen, und andererseits Dingen, die durchmenschliches Wirken und Handeln und Sinngeben eine Sinngestalt gewin-nen, wie wenn das Erz zur Bildsäule und das Holz zum Tisch wird. Natur-dinge und Kunstdinge in ihrem Unterschied und auch in ihrer Bezüglichkeitbilden das große Thema schon der platonisch-aristotelischen Ontologie.Was aber dort noch ein echtes Problem war, ist inzwischen längst in einenhandlichen und überall anwendbaren Allerweltsunterschied ausgewalzt undvernutzt worden. Aber selbst wenn man die ontologische Problematik derDifferenz von Naturding und Kunstding erneut verlebendigen wollte, sowären doch diese Kategorien unzulänglich, um uns ein Wesensverständnisdes menschlichen Miteinanderseins aufzuschließen. Nie kann vom „Kunst-ding“ aus die Gemeinschaft in ihrer Seinsstruktur durchsichtig gemachtwerden: denn Kunstdinge kann es überhaupt nur geben auf dem Bodenvon Gemeinschaft. Sie ist ein viel ursprünglicheres Phänomen. Vorerst istdas eine Behauptung. Mehr daraus zu machen, ist ein Geschäft, bei dem esuns gehen mag wie dem Fisch: wir werden wohl lange auf dem Trockenenzappeln. |

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Das Selbstgefühl des modernen Menschen – tiefe Zweideutigkeit aller anthro-pologischen Tatsachen. Das Feld der Gesellschaftsgebilde: ein Bereich unbe-dingter Veränderlichkeit? Der entzauberte Mensch. Areligiöse und metaphysik-

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freie Sicht der Sozialphänomene: Machbarkeit, Faktizität und Zufälligkeit der„Institutionen“? Desillusionierte Bewußtheit als wahrheitsgemäßerer Zugang zuden Phänomenen der Gemeinschaft? Sozialwelt: ein Inbegriff menschlicher Re-lationen? Frage nach „Tatsächlichkeit“ und Umfang der sozialen Phänomene –ein offenes Problem? Das gemeinsame Wohnen im Raum der Wahrheit: Offen-heit für das Übermenschliche und die Reduktion der sozialen Phänomene. Dieantike und moderne Sophistik: Operativer Gebrauch metaphysischer Distinktio-nen im Kampf gegen die Metaphysik. – Spekulative Betrachtung der Phänome-ne. Dunkler und undurchsichtiger Charakter der „Tatsächlichkeit“ der sozialenTatsachen – gängiger Unterschied von Real- und Idealfaktoren: nichtig. Pro-blemhaftigkeit des Sozialen, zweideutiger Realitätsbegriff. Vagheit und Unbe-stimmtheit menschlicher Gemeinschaft. Das Allgemeine der Polis, die politischeExistenzweise und die Sprache. Sokrates: die Stadt, nicht die Bäume lehren.

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Zum Selbstgefühl des modernen Menschen [im Vorlesungs-Typoskript:zum menschlichen Selbstgefühl, gestrichen] gehört ein nicht geringer Stolzauf die extreme Bewußtheit unseres Lebens. Man mag vielleicht sagen, frü-here Geschlechter hätten aus einer reicheren substantiellen Kraft gelebt,machtvollere Leidenschaften hätten sie durchstürmt, in ihrem Haß und inihrer Sympathie wäre mehr „Unmittelbarkeit“ und weniger „Reflexion“gewesen, – ja sogar wenn man einräumt eine Vitalschwäche unserer Emp-findungen und Strebungen, so ist man doch irgendwie noch „stolz“ auf dasintellektuelle Raffinement unserer Lebenshaltung, auf die technische Per-fektion der Apparatur. Das Problem der Zivilisation ist komplex geworden;die Diskussion hält sich nicht mehr in simplen Antithesen; man ist weder„naiv“ genug, an einen Progreß der Menschheit als Menschheit zu glauben,noch romantisch genug, in der technischen Zivilisation eine „Entartung“,ein „Unheil“ zu sehen. Die Akzente liegen für uns nicht mehr so sicher fest.Wir haben ein Gespür bekommen für die tiefe Zweideutigkeit aller anthro-pologischen Tatsachen. „Dekadenz“ z.B. ist uns nicht nur eine morbideAuflösungserscheinung; wir haben auch die eminent positive Bedeutungder Dekadenz sehen gelernt, – und dies nicht zuletzt durch Nietzsche selbst,der immer wieder um das Dekadenzproblem kreiste. Gerade seine Stellung-nahme ist ein Schulbeispiel für das Versagen rein biologisch orientierterKategorien und für den Zwang, sie durch konträre zu ergänzen, um dieAmbivalenz dieses Phänomens sichtbar zu machen. Auch Krankheit, Lei-den, Verfall kann schöpferisch werden, auch biologische Schwäche zu einerIntensitätserfahrung des Daseins gelangen, die einer robusten Gesundheitnie möglich ist. Man wird sensitiv, ironisch, skeptisch, man gewinnt denSinn für die feinen Schauder, die leisen Zwischentöne, den sublimen Reiz

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