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APOSTOLISCHES SCHREIBEN EVANGELII GAUDIUM DES HEILIGEN VATERS PAPST FRANZISKUS AN DIE BISCHÖFE AN DIE PRIESTER UND DIAKONE AN DIE PERSONEN GEWEIHTEN LEBENS UND AN DIE CHRISTGLÄUBIGEN LAIEN ÜBER DIE VERKÜNDIGUNG DES EVANGELIUMS IN DER WELT VON HEUTE

EVANGELII GAUDIUM PAPST FRANZISKUS...2013/11/24  · 1. Die FreuDe Des evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm ret-ten

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  • APOSTOLISCHES SCHREIBEN

    EVANGELII GAUDIUMDES HEILIGEN VATERS

    PAPST FRANZISKUSAN DIE BISCHÖFE

    AN DIE PRIESTER UND DIAKONE

    AN DIE PERSONEN GEWEIHTEN LEBENS

    UND AN DIE CHRISTGLÄUBIGEN LAIEN

    ÜBER DIE VERKÜNDIGUNG DES EVANGELIUMS

    IN DER WELT VON HEUTE

  • VATIKANISCHE DRUCKEREI

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    1. Die FreuDe Des evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm ret-ten lassen, sind befreit von der Sünde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt im-mer – und immer wieder – die Freude. In diesem Schreiben möchte ich mich an die Christgläubi-gen wenden, um sie zu einer neuen Etappe der Evangelisierung einzuladen, die von dieser Freu-de geprägt ist, und um Wege für den Lauf der Kirche in den kommenden Jahren aufzuzeigen.

    i. FreuDe, Die sich erneuert unD sich mitteilt

    2. Die große Gefahr der Welt von heute mit ih-rem vielfältigen und erdrückenden Konsumange-bot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervor-geht, aus der krankhaften Suche nach oberfläch-lichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die inni-ge Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Be-geisterung, das Gute zu tun. Auch die Gläubigen

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    laufen nachweislich und fortwährend diese Ge-fahr. Viele erliegen ihr und werden zu gereizten, unzufriedenen, empfindungslosen Menschen. Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfüll-ten Lebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, das ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen des auferstandenen Christus hervorsprudelt.

    3. Ich lade jeden Christen ein, gleich an wel-chem Ort und in welcher Lage er sich befindet, noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen. Es gibt keinen Grund, weshalb jemand meinen könnte, diese Einladung gelte nicht ihm, denn »niemand ist von der Freude ausgeschlossen, die der Herr uns bringt«.1 Wer etwas wagt, den enttäuscht der Herr nicht, und wenn jemand ei-nen kleinen Schritt auf Jesus zu macht, entdeckt er, dass dieser bereits mit offenen Armen auf sein Kommen wartete. Das ist der Augenblick, um zu Jesus Christus zu sagen: „Herr, ich habe mich täuschen lassen, auf tausenderlei Weise bin ich vor deiner Liebe geflohen, doch hier bin ich wieder, um meinen Bund mit dir zu erneu-ern. Ich brauche dich. Kaufe mich wieder frei, nimm mich noch einmal auf in deine erlösenden Arme.“ Es tut uns so gut, zu ihm zurückzukeh-ren, wenn wir uns verloren haben! Ich beharre

    1 Paul vi., Apostolisches Schreiben Gaudete in Domino (9. Mai 1975), 22: AAS 67 (1975), 297.

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    noch einmal darauf: Gott wird niemals müde zu verzeihen; wir sind es, die müde werden, um sein Erbarmen zu bitten. Der uns aufgefordert hat, »siebenundsiebzigmal« zu vergeben (Mt 18,22), ist uns ein Vorbild: Er vergibt siebenundsiebzig-mal. Ein ums andere Mal lädt er uns wieder auf seine Schultern. Niemand kann uns die Würde nehmen, die diese unendliche und unerschütter-liche Liebe uns verleiht. Mit einem Feingefühl, das uns niemals enttäuscht und uns immer die Freude zurückgeben kann, erlaubt er uns, das Haupt zu erheben und neu zu beginnen. Fliehen wir nicht vor der Auferstehung Jesu, geben wir uns niemals geschlagen, was auch immer gesche-hen mag. Nichts soll stärker sein als sein Leben, das uns vorantreibt!

    4. Die Bücher des Alten Testaments hatten die Freude des Heils angekündigt, die es dann in den messianischen Zeiten im Überfluss geben sollte. Der Prophet Jesaja wendet sich an den erwarte-ten Messias und begrüßt ihn voll Freude: »Du erregst lauten Jubel und schenkst große Freu-de. Man freut sich in deiner Nähe…« (9,2). Und er ermuntert die Bewohner von Zion, ihn mit Gesängen zu empfangen: »Jauchzt und jubelt!« (12,6). Den, der ihn schon am Horizont gese-hen hat, lädt der Prophet ein, zu einem Boten für die anderen zu werden: »Steig auf einen ho-hen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb dei-ne Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude!« (40,9). Die ganze Schöpfung nimmt an dieser Freude des Heils teil: »Jubelt, ihr Himmel,

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    jauchze, o Erde, freut euch, ihr Berge! Denn der Herr hat sein Volk getröstet und sich seiner Ar-men erbarmt« (49,13).

    Sacharja sieht den Tag des Herrn und for-dert dazu auf, den König hochleben zu lassen, der »demütig« kommt und »auf einem Esel rei-tet«: »Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft« (9,9).

    Aber die am stärksten mitreißende Auffor-derung ist wohl die des Propheten Zefanja, der uns Gott selbst wie einen leuchtenden Mittel-punkt des Festes und der Fröhlichkeit vor Augen führt, der seinem Volk diese heilbringende Freu-de vermittelt. Es ergreift mich, wenn ich diesen Text wieder lese: »Der Herr, dein Gott, ist in dei-ner Mitte, ein Held, der Rettung bringt. Er freut sich und jubelt über dich, er erneuert seine Liebe zu dir, er jubelt über dich und frohlockt« (3,17).

    Es ist die Freude, die man in den kleinen Dingen des Alltags erlebt, als Antwort auf die lie-bevolle Einladung Gottes, unseres Vaters: »Mein Sohn, wenn du imstande bist, pflege dich selbst […] Versag dir nicht das Glück des heutigen Ta-ges« (Sir 14,11.14). Wie viel zärtliche Vaterliebe ist in diesen Worten zu spüren!

    5. Das Evangelium, in dem das Kreuz Chris-ti „glorreich“ erstrahlt, lädt mit Nachdruck zur Freude ein. Nur einige Beispiele: »Chaire – freue dich« ist der Gruß des Engels an Maria (Lk 1,28). Der Besuch Marias bei Elisabet lässt Jo-hannes im Mutterschoß vor Freude hüpfen (vgl.

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    Lk 1,41). In ihrem Lobgesang bekundet Maria: »Mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter« (Lk 1,47). Als Jesus sein öffentliches Wirken beginnt, ruft Johannes aus: »Nun ist diese mei-ne Freude vollkommen« (Joh 3,29). Jesus selber »rief […] vom Heiligen Geist erfüllt, voll Freu-de aus…« (Lk 10,21). Seine Botschaft ist Quelle der Freude: »Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird« (Joh 15,11). Unsere christliche Freude entspringt der Quelle seines überfließen-den Herzens. Er verheißt seinen Jüngern: »Ihr werdet bekümmert sein, aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln« (Joh 16,20), und be-harrt darauf: »Ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch eure Freude« (Joh 16,22). Als sie ihn später als Auferstandenen sahen, »freuten« sie sich (Joh 20,20). Die Apostelgeschichte erzählt von der ersten Gemeinde: Sie »hielten miteinander Mahl in Freude« (2,46). Wo die Jünger vorbeikamen, »herrschte große Freude« (8,8), und sie selber waren mitten in der Verfolgung »voll Freude« (13,52). Ein äthiopischer Hofbeamter zog, nach-dem er die Taufe empfangen hatte, »voll Freude« weiter (8,39), und der Gefängniswärter »war mit seinem ganzen Haus voll Freude, weil er zum Glauben an Gott gekommen war« (16,34). Wa-rum wollen nicht auch wir in diesen Strom der Freude eintreten?

    6. Es gibt Christen, deren Lebensart wie eine Fastenzeit ohne Ostern erscheint. Doch ich gebe

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    zu, dass man die Freude nicht in allen Lebens-abschnitten und -umständen, die manchmal sehr hart sind, in gleicher Weise erlebt. Sie passt sich an und verwandelt sich, und bleibt immer wenig-stens wie ein Lichtstrahl, der aus der persönli-chen Gewissheit hervorgeht, jenseits von allem grenzenlos geliebt zu sein. Ich verstehe die Men-schen, die wegen der schweren Nöte, unter de-nen sie zu leiden haben, zur Traurigkeit neigen, doch nach und nach muss man zulassen, dass die Glaubensfreude zu erwachen beginnt, wie eine geheime, aber feste Zuversicht, auch mitten in den schlimmsten Ängsten: »Du hast mich aus dem Frieden hinausgestoßen; ich habe verges-sen, was Glück ist […] Das will ich mir zu Her-zen nehmen, darauf darf ich harren: Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue […] Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des Herrn« (Klgl 3,17.21-13.26).

    7. Die Versuchung erscheint häufig in Form von Entschuldigungen und Beanstandungen, als müssten unzählige Bedingungen erfüllt sein, da-mit Freude möglich ist. Denn »es ist der tech-nologischen Gesellschaft gelungen, die Vergnü-gungsangebote zu vervielfachen, doch es fällt ihr sehr schwer, Freude zu erzeugen«.2 Ich kann wohl sagen, dass die schönsten und spontansten

    2 Ebd., 8: AAS 67 (1975), 292.

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    Freuden, die ich im Laufe meines Lebens gese-hen habe, die ganz armer Leute waren, die we-nig haben, an das sie sich klammern können. Ich erinnere mich auch an die unverfälschte Freude derer, die es verstanden haben, sogar inmitten bedeutender beruflicher Verpflichtungen ein gläubiges, großzügiges und einfaches Herz zu bewahren. Auf verschiedene Weise schöpfen diese Freuden aus der Quelle der stets größeren Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus kundge-tan hat. Ich werde nicht müde, jene Worte Be-nedikts XVI. zu wiederholen, die uns zum Zen-trum des Evangeliums führen: »Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unse-rem Leben einen neuen Horizont und damit sei-ne entscheidende Richtung gibt.«3

    8. Allein dank dieser Begegnung – oder Wie-derbegegnung – mit der Liebe Gottes, die zu ei-ner glücklichen Freundschaft wird, werden wir von unserer abgeschotteten Geisteshaltung und aus unserer Selbstbezogenheit erlöst. Unser vol-les Menschsein erreichen wir, wenn wir mehr als nur menschlich sind, wenn wir Gott erlauben, uns über uns selbst hinaus zu führen, damit wir zu unserem eigentlicheren Sein gelangen. Dort liegt die Quelle der Evangelisierung. Wenn näm-

    3 Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 1: AAS 98 (2006), 217.

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    lich jemand diese Liebe angenommen hat, die ihm den Sinn des Lebens zurückgibt, wie kann er dann den Wunsch zurückhalten, sie den anderen mitzuteilen?

    ii. Die innige unD tröstliche FreuDe Der verkünDigung Des evangeliums

    9. Das Gute neigt immer dazu, sich mitzu-teilen. Jede echte Erfahrung von Wahrheit und Schönheit sucht von sich aus, sich zu verbrei-ten, und jeder Mensch, der eine tiefe Befreiung erfährt, erwirbt eine größere Sensibilität für die Bedürfnisse der anderen. Wenn man das Gute mitteilt, fasst es Fuß und entwickelt sich. Darum gibt es für jeden, der ein würdiges und erfülltes Leben zu führen wünscht, keinen anderen Weg, als den anderen anzuerkennen und sein Wohl zu suchen. So dürften uns also einige Worte des hei-ligen Paulus nicht verwundern: »Die Liebe Chris-ti drängt uns« (2 Kor 5,14); »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16).

    10. Der Vorschlag lautet, auf einer höheren Ebene zu leben, jedoch nicht weniger intensiv: »Das Leben wird reicher, wenn man es hingibt; es verkümmert, wenn man sich isoliert und es sich bequem macht. In der Tat, die größte Freude am Leben erfahren jene, die sich nicht um jeden Preis absichern, sondern sich vielmehr leiden-schaftlich dazu gesandt wissen, anderen Leben

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    zu geben.«4 Wenn die Kirche zum Einsatz in der Verkündigung aufruft, tut sie nichts anderes, als den Christen die wahre Dynamik der Selbstver-wirklichung aufzuzeigen: »Hier entdecken wir ein weiteres Grundgesetz der Wirklichkeit: Das Leben wird reifer und reicher, je mehr man es hingibt, um anderen Leben zu geben. Darin be-steht letztendlich die Mission.«5 Folglich dürfte ein Verkünder des Evangeliums nicht ständig ein Gesicht wie bei einer Beerdigung haben. Gewin-nen wir den Eifer zurück, mehren wir ihn und mit ihm »die innige und tröstliche Freude der Verkündigung des Evangeliums, selbst wenn wir unter Tränen säen sollten […] Die Welt von heu-te, die sowohl in Angst wie in Hoffnung auf der Suche ist, möge die Frohbotschaft nicht aus dem Munde trauriger und mutlos gemachter Verkün-der hören, die keine Geduld haben und ängstlich sind, sondern von Dienern des Evangeliums, de-ren Leben voller Glut erstrahlt, die als erste die Freude Christi in sich aufgenommen haben.«6

    Eine ewige Neuheit

    11. Eine erneuerte Verkündigung schenkt den Gläubigen – auch den lauen oder nicht praktizie-renden – eine neue Freude im Glauben und eine

    4 v. generalversammlung Der BischöFe von latein-amerika unD Der kariBik, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 360.

    5 Ebd.6 Paul vi., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8.

    Dezember 1975), 80: AAS 68 (1976), 75.

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    missionarische Fruchtbarkeit. In Wirklichkeit ist das Zentrum und das Wesen des Glaubens immer dasselbe: der Gott, der seine unermessliche Lie-be im gestorbenen und auferstandenen Christus offenbart hat. Er lässt seine Gläubigen immer neu sein, wie alt sie auch sein mögen; sie »schöp-fen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt« (Jes 40,31). Christus ist das »ewige Evangelium« (Offb 14,6), und er ist »der-selbe gestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr 13,8), aber sein Reichtum und seine Schönheit sind un-erschöpflich. Er ist immer jung und eine ständige Quelle von Neuem. Die Kirche hört nicht auf zu staunen über die »Tiefe des Reichtums, der Weis-heit und der Erkenntnis Gottes« (Röm 11,33). Der heilige Johannes vom Kreuz sagte: »Dieses Dickicht von Gottes Weisheit und Wissen ist so tief und unendlich, dass ein Mensch, auch wenn er noch so viel davon weiß, immer noch tiefer eindringen kann.«7 Oder mit den Worten des heiligen Irenäus: »[Christus] hat jede Neuheit ge-bracht, indem er sich selber brachte.«8 Er kann mit seiner Neuheit immer unser Leben und un-sere Gemeinschaft erneuern, und selbst dann, wenn die christliche Botschaft dunkle Zeiten und kirchliche Schwachheiten durchläuft, altert sie nie. Jesus Christus kann auch die langweiligen Schablonen durchbrechen, in denen wir uns an-

    7 Geistlicher Gesang, 36, 10.8 Adversus haereses, IV, Kap. 34, Nr. 1: PG 7, 1083: »Omnem

    novitatem attulit, semetipsum afferens.«

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    maßen, ihn gefangen zu halten, und überrascht uns mit seiner beständigen göttlichen Kreativität. Jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zu-rückzukehren und die ursprüngliche Frische des Evangeliums wiederzugewinnen, tauchen neue Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksfor-men, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich an neuer Bedeutung für die Welt von heute auf. In der Tat, jedes echte missionarische Handeln ist immer „neu“.

    12. Obwohl dieser Auftrag uns einen großher-zigen Einsatz abverlangt, wäre es ein Irrtum, ihn als heldenhafte persönliche Aufgabe anzusehen, da es vor allem sein Werk ist, jenseits von dem, was wir herausfinden und verstehen können. Jesus ist »der allererste und größte Künder des Evangeliums«.9 In jeglicher Form von Evangeli-sierung liegt der Vorrang immer bei Gott, der uns zur Mitarbeit mit ihm gerufen und uns mit der Kraft seines Geistes angespornt hat. Die wahre Neuheit ist die, welche Gott selber geheimnisvoll hervorbringen will, die er eingibt, die er erweckt, die er auf tausenderlei Weise lenkt und begleitet. Im ganzen Leben der Kirche muss man immer deutlich machen, dass die Initiative bei Gott liegt, dass »er uns zuerst geliebt« hat (1 Joh 4,19) und dass es »nur Gott [ist], der wachsen lässt« (1 Kor 3,7). Diese Überzeugung erlaubt uns, inmitten einer so anspruchsvollen und herausfordernden

    9 Paul vi., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), 7: AAS 68 (1976), 9.

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    Aufgabe, die unser Leben ganz und gar verein-nahmt, die Freude zu bewahren. Sie verlangt von uns alles, aber zugleich bietet sie uns alles.

    13. Wir dürfen die Neuheit dieses Auftrags auch nicht wie eine Entwurzelung verstehen, wie ein Vergessen der lebendigen Geschichte, die uns aufnimmt und uns vorantreibt. Das Gedächtnis ist eine Dimension unseres Glaubens, die wir „deuteronomisch“ nennen könnten, in Analogie zum Gedächtnis Israels. Jesus hinterlässt uns die Eucharistie als tägliches Gedächtnis der Kirche, das uns immer mehr in das Paschageheimnis ein-führt (vgl. Lk 22,19). Die Freude der Verkündi-gung erstrahlt immer auf dem Hintergrund der dankbaren Erinnerung: Es ist eine Gnade, die wir erbitten müssen. Die Apostel haben nie den Mo-ment vergessen, in dem Jesus ihr Herz anrührte: »Es war um die zehnte Stunde« (Joh 1,39). Ge-meinsam mit Jesus vergegenwärtigt uns das Ge-dächtnis eine wahre »Wolke von Zeugen« (Hebr 12,1). Unter ihnen heben sich einige Personen hervor, die besonders prägend dazu beigetragen haben, dass unsere Glaubensfreude aufkeimte: »Denkt an eure Vorsteher, die euch das Wort Gottes verkündet haben« (Hebr 13,7). Manchmal handelt es sich um einfache Menschen in unserer Nähe, die uns in das Glaubensleben eingeführt haben: »Ich denke an deinen aufrichtigen Glau-ben, der schon in deiner Großmutter Loïs und in deiner Mutter Eunike lebendig war« (2 Tim 1,5). Der Gläubige ist grundsätzlich ein „Erinne-rungsmensch“.

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    iii. Die neue evangelisierung Für Die Weiter-gaBe Des glauBens

    14. Im Hören auf den Geist, der uns hilft, ge-meinschaftlich die Zeichen der Zeit zu erken-nen, wurde vom 7. bis zum 28. Oktober 2012 die XIII. Ordentliche Vollversammlung der Bi-schofssynode unter dem Thema Die neue Evan-gelisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens abgehalten. Dort wurde daran erinnert, dass die neue Evangelisierung alle aufruft und dass sie sich grundsätzlich in drei Bereichen abspielt.10 An erster Stelle erwähnen wir den Bereich der ge-wöhnlichen Seelsorge, »die mehr vom Feuer des Hei-ligen Geistes belebt sein muss, um die Herzen der Gläubigen zu entzünden, die sich regelmä-ßig in der Gemeinde zusammenfinden und sich am Tag des Herrn versammeln, um sich vom Wort Gottes und vom Brot ewigen Lebens zu ernähren«.11 In diesen Bereich sind ebenso die Gläubigen einzubeziehen, die einen festen und ehrlichen katholischen Glauben bewahren und ihn auf verschiedene Weise zum Ausdruck brin-gen, auch wenn sie nicht häufig am Gottesdienst teilnehmen. Diese Seelsorge ist auf das Wachs-tum der Gläubigen ausgerichtet, damit sie immer besser und mit ihrem ganzen Leben auf die Lie-be Gottes antworten.

    10 Vgl. Propositio 7.11 BeneDikt Xvi., Homilie während der Eucharistiefeier zum

    Abschluss der XIII. Ordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode (28. Oktober 2012): AAS 104 (2012), 890.

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    An zweiter Stelle erwähnen wir den Bereich der »Getauften, die jedoch in ihrer Lebensweise den An-sprüchen der Taufe nicht gerecht werden«,12 keine innere Zugehörigkeit zur Kirche haben und nicht mehr die Tröstung des Glaubens erfahren. Als stets aufmerksame Mutter setzt sich die Kirche dafür ein, dass sie eine Umkehr erleben, die ihnen die Freude am Glauben und den Wunsch, sich mit dem Evangelium zu beschäftigen, zurückgibt.

    Schließlich unterstreichen wir, dass die Evangelisierung wesentlich verbunden ist mit der Verkündigung des Evangeliums an diejenigen, die Jesus Christus nicht kennen oder ihn immer abgelehnt haben. Viele von ihnen suchen Gott insgeheim, bewegt von der Sehnsucht nach seinem Ange-sicht, auch in Ländern alter christlicher Tradition. Alle haben das Recht, das Evangelium zu emp-fangen. Die Christen haben die Pflicht, es aus-nahmslos allen zu verkünden, nicht wie jemand, der eine neue Verpflichtung auferlegt, sondern wie jemand, der eine Freude teilt, einen schönen Horizont aufzeigt, ein erstrebenswertes Festmahl anbietet. Die Kirche wächst nicht durch Prosyle-tismus, sondern »durch Anziehung«.13

    15. Johannes Paul II. hat uns ans Herz gelegt anzuerkennen, dass »die Kraft nicht verloren ge-hen [darf] für die Verkündigung« an jene, die fern

    12 Ebd.13 BeneDikt Xvi., Homilie während der Eucharistiefeier zur

    Eröffnung der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik im Heiligtum »La Aparecida« (13. Mai 2007): AAS 99 (2007), 437.

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    sind von Christus, denn dies ist »die erste Aufgabe der Kirche«.14 »Die Missionstätigkeit stellt auch heute noch die größte Herausforderung für die Kir-che dar«15, und so »muss das missionarische Anlie-gen das erste sein«.16 Was würde geschehen, wenn wir diese Worte wirklich ernst nehmen würden? Wir würden einfach erkennen, dass das missio-narische Handeln das Paradigma für alles Wirken der Kirche ist. Auf dieser Linie haben die latein-amerikanischen Bischöfe bekräftigt: »Wir kön-nen nicht passiv abwartend in unseren Kirchen-räumen sitzen bleiben«,17 und die Notwendigkeit betont, »von einer rein bewahrenden Pastoral zu einer entschieden missionarischen Pastoral überzugehen«.18 Diese Aufgabe ist weiterhin die Quelle der größten Freuden für die Kirche: »Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der um-kehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren« (Lk 15,7).

    Anliegen und Grenzen dieses Schreibens

    16. Ich habe die Einladung der Synodenväter, dieses Schreiben zu verfassen, gerne angenom-

    14 Enzyklika Redemptoris missio (7. Dezember 1990), 34: AAS 83 (1991), 280.

    15 Ebd., 40: AAS 83 (1991), 287.16 Ebd., 86: AAS 83 (1991), 333.17 v. generalversammlung Der BischöFe von latein-

    amerika unD Der kariBik, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 548.

    18 Ebd., 370.

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    men.19 Indem ich es tue, ernte ich den Reichtum der Arbeiten der Synode. Ich habe auch verschie-dene Personen zu Rate gezogen, und ich beab-sichtige außerdem, die Besorgnisse zum Aus-druck zu bringen, die mich in diesem konkreten Moment des Evangelisierungswerkes der Kirche bewegen. Zahllos sind die mit der Evangelisie-rung in der Welt von heute verbundenen The-men, die man hier entwickeln könnte. Doch ich habe darauf verzichtet, diese vielfältigen Fragen ausführlich zu behandeln; sie müssen Gegenstand des Studiums und der sorgsamen Vertiefung sein. Ich glaube auch nicht, dass man vom päpstlichen Lehramt eine endgültige oder vollständige Aus-sage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen. Es ist nicht ange-bracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen „De-zentralisierung“ voranzuschreiten.

    17. Hier habe ich die Wahl getroffen, einige Li-nien vorzuschlagen, die in der gesamten Kirche einer neuen Etappe der Evangelisierung voller Eifer und Dynamik Mut und Orientierung ver-leihen können. In diesem Rahmen und auf der Basis der Lehre der dogmatischen Konstitution Lumen gentium habe ich mich entschieden, unter

    19 Vgl. Propositio 1.

  • 19

    den anderen Themen die folgenden Fragen aus-führlich zu behandeln:a) Die Reform der Kirche im missionarischen

    Aufbruchb) Die Versuchungen der in der Seelsorge Täti-

    genc) Die Kirche, verstanden als die Gesamtheit des

    evangelisierenden Gottesvolkesd) Die Predigt und ihre Vorbereitunge) Die soziale Eingliederung der Armenf) Der Friede und der soziale Dialogg) Die geistlichen Beweggründe für den missio-

    narischen Einsatz

    18. Ich habe diese Themen in einer Ausführ-lichkeit behandelt, die vielleicht übertrieben erscheinen mag. Aber ich habe es nicht in der Absicht getan, eine Abhandlung vorzulegen, sondern nur, um die bedeutende praktische Aus-wirkung dieser Argumente in der gegenwärtigenAufgabe der Kirche zu zeigen. Sie alle helfen nämlich, einen bestimmten Stil der Evangeli-sierung zu umreißen, und ich lade ein, diesen in allem, was getan wird, zu übernehmen. Und so können wir auf diese Weise inmitten unserer täg-lichen Arbeit der Aufforderung des Wortes Got-tes nachkommen: »Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!« (Phil 4,4).

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    ERSTES KAPITEL

    DIE MISSIONARISCHE UMGESTAL-TUNG DER KIRCHE

    19. Die Evangelisierung folgt dem Missions-auftrag Jesu: »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe« (Mt 28,19-20). In diesen Versen ist der Moment dargestellt, in dem der Auferstandene die Seinen aussendet, das Evangelium zu jeder Zeit und an allen Orten zu verkünden, so dass der Glaube an ihn sich bis an alle Enden der Erde ausbreite.

    i. eine kirche „im auFBruch“

    20. Im Wort Gottes erscheint ständig diese Dy-namik des „Aufbruchs“, die Gott in den Gläubi-gen auslösen will. Abraham folgte dem Aufruf, zu einem neuen Land aufzubrechen (vgl. Gen 12,1-3). Mose gehorchte dem Ruf Gottes: »Geh! Ich sende dich« (Ex 3,10), und führte das Volk hinaus, dem verheißenen Land entgegen (vgl. Ex 3,17). Zu Jeremia sagte Gott: »Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen« (Jer 1,7). Heu-te sind in diesem „Geht“ Jesu die immer neuen Situationen und Herausforderungen des Evan-gelisierungsauftrags der Kirche gegenwärtig, und wir alle sind zu diesem neuen missionarischen

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    „Aufbruch“ berufen. Jeder Christ und jede Ge-meinschaft soll unterscheiden, welches der Weg ist, den der Herr verlangt, doch alle sind wir auf-gefordert, diesen Ruf anzunehmen: hinauszu-gehen aus der eigenen Bequemlichkeit und den Mut zu haben, alle Randgebiete zu erreichen, die das Licht des Evangeliums brauchen.

    21. Die Freude aus dem Evangelium, die das Leben der Gemeinschaft der Jünger erfüllt, ist eine missionarische Freude. Die zweiundsiebzig Jünger, die voll Freude von ihrer Sendung zu-rückkehren, erfahren sie (vgl. Lk 10,17). Jesus er- lebt sie, als er im Heiligen Geist vor Freude jubelt und den Vater preist, weil seine Offenbarung die Armen und die Kleinsten erreicht (vgl. Lk 10,21). Voll Verwunderung spüren sie die Ersten, die sich bekehren, als am Pfingsttag, in der Predigt der Apostel, »jeder sie in seiner Sprache reden« hört (Apg 2,6). Diese Freude ist ein Zeichen, dass das Evangelium verkündet wurde und bereits Frucht bringt. Aber sie hat immer die Dynamik des Aufbruchs und der Gabe, des Herausgehens aus sich selbst, des Unterwegsseins und des im-mer neuen und immer weiteren Aussäens. Der Herr sagt: »Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort pre-dige; denn dazu bin ich gekommen!« (Mk 1,38). Wenn der Same an einem Ort ausgesät ist, hält Jesus sich dort nicht mehr auf, um etwas besser zu erklären oder um weitere Zeichen zu wirken, sondern der Geist führt ihn, zu anderen Dörfern aufzubrechen.

  • 23

    22. Das Wort Gottes trägt in sich Anlagen, die wir nicht voraussehen können. Das Evangelium spricht von einem Samen, der, wenn er einmal ausgesät ist, von sich aus wächst, auch wenn der Bauer schläft (vgl. Mk 4,26-29). Die Kirche muss diese unfassbare Freiheit des Wortes akzeptie-ren, das auf seine Weise und in sehr verschiede-nen Formen wirksam ist, die gewöhnlich unsere Prognosen übertreffen und unsere Schablonen sprengen.

    23. Die innige Verbundenheit der Kirche mit Jesus ist eine Verbundenheit auf dem Weg, und die Gemeinschaft »stellt sich wesentlich als mis-sionarische Communio dar«.20 In der Treue zum Vorbild des Meisters ist es lebenswichtig, dass die Kirche heute hinausgeht, um allen an allen Orten und bei allen Gelegenheiten ohne Zögern, ohne Widerstreben und ohne Angst das Evangelium zu verkünden. Die Freude aus dem Evangelium ist für das ganze Volk, sie darf niemanden aus-schließen. So verkündet es der Engel den Hirten von Bethlehem: »Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll« (Lk 2,10). Die Offen-barung des Johannes spricht davon, dass »den Bewohnern der Erde ein ewiges Evangelium zu verkünden [ist], allen Nationen, Stämmen, Sprachen und Völkern« (Offb 14,6).

    20 Johannes Paul ii., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles laici (30. Dezember 1988), 32: AAS 81 (1989), 451.

  • 24

    Die Initiative ergreifen, sich einbringen, begleiten, Frucht bringen und feiern

    24. Die Kirche „im Aufbruch“ ist die Gemein-schaft der missionarischen Jünger, die die Initia-tive ergreifen, die sich einbringen, die begleiten, die Frucht bringen und feiern. „Primerear – die Initiative ergreifen“: Entschuldigt diesen Neo-logismus! Die evangelisierende Gemeinde spürt, dass der Herr die Initiative ergriffen hat, ihr in der Liebe zuvorgekommen ist (vgl. 1 Joh 4,10), und deshalb weiß sie voranzugehen, versteht sie, furchtlos die Initiative zu ergreifen, auf die an-deren zuzugehen, die Fernen zu suchen und zu den Wegkreuzungen zu gelangen, um die Aus-geschlossenen einzuladen. Sie empfindet einen unerschöpflichen Wunsch, Barmherzigkeit anzu-bieten – eine Frucht der eigenen Erfahrung der unendlichen Barmherzigkeit des himmlischen Vaters und ihrer Tragweite. Wagen wir ein we-nig mehr, die Initiative zu ergreifen! Als Folge weiß die Kirche sich „einzubringen“. Jesus hat seinen Jüngern die Füße gewaschen. Der Herr bringt sich ein und bezieht die Seinen ein, indem er vor den anderen niederkniet, um sie zu wa-schen. Aber dann sagt er zu den Jüngern: »Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt« (Joh 13,17). Die evangelisierende Gemeinde stellt sich durch Werke und Gesten in das Alltagsleben der anderen, verkürzt die Distanzen, erniedrigt sich nötigenfalls bis zur Demütigung und nimmt das menschliche Leben an, indem sie im Volk mit dem leidenden Leib Christi in Berührung

  • 25

    kommt. So haben die Evangelisierenden den „Geruch der Schafe“, und diese hören auf ihre Stimme. Die evangelisierende Gemeinde stellt sich also darauf ein, zu „begleiten“. Sie begleitet die Menschheit in all ihren Vorgängen, so hart und langwierig sie auch sein mögen. Sie kennt das lange Warten und die apostolische Ausdau-er. Die Evangelisierung hat viel Geduld und ver-meidet, die Grenzen nicht zu berücksichtigen. In der Treue zur Gabe des Herrn weiß sie auch „Frucht zu bringen“. Die evangelisierende Ge-meinde achtet immer auf die Früchte, denn der Herr will, dass sie fruchtbar ist. Sie nimmt sich des Weizens an und verliert aufgrund des Un-krauts nicht ihren Frieden. Wenn der Sämann inmitten des Weizens das Unkraut aufkeimen sieht, reagiert er nicht mit Gejammer und Panik. Er findet den Weg, um dafür zu sorgen, dass das Wort Gottes in einer konkreten Situation Gestalt annimmt und Früchte neuen Lebens trägt, auch wenn diese scheinbar unvollkommen und unvoll-endet sind. Der Jünger weiß sein ganzes Leben hinzugeben und es als Zeugnis für Jesus Christus aufs Spiel zu setzen bis hin zum Martyrium, doch sein Traum ist nicht, Feinde gegen sich anzusam-meln, sondern vielmehr, dass das Wort Gottes aufgenommen werde und seine befreiende und erneuernde Kraft offenbare. Und schließlich versteht die fröhliche evangelisierende Gemein-de immer zu „feiern“. Jeden kleinen Sieg, jeden Schritt vorwärts in der Evangelisierung preist und feiert sie. Die freudige Evangelisierung wird zur

  • 26

    Schönheit in der Liturgie inmitten der täglichen Anforderung, das Gute zu fördern. Die Kirche evangelisiert und evangelisiert sich selber mit der Schönheit der Liturgie, die auch Feier der missio-narischen Tätigkeit und Quelle eines erneuerten Impulses zur Selbsthingabe ist.

    ii. seelsorge in neuausrichtung

    25. Ich weiß sehr wohl, dass heute die Doku-mente nicht dasselbe Interesse wecken wie zu anderen Zeiten und schnell vergessen werden. Trotzdem betone ich, dass das, was ich hier zu sagen beabsichtige, eine programmatische Be-deutung hat und wichtige Konsequenzen bein-haltet. Ich hoffe, dass alle Gemeinschaften dafür sorgen, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf dem Weg einer pastoralen und missionari-schen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind. Jetzt dient uns nicht eine »reine Verwaltungsarbeit«.21 Versetzen wir uns in allen Regionen der Erde in einen »Zustand permanenter Mission«.22

    26. Paul VI. forderte, den Aufruf zur Erneue-rung auszuweiten, um mit Nachdruck zu sagen, dass er sich nicht nur an Einzelpersonen wandte, sondern an die gesamte Kirche. Wir erinnern an

    21 v. generalversammlung Der BischöFe von latein-amerika unD Der kariBik, Dokument von Aparecida (29.Juni 2007), 201.

    22 Ebd., 551.

  • 27

    diesen denkwürdigen Text, der seine interpel-lierende Kraft nicht verloren hat: »Die Kirche muss das Bewusstsein um sich selbst vertiefen und über das ihr eigene Geheimnis nachsinnen […] Aus diesem erleuchteten und wirkenden Be-wusstsein erwächst ein spontanes Verlangen, das Idealbild der Kirche wie Christus sie sah, wollte und liebte, als seine heilige und makellose Braut (vgl. Eph 5,27), mit dem wirklichen Gesicht, das die Kirche heute zeigt, zu vergleichen […] Es erwächst deshalb ein großherziges und fast ungeduldiges Bedürfnis nach Erneuerung, das heißt nach Berichtigung der Fehler, die dieses Bewusstsein aufzeigt und verwirft, gleichsam wie eine innere Prüfung vor dem Spiegel des Vorbil-des, das Christus uns von sich hinterlassen hat.«23

    Das Zweite Vatikanische Konzil hat die kirchliche Neuausrichtung dargestellt als die Öffnung für eine ständige Reform ihrer selbst aus Treue zu Jesus Christus: »Jede Erneuerung der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung […] Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform geru-fen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschli-che und irdische Einrichtung ist.«24

    Es gibt kirchliche Strukturen, die eine Dyna-mik der Evangelisierung beeinträchtigen können;

    23 Paul vi., Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964), 3: AAS 56 (1964), 611-612.

    24 ZWeites vatikanisches konZil, Dekret Unitatis redintegratio über den Ökumenismus, 6.

  • 28

    gleicherweise können die guten Strukturen nütz-lich sein, wenn ein Leben da ist, das sie beseelt, sie unterstützt und sie beurteilt. Ohne neues Le-ben und echten, vom Evangelium inspirierten Geist, ohne „Treue der Kirche gegenüber ihrer eigenen Berufung“ wird jegliche neue Struktur in kurzer Zeit verderben.

    Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung

    27. Ich träume von einer missionarischen Ent-scheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, da-mit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neu-ausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des „Aufbruchs“ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet. Wie Jo-hannes Paul II. zu den Bischöfen Ozeaniens sag-te, muss »jede Erneuerung in der Kirche […] auf die Mission abzielen, um nicht einer Art kirchli-cher Introversion zu verfallen.«25

    25 Johannes Paul ii., nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Oceania (22. November 2001), 19: AAS 94 (2002), 390.

  • 29

    28. Die Pfarrei ist keine hinfällige Struktur; gerade weil sie eine große Formbarkeit besitzt, kann sie ganz verschiedene Formen annehmen, die die innere Beweglichkeit und die missionari-sche Kreativität des Pfarrers und der Gemeinde erfordern. Obwohl sie sicherlich nicht die einzige evangelisierende Einrichtung ist, wird sie, wenn sie fähig ist, sich ständig zu erneuern und anzu-passen, weiterhin »die Kirche [sein], die inmitten der Häuser ihrer Söhne und Töchter lebt«.26 Das setzt voraus, dass sie wirklich in Kontakt mit den Familien und dem Leben des Volkes steht und nicht eine weitschweifige, von den Leuten getrennte Struktur oder eine Gruppe von Aus-erwählten wird, die sich selbst betrachten. Die Pfarrei ist eine kirchliche Präsenz im Territori-um, ein Bereich des Hörens des Wortes Gottes, des Wachstums des christlichen Lebens, des Dia-logs, der Verkündigung, der großherzigen Näch-stenliebe, der Anbetung und der liturgischen Feier.27 Durch all ihre Aktivitäten ermutigt und formt die Pfarrei ihre Mitglieder, damit sie aktiv Handelnde in der Evangelisierung sind.28 Sie ist eine Gemeinde der Gemeinschaft, ein Heiligtum, wo die Durstigen zum Trinken kommen, um ih-ren Weg fortzusetzen, und ein Zentrum ständi-ger missionarischer Aussendung. Wir müssen je-doch zugeben, dass der Aufruf zur Überprüfung

    26 Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christi-fideles laici (30. Dezember 1988), 26: AAS 81 (1989), 438.

    27 Vgl. Propositio 26.28 Vgl. Propositio 44.

  • 30

    und zur Erneuerung der Pfarreien noch nicht genügend gefruchtet hat, damit sie noch näher bei den Menschen sind, Bereiche lebendiger Ge-meinschaft und Teilnahme bilden und sich völlig auf die Mission ausrichten.

    29. Die anderen kirchlichen Einrichtungen, Basisgemeinden und kleinen Gemeinschaften, Bewegungen und andere Formen von Vereini-gungen sind ein Reichtum der Kirche, den der Geist erweckt, um alle Umfelder und Bereiche zu evangelisieren. Oftmals bringen sie einen neuen Evangelisierungs-Eifer und eine Fähigkeit zum Dialog mit der Welt ein, die zur Erneuerung der Kirche beitragen. Aber es ist sehr nützlich, dass sie nicht den Kontakt mit dieser so wertvollen Wirklichkeit der örtlichen Pfarrei verlieren und dass sie sich gerne in die organische Seelsorge der Teilkirche einfügen.29 Diese Integration wird vermeiden, dass sie nur mit einem Teil des Evan-geliums und der Kirche verbleiben oder zu No-maden ohne Verwurzelung werden.

    30. Jede Teilkirche ist als Teil der katholischen Kirche unter der Leitung ihres Bischofs eben-falls zur missionarischen Neuausrichtung aufge-rufen. Sie ist der wichtigste Träger der Evange-lisierung30, insofern sie der konkrete Ausdruck der einen Kirche an einem Ort der Welt ist und in ihr »die eine, heilige, katholische und aposto-

    29 Vgl. Propositio 26.30 Vgl. Propositio 41.

  • 31

    lische Kirche Christi wahrhaft wirkt und gegen-wärtig ist«.31 Es ist die Kirche, die in einem be-stimmten Raum Gestalt annimmt, mit allen von Christus geschenkten Heilsmitteln versehen ist, zugleich jedoch ein lokales Angesicht trägt. Ihre Freude, Jesus Christus bekannt zu machen, fin-det ihren Ausdruck sowohl in ihrer Sorge, ihn an anderen, noch bedürftigeren Orten zu verkün-den, als auch in einem beständigen Aufbruch zu den Peripherien des eigenen Territoriums oder zu den neuen soziokulturellen Umfeldern.32 Sie setzt sich dafür ein, immer dort gegenwärtig zu sein, wo das Licht und das Leben des Auferstan-denen am meisten fehlen.33 Damit dieser mis-sionarische Impuls immer stärker, großherziger und fruchtbarer sei, fordere ich auch jede Teil-kirche auf, in einen entschiedenen Prozess der Unterscheidung, der Läuterung und der Reform einzutreten.

    31. Der Bischof muss immer das missiona-rische Miteinander in seiner Diözese fördern, indem er das Ideal der ersten christlichen Ge-meinden verfolgt, in denen die Gläubigen ein Herz und eine Seele waren (vgl. Apg 4,32). Dar-um wird er sich bisweilen an die Spitze stellen,

    31 ZWeites vatikanisches konZil, Dekret Christus Dominus über die Hirtenaufgabe der Bischöfe, 11.

    32 Vgl. BeneDikt Xvi., Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Kongress zum 40. Jahrestag des Konzilsdekrets Ad gentes über die Missionstätigkeit der Kirche (11. März 2006): AAS 98 (2006), 337.

    33 Vgl. Propositio 42.

  • 32

    um den Weg anzuzeigen und die Hoffnung des Volkes aufrecht zu erhalten, andere Male wird er einfach inmitten aller sein mit seiner schlichten und barmherzigen Nähe, und bei einigen Ge-legenheiten wird er hinter dem Volk hergehen, um denen zu helfen, die zurückgeblieben sind, und – vor allem – weil die Herde selbst ihren Spürsinn besitzt, um neue Wege zu finden. In seiner Aufgabe, ein dynamisches, offenes und missionarisches Miteinander zu fördern, wird er die Reifung der vom Kodex des Kanonischen Rechts34 vorgesehenen Mitspracheregelungen sowie an-derer Formen des pastoralen Dialogs anregen und suchen, in dem Wunsch, alle anzuhören und nicht nur einige, die ihm Komplimente machen. Doch das Ziel dieser Prozesse der Beteiligung soll nicht vornehmlich die kirchliche Organisati-on sein, sondern der missionarische Traum, alle zu erreichen.

    32. Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von den anderen verlange, muss ich auch an eine Neuausrichtung des Papsttums denken. Meine Aufgabe als Bischof von Rom ist es, offen zu bleiben für die Vorschläge, die darauf ausgerich-tet sind, dass eine Ausübung meines Amtes der Bedeutung, die Jesus Christus ihm geben wollte, treuer ist und mehr den gegenwärtigen Notwen-digkeiten der Evangelisierung entspricht. Johan-nes Paul II. bat um Hilfe, um »eine Form der Pri-

    34 Vgl. Canones 460-468; 492-502; 511-514; 536-537.

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    matsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet«.35 In diesem Sinn sind wir wenig vorangekommen. Auch das Papsttum und die zentralen Strukturen der Uni-versalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer pastoralen Neuausrichtung zu folgen. Das Zweite Vatikanische Konzil sagte, dass in ähnlicher Wei-se wie die alten Patriarchatskirchen »die Bischofs-konferenzen vielfältige und fruchtbare Hilfe lei-sten [können], um die kollegiale Gesinnung zu konkreter Verwirklichung zu führen«.36 Aber die-ser Wunsch hat sich nicht völlig erfüllt, denn es ist noch nicht deutlich genug eine Satzung der Bischofskonferenzen formuliert worden, die sie als Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen versteht, auch einschließlich einer gewissen au-thentischen Lehrautorität.37 Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kir-che und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.

    33. Die Seelsorge unter missionarischem Ge-sichtspunkt verlangt, das bequeme pastorale Kriterium des „Es wurde immer so gemacht“ aufzugeben. Ich lade alle ein, wagemutig und kreativ zu sein in dieser Aufgabe, die Ziele, die Strukturen, den Stil und die Evangelisierungs-

    35 Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 95: AAS 87 (1995), 977-978.

    36 Dogm. Konst. Lumen gentium über die Kirche, 23.37 Vgl. Johannes Paul ii., Motu proprio Apostolos suos

    (21. Mai 1998): AAS 90 (1998), 641-658.

  • 34

    Methoden der eigenen Gemeinden zu über-denken. Eine Bestimmung der Ziele ohne eine angemessene gemeinschaftliche Suche nach den Mitteln, um sie zu erreichen, ist dazu verurteilt, sich als bloße Fantasie zu erweisen. Ich rufe alle auf, großherzig und mutig die Anregungen dieses Dokuments aufzugreifen, ohne Beschränkungen und Ängste. Wichtig ist, Alleingänge zu vermei-den, sich immer auf die Brüder und Schwestern und besonders auf die Führung der Bischöfe zu verlassen, in einer weisen und realistischen pasto-ralen Unterscheidung.

    iii. aus Dem herZen Des evangeliums

    34. Wenn wir alles unter einen missionarischen Gesichtspunkt stellen wollen, dann gilt das auch für die Weise, die Botschaft bekannt zu machen. In der Welt von heute mit der Schnelligkeit der Kommunikation und der eigennützigen Auswahl der Inhalte durch die Medien ist die Botschaft, die wir verkünden, mehr denn je in Gefahr, ver-stümmelt und auf einige ihrer zweitrangigen Aspekte reduziert zu werden. Daraus folgt, dass einige Fragen, die zur Morallehre der Kirche ge-hören, aus dem Zusammenhang gerissen wer-den, der ihnen Sinn verleiht. Das größte Problem entsteht, wenn die Botschaft, die wir verkünden, dann mit diesen zweitrangigen Aspekten gleich-gesetzt wird, die, obwohl sie relevant sind, für sich allein nicht das Eigentliche der Botschaft Jesu Christi ausdrücken. Es ist also besser, realistisch

  • 35

    zu sein und nicht davon auszugehen, dass unsere Gesprächspartner den vollkommenen Hinter-grund dessen kennen, was wir sagen, oder dass sie unsere Worte mit dem wesentlichen Kern des Evangeliums verbinden können, der ihnen Sinn, Schönheit und Anziehungskraft verleiht.

    35. Eine Seelsorge unter missionarischem Ge-sichtspunkt steht nicht unter dem Zwang der zusammenhanglosen Vermittlung einer Vielzahl von Lehren, die man durch unnachgiebige Be-harrlichkeit aufzudrängen sucht. Wenn man ein pastorales Ziel und einen missionarischen Stil übernimmt, der wirklich alle ohne Ausnahmen und Ausschließung erreichen soll, konzentriert sich die Verkündigung auf das Wesentliche, auf das, was schöner, größer, anziehender und zu-gleich notwendiger ist. Die Aussage vereinfacht sich, ohne dadurch Tiefe und Wahrheit einzubü-ßen, und wird so überzeugender und strahlender.

    36. Alle offenbarten Wahrheiten entspringen aus derselben göttlichen Quelle und werden mit ein und demselben Glauben geglaubt, doch eini-ge von ihnen sind wichtiger, um unmittelbarer das Eigentliche des Evangeliums auszudrücken. In diesem grundlegenden Kern ist das, was leuchtet, die Schönheit der heilbringenden Liebe Gottes, die sich im gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus offenbart hat. In diesem Sinn hat das Zweite Vatikanische Konzil gesagt, »dass es eine Rangordnung oder „Hierarchie“ der Wahrheiten innerhalb der ka-tholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen

  • 36

    Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens«.38 Das gilt sowohl für die Glaubensdogmen als auch für das Ganze der Lehre der Kirche, einschließlich der Morallehre.

    37. Der heilige Thomas von Aquin lehrte, dass es auch in der moralischen Botschaft der Kirche eine Hierarchie gibt, in den Tugenden und in den Taten, die aus ihnen hervorgehen.39 Hier ist das, worauf es ankommt, vor allem »den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist« (Gal 5,6). Die Werke der Nächstenliebe sind der vollkom-menste äußere Ausdruck der inneren Gnade des Geistes: »Das Hauptelement des neuen Gesetzes ist die Gnade des Heiligen Geistes, die deutlich wird durch den Glauben, der durch die Liebe handelt.«40 Darum behauptet der heilige Thomas, dass in Bezug auf das äußere Handeln die Barm-herzigkeit die größte aller Tugenden ist: »An sich ist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der anderen aufhilft; und das gerade ist Sache des Höherstehenden. Deshalb wird das Erbarmen gerade Gott als Wesensmerkmal zuer-kannt; und es heißt, dass darin am meisten seine Allmacht offenbar wird.«41

    38 ZWeites vatikanisches konZil, Dekret Unitatis redintegratio über den Ökumenismus, 11.

    39 Vgl. Summa Theologiae I-II, q. 66, a. 4-6.40 Summa Theologiae I-II, q. 108, a. 1.41 Summa Theologiae II-II, q. 30, a. 4. Vgl. ebd., q. 30, a. 4,

    ad 1: »Wir ehren Gott durch die äußeren Opfer und Geschenke

  • 37

    38. Es ist wichtig, die pastoralen Konsequen-zen aus der Konzilslehre zu ziehen, die eine alte Überzeugung der Kirche aufnimmt. Vor al-lem ist zu sagen, dass in der Verkündigung des Evangeliums notwendigerweise ein rechtes Maß herrschen muss. Das kann man an der Häufig-keit feststellen, mit der einige Themen behan-delt werden, und an den Akzenten, die in der Predigt gesetzt werden. Wenn zum Beispiel ein Pfarrer während des liturgischen Jahres zehnmal über die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder drei-mal über die Liebe oder über die Gerechtigkeit spricht, entsteht ein Missverhältnis, durch das die Tugenden, die in den Schatten gestellt werden, genau diejenigen sind, die in der Predigt und in der Katechese mehr vorkommen müssten. Das Gleiche geschieht, wenn mehr vom Gesetz als von der Gnade, mehr von der Kirche als von Je-sus Christus, mehr vom Papst als vom Wort Got-tes gesprochen wird.

    39. Ebenso wie der organische Zusammen-hang zwischen den Tugenden verhindert, irgend-eine von ihnen aus dem christlichen Ideal auszu-schließen, wird auch keine Wahrheit geleugnet. Man darf die Vollständigkeit der Botschaft des

    nicht seinetwegen, sondern unseretwegen und des Nächsten wegen; denn er bedarf unserer Opfer nicht, sondern will, dass sie ihm dargebracht werden um unserer Hingabe und um des Nutzens des Nächsten willen. Deshalb ist das Erbarmen, durch das wir dem Elend der anderen zu Hilfe kommen, ein Opfer, das ihm wohlgefälliger ist, weil es dem Nutzen des Nächsten näher kommt.«

  • 38

    Evangeliums nicht verstümmeln. Außerdem ver-steht man jede Wahrheit besser, wenn man sie in Beziehung zu der harmonischen Ganzheit der christlichen Botschaft setzt, und in diesem Zusammenhang haben alle Wahrheiten ihre Be-deutung und erhellen sich gegenseitig. Wenn die Predigttätigkeit treu gegenüber dem Evangelium ist, zeigt sich in aller Klarheit die Zentralität ei-niger Wahrheiten, und es wird deutlich, dass die christliche Morallehre keine stoische Ethik ist, dass sie mehr ist als eine Askese, dass sie weder eine bloße praktische Philosophie ist, noch ein Katalog von Sünden und Fehlern. Das Evangeli-um lädt vor allem dazu ein, dem Gott zu antwor-ten, der uns liebt und uns rettet – ihm zu antwor-ten, indem man ihn in den anderen erkennt und aus sich selbst herausgeht, um das Wohl aller zu suchen. Diese Einladung darf unter keinen Um-ständen verdunkelt werden! Alle Tugenden ste-hen im Dienst dieser Antwort der Liebe. Wenn diese Einladung nicht stark und anziehend leuch-tet, riskiert das moralische Gebäude der Kirche, ein Kartenhaus zu werden, und das ist unsere schlimmste Gefahr. Denn dann wird es nicht eigentlich das Evangelium sein, was verkündet wird, sondern einige lehrmäßige oder morali-sche Schwerpunkte, die aus bestimmten theolo-gischen Optionen hervorgehen. Die Botschaft läuft Gefahr, ihre Frische zu verlieren und nicht mehr „den Duft des Evangeliums“ zu haben.

  • 39

    iv. Die mission, Die in Den menschlichen Be-grenZungen gestalt annimmt

    40. Die Kirche, die eine missionarische Jünge-rin ist, muss in ihrer Interpretation des offenbar-ten Wortes und in ihrem Verständnis der Wahr-heit wachsen. Die Aufgabe der Exegeten und der Theologen trägt dazu bei, dass »das Urteil der Kirche reift«.42 Auf andere Weise tun dies auch die anderen Wissenschaften. In Bezug auf die Sozialwissenschaften, zum Beispiel, hat Johannes Paul II. gesagt, dass die Kirche ihren Beiträgen Achtung schenkt, »um daraus konkrete Hinwei-se zu gewinnen, die ihr helfen, ihre Aufgabe des Lehramtes zu vollziehen«.43 Außerdem gibt es innerhalb der Kirche unzählige Fragen, über die mit großer Freiheit geforscht und nachgedacht wird. Die verschiedenen Richtungen des philoso-phischen, theologischen und pastoralen Denkens können, wenn sie sich vom Geist in der gegen-seitigen Achtung und Liebe in Einklang bringen lassen, zur Entfaltung der Kirche beitragen, weil sie helfen, den äußerst reichen Schatz des Wortes besser deutlich zu machen. Denjenigen, die sich eine monolithische, von allen ohne Nuancierun-gen verteidigte Lehre erträumen, mag das als Un-vollkommenheit und Zersplitterung erscheinen. Doch in Wirklichkeit hilft diese Vielfalt, die ver-schiedenen Aspekte des unerschöpflichen Reich-

    42 ZWeites vatikanisches konZil, Dogm. Konst. Dei Verbum über die göttliche Offenbarung, 12.

    43 Motu proprio Socialium Scientiarum (1. Januar 1994): AAS 86 (1994), 209.

  • 40

    tums des Evangeliums besser zu zeigen und zu entwickeln.44

    41. Zugleich erfordern die enormen und schnellen kulturellen Veränderungen, dass wir stets unsere Aufmerksamkeit darauf richten und versuchen, die ewigen Wahrheiten in einer Sprache auszudrücken, die deren ständige Neu-heit durchscheinen lässt. Denn im Glaubens-gut der christlichen Lehre »ist das eine die Sub-stanz […] ein anderes die Art und Weise, diese auszudrücken«.45 Manchmal ist das, was die Gläu-bigen beim Hören einer vollkommen musterhaf-ten Sprache empfangen, aufgrund ihres eigenen Sprachgebrauchs und -verständnisses etwas, was nicht dem wahren Evangelium Jesu Christi ent-spricht. In der heiligen Absicht, ihnen die Wahr-heit über Gott und den Menschen zu vermitteln, geben wir ihnen bei manchen Gelegenheiten ei-nen falschen „Gott“ und ein menschliches Ideal,

    44 Der heilige Thomas von Aquin betonte, »dass die Unterscheidung und Vielheit der Dinge aus der Absicht des ersten Wirkenden stammt«, dessen, der will, »dass das, was dem einen Geschöpfe in der Darstellung der göttlichen Güte fehlt, aus einem anderen ergänzt wird«, weil seine Güte »durch ein einzelnes Geschöpf nicht hinreichend dargestellt werden kann« (Summa Theologiae I, q. 47, a. 1). Deshalb müssen wir die Vielheit der Dinge in ihren vielfachen Beziehungen (vgl. Summa Theologiae I, q. 47, a. 2, ad 1; q. 47, a. 3) erfassen. Aus ähnlichen Gründen haben wir es nötig, einander zu hören und uns in unserer partiellen Wahrnehmung der Wirklichkeit und des Evangeliums gegenseitig zu ergänzen.

    45 Johannes XXiii., Ansprache zur feierlichen Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962): AAS 54 (1962), 792: »Est enim aliud ipsum depositum Fidei, seu veritates, quae veneranda doctrina nostra continentur, aliud modus, quo eaedem enuntiantur«.

  • 41

    das nicht wirklich christlich ist. Auf diese Weise sind wir einer Formulierung treu, überbringen aber nicht die Substanz. Das ist das größte Ri-siko. Denken wir daran: »Die Ausdrucksform der Wahrheit kann vielgestaltig sein. Und die Er-neuerung der Ausdrucksformen erweist sich als notwendig, um die Botschaft vom Evangelium in ihrer unwandelbaren Bedeutung an den heutigen Menschen weiterzugeben.«46

    42. Das hat eine große Relevanz in der Verkün-digung des Evangeliums, wenn es uns wirklich am Herzen liegt zu erreichen, dass seine Schön-heit besser wahrgenommen und von allen an-genommen wird. In jedem Fall können wir die Lehren der Kirche nie zu etwas machen, das leicht verständlich ist und die uneingeschränkte Würdigung aller erfährt. Der Glaube behält im-mer einen Aspekt des Kreuzes, eine gewisse Un-verständlichkeit, die jedoch die Festigkeit der in-neren Zustimmung nicht beeinträchtigt. Es gibt Dinge, die man nur von dieser inneren Zustim-mung her versteht und schätzt, die eine Schwes-ter der Liebe ist, jenseits der Klarheit, mit der man ihre Gründe und Argumente erfassen kann. Darum ist daran zu erinnern, dass jede Unter-weisung in der Lehre in einer Haltung der Evan-gelisierung geschehen muss, die durch die Nähe, die Liebe und das Zeugnis die Zustimmung des Herzens weckt.

    46 Johannes Paul ii., Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), 19: AAS 87 (1995), 933.

  • 42

    43. In ihrem bewährten Unterscheidungver-mögen kann die Kirche auch dazu gelangen, ei-gene, nicht direkt mit dem Kern des Evangeli-ums verbundene, zum Teil tief in der Geschichte verwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nicht mehr in derselben Weise interpretiert werden und deren Botschaft gewöhnlich nicht entsprechend wahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leis-ten jedoch jetzt nicht denselben Dienst im Hin-blick auf die Weitergabe des Evangeliums. Ha-ben wir keine Angst, sie zu revidieren! In gleicher Weise gibt es kirchliche Normen oder Vorschrif-ten, die zu anderen Zeiten sehr wirksam gewesen sein mögen, aber nicht mehr die gleiche erziehe-rische Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen. Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, »ganz weni-ge« sind.47 Indem er den heiligen Augustinus zi-tierte, schrieb er, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufor-dern sind, »um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen« und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während »die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei«.48 Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Ak-tualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform

    47 Summa Theologiae I-II, q. 107, a. 4.48 Ebd.

  • 43

    der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen.

    44. Andererseits dürfen sowohl die Hirten als auch alle Gläubigen, die ihre Brüder im Glauben oder auf einem Weg der Öffnung auf Gott hin begleiten, nicht vergessen, was der Katechismus der Katholischen Kirche mit großer Klarheit lehrt: »Die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwor-tung für sie können durch Unkenntnis, Unacht-samkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, über-mäßige Affekte sowie weitere psychische oder gesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogar aufgehoben sein.«49

    Daher muss man, ohne den Wert des vom Evangelium vorgezeichneten Ideals zu mindern, die möglichen Wachstumsstufen der Menschen, die Tag für Tag aufgebaut werden, mit Barm-herzigkeit und Geduld begleiten.50 Die Priester erinnere ich daran, dass der Beichtstuhl keine Folterkammer sein darf, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn, die uns anregt, das mögliche Gute zu tun. Ein kleiner Schritt in-mitten großer menschlicher begrenzungen kann Gott wohlgefälliger sein als das äußerlich korrek-te Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen. Alle müssen von dem Trost und dem Ansporn

    49 Nr. 1735.50 Vgl. Johannes Paul ii., Nachsynodales Apostolisches

    Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), 34: AAS 74 (1982), 123-125.

  • 44

    der heilbringenden Liebe Gottes erreicht wer-den, der geheimnisvoll in jedem Menschen wirkt, jenseits seiner Mängel und Verfehlungen.

    45. So sehen wir, dass der evangelisierende Einsatz sich innerhalb der Grenzen der Spra-che und der Umstände bewegt. Er versucht im-mer, die Wahrheit des Evangeliums in einem bestimmten Kontext bestmöglich mitzuteilen, ohne auf die Wahrheit, das Gute und das Licht zu verzichten, die eingebracht werden können, wenn die Vollkommenheit nicht möglich ist. Ein missionarisches Herz weiß um diese Grenzen und wird »den Schwachen ein Schwacher […] allen alles« (vgl. 1 Kor 9,22). Niemals verschließt es sich, niemals greift es auf die eigenen Sicher-heiten zurück, niemals entscheidet es sich für die Starrheit der Selbstverteidigung. Es weiß, dass es selbst wachsen muss im Verständnis des Evange-liums und in der Unterscheidung der Wege des Geistes, und so verzichtet es nicht auf das mög-liche Gute, obwohl es Gefahr läuft, sich mit dem Schlamm der Straße zu beschmutzen.

    v. eine mutter mit oFFenem herZen

    46. Eine Kirche „im Aufbruch“ ist eine Kirche mit offenen Türen. Zu den anderen hinauszu-gehen, um an die menschlichen Randgebiete zu gelangen, bedeutet nicht, richtungs- und sinnlos auf die Welt zuzulaufen. Oftmals ist es besser, den Schritt zu verlangsamen, die Ängstlichkeit abzulegen, um dem anderen in die Augen zu se-

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    hen und zuzuhören, oder auf die Dringlichkeiten zu verzichten, um den zu begleiten, der am Stra-ßenrand geblieben ist. Manchmal ist sie wie der Vater des verlorenen Sohns, der die Türen offen lässt, damit der Sohn, wenn er zurückkommt, ohne Schwierigkeit eintreten kann.

    47. Die Kirche ist berufen, immer das offene Haus des Vaters zu sein. Eines der konkreten Zei-chen dieser Öffnung ist es, überall Kirchen mit offenen Türen zu haben. So stößt einer, wenn er einer Eingebung des Geistes folgen will und nä-herkommt, weil er Gott sucht, nicht auf die Kälte einer verschlossenen Tür. Doch es gibt noch an-dere Türen, die ebenfalls nicht geschlossen wer-den dürfen. Alle können in irgendeiner Weise am kirchlichen Leben teilnehmen, alle können zur Gemeinschaft gehören, und auch die Türen der Sakramente dürften nicht aus irgendeinem belie-bigen Grund geschlossen werden. Das gilt vor allem, wenn es sich um jenes Sakrament handelt, das „die Tür“ ist: die Taufe. Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkom-menen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen.51 Diese Über-

    51 Vgl. amBrosius, De Sacramentis, IV, 6, 28: PL 16, 464: »Ich muss ihn immer empfangen, damit er immer meine Sünden vergibt. Wenn ich ständig sündige, muss ich immer ein Heilmittel haben«; ebd., IV, 5, 24: PL 16, 463: »Wer das Manna aß, starb; wer von diesem Leib isst, wird die Vergebung seiner Sünden erhalten.« cyrill von aleXanDrien, In Joh. Evang. IV, 2: PG 73, 584-585: »Ich habe mich geprüft und erkannt, dass ich

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    zeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.

    48. Wenn die gesamte Kirche diese missionari-sche Dynamik annimmt, muss sie alle erreichen, ohne Ausnahmen. Doch wen müsste sie bevor-zugen? Wenn einer das Evangelium liest, findet er eine ganz klare Ausrichtung: nicht so sehr die reichen Freunde und Nachbarn, sondern vor al-lem die Armen und die Kranken, diejenigen, die häufig verachtet und vergessen werden, die »es dir nicht vergelten können« (Lk 14,14). Es dürfen weder Zweifel bleiben, noch halten Erklärungen stand, die diese so klare Botschaft schwächen könnten. Heute und immer gilt: »Die Armen sind die ersten Adressaten des Evangeliums«,52 und die unentgeltlich an sie gerichtete Evangeli-sierung ist ein Zeichen des Reiches, das zu brin-gen Jesus gekommen ist. Ohne Umschweife ist zu sagen, dass – wie die Bischöfe Nordost-Indi-

    unwürdig bin. Denen, die so reden, sage ich: Und wann werdet ihr würdig sein? Wann werdet ihr also vor Christus erscheinen? Und wenn eure Sünden euch hindern, näherzukommen, und wenn ihr niemals aufhört zu fallen – wer bemerkt seine eigenen Fehler, sagt der Psalm – werdet ihr schließlich nicht teilhaben an der Heiligung, die Leben schenkt für die Ewigkeit?«

    52 BeneDikt Xvi., Ansprache anlässlich der Begegnung mit den brasilianischen Bischöfen in der Kathedrale von São Paulo, Brasilien (11. Mai 2007), 3: AAS 99 (2007), 428.

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    ens lehren – ein untrennbares Band zwischen un-serem Glauben und den Armen besteht. Lassen wir die Armen nie allein!

    49. Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um al-len das Leben Jesu Christi anzubieten! Ich wie-derhole hier für die ganze Kirche, was ich viele Male den Priestern und Laien von Buenos Aires gesagt habe: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Stra-ßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist. Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensge-meinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Hori-zont von Sinn und Leben. Ich hoffe, dass mehr als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschließen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in de-nen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: »Gebt ihr ihnen zu essen!« (Mk 6,37).

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    ZWEITES KAPITEL

    IN DER KRISE DES GEMEINSCHAFTLI-CHEN ENGAGEMENTS

    50. Bevor wir über einige grundlegende Fragen in Bezug auf das evangelisierende Handeln spre-chen, sollte kurz erwähnt werden, welches der Rahmen ist, in dem wir zu leben und zu wirken ha-ben. Heute wird gewöhnlich von einem „diagnos-tischen Überhang“ gesprochen, der nicht immer von wirklich anwendbaren Lösungsvorschlägen begleitet ist. Andererseits würde uns auch eine rein soziologische Sicht nicht nützen, die den Anspruch erhebt, die ganze Wirklichkeit mit ihrer Methodo-logie in einer nur hypothetisch neutralen und un-persönlichen Weise zu umfassen. Was ich vorzule-gen gedenke, geht vielmehr in die Richtung einer Unterscheidung anhand des Evangeliums. Es ist die Sicht des missionarischen Jüngers, die »lebt vom Licht und von der Kraft des Heiligen Geistes«.53

    51. Es ist nicht Aufgabe des Papstes, eine de-taillierte und vollkommene Analyse der gegen-wärtigen Wirklichkeit zu bieten, aber ich fordere alle Gemeinschaften auf, sich um »eine immer wachsame Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erforschen«54 zu bemühen. Wir stehen hier vor

    53 Johannes Paul ii., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores dabo vobis (25. März 1992), 10: AAS 84 (1992), 673.

    54 Paul vi., Enzyklika Ecclesiam suam (6. August 1964), 19: AAS 56 (1964), 632.

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    einer großen Verantwortung, weil einige gegen-wärtige Situationen, falls sie keine guten Lösun-gen finden, Prozesse einer Entmenschlichung auslösen können, die dann nur schwer rückgän-gig zu machen sind. Es ist angebracht zu klären, was eine Frucht des Gottesreiches sein kann, und auch, was dem Plan Gottes schadet. Das schließt nicht nur ein, die Eingebungen des guten und des bösen Geistes zu erkennen und zu interpre-tieren, sondern – und hier liegt das Entscheiden-de – die des guten Geistes zu wählen und die des bösen Geistes zurückzuweisen. Ich setze die ver-schiedenen Analysen voraus, welche die anderen Dokumente des universalen Lehramtes dargebo-ten haben, wie auch die, welche die regionalen und nationalen Bischofskonferenzen vorgestellt haben. In diesem Schreiben will ich nur kurz und unter pastoralem Gesichtspunkt auf einige Aspekte der Wirklichkeit eingehen, welche die Dynamiken der missionarischen Erneuerung der Kirche anhalten oder schwächen können, sei es, weil sie das Leben und die Würde des Gottes-volkes betreffen, sei es, weil sie sich auch auf die Personen auswirken, die unmittelbarer zu den kirchlichen Institutionen gehören und Evangeli-sierungsaufgaben erfüllen.

    i. einige herausForDerungen Der Welt von heute

    52. Die Menschheit erlebt im Moment eine his-torische Wende, die wir an den Fortschritten able-

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    sen können, die auf verschiedenen Gebieten ge-macht werden. Lobenswert sind die Erfolge, die zum Wohl der Menschen beitragen, zum Beispiel auf dem Gebiet der Gesundheit, der Erziehung und der Kommunikation. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass der größte Teil der Männer und Frauen unserer Zeit in täglicher Unsicher-heit lebt, mit unheilvollen Konsequenzen. Einige Pathologien nehmen zu. Angst und Verzweiflung ergreifen das Herz vieler Menschen, sogar in den sogenannten reichen Ländern. Häufig erlischt die Lebensfreude, nehmen Respektlosigkeit und Gewalt zu, die soziale Ungleichheit tritt immer klarer zutage. Man muss kämpfen, um zu leben – und oft wenig würdevoll zu leben. Dieser epo-chale Wandel ist verursacht worden durch die enormen Sprünge, die in Bezug auf Qualität, Quantität, Schnelligkeit und Häufung im wis-senschaftlichen Fortschritt sowie in den tech-nologischen Neuerungen und ihren prompten Anwendungen in verschiedenen Bereichen der Natur und des Lebens zu verzeichnen sind. Wir befinden uns im Zeitalter des Wissens und der Information, einer Quelle neuer Formen einer sehr oft anonymen Macht.

    Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung

    53. Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht tö-ten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der

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    Ausschließung und der Disparität der Einkom-men“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist un-glaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerie-ren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden. Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich al-les nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Mas-sen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir haben die „Wegwerf-kultur“ eingeführt, die sogar gefördert wird. Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“.

    54. In diesem Zusammenhang verteidigen ei-nige noch die „Überlauf“-Theorien (trickle-down Theorie), die davon ausgehen, dass jedes vom

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    freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag. Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Ver-trauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaft-liche Macht in Händen halten, wie auch auf die sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems. Inzwischen warten die Aus-geschlossenen weiter. Um einen Lebensstil ver-treten zu können, der die anderen ausschließt, oder um sich für dieses egoistische Ideal begeis-tern zu können, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu emp-finden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, wir weinen nicht mehr angesichts des Dramas der anderen, noch sind wir daran interessiert, uns um sie zu kümmern, als sei all das eine uns fern liegende Verantwortung, die uns nichts angeht. Die Kultur des Wohlstands betäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wenn der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht ge-kauft haben, während alle diese wegen fehlender Möglichkeiten unterdrückten Leben uns wie ein bloßes Schauspiel erscheinen, das uns in keiner Weise erschüttert.

    Nein zur neuen Vergötterung des Geldes

    55. Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt

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    haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vor-herrschaft über uns und über unsere Gesellschaf-ten. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Göt-zen geschaffen. Die Anbetung des antiken gol-denen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschli-ches Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanz-wesen und die Wirtschaft erfasst, macht ihre Un-ausgeglichenheiten und vor allem den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung deutlich – ein Mangel, der den Menschen auf nur eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Kon-sum.

    56. Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit im-mer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glück-lichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autono-mie der Märkte und die Finanzspekulation ver-teidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt. Außerdem entfernen die Schulden und ihre Zinsen die Länder von den praktikablen Möglichkeiten ihrer Wirtschaft und

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    die Bürger von ihrer realen Kaufkraft. Zu all dem kommt eine verzweigte Korruption und eine ego-istische Steuerhinterziehung hinzu, die weltwei-te Dimensionen angenommen haben. Die Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interes-sen des vergöttlichten Marktes, die zur absoluten Regel werden.

    Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen

    57. Hinter dieser Haltung verbergen sich die Ablehnung der Ethik und die Ablehnung Gottes. Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird als kontraproduktiv und zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verur-teilt die Manipulierung und die Degradierung der Person. Schließlich verweist die Ethik auf einen Gott, der eine verbindliche Antwort erwartet, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht. Für diese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gott unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Unterjochung. Die Ethik – eine nicht ideologisierte Ethik – erlaubt, ein Gleich-gewicht und eine menschlichere Gesellschafts-ordnung zu schaffen. In diesem Sinn rufe ich

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    die Finanzexperten und die Regierenden der ver-schiedenen Länder auf, die Worte eines Weisen des Altertums zu bedenken: »Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, son-dern ihnen.«55

    58. Eine Finanzreform, welche die Ethik nicht ignoriert, würde einen energischen Wechsel der Grundeinstellung der politischen Führungskräf-te erfordern, die ich aufrufe, diese Herausforde-rung mit Entschiedenheit und Weitblick anzu-nehmen, natürlich ohne die Besonderheit eines jeden Kontextes zu übersehen. Das Geld muss dienen und nicht regieren! Der Papst liebt alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat er die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müs-sen. Ich ermahne euch zur uneigennützigen So-lidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft und Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des Menschen.

    Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt

    59. Heute wird von vielen Seiten eine größe-re Sicherheit gefordert. Doch solange die Aus-schließung und die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völ-

    55 Johannes chrysostomus, De Lazaro conciones II,6: PG 48, 992 D.

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    kern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen und die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt beschuldigt, aber ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden, der früher oder später die Explosion verursacht. Wenn die lokale, nationale oder weltweite Gesellschaft einen Teil ihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksal überlässt, wird es keine politischen Programme, noch Ordnungskräfte oder Intelligence geben, die unbeschränkt die Ruhe gewährleisten können. Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleich-heit gewaltsame Reaktionen derer provoziert, die vom System ausgeschlossen sind, sondern weil das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazu neigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, dem man einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit, dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und im Stillen die Grundlagen jeden politischen und sozialen Systems aus den Angeln zu heben, so gefestigt es auch erscheinen mag. Wenn jede Tat ihre Folgen hat, dann enthält ein in den Struk-turen einer Gesellschaft eingenistetes Böses im-mer ein Potenzial der Auflösung und des Todes. Das in den ungerechten Gesellschaftsstrukturen kristallisierte Böse ist der Grund, warum man sich keine bessere Zukunft erwarten kann. Wir befinden uns weit entfernt vom sogenannten „Ende der Geschichte“, da die Bedingungen für eine vertretbare und friedliche Entwicklung noch

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    nicht entsprechend in die Wege geleitet und ver-wirklicht sind.

    60. Die Mechanismen der augenblicklichen Wirtschaft fördern eine Anheizung des Kon-sums, aber es stellt sich heraus, dass der zügel-lose Konsumismus, gepaart mit der sozialen Un-gleichheit das soziale Gefüge doppelt schädigt. Auf diese Weise erzeugt die soziale Ungleichheit früher oder später eine Gewalt, die der Rüstungs-wettlauf nicht löst, noch jemals lösen wird. Er dient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen, die größere Sicherheit fordern, als wüssten wir nicht, dass Waffen und gewaltsame Unterdrük-kung, anstatt Lösungen herbeizuführen, neue und schlimmere Konflikte schaffen. Einige fin-den schlicht Gefallen daran, die Armen und die armen Länder mit ungebührlichen Verallgemei-nerungen der eigenen Übel zu beschuldigen und sich einzubilden, die Lösung in einer „Er-ziehung“ zu finden, die sie beruhigt und in ge-zähmte, harmlose Wesen verwandelt. Das wird noch anstößiger, wenn die Ausgeschlossenen je-nen gesellschaftlichen Krebs wachsen sehen, der die in vielen Ländern – in den Regierungen, im Unternehmertum und in den Institutionen – tief verwurzelte Korruption ist, unabhängig von der politischen Ideologie der Regierenden.

    Einige kulturelle Herausforderungen

    61. Wir evangelisieren auch dann, wenn wir versuchen, uns den verschiedenen Herausfor-

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    derungen zu stellen, die auftauchen können.56 Manchmal zeigen sie sich in echten Angriffen auf die Religionsfreiheit oder in neuen Situatio-nen der Christenverfolgung, die in einigen Län-dern allarmierende Stufen des Hasses und der Gewalt erreicht haben. An vielen Orten handelt es sich eher um eine verbreitete relativistische Gleichgültigkeit, verbunden mit der Ernüchte-rung und der Krise der Ideologien, die als Reak-tion auf alles, was totalitär erscheint, eingetreten ist. Das schadet nicht nur der Kirche, sondern dem Gesellschaftsleben allgemein. Geben wir zu, dass in einer Kultur, in der jeder Träger einer ei-genen subjektiven Wahrheit sein will, die Bürger schwerlich das Verlangen haben, sich an einem gemeinsamen Projekt zu beteiligen, das die per-sönlichen Interessen und Wünsche übersteigt.

    62. In der herrschenden Kultur ist der erste Platz besetzt von dem, was äußerlich, unmittel-bar, sichtbar, schnell, oberflächlich und provi-sorisch ist. Das Wirkliche macht dem Anschein Platz. In vielen Ländern hat die Globalisierung mit der Invasion von Tendenzen aus anderen, wirtschaftlich entwickelten, aber ethisch ge-schwächten Kulturen einen beschleunigten Ver-fall der kulturellen Wurzeln bedingt. Das haben in mehreren Synoden die Bischöfe verschiedener Kontinente zum Ausdruck gebracht. Die afri-kanischen Bischöfe haben zum Beispiel in An-

    56 Vgl. Propositio 13.

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    knüpfung an die Enzyklika Sollicitudo rei socialis vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass man oftmals die Länder Afrikas zu bloßen »Rädern ei-nes Mechanismus, zu Teilen einer gewaltigen Ma-schinerie« umfunktionieren will. »Das geschieht oft auch auf dem Gebiet der sozialen Kommu-nikationsmittel: Weil diese meistens von Zentren im Norden der Welt aus geleitet werden, berück-sichtigen sie nicht immer in gebührender Weise die eigenen vorrangigen Anliegen und Probleme dieser Länder, noch achten sie deren kulturelle Eigenart.«57 In gleicher Weise haben die Bischöfe Asiens »die von außen auf die asiatischen Kul-turen einwirkenden Einflüsse« hervorgehoben. »Neue Verhaltensformen kommen auf, die auf den übertriebenen Gebrauch von Kommunika-tionsmitteln […] zurückzuführen sind […] In direkter Folge sind die negativen Aspekte der Medien- und Unterhaltungsindustrie eine Gefahr für die traditionellen Werte.«58

    63. Der katholische Glaube vieler Völker steht heute vor der Herausforderung der Verbreitung neuer religiöser Bewegungen, von denen einige zum Fundamentalismus tendieren und andere eine Spiritualität ohne Gott anzubieten scheinen. Das ist einerseits das Ergebnis einer menschli-

    57 Johannes Paul ii., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Africa (14. September 1995), 52: AAS 88 (1996), 32-33; Ders., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), 22: AAS 80 (1988), 539.

    58 Ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Asia (6. November 1999), 7: AAS 92 (2000), 458.

  • 61

    chen Reaktion auf die materialistische, konsum-orientierte und individualistische Gesellschaft und andererseits eine Ausnutzung der Notsi-tuation der Bevölkerung, die an den Peripherien und in den verarmten Zonen lebt, die inmitten großer menschlicher Leiden überlebt und un-mittelbare Lösungen für die eigenen Bedürfnisse sucht. Diese religiösen Bewegungen, die durch ihr subtiles Eindringen gekennzeichnet sind, fül-len innerhalb des herrschenden Individualismus eine Leere aus, die der laizistische Rationalismus hinterlassen hat. Außerdem müssen wir zugeben, dass, wenn ein Teil unserer Getauften die eige-ne Zugehörigkeit zur Kirche nicht empfindet, das auch manchen Strukturen und einem wenig aufnahmebereiten Klima in einigen unserer Pfar-reien und Gemeinden zuzuschreiben ist oder ei-nem bürokratischen Verhalten, mit dem auf die einfachen oder auch komplexen Probleme des Lebens unserer Völker geantwortet wird. Vieler-orts besteht eine Vorherrschaft des administrati-ven Aspekts vor dem seelsorglichen sowie eine Sakramentalisierung ohne andere Formen der Evangelisierung.

    64. Der Säkularisierungsprozess neigt dazu, den Glauben und die Kirche auf den privaten, ganz persönlichen Bereich zu beschränken. Außerdem hat er mit der Leugnung jeglicher Transzendenz eine zunehmende ethische Deformation, eine Schwächung des Bewusstseins der persönlichen und sozialen Sünde und eine fortschreitende Zu-nahme des Relativismus verursacht, die Anlass

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    geben zu einer allgemeinen Orientierungslosig-keit, besonders in der Phase des Heranwachsens und der Jugend, die gegenüber Veränderungen so anfällig ist. Während die Kirche auf der Existenz objektiver, für alle geltender moralischer Normen besteht, gibt es, wie die Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika zu Recht festgestellt haben, »solche, die diese Lehre als ungerecht bzw. als mit den menschlichen Grundrechten unvereinbar darstellen. Diese Argumentationen entspringen gewöhnlich aus einer Form von moralischem Re-lativismus, der sich – nicht ohne inneren Wider-spruch – mit einem Vertrauen auf die absoluten Rechte des Einzelnen verbindet. In dieser Sicht-weise nimmt man die Kirche wahr, als fördere sie ein besonderes Vorurteil und als greife sie in die individuelle Freiheit ein.«59 Wir leben in einer In-formationsgesellschaft, die uns wahllos mit Da-ten überhäuft, alle auf derselben Ebene, und uns schließlich in eine erschreckende Oberflächlich-keit führt, wenn es darum geht, die moralischen Fragen anzugehen. Folglich wird eine Erziehung notwendig, die ein kritisches Denken lehrt und ei-nen Weg der Reifung in den Werten bietet.

    65. Trotz der ganzen laizistischen Strömung, die die Gesellschaft überschwemmt, ist die Kir-che in vielen Ländern – auch dort, wo das Chris-tentum in der Minderheit ist – in der öffentlichen

    59 uniteD states conFerence oF catholic BishoPs, Ministry to Persons with a Homosexual Inclination: Guidelines for Pastoral Care. (2006), 17.

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    Meinung eine glaubwürdige Einrichtung, zuver-lässig in Bezug auf den Bereich der Solidarität und der Sorge für die am meisten Bedürftigen. Bei vielen Gelegenheiten hat sie als Mittlerin ge-dient, um die Lösung von Problemen zu fördern, die den Frieden, die Eintracht, die Umwelt, den Schutz des Lebens, die Menschenrechte und die Zivilrechte usw. betreffen. Und wie groß ist der Beitrag der katholischen Schulen und Universitä-ten in der ganzen Welt! Es ist sehr positiv, dass das so ist. Doch wenn wir andere Fragen zur Sprache bringen, die weniger öffentliche Zustim-mung hervorrufen, fällt es uns schwer zu zeigen, dass wir das aus Treue zu den gleichen Überzeu-gungen bezüglich der Würde der Person und des Gemeinwohls tun.

    66. Die Familie macht eine tiefe kulturelle Krise durch wie alle Gemeinschaften und sozialen Bin-dungen. Im Fall der Familie wird die Brüchigkeit der Bindungen besonders ernst, denn es handelt sich um die grundlegende Zelle der Gesellschaft, um den Ort, wo man lernt, in der Verschieden-heit zusammenzuleben und anderen zu gehören, und wo die Eltern den Glauben an die Kinder weitergeben. Die Ehe wird tendenziell als eine bloße Form affektiver Befriedigung gesehen, die in beliebiger Weise gegründet und entsprechend der Sensibilität eines jeden verändert werden kann. Doch der unverzichtbare Beitrag der Ehe zur Gesellschaft geht über die Ebene der Emo-tivität und der zufälligen Bedürfnisse des Paares hinaus. Wie die französischen Bischöfe darlegen,

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    geht sie nicht hervor »aus dem Gefühl der Lie-be, das definitionsgemäß vergänglich ist, sondern aus der Tiefe der von den Brautleuten übernom-men Verbindlichkeit, die zustimmen, eine umfas-sende Lebensgemeinschaft einzugehen.«60

    67. Der postmoderne und globalisierte Indi-vidualismus begünstigt einen Lebensstil, der die Entwicklung und die Stabilität der Bindungen zwischen den Menschen schwächt und die Na-tur der Familienbande zerstört. Das seelsorgliche Tun muss noch besser zeigen, dass die Beziehung zu unserem himmlischen Vater eine Communio fordert und fördert, die die zwischenmensch-lichen Bindungen heilt, begünstigt und stärkt. Während in der Welt, besonders in einigen Län-dern, erneut verschiedene Formen von Kriegen und Auseinandersetzungen aufkommen, behar-ren wir Christen auf dem Vorschlag, den anderen anzuerkennen, die Wunden zu heilen, Brücken zu bauen, Beziehungen zu knüpfen und einander zu helfen, so dass »einer des anderen Last trage« (Gal 6,2). Andererseits entstehen heute viele For-men von Verbänden für den Rechtsschutz und zur Erreichung edler Ziele. Auf diese Weise zeigt sich deutlich das Verlangen zahlreicher Bürger nach Mitbestimmung – Bürger, die Erbauer des sozialen und kulturellen Fortschritts sein wollen.

    60 conFérence Des évêques De France, Conseil Famille et Société, Elargir le mariage aux personnes de même sexe? Ouvrons le débat! (28. September 2012).

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    Herausforderungen der Inkulturation des Glaubens

    68. Die christliche Basis einiger Völker – beson-ders in der westlichen Welt – ist eine lebendige Wirklichkeit. Hier finden wir, vor allem unter den am meisten Notleidenden, eine moralische Reser-ve, die Werte eines authentischen christlichen Hu-manismus bewahrt. Ein Blick des Glaubens auf die Wirklichkeit kann nicht umhin, das anzuerken-nen, was der Heilige Geist sät. Es würde bedeuten, kein Vertrauen auf sein freies und großzügiges Handeln zu haben, wenn man meinte, es gebe kei-ne ec