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Expert/-innen-Statement Altersassoziierter Muskelverlust: Diagnose und Therapie bei Sarkopenie

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Expert/-innen-Statement

Altersassoziierter Muskel verlust: Diagnose und Therapie bei Sarkopenie

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Expert/-innen

Prim. Dr. Klaus Hohenstein, MSc. Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Geriatriezentrum Wienerwald, Wien

Dr. Ernst Thalhammer Arzt für Allgemeinmedizin, Wien

Prof. Dr. Cornel Sieber Leiter des Institutes für Biomedizin des Alterns, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Chefarzt für Geriatrie am Klinikum Nürnberg

Univ.-Prof. Mag. Dipl.-Ing. Dr. Erich RothUniversitätsklinik für Chirurgie, MedUni/AKH Wien, Arbeitsgemeinschaft für klinische Ernährung (AKE)

Prim. Univ.-Prof. Dr. Monika Lechleitner Fachärztin für Innere Medizin, Ärztliche Direktorin am LKH Hochzirl

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1. Definition

Sarkopenie ist ein durch Alter, Krankheit und/oder inadäquate Lebens- und Ernährungsgewohnheiten verursachtes Syndrom, das im Abbau von skelettaler Muskelmasse in kritischem Ausmaß sowie kritisch abgesenkter Muskelkraft und/oder Muskelfunktionalität besteht.1 Nach anderen Definitionen bezieht sich der Begriff ausschließlich auf altersbedingten Muskelverlust.2

Sarkopenie geht mit einem erhöhten Risiko unerwünschter Folgen wie Behin- derung, Stürzen und Frakturen, niedriger Lebensqualität, Verlust der Unab- hängigkeit und Tod einher, woraus sich die Notwendigkeit einer Therapie ergibt. Es sollte betont werden, dass Sarkopenie auch bei normalem oder erhöhtem Körpergewicht bzw. BMI vorkommen kann.

Für davon betroffene Patient/-innen bedeutet Sarkopenie lebensverändernde Beeinträchtigungen, die sich in erhöhter Morbidität, nicht zuletzt erhöhtem Sturz- und Frakturrisiko, Invalidität, einem Verlust an Lebensqualität, vor allem durch Einschränkungen einer selbstbestimmten Lebensführung, und schließlich in erhöhter Mortalität äußern.

Es gibt hinreichende Evidenz dafür, dass Sarkopenie vor allem in frühen Stadien therapeutisch gut beeinflussbar ist.

2. Abgrenzung

Sarkopenie fällt häufig mit interagierenden Komorbiditäten zusammen, die diagnostisch und therapeutisch klar differenziert werden müssen:

Kachexie als ein komplexes Stoffwechselsyndrom kann aus einer Bandbreite unterschiedlicher Grunderkrankungen entstehen und ist häufig mit Inflammationen, Insulinresistenz, Anorexie und erhöhtem Abbau von Muskelproteinen assoziiert. Daher sind die meisten kachektischen Patient/-innen auch sarkopenisch, während jedoch die meisten sarkopenischen Patient/-innen nicht als kachektisch einzu- stufen sind.

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Gebrechlichkeit (Frailty) und Sarkopenie überlappen sich. Der Begriff der Gebrechlichkeit ist allerdings weiter gefasst: Er umschreibt nicht nur die für Sarkopenie Definitions-wesentlichen physischen Faktoren, sondern auch psychologische und soziale Dimensionen wie den kognitiven Status, soziale Unterstützung und andere Umgebungsfaktoren. Frailty kann nach der Methode von Fried 3 einfach diagnostiziert werden:

• Gewichtsverlust (> 5 kg in 12/12)• Empfundene Erschöpfung• Schwäche (Handgriff)• Langsame Gehweise • Geringe physische Aktivität

(0 von diesen: nicht frail; 1-2: pre-frail; ab 3: frail)

3. Epidemiologie und Perspektive

Je nach Definition und Kriterien wird die Prävalenz von Sarkopenie bei 60- bis 70- Jährigen von 5 % bis 13 %, bei über 80-Jährigen von 11 % bis 50 % angegeben.

Sarkopenie wird als altersassoziierte Krankheit aufgrund der demografischen Entwicklung weiter zunehmen. Der Anteil der über 60-Jährigen wird von derzeit rund 20 Prozent auf 35 bis 38 Prozent im Jahr 2035 ansteigen. Die Altersgruppe der 75- bis 85-Jährigen wird in Österreich in diesem Zeitraum von derzeit rund 465.000 Menschen auf etwas über 700.000 ansteigen, die Zahl der über 85- Jährigen von 104.000 auf 280.000. 2035 werden in Österreich voraussichtlich zwischen 2,7 und 3 Millionen über 60-Jährige leben. (Quelle: Statistik Austria)

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4 . Physiologische und pathophysio logische Ursachen von Muskelverlust

Sarkopenie ist ein multifaktorielles Geschehen, das durch genetisch programmierte, allerdings zum Teil reversible Alterungsprozesse ausgelöst und durch zusätzliche Faktoren wesentlich verstärkt werden kann.

Ab dem 50. Lebensjahr nimmt die Muskelmasse im Bevölkerungsquerschnitt jährlich um 1 bis 2 % und die Muskelkraft um etwa 1,5 % ab, Letztere ab dem 70. Lebensjahr sogar um etwa 3 %, insbesondere geht die Schnellkraft verloren.

Die physiologischen Ursachen dieses Abbaus liegen in veränderten Hormon- und Zytokin-Niveaus, einem Verlust an neuro-muskulärer Funktion, in wachsenden Anteilen von Apoptose und mitochondrialer Dysfunktion, in verringertem Anspre- chen der Muskeln auf anabolische Stimuli. Bei gleichbleibender Ernährung steht eine reduzierte Sensitivität des Muskels gegenüber den anabolischen Effekten von essentiellen Aminosäuren, insbesondere Leucin, einer geringeren Bioverfüg- barkeit eben dieser proteinogenen Substanzen gegenüber.

Zusätzliche Faktoren für Muskelverlust:

• Aktivitätsmangel: Körperliche Inaktivität, Bettlägrigkeit, sitzender Lebensstil, Dekonditionierung oder längerer Aufenthalt im schwerelosen Zustand

• Krankheit: Muskelabbau als Folge- und Begleiterscheinung schwerwiegender anderer Erkrankungen, etwa von malignen Tumoren, fortgeschrittenem Organ- versagen (Herz, Lunge, Leber, Nieren, Gehirn), inflammatorischen Erkrankungen oder hormonellen Ungleichgewichten (Insulinresistenz, abnorme Schilddrüsen- funktion, regelmäßige Cortison-Einnahme)

• ErnährungsbezogeneDefizite: Inadäquate Aufnahme von Energie und/oder Proteinen angesichts eines krankhaft erhöhten Bedarfs, etwa im Zusammen- hang mit Malabsorption, gastrointestinalen Störungen oder einer anorexigenen Medikation.

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5. Diagnostische Kriterien

Die definierenden Kriterien einer reduzierten Muskelmasse, reduzierter Muskel- kraft und re duzierter körperlicher Performance lassen sich mittels der folgenden Testverfahren ermitteln:

• StrukturelleEbene:Anthropometrie (Größe, Gewicht, BMI, Oberarm-Umfang, Unterschenkel-Umfang)

• MorphologischeEbene:Bioelektrische Impedanzanalyse (BIA), Duale Röntgen-Absorptiometrie (DXA), CT, MRT

• FunktionelleEbene:Ganggeschwindigkeit, Handkraft-Messung, Timed-up-and-Go-Test, Mobilitätstest nach Tinetti sowie Untersuchung gemäß SPPB (Short Physical Performance Battery).

Diagnose-Algorithmus für die klinische Praxis:Der folgende Algorithmus zur Identifizierung eines kritischen Kräfteabbaus im Sinn einer Sarkopenie beruht auf dem Konsens der EWGSOP, ebenso wie die – hier für die Bedürfnisse des klinischen Alltags vereinfachte – Auswahl der Cut- off-points. Ein entsprechender Check sollte bei Menschen ab dem 65. Lebens- jahr sowie bei Vorliegen spezieller Risikofaktoren auch bei Jüngeren erfolgen:

• Bei einer Ganggeschwindigkeit unter 0,8 m/sek 4 und/oder wenn die Hand- kraft vermindert ist, besteht ein starker Verdacht auf Sarkopenie. In diesem Fall ist zur Sicherung der Diagnose eine Muskelmasse-Messung anzustreben.

Komorbiditäten und individuelle Umstände müssen mit in Betracht gezogen werden.

Normalwerte Muskelmasse Untergrenzen sind Cut-off-Points für die Diagnose Sarkopenie.

Muskelmasse der Gliedmaßen (appendikulare

Skelettmuskelmasse) mittels DXA:

Gesamtmuskelmasse (absolute Muskelmasse) mittels Bioelektrischer Impedanzanalyse (BIA):

Männer 7,23 – 7,26 kg/m2 ≥ 10,76 kg/m2

Frauen 5,5 – 5,67 kg/m2 ≥ 6,76 kg/m2

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6. Therapeutische Möglichkeiten

Die Therapie der Sarkopenie basiert immer auf einer Kombination von physischer Aktivität und einer proteinreichen Ernährung.

Physische AktivitätZur Umkehr der sarkopenischen Dynamik hat sich Krafttraining (medizinische Trainingstherapie) als wirksam erwiesen. Um auch bei gebrechlichen älteren Menschen einen Zuwachs an Muskelvolumen und Kraft zu erzielen, sollte zwei- bis dreimal wöchentlich an nicht aufeinanderfolgenden Tagen mit einer Intensität von 70-80 % des 1RM (1 repetition maximum = Wiederholungsmaximum) trainiert werden. Empfohlen werden 3 Durchgänge mit 10 bis 15 Wiederholungen. Wenn aktives Muskeltraining nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, kann inaktivitäts- bedingter Muskelabbau durch funktionelle Elektrostimulation reduziert werden.

Ernährungsmodifikation Nachgewiesen ist eine positive Korrelation zwischen Protein aufnahme und Muskel- masse. Ältere Menschen benötigen zur Bildung der gleichen Menge an Muskel- proteinen eine höhere Eiweißzufuhr.

In Bezug auf Sarkopenie verdient dieses Faktum besondere Beachtung, weil es in den derzeit gängigen Ernährungsempfehlungen (RDA) keinen Niederschlag findet. Vielmehr wird eine Tagesdosis von 0,8 g Protein/kg KG für alle Erwach- senen ab dem 19. Lebensjahr gleichermaßen als Minimum empfohlen. Studien ergaben, dass für ältere, speziell sarkopenische Menschen zur Aufrechterhaltung der Stickstoffbalance bzw. der fettfreien Körpermasse allerdings eine höhere Dosis, etwa 1,0 bis 1,5 g/kg/Tag, erforderlich ist.

Notwendig ist eine dem entsprechende, möglichst gleichmäßig über die drei Hauptmahlzeiten verteilte Eiweißzufuhr. Angesichts der dem jedoch widerspre- chenden Ernährungsgewohnheiten älterer Menschen ist häufig eine entspre- chende Supplementierung der Eiweißzufuhr angezeigt.

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7. Spezifizierung und Dosierung der Ernährungstherapie

Welche Proteine? Physiologisch gut belegt ist, dass der muskelbildende Effekt von rasch in den Blutkreislauf übergehenden „schnellen“ Eiweißstoffen (z.B. Molke) größer ist als der von „langsamen“ (z.B. Kasein). Ebenfalls belegt ist, dass der Verlust von Muskel pro- teinen bei Bettlägrigen nur durch eine Supplementierung von essentiellen Aminosäuren in Verbindung mit ausreichender Aufnahme von Kohlenhydraten verhindert werden kann, nicht aber durch zusätzliche Zufuhr von nicht-essentiellen Aminosäuren. Unter den Ersteren dürfte die Aminosäure Leucin der mächtigste Regulator der Proteinsynthese des Skelettmuskels sein.

Supplement-Mischungen aus essentiellen Aminosäuren (6,7 g) wirken auf Sarko- penie nur dann anabolisch, wenn der Leucin-Anteil hoch ist (2,8 g bzw. 41 %, gegen- über einer Dosis von 1,7 g bzw. 26 %, die nur bei Jüngeren muskelaufbauend wirkt).

Tagesverteilung einer Protein-Supplementierung Zur Auslösung der Synthese von Muskelprotein dürften bei älteren Menschen weniger ein permanent leicht erhöhter Gesamtspiegel als vielmehr hohe postpran- diale Spitzen an essentiellen Aminosäuren entscheidend sein. Dies vor allem, weil sich mit zunehmendem Alter der Schwellenwert erhöht, ab dem ein anabolischer Stimulus wirkt.

Vitamin D Neben Proteinen äußert sich die ausreichende Aufnahme von Vitamin D bei älteren Menschen in einem Anstieg von Kraft und Funktion sowie einer Reduktion von Stürzen. Bei Sarkopenie sollte deshalb die empfohlene Tagesdosis von 800 – 1.000 IU eingehalten werden.

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Fußnoten: 1 Alfonso J. Cruz-Jentoft, Jean Pierre Baeyens, Jürgen M. Bauer, Yves Boirie, Tommy Cederholm, Francesco Landi, Finbarr C. Martin, Jean-Pierre Michel, Yves Rolland, Stéphane M. Schneider, Eva Topinková, Maurits Vandewoude, and Mauro Zamboni: Sarcopenia: European consensus on definition and diagnosis – Report of the European Working Group on Sarcopenia in Older People, Age Ageing. 2010 July; 39(4): 412–423. 2 Muscaritoli M, Anker S, Argilés J, et al (2010): „Consensus definition of sarcopenia, cachexia and pre-cachexia: Joint document elaborated by Special Interest Groups (SIG) ’cachexia-anorexia in chronic wasting diseases‘ and ’nutrition in geriatrics‘ “. Clinical Nutrition 29 (2): 154–9. 3 Fried LP, Tangen CM, Walston J, Newman AB, Hirsch C, Gottdiener J et al: Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001; 56(3):M146-M156. 4 Funktionseinschränkungen sind auch häufig schon bei Ganggeschwindigkeit von unter 1 m/sek zu beobachten; Cesari M et al. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2009;64:377-284.

Weitere Literatur bei den Verfasser/-innen

B&K Bettschart & Kofler Medien- und Kommunikationsberatung GmbH A-1090 Wien • Liechtensteinstraße 46A/1/9 • Telefon +43 01 3194378 0Fax: +43 01 3194378 20 • [email protected]