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Das Euroscreen 2-Projekt untersuchte als Fortsetzung des Euroscreen 1-Projektes (Chadwick et al. 1998) Fragen zur Verwen- dung genetischer Informationen durch Versi- cherung, die möglichen Probleme, die aus der Kommerzialisierung von genetischen Tests erwachsen, und die Bedenken, die sich auf das öffentliche Verstehen von Fortschritten in der Genetik bezogen. Versicherung und genetische Information Einige Staaten sowohl in Europa als auch in Nordamerika haben bereits Gesetze einge- führt oder schlagen zumindest vor, dass den Versicherungen der Zugang zu molekular-ge- netischer Information verwehrt bleiben solle. Die Rechtfertigung für dieses Verbot wird ge- wöhnlich mit einer oder mit beiden der fol- genden Behauptungen untermauert: 1. Gene- tische Information ist nicht vergleichbar mit anderen medizinischen Informationen, und man kann deshalb auch nicht in gleicher Wei- se mit ihr umgehen. 2. Das Wesen von Versi- cherung gründet auf dem Ideal der Solidari- tät. Während die erste Frage viel diskutiert wurde, schenkte man der zweiten weniger Aufmerksamkeit, obwohl sich hier offen- sichtlich unterschiedliche Konzepte von Soli- darität verbergen. Das Solidaritätsargument wurde dement- sprechend von der Versicherungsindustrie stark kritisiert. Sie befürchtet, dass durch das Verbot der Offenlegung von genetischer In- formation im Namen der Solidarität ein Grundprinzip von Versicherungen angegrif- fen wird: nämlich deren Form von Solidari- tät. Hilfreich ist deshalb eine Unterscheidung zwischen communal solidarity, einer allge- mein menschlichen, sozialen Solidarität, und constitutive solidarity, einer konstituierten Solidarität. Communal solidarity ist eine So- lidarität, die in einer Gruppe von Menschen gilt, die ein allgemeinmenschliches Interesse teilen. Constitutive solidarity dagegen wird in einer Gruppe von Menschen entwickelt, die allenfalls ein spezielles Interesse oder Ziel miteinander gemeinsam haben. Nach dem Konzept der communal solida- rity könnte das gemeinsame Interesse durch eine Tätigkeit definiert sein, z.B. in Berufs- gruppen, oder auch durch die Wahrnehmung einer gewissen Übereinkunft zwischen Indi- viduen, die eine moralische Verantwortung begründet, wie dies z.B. in der humanisti- schen Solidarität gefordert wird. Die Ge- schichte der Krankenversicherungen in vielen europäischen Ländern illustriert dieses Kon- zept. Hier besteht jedoch ein großer Unter- schied zur constitutive solidarity, bei der In- dividuen ein Interesse miteinander teilen. Um dieses zu verfolgen und zu schützen, bilden sie eine Gruppe, um ein Versicherungspro- gramm zu erstellen. Einer der wichtigsten Unterschiede zur communal solidarity zeigt sich in der Regelung der individuellen Beiträ- ge zum Gemeinschaftsunternehmen, die an- hand des Risikos ermittelt werden. Solidarität meint hier, dass die Gruppenmitglieder glei- chen Anteil an Nutzen und Kosten haben. Das Fairnessprinzip impliziert, dass der indi- viduelle Beitrag mit den bekannten Risiken übereinstimmen sollte. Ethik Med (2000) 12:269–273 Informationen Euroscreen 2: Zu einer gemeinsamen Versicherungs- und Kommerzialisierungspolitik und zu einer Politik des öffentlichen Bewusstseins über Genetik Ruth Chadwick, Henk ten Have, Rogeer Hoedemaekers, Jørgen Husted, Mairi Levitt, Tony McGleenan, Darren Shickle, Urban Wiesing © Springer-Verlag 2000 Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing ( ) Universität Tübingen, Lehrstuhl für Ethik in der Medizin, Keplerstrasse 15, 72074 Tübingen, Deutschland

Euroscreen 2: Zu einer gemeinsamen Versicherungs- und Kommerzialisierungspolitik und zu einer Politik des öffentlichen Bewusstseins über Genetik

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Das Euroscreen 2-Projekt untersuchte alsFortsetzung des Euroscreen 1-Projektes(Chadwick et al. 1998) Fragen zur Verwen-dung genetischer Informationen durch Versi-cherung, die möglichen Probleme, die aus derKommerzialisierung von genetischen Testserwachsen, und die Bedenken, die sich aufdas öffentliche Verstehen von Fortschritten inder Genetik bezogen.

Versicherung und genetische Information

Einige Staaten sowohl in Europa als auch inNordamerika haben bereits Gesetze einge-führt oder schlagen zumindest vor, dass denVersicherungen der Zugang zu molekular-ge-netischer Information verwehrt bleiben solle.Die Rechtfertigung für dieses Verbot wird ge-wöhnlich mit einer oder mit beiden der fol-genden Behauptungen untermauert: 1. Gene-tische Information ist nicht vergleichbar mitanderen medizinischen Informationen, undman kann deshalb auch nicht in gleicher Wei-se mit ihr umgehen. 2. Das Wesen von Versi-cherung gründet auf dem Ideal der Solidari-tät. Während die erste Frage viel diskutiertwurde, schenkte man der zweiten wenigerAufmerksamkeit, obwohl sich hier offen-sichtlich unterschiedliche Konzepte von Soli-darität verbergen.

Das Solidaritätsargument wurde dement-sprechend von der Versicherungsindustriestark kritisiert. Sie befürchtet, dass durch das

Verbot der Offenlegung von genetischer In-formation im Namen der Solidarität einGrundprinzip von Versicherungen angegrif-fen wird: nämlich deren Form von Solidari-tät. Hilfreich ist deshalb eine Unterscheidungzwischen communal solidarity, einer allge-mein menschlichen, sozialen Solidarität, undconstitutive solidarity, einer konstituiertenSolidarität. Communal solidarity ist eine So-lidarität, die in einer Gruppe von Menschengilt, die ein allgemeinmenschliches Interesseteilen. Constitutive solidarity dagegen wird ineiner Gruppe von Menschen entwickelt, dieallenfalls ein spezielles Interesse oder Zielmiteinander gemeinsam haben.

Nach dem Konzept der communal solida-rity könnte das gemeinsame Interesse durcheine Tätigkeit definiert sein, z.B. in Berufs-gruppen, oder auch durch die Wahrnehmungeiner gewissen Übereinkunft zwischen Indi-viduen, die eine moralische Verantwortungbegründet, wie dies z.B. in der humanisti-schen Solidarität gefordert wird. Die Ge-schichte der Krankenversicherungen in vieleneuropäischen Ländern illustriert dieses Kon-zept.

Hier besteht jedoch ein großer Unter-schied zur constitutive solidarity, bei der In-dividuen ein Interesse miteinander teilen. Umdieses zu verfolgen und zu schützen, bildensie eine Gruppe, um ein Versicherungspro-gramm zu erstellen. Einer der wichtigstenUnterschiede zur communal solidarity zeigtsich in der Regelung der individuellen Beiträ-ge zum Gemeinschaftsunternehmen, die an-hand des Risikos ermittelt werden. Solidaritätmeint hier, dass die Gruppenmitglieder glei-chen Anteil an Nutzen und Kosten haben.Das Fairnessprinzip impliziert, dass der indi-viduelle Beitrag mit den bekannten Risikenübereinstimmen sollte.

Ethik Med (2000) 12:269–273

Informationen

Euroscreen 2: Zu einer gemeinsamen Versicherungs- und Kommerzialisierungspolitikund zu einer Politik des öffentlichen Bewusstseinsüber GenetikRuth Chadwick, Henk ten Have, Rogeer Hoedemaekers, Jørgen Husted,Mairi Levitt, Tony McGleenan, Darren Shickle, Urban Wiesing

© Springer-Verlag 2000

Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing (✉ )Universität Tübingen,Lehrstuhl für Ethik in der Medizin,Keplerstrasse 15,72074 Tübingen, Deutschland

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Insofern nutzen das Solidaritätsargumentwie auch sein Gegenargument, ebenfalls aufSolidarität basierend, den gleichen, nicht ein-deutigen Begriff ganz unterschiedlich. So er-scheint es aus dem Blickwinkel der Industrieals ungerechtfertigt, an die moralische Soli-darität, die communal solidarity, zu appellie-ren und in ihrem Namen Vorschriften für eineIndustrie zu erlassen, die einen völlig ver-schiedenen modus operandi nutzt, nämlichdie constitutive solidarity. Den Zugang zu ge-netischer Information zu verbieten, würde be-deuten, Menschen moralische Solidarität auf-zuzwingen, die sich einer anderen Art vonSolidarität verpflichtet fühlen.

Ein Versicherungssystem, das ausschließ-lich auf der konstituierten Solidarität basiert,kann Individuen vom Versicherungsschutzausschließen. Dies wird um so wahrscheinli-cher, je mehr prognostisches Wissen vorhan-den ist, und genau das ist die molekulare Ge-netik zu liefern bestrebt. Die Strategien, umdiesen unerwünschten Effekt auszuschließen,lassen sich in drei Kategorien einteilen:Großangelegte Lösungen werden signifikan-te, strukturelle Wandel in der internationalenund staatlichen Regulierung von Versicherun-gen erfordern. Mittlere Lösungen werden so-wohl Änderungen in der Gesetzgebung alsauch in der industriellen Praxis erfordern.Kleine Lösungen schließlich ermöglichen imengeren Rahmen Veränderungen der Praxisund der gesetzlichen Regelungen.

Großangelegte Lösungen müssten die Na-tur des Versicherungsmarktes verändern undden Gebrauch genetischer Information gänz-lich untersagen. Mittlere Lösungen dagegenbeinhalten zurückhaltendere Regulationendes Versicherungsmarktes, Selbstregulationder Industrie, Moratoria, begrenzende Syste-me, nationale Gesetzgebung und eine Verän-derung der Offenbahrungspflichten gegen-über den Versicherern. Wahrscheinlich wirdeine Kombination von mittleren und kleinenLösungen in den europäischen Ländern alsAntwort auf das Problem übernommen wer-den. Die großangelegten Lösungsvorschlägedürften wegen ihrer enormen politischen undökonomischen Auswirkungen kaum akzepta-bel sein. Es seien hier die Schlussfolgerungenim Hinblick auf die kleinen Lösungen darge-stellt, zumal diese bisher vergleichsweise we-nig diskutiert wurden.1

Die Nutzung allgemein verfügbarer prä-diktiver genetischer Techniken kann letztlichzu einer Beeinträchtigung der Versicherungs-industrie führen, weil Risiken in größeremMaße vorhersagbar sind und dadurch keineRisiken mehr sind, sondern Gewissheit. Rea-listischerweise wird der weitverbreitete Ge-brauch genetischer Tests jedoch zu einemVersicherungsmarkt führen, der maßge-schneiderte Produkte anbietet, um der Her-ausforderung durch die prädiktive Medizin zubegegnen. Für besondere Krankheiten undbei Langzeitpflegefällen werden wahrschein-lich geänderte Versicherungsprodukte ange-boten werden. Ebenso könnten Versicherun-gen angeboten werden, die dem Versichertenunter Umständen einen Profit einbringen.Dieses Versicherungsmodell sieht vor, dassIndividuen eine Prämie zahlen, die ihre ei-gentlich zu zahlende, nach ihrem Risiko be-rechnete Prämie übersteigt; wenn sie keineAnsprüche z.B. aufgrund einer genetischenErkrankung erheben, bekommen sie nach ei-nigen Jahren einen Bonus ausgezahlt.

Einige Schwierigkeiten im Umgang mitGenetik und Versicherungen könnten abge-mildert werden, indem diejenigen, die sicheinem genetischen Test unterziehen wollen,schon vor dem Test eine Lebens- oder, sofernnicht vorhanden, eine Krankenversicherungabschließen. Überdies könnten genetischeTests dann per Gesetz als illegal erklärt wer-den, wenn sie an einem Individuum vorge-nommen werden, das noch keine gültige Le-bens- oder Krankenversicherungspolice vor-weisen kann. Eine vorstellbare Antwort wäreauch, dass im Falle eines ohne die nötigenDokumente durchgeführten Tests das betrof-fene Krankenhaus bzw. der Arzt für die zu-künftigen Gesundheitsvorsorgekosten des In-dividuums aufkommen müsste. Die zweiletztgenannten Alternativen haben einen ern-sten Nachteil, nämlich, dass sie die Patientendavon abhalten werden, sich einem geneti-schen Test zu unterziehen, auch wenn es me-dizinisch nützlich ist. Zudem dürften die te-stenden Institutionen mit derartigen Vorschlä-gen kaum einverstanden sein.

Wahrscheinlich wird der Versicherungs-markt selbst zumindest eine Teillösung desProblems hervorbringen, indem er ein Versi-cherungsprogramm entwickelt, das speziellauf diejenigen zugeschnitten ist, die im Be-griff sind, sich einem genetischen Test zu un-terziehen. Die Antragsteller könnten eineVersicherung abschließen, die sie vor den ne-gativen Auswirkungen schützt, die sich erge-ben, wenn versicherungsstatistisch relevante,prognostische Information gewonnen wird.

1 Eine vollständige Aufstellung der Arbeitder Versicherungsuntergruppe ist veröffent-licht in: McGleenan, T., Wiesing, U., Ewald,F. (Hg.) (1999) Genetics and Insurance Bios,Oxford.

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Die Folgen molekulargenetischer Diagno-stik könnten abgemildert werden, wenn derAntragsteller bekannte Informationen übergenetische Krankheiten nur dann offen legenmuss, wenn der phänotypische Ausbruch derKrankheit in einer bestimmten Zeitspanne er-folgen wird, z.B. in einem Zeitraum von fünfJahren. Dieses Vorgehen wurde auch von derEnquête-Kommission des Deutschen Bundes-tages empfohlen. Der Antragsteller ist nichtverpflichtet, den Versicherer über Dispositio-nen zu anderen Krankheiten zu informieren.Ein Problem dieses Entwurfs, das seine Ein-führung kaum realistisch erscheinen lässt,liegt darin, dass es natürlich schwierig ist,den phänotypischen Ausbruch vieler Krank-heiten im jeweiligen Einzelfall vorherzusa-gen. Ein ähnliches Modell sieht vor, dass derVersicherungsnehmer lediglich über ernsteKrankheiten Auskunft geben muss. Aber woliegt die Grenze zwischen leichten und ern-sten Krankheiten? Wieder eine andere Optionsieht vor, dass der Versicherungsnehmer kei-ne Informationen über bestimmte Krankhei-ten schuldig ist, denen ein spezieller öffentli-cher Status zuerkannt worden ist.

Bei all den Optionen zur Abmilderung derunerwünschten Folgen der Genetik im Versi-cherungswesen zeigt sich, dass eine funktio-nierende soziale Krankenversicherung vongrößtem Vorteil ist. Hierbei können geneti-sche Tests zur Vorbeugung und Therapie ge-nutzt werden, ohne den Verlust von Versiche-rungsschutz befürchten zu müssen.

KommerzialisierungEs sind Bedenken laut geworden, dass kom-merzielle genetische Tests oder Servicelei-stungen, die von privaten Unternehmen ver-kauft werden, die Gefahr mit sich bringen,dass finanzielle Interessen mit dem Interessedes Testsubjekts in Konflikt geraten. Folglichgilt es zu überlegen, wie diese Interessen ge-schützt werden können.

In Europa sind gegenwärtig nur wenigegenetische Tests für die Allgemeinheit erhält-lich. Die kommerzielle Vermarktung hat sichweit langsamer entwickelt, als in den frühenneunziger Jahren prognostiziert wurde. Testszur Anfälligkeit für gewöhnliche Krankheitenwerden vermutlich in der nahen Zukunft dengrößten Anteil der genetischen Tests ausma-chen (Bell 1998). Untersuchungen, die vonGesundheits- oder Justizministerien in zwölfverschiedenen europäischen Ländern in Auf-trag gegeben wurden, ergaben, dass das Bewusstsein für genetische Tests, die der Öffentlichkeit direkt angeboten werden, in

Europa nicht sehr weit verbreitet ist. Vor-schläge für den Umgang mit genetischenTests, die direkt oder im Rahmen der Grund-versorgung angeboten werden, sind entwedernicht vorhanden oder werden zur Zeit ge-prüft. Eine Ausnahme stellt England dar.Dort sind Vorschläge für genetische Tests ge-macht worden, die direkt der Öffentlichkeitangeboten werden (Advisory Committee onGenetic Testing 1997). Auf europäischerEbene wurde die Empfehlung ausgesprochen,dass genetische Tests von adäquater Beratungbegleitet sein sollen (Council of Europe1992) und dass prädiktive genetische Testsnur zu gesundheitlichen Zwecken oder fürwissenschaftliche Untersuchungen, die wie-derum gesundheitlichen Zwecken dienen, an-gewendet werden sollen (Council of Europe1996). Die Zielrichtung des Begriffs „ge-sundheitliche Zwecke“ ist hauptsächlich eineverneinende: genetische Tests für Versiche-rungen oder Einstellungsuntersuchungenwerden ausgeschlossen. Die Euroscreen-Gruppe aber interpretierte „gesundheitlicheZwecke“ in einem umfassenderen, positivenSinn. Eingeschlossen sind (1) Prävention undBehandlung von Krankheiten, (2) Verbesse-rung des Wohlbefindens und (3) eine Erhö-hung der Autonomie (Hoedemaekers et al.1997). Der Begriff „gesundheitliche Zwecke“schließt nicht automatisch die Bereitstellunggenetischer Tests für die Gesundheitsfürsorgeaus. Gesundheitsfürsorge schließt für Euro-screen die unter (1), (2) und (3) genanntenMaßnahmen mit ein. Sie müssen nicht not-wendig von der Gesundheitsfürsorge bereit-gestellt werden, sondern können im Prinzipdirekt der Allgemeinheit angeboten werden.

Es stellte sich die Frage, welche Vor- undNachteile es hätte, Tests direkt an die Kundenzu vermarkten. Dafür spricht, dass jeder, derüber seinen genetischen Zustand und seineRisiken Bescheid wissen möchte, die Mög-lichkeit hat, sich zu testen. Die Informationkann vertraulich behandelt werden, so dasssie sich nicht auf die Versicherungs- oder Be-schäftigungsfähigkeit auswirkt. Auf der ande-ren Seite könnte der Schutz der Privatsphäreproblematisch werden, wenn genetische In-formationen und Proben von privaten Institu-tionen gespeichert und gesammelt werden.Außerdem sind kommerzielle Tests teuer,was zu ungleichen Zugangsbedingungen füh-ren könnte. Wichtige Informationen könntenweniger bereitwillig an Verwandte oder Haus-ärzte weitergegeben werden, obwohl diesnützlich sein könnte. Das Fehlen adäquaterInformation vor dem Test könnte verhindern,dass der Wert des Tests richtig eingeschätzt

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wird, gefolgt von Missverständnissen, wasdie Ergebnisse betrifft.

Im Hinblick auf die Gesundheitsfürsorgekönnte prädiktives Testen anders als bei denTestsubjekten zu einem gesünderen Lebensstilund so zu einer Kostenreduktion beitragen.Dieser Vorteil wird aber vermutlich durch denfinanziellen Aufwand aufgewogen, der durchdie größere Nachfrage nach Folge-Tests, Be-ratung und Intervention entsteht. In der Be-völkerung könnte ein großes Angebot vonTests eine Tendenz zur Genetisierung verstär-ken. Für die Politik sind solche Dienstleistun-gen schwer zu kontrollieren. Die Euroscreen-Arbeitsgruppe favorisierte mehrheitlich eineForm der Regulation eines direkten Zugangszu genetischen Tests. Im Hinblick auf die ver-schiedenen Gesundheitssysteme in Europa,die Unterschiede in der Krankenversicherungund die Unsicherheit über zukünftige Markt-entwicklungen empfahl die Gruppe, in jedemMitgliedsland Möglichkeiten für die weitereAusbildung derjenigen zu schaffen, die dieGrundversorgung in Händen halten. Außer-dem sollte es Anreize geben, genetische Testsfür seltene Krankheiten zu vertreiben, undschließlich ein überwachendes Organ, an demalle interessierten Parteien Teil haben sollen.

Dass ein solches übergeordnetes Organwünschenswert ist, kann mit verschiedenenArgumenten untermauert werden: (a) mit derRolle von Werturteilen, wenn es um ein Kon-zept des Anormalen geht; (b) mit der Not-wendigkeit, Nutzen und Nachteile für die be-teiligten Parteien abzuwägen; und (c) mitdem zusätzlichen Schadens-Potential, das freierhältliche genetische Tests haben. Das über-geordnete Organ sollte unter anderem dieAufgabe übernehmen, den Inhalt werbenderoder belehrender Informationsmaterialien zuüberprüfen, und entscheiden, welcher geneti-sche Test direkt über e-mail oder den Laden-tisch erhältlich sein soll. Relevante Kriterienfür diese Entscheidung sollten der erkennba-ren Schwere der angefragten genetischenVeranlagung Rechnung tragen, ebenso denmöglichen psychologischen und sozialenSchäden, der Notwendigkeit von Beratung,der Qualität der Testprozedur und der Wirk-samkeit von präventiven und/oder therapeuti-schen Maßnahmen. Die potentiellen Auswir-kungen der Kommerzialisierung hängen je-doch immer mit dem Grad des öffentlichenBewusstseins über das Problem zusammen.

Öffentliches BewusstseinDie Notwendigkeit besseren öffentlichen Ver-ständnisses für Genetik ist in einer Vielzahl

von Berichten verschiedener Organisationenbetont worden. Dafür werden gewöhnlichzwei Gründe genannt: Erstens wird geneti-sche Forschung vermutlich eine deutlicheVeränderung der Gesellschaft hervorrufen,und die Öffentlichkeit sollte das notwendigeBasiswissen besitzen, um an der Debatte teil-zunehmen. Zweitens ist es notwendig, wenngenetische Screeningverfahren und Diagno-sen zur Routine werden, dass die Menschenfähig sind, zu entscheiden, ob sie einen gene-tischen Test oder eine Screeningmaßnahmewünschen oder nicht. Die Bürger sollten sichinformiert für oder gegen eine Vermarktungvon Tests entscheiden können. Diese Ansich-ten sind kontrovers diskutiert worden: sowohlindem man die Vorstellung von „der Öffent-lichkeit“ in Frage stellte, als auch indem manauf die Wichtigkeit von Laienverständlichkeithinwies (Kerr et al. 1998). Die Vertrauens-würdigkeit bestimmter Informationsquellenvariiert in diesem Zusammenhang in einembemerkenswerten Ausmaß. Nach der Euroba-rometer-Umfrage besitzen Verbraucherorga-nisationen, Umweltschutzverbände, der Be-rufsstand der Mediziner und die Universitä-ten die größte Vertrauenswürdigkeit, was dieWahrhaftigkeit ihrer Stellungnahmen zurBiotechnologie betrifft (Eurobarometer 1997).Einige Umfragen haben sich mit den Motivenvon Wissenschaftlern und kommerziellen Or-ganisationen beschäftigt (z.B. WellcomeTrust 1999). Die Hälfte der von Eurobarome-ter (1997) befragten Europäer glaubte, dasstrotz Kontrolle Biotechnologen tun würden,was immer sie wollten. Die Unterstützung füreine Selbstregulation der Industrie war weni-ger ausgeprägt bei Menschen mit höhererBildung und höherem Einkommen.

Wenn Berichte und Organisationen emp-fehlen, den Stand des öffentlichen Bewusst-seins zu heben, schlagen sie gewöhnlich Bil-dungsinitiativen der Gesundheitsberufe undder Medien vor. Diese Quelle übe zusammenmit Familie und Freunden den wichtigstenEinfluss auf das Wissen um Gesundheit, aufLebenseinstellungen und Verhalten in derbreiten Öffentlichkeit aus. Die Untersuchun-gen des Euroscreen-Projektes ergaben aller-dings, dass eine Allgemeinbildung in Genetikderzeit weder die Experten des Gesundheits-wesens noch die Medien vermitteln können.Die im Gesundheitswesen Beschäftigten sindim Moment keineswegs darauf eingerichtet,das Problem Genetik mit ihren Patienten odereiner breiteren Öffentlichkeit zu diskutieren(Watson et al. 1999). Die aktuelle Medienbe-richterstattung tendiert dazu, zwei Problem-felder, die mit der Genetik vergesellschaftet

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sind, in den Mittelpunkt zu rücken: Klonenund gentechnisch veränderte Lebensmittel.Diesen beiden Gesichtspunkten kommt je-doch nur eine begrenzte Relevanz zu, wasdas Leben der Allgemeinheit betrifft. Vielgrößeren Einfluss haben z.B. Tests für gene-tisch bedingte Krankheiten und die Pharma-kogenetik.

Es ist wichtig, klar zu machen, dass einerhöhtes Bewusstsein nicht bedeutet, dassmehr Tests und Screeningmaßnahmen durch-geführt werden, sondern lediglich der Öffent-lichkeit und den Gesundheitsberufen dieMöglichkeit gibt, zu wissen, was möglich ist.Dies gilt auch für die möglichen Kosten undden Gewinn, seien sie nun bezogen auf Versi-cherungen, auf die Kommerzialisierung oderandere Anwendungsbereiche. Menschen mö-gen sich dafür entscheiden, dass sie nicht in-formiert werden wollen, aber es ist wichtig,dass sie die Wahl haben.

Literatur

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2. Bell, J. (1998) ‘The new genetics in clin-ical practice’ British Medical Journal316, 618–620

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5. Council of Europe (1996) Convention forthe Protection of Human Rights and Dig-nity of the Human Being with regard tothe application of Biology and MedicineDirectorate of Legal Affairs, Strasbourg

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8. Kerr, A., Cunningham-Burley, S., Amos,A. (1998) ‘The new genetics and health:mobilizing lay expertise’, Public Under-standing of Science 7, 41–60

9. Watson, E.K., Shickle, D., Qureshi, N.,Emery, J., Austoker, J. (1999, in press)‘The “new genetics” and primary care:general practitioners’ views on their roleand their educational needs. Family Prac-tice

10. Wellcome Trust (1999) Public Perspec-tives on Human Cloning: A Social Research Study, The Wellcome Trust,London