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77 ULRICH BECKER MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR SOZIALRECHT UND SOZIALPOLITIK Die Verträge, auf denen die Europäische Union (EU) rechtlich gründet, kennen ein „gemeinsames europäisches Asylsys- tem“ . Wer die nicht enden wollenden Berichte in den Medi- en über das Gerangel um Grenzschließungen und Aufnah- mequoten zwischen den EU-Mitgliedstaaten verfolgt, wird davon eher überrascht sein. Denn in der Praxis ist weder von einem „System“ noch von einer „europäischen“ Reaktion auf die Ankunft von Flüchtlingen etwas zu spüren. Die Zahl derer, die in Europa Schutz suchen, steigt seit 2010. Sie hat im letzten Jahr einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. 2015 wurden in der EU knapp 1.120.000 Asylanträge gestellt, da- von in Deutschland, wohin alleine mehr als eine Million Men- schen geflohen sein sollen, knapp 442.000. Von einer „Flüchtlingskrise“ ist allgemein die Rede, und das bezieht sich nicht nur auf die steigende Nachfrage nach Schutz, sondern ganz offensichtlich auf die Schwierigkeiten, darauf angemessen zu reagieren. Auch wenn es reichlich übertrieben ist, den Staatsnotstand auszurufen und von einer Herrschaft des Unrechts zu sprechen: Ein Versagen des Europäischen Asylsystems lässt sich nicht übersehen. Das hat seine Gründe, die weitgehend in den systemischen Schwächen der geltenden Regeln begründet sind. Ob sie behoben werden können, erscheint zweifelhaft – zumindest zu der Zeit, zu der dieser Bericht geschrieben wird. Ange- sichts des Reformdrucks mag sich im Zeitpunkt, in dem die- se Zeilen gelesen werden, eine Lösung abzeichnen oder gar vereinbart worden sein. Wie auch immer sie aussieht: We- sentliche Bedeutung kommt der Frage zu, wie die Aufnah- mebedingungen für Flüchtlinge aussehen, insbesondere in welchem Umfang ihnen soziale Rechte eingeräumt werden. Vorweg ist es allerdings wichtig, etwas begriffliche Klar- heit zu schaffen – zumal es daran in der öffentlichen Dis- kussion oft mangelt. Dabei geht es weniger um sprachliche Präzision als um eine eindeutige Erfassung verschiedener Personengruppen. Das ist wichtig, weil die Rechte im Auf- enthalt von den Rechten auf Aufenthalt abhängen, und die Aufenthaltsrechte wiederum von dem Status ausländischer Personen. Prinzipiell werden zwei Gründe unterschieden, auf denen die Gewährung von Schutz für Ausländer beru- hen kann: Erstens die Flüchtlingseigenschaft, die sich nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (mit Protokoll von 1976) richtet und voraussetzt, dass eine Person „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsange- hörigkeit sie besitzt“ (Art. 1 A Nr. 2 GFK). Dieser Begriff deckt sich weitgehend mit dem des „politisch Verfolgten“ , der nach dem Grundgesetz Recht auf Asyl besitzt (Art. 16a Abs. 1 GG). Zweitens der sogenannte „subsidiäre Schutz“ . Er umfasst Fälle, in denen die Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben ist, weil insbesondere keine bestimmte Verfol- gungsmotivation vorliegt, aber Personen „tatsächlich Ge- fahr laufen“ , einen „ernsthaften Schaden“ in ihrer Heimat zu erleiden. Das schließt „eine ernsthafte individuelle Bedro- hung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationa- len oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ ein. Beide Schutzgründe werden heute als „internationaler Schutz“ bezeichnet, weil traditionell der Begriff „Asyl“ Flüchtlingen im engeren Sinn vorbehalten ist. Europäische Solidarität für Flüchtlinge?

Europäische Solidarität für Flüchtlinge? · 77 ULRICH bECKER MAx-PLAnCK-InSTITUT füR SOzIALRECHT UnD SOzIALPOLITIK Die Verträge, auf denen die Europäische Union (EU) rechtlich

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ULRICH bECKERMAx-PLAnCK-InSTITUT füR SOzIALRECHT UnD SOzIALPOLITIK

Die Verträge, auf denen die Europäische Union (EU) rechtlich

gründet, kennen ein „gemeinsames europäisches Asylsys-

tem“. Wer die nicht enden wollenden Berichte in den Medi-

en über das Gerangel um Grenzschließungen und Aufnah-

mequoten zwischen den EU-Mitgliedstaaten verfolgt, wird

davon eher überrascht sein. Denn in der Praxis ist weder von

einem „System“ noch von einer „europäischen“ Reaktion

auf die Ankunft von Flüchtlingen etwas zu spüren. Die Zahl

derer, die in Europa Schutz suchen, steigt seit 2010. Sie hat

im letzten Jahr einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. 2015

wurden in der EU knapp 1.120.000 Asylanträge gestellt, da-

von in Deutschland, wohin alleine mehr als eine Million Men-

schen geflohen sein sollen, knapp 442.000.

Von einer „Flüchtlingskrise“ ist allgemein die Rede, und

das bezieht sich nicht nur auf die steigende Nachfrage nach

Schutz, sondern ganz offensichtlich auf die Schwierigkeiten,

darauf angemessen zu reagieren. Auch wenn es reichlich

übertrieben ist, den Staatsnotstand auszurufen und von

einer Herrschaft des Unrechts zu sprechen: Ein Versagen

des Europäischen Asylsystems lässt sich nicht übersehen.

Das hat seine Gründe, die weitgehend in den systemischen

Schwächen der geltenden Regeln begründet sind. Ob sie

behoben werden können, erscheint zweifelhaft – zumindest

zu der Zeit, zu der dieser Bericht geschrieben wird. Ange-

sichts des Reformdrucks mag sich im Zeitpunkt, in dem die-

se Zeilen gelesen werden, eine Lösung abzeichnen oder gar

vereinbart worden sein. Wie auch immer sie aussieht: We-

sentliche Bedeutung kommt der Frage zu, wie die Aufnah-

mebedingungen für Flüchtlinge aussehen, insbesondere in

welchem Umfang ihnen soziale Rechte eingeräumt werden.

Vorweg ist es allerdings wichtig, etwas begriffliche Klar-

heit zu schaffen – zumal es daran in der öffentlichen Dis-

kussion oft mangelt. Dabei geht es weniger um sprachliche

Präzision als um eine eindeutige Erfassung verschiedener

Personengruppen. Das ist wichtig, weil die Rechte im Auf-

enthalt von den Rechten auf Aufenthalt abhängen, und die

Aufenthaltsrechte wiederum von dem Status ausländischer

Personen. Prinzipiell werden zwei Gründe unterschieden,

auf denen die Gewährung von Schutz für Ausländer beru-

hen kann: Erstens die Flüchtlingseigenschaft, die sich nach

der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (mit Protokoll

von 1976) richtet und voraussetzt, dass eine Person „aus

der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse,

Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten

sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen überzeugung

sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsange-

hörigkeit sie besitzt“ (Art. 1 A Nr. 2 GFK). Dieser Begriff

deckt sich weitgehend mit dem des „politisch Verfolgten“,

der nach dem Grundgesetz Recht auf Asyl besitzt (Art. 16a

Abs. 1 GG). Zweitens der sogenannte „subsidiäre Schutz“.

Er umfasst Fälle, in denen die Flüchtlingseigenschaft nicht

gegeben ist, weil insbesondere keine bestimmte Verfol-

gungsmotivation vorliegt, aber Personen „tatsächlich Ge-

fahr laufen“, einen „ernsthaften Schaden“ in ihrer Heimat zu

erleiden. Das schließt „eine ernsthafte individuelle Bedro-

hung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson

infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationa-

len oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ ein. Beide

Schutzgründe werden heute als „internationaler Schutz“

bezeichnet, weil traditionell der Begriff „Asyl“ Flüchtlingen

im engeren Sinn vorbehalten ist.

Europäische Solidarität für Flüchtlinge?

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02 FORSCHUNGSAUSBLICKRESEARCH OUTLOOK

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Präzise wäre es deshalb, einerseits von Asylberechtigten

und andererseits von subsidiär Schutzberechtigten zu spre-

chen. Außerdem muss danach unterschieden werden, ob

jemand erst einen Schutz beantragt oder schon erhalten hat.

Für die Dauer des Verfahrens ist das Aufenthaltsrecht unklar

und folgt (nur) aus der Notwendigkeit, die Schutzberechti-

gung zu überprüfen. Antragsteller sind also zunächst Asylbe-

werber oder Schutzsuchende. Wird entsprechend differen-

ziert, kann dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend

das Wort Flüchtlinge als Oberbegriff verwendet werden, der

alle Schutzberechtigten und Schutzsuchenden einschließt.

Das eingangs angesprochene „gemeinsame europäische

Asylsystem“ beruht auf vier Pfeilern, die erstmals um die

Jahrtausendwende geschaffen und in den letzten Jahren,

d.h. vor dem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen – zumin-

dest größtenteils –, renoviert worden sind. Sie betreffen an

sich alle wesentlichen Aspekte der Schutzgewährung. Da

ist zunächst die sog. Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95).

In ihr werden die Voraussetzungen für den internationalen

Schutz ebenso festgelegt wie grundlegende Rechte, die mit

der Verleihung eines Schutzstatus verbunden sind. Zweitens

existiert eine Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32), die Bestim-

mungen über das Verfahren zur Verleihung und Aberkennung

der Schutzberechtigung enthält. Drittens werden in einem

eigenen Rechtsakt, der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33),

die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende bestimmt.

Viertens und schließlich ist zu klären, welcher Mitgliedstaat

in der EU für die Prüfung von Schutzanträgen zuständig ist.

Das regelt die mittlerweile sehr bekannt gewordene Dublin

III-Verordnung (VO 604/2013), die flankiert wird durch Anfor-

derungen an die Registrierung von Schutzsuchenden (sog.

Eurodac-Verordnung 203/2013).

Obwohl mit den genannten Rechtsvorschriften eine Ein-

heitlichkeit zumindest in grundlegenden Fragen erreicht

worden sein sollte, funktionieren sie in der Praxis nicht. Da

ist zum einen die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr

unterschiedliche Auslegung der Schutzvoraussetzungen. Sie

kommt darin zum Ausdruck, dass die Anerkennungsquoten

für Schutzsuchende aus bestimmten Herkunftsstaaten in-

nerhalb der EU stark schwanken – was kaum alleine mit in-

dividuellen Besonderheiten in den zu entscheidenden Fällen

erklärt werden kann. Sehr viel gravierender sind die Schwä-

chen des sog. Dublin-Systems. Lange Zeit konnten sich die

in der Mitte Europas gelegenen Staaten darauf verlassen,

dass sie keine Flüchtlinge aufnehmen mussten. Denn zu-

ständig sind primär die Staaten, in denen ein Flüchtling ein-

reist, also die an den Außengrenzen gelegenen Staaten. Mit

der zunehmenden Zahl an Flüchtlingen wollten oder konnten

die Grenzstaaten diese Verpflichtung nicht mehr erfüllen. In

einem Raum der offenen Binnengrenzen, dem sog. Schen-

gen-Raum, führte diese Situation zu einer weitgehend unge-

steuerten Zuwanderung. Das ist der Grund, warum einige

Länder wie Schweden, Österreich und die meisten Balkan-

staaten ihre Grenzen schließen und damit eine Wanderung

innerhalb der EU zu unterbinden oder zu beschränken versu-

chen. Dass dies wiederum zu schwer erträglichen Situatio-

nen in den Grenzstaaten führt, ist nicht zu übersehen.

Die Schwierigkeit der gegenwärtigen Situation liegt darin,

dass auch in der Asylpolitik nicht weniger, sondern “mehr

Europa” gebraucht würde. Der Zustand des „Gemeinsamen

Europäischen Asylsystems“ erinnert nicht umsonst an den

des Euro als zentralen Bestandteil der europäischen „Wirt-

schafts- und Währungsunion“. Hier wie dort gilt, dass manche

Grundlagen, die für das Funktionieren einer gemeinsamen

Politik unerlässlich sind, nicht vergemeinschaftet worden

sind. Im Zusammenhang mit der Aufnahme von Flüchtlin-

gen muss insbesondere die Sicherung der Außengrenzen

als gemeinsame Aufgabe aller Mitgliedstaaten begriffen

werden. Darüber hinaus wäre es erforderlich, gemeinsam

eine Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen zu

übernehmen.

Gerade in einer Situation wie sie gegenwärtig gegeben ist,

nämlich bei der durch einen Bürgerkrieg in einer angren-

zenden Region ausgelösten Massenflucht, steht mit der

Vereinbarung von Kontingenten ein besonders geeignetes

Mittel zur Verfügung. Denn solche Kontingente erlauben den

Flüchtlingen eine sichere Einreise und entlasten in den Auf-

nahmestaaten die Behörden und Gerichte von aufwendigen

Verfahren der Einzelfallprüfung. Tatsächlich existiert dafür

DIE SCHwIERIGKEIT DER GEGEnwäRTIGEn SITUATIOn LIEGT DARIn, DASS AUCH In DER ASyL-POLITIK nICHT wEnIGER, SOnDERn „MEHR EUROPA“GEbRAUCHT wIRD.

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in der EU eine eigene Rechtsgrundlage, nämlich die Richt-

linie über temporären Schutz (RL 2001/55). Schon in ihrem

langen Namen steht, dass sie auch „einer ausgewogenen

Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser

Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind,

auf die Mitgliedstaaten“ dient. über eine solche Verteilung

konnte aber innerhalb der EU keine Einigkeit erzielt werden.

Deshalb läuft die Richtlinie leer und ist bis heute nicht ange-

wendet worden.

Wie auch immer die Aufnahme von Flüchtlingen in der EU

gesteuert werden soll: Sie kann nur gelingen, wenn für die

Ausgestaltung des Aufenthalts gemeinsame Standards be-

stehen, die ein menschwürdiges Leben in allen Mitgliedstaa-

ten garantieren. Das gilt insbesondere auch, wenn es um die

Einhaltung von Zuständigkeitsvorschriften geht. Denn grund-

sätzlich ist ein Mitgliedstaat berechtigt, einen Flüchtling in

einen anderen Mitgliedstaat zurückzuführen, wenn dieser

andere Mitgliedstaat nach den bestehenden Vorschriften die

Pflicht hat, das Verfahren auf internationalen Schutz durchzu-

führen. Allerdings scheitert diese Möglichkeit aus rechtlichen

Gründen, sofern ein zuständiger Mitgliedstaat Flüchtlinge

während des Verfahrens nicht menschenwürdig behandelt.

Hintergrund ist die Verpflichtung aller EU-Mitgliedstaaten,

die in der Europäischen Menschenrechtskonvention nieder-

gelegten Rechte zu achten. Kein Staat darf sich an solchen

Verstößen dadurch beteiligen, dass er einen Schutzsuchen-

den durch eine überstellung einer menschenrechtswidrigen

Behandlung aussetzt. Das bedeutet aber auch: Ein Staat

kann sich seiner Verpflichtung zur Schutzgewährung dadurch

entziehen, dass er Flüchtlingen soziale Mindestrechte ver-

wehrt. Darauf müsste reagiert werden, indem EU-Organe

die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten, entsprechende Men-

schenrechtsverstöße zu unterlassen, durchsetzen. Letztend-

lich aber kommt es darauf an, dass alle Staaten der EU ihre

Verantwortung für die Wahrung sozialer Standards akzeptie-

ren und danach praktisch handeln.

Wie aber sehen diese Standards aus? Mit dieser Frage hat

sich ein rechtsvergleichendes Projekt des MPI für Sozial-

recht und Sozialpolitik beschäftigt. Einbezogen wurden die

südeuropäischen Grenzstaaten Spanien, Italien und Grie-

chenland, zwei auf der sogenannten Balkanroute liegende

Staaten (Ungarn und Bulgarien), die wichtigsten Nachbar-

staaten Deutschlands (Frankreich, Österreich, Polen und die

Niederlande), ferner das Vereinigte Königreich, Schweden

und die Türkei. Die Untersuchung konzentrierte sich auf so-

ziale Rechte von Schutzsuchenden während der Anerken-

nungsverfahren, und zwar bezogen auf vier Bereiche: die

Unterbringung, die Sicherung des Lebensunterhalts, die

Gesundheitsversorgung und den Zugang zum Arbeitsmarkt.

Für alle diese Bereiche enthält das EU-Recht Vorgaben mit

der bereits erwähnten Aufenthaltsrichtlinie. Diese Richtli-

nie wurde erstmals im Jahr 2003 erlassen und ist 2013 re-

formiert worden. Ihr Ziel besteht darin, den Antragstellern

„ein menschenwürdiges Leben“ zu ermöglichen und „ver-

gleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten“ zu

gewährleisten, auch um eine „auf unterschiedliche Aufnah-

mevorschriften zurückzuführende Sekundärmigration“ ein-

zudämmen (Erwägungsgründe 11 und 12). Die Richtlinie war

im Wesentlichen bis spätestens zum 20.7.2015 in nationales

Recht umzusetzen. Vor diesem Hintergrund stellte sich ers-

tens die Frage, wie weit die Mitgliedstaaten mit dieser Um-

setzung gekommen sind, und zweitens, ob sich im Zusam-

menspiel zwischen nationalem Recht und unionsrechtlichen

Mindestvorgaben gemeinsame Standards herausbilden, die

dann zu wenigstens im Grundsatz gleichen Aufenthaltsbe-

dingungen der Schutzsuchenden führen.

Die rechtsvergleichende Bestandsaufnahme ist ernüch-

ternd. In den Mitgliedstaaten herrscht ein wahrer Flicken-

teppich an Regelungen. Die nationalen Rechtsordnungen

sehen unterschiedlichste Leistungsarten, Leistungsmodali-

täten und Leistungsumfänge vor, die zudem je nach Stadium

des Asylverfahrens oder auch der jeweils vorgesehenen Ver-

fahrensart (beschleunigtes Verfahren, reguläres Verfahren,

Dublin-Verfahren) variieren. Hinsichtlich der Unterbringung

sind Aufenthalsbeschränkungen während des Verfahrens

die Regel. Von den im EU-Recht vorgesehenen drei Unter-

bringungsmöglichkeiten – „Räumlichkeiten für die Dauer der

Prüfung eines an der Grenze oder in Transitzonen gestellten

Antrags“, „Unterbringungszentren“ und privaten oder „an-

deren für die Unterbringung von Antragstellern geeigneten

DIE STEUERUnG DER AUfnAHME vOn fLüCHTLInGEnIn DER EU KAnn nUR GELInGEn, wEnn füR DIEAUSGESTALTUnG DES AUfEnTHALTS GEMEInSAMESTAnDARDS bESTEHEn, DIE EIn MEnSCHEn-wüRDIGES LEbEn In ALLEn MITGLIEDSTAATEn GARAnTIEREn.

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Räumlichkeiten“ – wird in unterschiedlichem Maße in den

Vergleichsländern Gebrauch gemacht. Es existieren zwar

einige Qualitätsvorschriften, aber die ganz offensichtlich vor-

handenen Schwierigkeiten, tatsächlich eine angemessene

Unterbringung zu ermöglichen, sind unübersehbar. Es fehlt

an Unterkünften in ausreichender Zahl. Das ist Folge einer

unzureichenden Vorbereitung auf die starke Inanspruchnah-

me des internationales Schutzes in vielen Ländern.

Was die materiellen Leistungen angeht, gilt ein „angemes-

sener Lebensstandard“ als unionsrechtliche Vorgabe, der in-

sofern etwas näher umschrieben wird, als dessen Einhaltung

die Gewährleistung des Lebensunterhalts sowie des Schut-

zes der physischen und psychischen Gesundheit von Antrag-

stellern voraussetzt. Bei der Sicherung des Lebensunterhalts

setzen nicht wenige Länder auf eine – grundsätzlich mögliche

– Differenzierung gegenüber einem allgemeinen Hilfeniveau.

Das ist vielerorts unübersehbar mit der Gefahr verbunden,

die Einhaltung des Existenzminimums zu verfehlen.

Etwas günstiger scheint die Situation bei der Versorgung

mit Gesundheitsleistungen zu sein. Insofern lassen sich un-

terschiedliche, am Aufenthaltsstatus orientierte Regelungs-

ansätze feststellen, die im Ergebnis zu drei verschiedenen

Situationen führen: Erstens können in einigen Vergleichs-

rechtsordnungen Asylsuchende die gleichen Leistungen der

Krankenbehandlung in Anspruch nehmen wie Staatsbürger

(etwa in Italien, Polen und dem Vereinigten Königreich).

Zweitens kann innerhalb der allgemeinen Grundversorgung

Asylbewerbern auch nur der Zugang zu einer medizinischen

Grundversorgung gewährt werden, die nicht unbedingt de-

ckungsgleich ist mit nationalen Basisleistungskatalogen.

Drittens existiert mancherorts eine Begrenzung des Behand-

lungsanspruchs auf eine Akutversorgung. Im übrigen zeigen

schon die Erfahrungen mit der Situation in Deutschland,

dass es bei den Gesundheitsleistungen vor allem auf die tat-

sächliche Versorgungspraxis ankommt, die alles andere als

reibungslos abläuft.

Im Hinblick auf den Zugang zum Arbeitsmarkt schließlich sind

die in den meisten Mitgliedstaaten bestehenden Hürden

nicht zu übersehen. Das Unionsrecht hält den Mitgliedstaa-

ten dafür viele Möglichkeiten offen: Der Zugang muss Asyl-

bewerbern erst nach neun Monaten eröffnet werden, und

auch das steht unter dem Vorbehalt, dass über den Schutz-

antrag noch nicht entschieden worden ist. Der Vorrang für

Unionsbürger und aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehö-

rige aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ist eine verständ-

liche Einschränkung, die Durchführung der entsprechenden

Prüfung aber oft zu umständlich, womit die unionsrechtliche

Verpflichtung, Antragstellern einen „effektiven Zugang zum

Arbeitsmarkt zu gewähren“, viel zu oft unerfüllt bleibt. Dazu

kommt, dass Asylbewerber in einigen Staaten nur bestimm-

ten Beschäftigungen nachgehen dürfen, etwa Saisontätig-

keiten oder ausgewählten Mangelberufen. Ihnen wird zwar

eine Beschäftigung innerhalb der Asylunterkunft gestattet.

Die Zahl dieser Beschäftigungsmöglichkeiten bleibt jedoch

äußerst beschränkt, und die Verdienstmöglichkeiten sind

mehr als bescheiden.

Die derzeitige Situation ist also einerseits durch viele prak-

tische Schwierigkeiten gekennzeichnet, von denen immer

wieder zu hören, zu lesen und zu sehen ist. Andererseits

bleibt auch rechtlich gesehen noch viel zu tun, um zu den

angestrebten unionsweit vergleichbaren Aufnahmebedin-

gungen für Flüchtlinge zu kommen. Die Europäische Kom-

mission hat nicht umsonst bis zum Frühjahr 2016 eine Reihe

von Vertragsverletzungsverfahren gegen säumige Mitglied-

staaten eingeleitet. Immerhin sind einige Ansätze erkenn-

bar, auf denen weiter aufgebaut werden kann. Dazu gehört

ganz allgemein der Umstand, dass Schutzsuchenden Leis-

tungen und Teilhabemöglichkeiten in den Mitgliedstaaten

weitgehend durch gesetzliche Vorschriften mit individuellen

Ansprüchen eingeräumt werden. Dazu gehört ferner das

Bemühen einiger nationaler Gerichte, die Anforderungen

an ein menschenwürdiges Leben konkreter zu fassen. So

hat das Bundesverfassungsgericht im Sommer 2014 ent-

schieden, auch „eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufent-

haltsperspektive in Deutschland“ rechtfertige es nicht, „den

Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen

Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Exis-

tenz zu beschränken“. Vielmehr müsse – einer 2010 zu den

sogenannten Hartz IV-Leistungen ergangenen Entscheidung

02 FORSCHUNGSAUSBLICKRESEARCH OUTLOOK

EIn RECHTSvERGLEICHEnDES PROJEKT UnSERES InSTITUTS ERGAb, DASS DIE SOzIALEn STAnDARDS In DEn EInzELnEn MITGLIEDSTAATEn DER EU EIn wAHRER fLICKEnTEPPICH SInD.

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entsprechend – auch Flüchtlingen ab Beginn des Aufenthalts

ein soziokulturelles Existenzminimum gewährt werden. An

diese Entscheidung hat wenig später der High Court of Ju-

stice für England and Wales angeknüpft und ausgeführt, es

seien bei der Berechnung von Leistungen für Asylbewerber

alle für die Deckung des persönlichen Lebensbedarfs erfor-

derlichen Bestandteile zu berücksichtigen.

Allerdings zeigt sich, dass die Umsetzung dieser Rechtspre-

chung auf Schwierigkeiten stößt. Das in England zuständige

Ministerium hat zwar nach eigenem Bekunden mittlerweile

eine neue Leistungsberechnung angestellt, ist im Ergebnis

dabei aber zu keinen höheren Leistungsansprüchen gekom-

men. Nach wie vor können Asylbewerber im Vereinigten

Königreich nur eine Geldleistung beanspruchen, die sich

auf die Hälfte des Sozialhilfesatzes beläuft. Auch in ande-

ren Ländern hilft eine eher großzügige rechtliche Ausgestal-

tung oft nicht: Wenn etwa in Italien alle Ausländer die all-

gemein vorgesehenen Gesundheitsleistungen in Anspruch

nehmen und in Griechenland auch Asylbewerber Zugang

zum Arbeitsmarkt haben, setzt das immer eine vollständige

Registrierung voraus. Solange es schon daran und an einer

ordnungsgemäßen Unterbringung fehlt, laufen die sozialen

Rechte in der Praxis leer. Es bedarf also eines die Herausfor-

derungen annehmenden politischen Willens und einer effek-

tiven Bürokratie. Und es besteht natürlich letztendlich auch

hier ein Zusammenhang mit der Kontrolle von Grenzen und

der Verteilung von Schutzsuchenden.

Im Ergebnis zeigt sich: Die Herausbildung von Aufnahme-

standards, die dem in der ganzen EU geltenden Ziel, eine

menschenwürdige Existenz zu sichern, entsprächen, steht

ganz offensichtlich erst am Anfang. Es bedarf weiterer ge-

setzlicher Konkretisierungen sowohl auf nationaler wie auf

europäischer Ebene, und es fehlt oft an gerichtlichen Ent-

scheidungen, die diese Konkretisierungen nötigenfalls ein-

fordern würden. Insofern ist auch die rechtsvergleichende

Arbeit fortzusetzen. Insbesondere neue Reformen, die in

vielen Ländern auch die sozialen Rechte der Bürgerkriegs-

flüchtlinge betreffen, bedürfen einer kritischen wissen-

schaftlichen Begleitung. Ohne die Gewährleistung ausrei-

chender sozialer Rechte auf einer gemeinsamen Grundlage

ist das eingangs genannte „gemeinsame europäische Asyl-

system“ nicht funktionsfähig. Das bringt uns am Ende zu-

rück zu der erwähnten vertraglichen Rechtsgrundlage der

EU. Dort ist zu lesen, dass für das europäische Asylrecht

die Grundsätze „der Solidarität und der gerechten Aufteilung

der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“ gelten

(Art. 80 AEUV). Das steht im Indikativ Präsens. In Wirklich-

keit muss es aber gegenwärtig darum gehen, gerade auch

im Zusammenhang mit der Aufnahme von Flüchtlingen eine

europäische Solidarität herzustellen – oder besser gesagt,

dafür zu sorgen, dass ein gemeinsames Einstehen und sich

gegenseitiges Helfen tatsächlich zur Grundlage der europäi-

schen Integration werden.

OHnE DIE GEwäHRLEISTUnG AUSREICHEnDER SOzIALER RECHTE AUf EInER GEMEInSAMEn GRUnDLAGE IST DAS „GEMEInSAME EUROPäISCHEASyLSySTEM“ nICHT fUnKTIOnSfäHIG.