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 Gott und die Welt  Vor 200 Jahren ist G oethes »Faust« erschienen, der u ralt, sehr mod ern und ganz aktuell ist. Ein Osterspaziergang VON ELISABETH VON THADDEN Plötzlich, wie über Nacht, ist der Frühling gekommen. Das will etwas heißen: Wenn das Eis endlich schmilzt, kann der Fluss die Stadt mit Waren versorgen, dann wird der stinkende Dreck aus den engen Straßen gespült, dann ist mehr Waschwasser da, die Mühlen nehmen ihren Betrieb wieder auf. Frisch gewaschen kann man sich näher kommen. Und wie aus dem getauten Boden geschossen sind Spaziergänger aller Art, Bettler, Handwerker, Bürger, Dienstmädchen, im Freien vor der Stadt unterwegs. Als Sehnsüchtige sind sie jetzt gleicher als sonst. Man hat frei, fühlt sich auch so, jedenfalls vom Eise befreit, es ist Ostern! »Jeder sonnt sich heute so gern«, sagt da wie beseelt ein Spaziergänger zu seinem Begleiter, »Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden, / Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, / Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden, / Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, / Aus der Straßen quetschender Enge, / Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht / Sind sie alle an’s Licht gebracht.« Frühling, Übergangszeit, Sattelzeit: So klingt das aufgeklärte Deutschland um 1800.  Ans Licht! Auferstehu ng buchstabiert sich hi er weltlich, die fällige Be freiung aus Dumpfheit, Enge, Druck und Dunkelheit bringt zwar keine politische Revolution, aber immerhin ein naturchristlicher Frühling; und Bildung plus etwas Liebe tun das Ihrige zur Freiheit dazu. Statt der französischen gewalttätigen Umstürze findet hier friedlich ein ständeübergreifender Osterspaziergang statt, nach deutscher, ziemlich protestantischer Art, kirchenfern, naturfromm, es wird lieber nicht politisiert, sondern stattdessen gewandert. Und ein gelehrter Interpret des Geschehens hat sich unter den Spaziergängern auch gefunden, der vertont also, den Pudel schon auf den Fersen, die Auferstehung neu. Das ist der Faust. Goethes Faust, Doktor einiger Künste, der allerdings wenige Stunden vor diesem Osterspaziergang noch des Lebens so müde war, dass er das tödliche Gift schon an die Lippen gesetzt hatte. Bis plötzlich in tiefer Nacht ein Chor der Engel erklang, »Christ ist erstanden«, dessen heller Ton »mit Gewalt« den Lebensmüden am Selbstmord gehindert hat. Vom Tod zum Leben, wie es zur Osternacht passt: Das könnte den Leser oder Zuschauer christlich erbauen, läge diesem Faust ein bekennendes Christentum nicht ebenso fern wie Goethe, seinem  Autor, das ist ja bis in alle Parodien bekannt: »Die Botsch aft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.« Das kann einen etwas misstrauisch machen.  Warum also ist so viel Os tern um diesen Faust  , der vor genau 200 Jahren erschien? Sein aufgeklärt naturgläubiger Autor hatte schon im Juli 1797 geschrieben, der Faust  werde bald zu des Publikums »Verwunderung und

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  • Gott und die Welt Vor 200 Jahren ist Goethes Faust erschienen, der uralt, sehr modern und ganz aktuell ist. Ein Osterspaziergang VON ELISABETH VON THADDEN

    Pltzlich, wie ber Nacht, ist der Frhling gekommen. Das will etwas heien: Wenn das Eis endlich schmilzt, kann der Fluss die Stadt mit Waren versorgen, dann wird der stinkende Dreck aus den engen Straen gesplt, dann ist mehr Waschwasser da, die Mhlen nehmen ihren Betrieb wieder auf. Frisch gewaschen kann man sich nher kommen. Und wie aus dem getauten Boden geschossen sind Spaziergnger aller Art, Bettler, Handwerker, Brger, Dienstmdchen, im Freien vor der Stadt unterwegs. Als Sehnschtige sind sie jetzt gleicher als sonst. Man hat frei, fhlt sich auch so, jedenfalls vom Eise befreit, es ist Ostern!

    Jeder sonnt sich heute so gern, sagt da wie beseelt ein Spaziergnger zu seinem Begleiter, Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden, / Aus niedriger Huser dumpfen Gemchern, / Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden, / Aus dem Druck von Giebeln und Dchern, / Aus der Straen quetschender Enge, / Aus der Kirchen ehrwrdiger Nacht / Sind sie alle ans Licht gebracht.

    Frhling, bergangszeit, Sattelzeit: So klingt das aufgeklrte Deutschland um 1800. Ans Licht! Auferstehung buchstabiert sich hier weltlich, die fllige Befreiung aus Dumpfheit, Enge, Druck und Dunkelheit bringt zwar keine politische Revolution, aber immerhin ein naturchristlicher Frhling; und Bildung plus etwas Liebe tun das Ihrige zur Freiheit dazu. Statt der franzsischen gewaltttigen Umstrze findet hier friedlich ein stndebergreifender Osterspaziergang statt, nach deutscher, ziemlich protestantischer Art, kirchenfern, naturfromm, es wird lieber nicht politisiert, sondern stattdessen gewandert. Und ein gelehrter Interpret des Geschehens hat sich unter den Spaziergngern auch gefunden, der vertont also, den Pudel schon auf den Fersen, die Auferstehung neu.

    Das ist der Faust. Goethes Faust, Doktor einiger Knste, der allerdings wenige Stunden vor diesem Osterspaziergang noch des Lebens so mde war, dass er das tdliche Gift schon an die Lippen gesetzt hatte. Bis pltzlich in tiefer Nacht ein Chor der Engel erklang, Christ ist erstanden, dessen heller Ton mit Gewalt den Lebensmden am Selbstmord gehindert hat. Vom Tod zum Leben, wie es zur Osternacht passt: Das knnte den Leser oder Zuschauer christlich erbauen, lge diesem Faust ein bekennendes Christentum nicht ebenso fern wie Goethe, seinem Autor, das ist ja bis in alle Parodien bekannt: Die Botschaft hr ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Das kann einen etwas misstrauisch machen.

    Warum also ist so viel Ostern um diesen Faust , der vor genau 200 Jahren erschien? Sein aufgeklrt naturglubiger Autor hatte schon im Juli 1797 geschrieben, der Faust werde bald zu des Publikums Verwunderung und

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  • Entsetzen wie eine groe Schwammfamilie aus der Erde wachsen. Es hat lnger gedauert, bis Ostern 1808, da erschien Faust. Eine Tragdie zur Buchmesse, als Band 8 der Werkausgabe bei Cotta. Und darin waren nun erstmals, anders als in Goethes sogenanntem Urfaust der 1770er Jahre, anders auch als in seinem Faust- Fragment von 1790, die wiederbelebende Osternacht , der Osterspaziergang und das sterlich motivierte Auftauchen Mephistos enthalten.

    Dies alles hatte Goethe sich etwa zehn Jahre nach der Franzsischen Revolution ausgedacht, wie berhaupt die metaphysische Einbettung der Handlung. Auch den Prolog im Himmel nebst Gott dem Herrn hat Goethe erst um 1800 ins Stck eingebaut; genauer gesagt, er hat Gott und den gefallenen Engel Mephisto vor Beginn des Stcks, bevor also die Gelehrten-Tragdie, dann die Gretchen-Tragdie ihren Lauf nehmen, im Himmel ber den Faust debattieren lassen. Mephisto will es schaffen, den Gottesknecht Faust von seinem Urquell abzuziehen, das nennt er Wette. Die nimmt Gott zwar nicht an, aber er lsst den Mephisto zuversichtlich gewhren, als seis ein Spiel, das ein liberaler Vater gewhrt.

    Das biblische Buch Hiob liefert die Vorlage fr diesen Prolog, der die existenzielle Frage nach der Zukunft der Menschlichkeit aufwirft, aber gegenber dem Original an Unterhaltungswert krftig gewinnt: Der Herr wird vom Autor zugleich verbrgerlicht und als Schpfer, als allmchtiger Ursprung gewrdigt. Hier weist Goethe die Pltze an: Die Faust-Figur, zuerst Stoff eines deutschen Volksbuchs des 16. Jahrhunderts, wird jetzt sichtbar zum modernen Bhnenexempel gemacht. Der bermensch Faust hngt von Anfang an als Puppe an den Fden seiner Regisseure, des Autors zuallererst, aber eben auch Gottes.

    So beginnt das Drama, das lange als das deutscheste galt, obwohl es doch das Gesicht der europischen Moderne zeigt: die Tragdie des rastlosen mnnlichen Individuums, das sich grenzenlos selbst vergttert und dabei nach und nach alles zerstrt, Wissenschaft, Geliebte und eigenes Kind, dann die Natur, also die Zukunft. Weil heute jeder ein Kind dieser malosen Moderne ist, die seit gut 200 Jahren rcksichtslos die Lebensgrundlagen verschlingt, lsst einem dieses Stck keine Ruhe.

    Warum aber derart viel Ostern in das Spiel hineinkam, das ber Tausende von Versen so tdlich verluft, lsst sich nicht kurzerhand sagen. Man muss einen Umweg nehmen. Der Faust ist nichts fr Leser, die es eilig haben. Die Angelegenheit lsst sich aber auch bndig wiedergeben. Teil I: Ein Mann ist als Gelehrter von seinem Wissen tief enttuscht, er lsst sich mit dem Teufel ein, verliebt sich rasend und hinterlsst dabei drei Tote und eine Wahnsinnige. Teil II: Der Mann weitet mit dem Teufel sein rastloses Projekt aus zur Neuschpfung der Zivilisation, jetzt umfasst die Handlung ein paar Tausend Jahre von der Antike bis in die Zukunft, und am Ende steht das Schlussbild einer natur- und menschheitsverschlingenden Moderne, einer Wstenei des kapitalistischen Fortschritts. Der Glckssucher Faust ist zum Glck endlich tot. Zurck bleibt die Utopie des Ewigweiblichen, einer umfassenden Naturmtterlichkeit.

  • Dieser Epochenbefund kam auch nicht kurzum oder eines Tages zur Welt. Fast 60 Jahre hat Goethe am Faust gearbeitet, von etwa 1773 an, da war der Student 24 Jahre alt. Zur Ostermesse 1833, ein Jahr nachdem Goethe 82-jhrig gestorben war, erschien der Faust II. Uraufgefhrt wurde der erste Teil, wenngleich gekrzt und zensiert, erst 1829, der zweite Teil kam erst 1854 auf die Bhne, beide Teile zusammen 1876, da war der Urfaust nicht mal verffentlicht. Der Faust ist unter anderem eine Jahrhundertaufgabe fr Philologen gewesen.

    Selbst das Erscheinungsdatum 1808 tuscht, denn fertiggestellt und abgeschickt hat Goethe das Manuskript bereits im April 1806, zu Ostern; der Druck hat sich nur wegen des napoleonischen Kriegs, der im Herbst 1806 auch nach Weimar kam wie spter Napoleon selbst, um zwei Jahre verschoben. So tritt zu allem Komplizierten, das dieser Faust in sich hat, noch hinzu, dass er seinem Publikum erscheinen konnte wie eine deutsche titanische Antwort auf den Siegeszug des Titanen Napoleon. Dabei war, als die franzsische Version der Moderne ber Weimar hereinbrach, der Faust ja lngst fertig.

    Aber was heit bei diesem Stck fertig? Einschchterung durch Klassizitt hat Bertolt Brecht seine Anmerkungen zum unnahbaren Monument Faust berschrieben. Inzwischen aber, ein paar Entmythologisierungen spter, kann einen die fortwhrende Baustelle des Grounternehmens Faust eher anziehen als einschchtern. Was fr eine Hexenkche, in der Goethe da jahrzehntelang rhrt, pfeffert und feuert! Wie eine Werkstatt steht das Werk heute jedem offen, der zusehen will, wie hier ein sehr skeptischer, sehr realistischer, sehr mtterlichkeitsgewisser Dichter und Naturforscher die europische Moderne mit ihrem schwindelerregenden Welt- und Naturzerstrungsprogramm zu gestalten versucht. Das Werk verwandelt sich fortwhrend, wie der Verwandlungsgott Proteus persnlich, und bleibt dabei doch ein Werk, ein Zusammenhang.

    !Wer das Material dieser Textwerkstatt zeitsparend vereindeutigen will, scheitert. Goethe soll das Werk als Kollektivwesen bezeichnet haben, und das Wort trifft schon formal: Das Drama umfasst, gegen die Regeln der Tragdie, das gesamte kulturgeschichtliche Inventar an Reimen vom deutschen Knittelvers ber den italienischen Madrigalvers und Shakespeares Blankvers bis zu den Freien Rhythmen und zudem fast alle Dramenformen der europischen Theatergeschichte vom Puppenspiel ber die mittelalterlichen Mysterien- und Osterspiele bis zur antiken Tragdie, der Komdie und dem Brgerlichen Trauerspiel steckt alles drin, alle Sorten, alle Epochen, alle Tonlagen. Auch fr die Wissenschaftsgeschichte lsst sich das zeigen, von der Alchemie bis zu Whlers Harnstoff-Synthese hinterlsst alles Spuren im Faust, von Schellings Naturphilosophie bis zu Hufelands medizinischer Heilkunst. Von der Bibel noch ganz zu schweigen.

    Und in einer weiteren Hinsicht ist diese Werkstatt sehr eigentmlich: Bis 1801 hat Goethe zwar den Faust I weitgehend in Form gebracht, aber auch schon viele der

  • Helena-Verse und Schlusspassagen des II. Teils, die erst 30 Jahre spter erschienen. Er hat also dreierlei gleichzeitig im Kopf gehabt: erstens die Gegenwart seiner Arbeit; zweitens die fast drei Jahrzehnte zurckliegende Vergangenheit, in der er fr den Urfaust das so erdenwirklich liebende Gretchen erfunden hatte; und drittens die Zukunft der virtuellen Idealfrau Helena. In der Gegenwart um 1800 lebte Goethe selbst gegen jede Konvention unverheiratet mit Christiane zusammen, der geliebten Mutter seiner fnf Kinder, die bis auf einen Jungen Jahr fr Jahr starben.

    Zugleich hat er noch Schellings Naturphilosophie aufgenommen und mit Schiller ber zuknftige Kunst nachgedacht, doch whrend der Arbeit an der Endfassung des Faust 1805/06 hat Goethe besonders an einer Reihe von Physikalischen Vortrgen gesessen, die klingen, als handelten sie von Faust und Mephisto: Dualitt der Erscheinung als Gegensatz. Wir und die Gegenstnde. Licht und Finsternis. Leib und Seele. Zwei Seelen. Geist und Materie. Gott und die Welt. Andere Faust- Partikel dieser Zeit hat Goethe vorbeugend selbst zensiert, moralisch zu anstig. So ist manche Passage der Tragdie erst vor ein paar Jahren gedruckt worden: 2000 Seiten umfasst die von Albrecht Schne edierte Frankfurter Ausgabe von 1994, die besteht aus einem Textband und einem schon heute klassischen, ber tausendseitigen Kommentar. Und, verrckt, weniger als das sollte man zum Faust auch nicht lesen.

    Eine Schwammfamilie sei dieser Faust, hat Goethe also zutreffend gesagt, aber was soll man mit solch einer Schwammfamilie anfangen? Und wie? Natrlich hilft Losblttern, irgendwo anfangen. Man liest dann ja von allein weiter, etwa von hier aus: Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkrzen (Vers 3362), denn ein Experte fr Angst ist heute fast jeder. Oder von hier: Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben / Und Fluch vor allen der Geduld (Vers 1605 f.), denn gejagt fhlen sich viele. Oder von hier, Margaretes irrer Klagegesang: Meine Mutter hab ich umgebracht / Mein Kind hab ich ertrnkt / War es nicht dir und mir geschenkt? (Vers 4507 ff.). Gretchens klare Sprache des Wahnsinns kann jeder verstehen. O weile!, sagt die Kindsmrderin zu dem Geliebten, Weil ich doch so gern wo du weilest, und jagt gleich wieder hoch: Geschwind! Geschwind! / Rette dein armes Kind.

    Es ist hier, als sei die Zeit selbst verrckt geworden, von einem Vers zum nchsten, als sei ein Ma fr Ruhe und jagende Eile im Furor des Ungeduldigen fr immer zerbrochen. Eine Rastlosigkeitstragdie hat der Faust- Experte Michael Jger das Drama in seinem jngsten Buch Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart genannt.

    Die Katastrophe des Fortschritts, die historisch neuartige Entwertung der Gegenwart, auf die sofort ein Neues, ein Besseres folgen soll, treibt Goethe in den Jahren um, in denen er den Faust wieder vornimmt, der seit 1790 in der Schublade lag. Es sind Jahre, in denen Goethe sich gegen die Unruhe stemmt und gegen die atemlose Erfahrung einer sich wissenschaftlich wie politisch berstrzenden

  • Moderne, die sich in das Zeichen des Fortschritts stellt. Im Juni 1797 schreibt Goethe an Schiller, er setze sich wieder an den Faust, da es hchst ntig ist, da ich mir, in meinem jetzigen unruhigen Zustande, etwas zu tun gebe.

    Das liegt nicht zuletzt daran, dass er jetzt Tag und Nacht in der empirischen Erforschung einer Natur steckt, die jedem Generalisten ber den Kopf wachsen muss. Er schreibt nun in einem Brief, die Zeit berschlage sich wie ein Stein vom Berg herunter und man wei nicht, wo sie hinkommt und wo man ist. Und ber die Wissenschaftler und Philosophen um Humboldt oder Fichte im benachbarten Jena: Unglaublich aber ists, was fr ein Treiben die wissenschaftlichen Dinge herumpeitscht und mit welcher Schnelligkeit die jungen Leute das, was sich erwerben lt, ergreifen. Er versucht, alles nachzuvollziehen und mglichst viel selbst zu forschen.

    Mit Schiller gemeinsam fngt Goethe an, gegen jeden Dilettantismus, jede Modeverliebtheit in Kunst und Wissenschaft zu polemisieren, die kommen ihnen unangemessen vor angesichts der Umstrze im Nachbarland, das Publikum soll sich wenigstens aus der Barbarei und halbgebildeten Oberflchlichkeit rausbewegen! Und zugleich dilettiert Goethe selbst, es geht ja nicht anders, wenn man alles im Blick haben will.

    Seit der Franzsischen Revolution schon hat er seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten eine Art Asyl vor der politischen Moderne gesucht, wie der Philosoph Walter Benjamin es nannte. Seither ist seine naturwissenschaftliche Arbeit zugleich Erkenntniskritik und sthetik. Jetzt denkt er nach ber die Disproportion unseres Verstandes zu der Natur der Dinge, es entsteht der Begriff der Naturlangsamkeit, und gegen die Flchtigkeit der geschichtlichen Gegenwart will Goethe nun Pflcke einrammen: wissenschaftlich durch die Arbeit am alles durchziehenden Naturgesetz des Gegensatzes, der Polaritt, erkenntnistheoretisch gegen Newton durch die Arbeit an seiner Wahrnehmungslehre, und dann durch eine Kunst, die wider die flchtige Moderne etwas Besonderes kann. Die Kunst gibt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit. Sie kann das, weil sie nicht der rasenden Flchtigkeit der Zeitgenossen zum Opfer fallen muss, sondern mit einer an der Natur geschulten ruhigen Aufmerksamkeit das Vergangene im Gegenwrtigen sehen kann. So will er das jedenfalls. So macht er das beim Faust .

    Nicht als Naturimitat, sondern als frei soll sich die Kunst neu zeigen, als ernstes Spiel mit der Fiktion also, als Kunst auf der Hhe der Zeit. Und so verwandelt Goethe den Faust- Stoff nun in ein Spiel im Spiel im Spiele, wie Schne es nennt, in dem das Faust- Geschehen sich immerfort bricht und spiegelt, von einem Gegensatz zum nchsten verndert, als ginge es darum, das Prinzip der Polaritt ebenso ins Werk zu setzen wie das der Metamorphose als Verwandlungslehre. Kein Faust, der nicht in einem Wagner sein Gegenber fnde, kein Ostern, das sich nicht in ein Hauen und Stechen verwandelte, kein Gretchen ohne Frau Marthe.

  • Jedes Motiv verwandelt fortan seine Bedeutung, je nachdem, in welcher Polaritt es auf der Bhne erscheint. In jeder Erscheinung kann man ihr Gegenteil, in jedem Gegenwrtigen ein Vergangenes wahrnehmen lernen. Selbst in den legendren Szenen stecken ja angeeignete fremde Schtze, wie Goethe gesagt hat, nicht nur die biblische Hiob-Geschichte, sondern in der Klage ber die zwei Seelen, ach nebenbei auch ein Lustspiel von Wieland, im Fluch auf Glaube, Hoffnung und Geduld der neutestamentarische Korintherbrief, in Fausts Ringen um die bersetzung des Johannesevangeliums einige verblffend hnliche berlegungen des Philosophen Herder.

    Es ist ein groes Versteck- und Verwandlungsspiel aus alldem geworden, ein Welttheater neuen Typs, enzyklopdisch in Form und Motiven. Das klingt nach Jahrmarkt. Aber worum es geht, ist nichts anderes als die Frage, ob der Mensch zu retten ist, wie der Germanist Gerhard Kaiser dargestellt hat. Das Thema des Spektakels ist das berleben der Menschheit, die der blinde Mann Faust, der gegenwartslose Egomane mit seinem Weltsanierungsprojekt zur Strecke bringt. Zum Schluss wird dieser Faust sagen: Ich bin nur durch die Welt gerannt. Er kennt Goethes Demut gegenber der Schpfung nicht. Und, so kurios es heute klingt, auch Goethes naturkindliche Demut gegenber dem Weiblichen, dem Mtterlichen, das gebren kann, ist diesem Faust unbekannt.

    Frhling, bergangszeit, Sattelzeit: Whrend Faust schon am Ende der ersten Szene mit der Welterkenntnis weitgehend am Ende ist und fortan nur noch an der Expansion seines Ichs interessiert, soll sich sein Leser und Zuschauer ruhig mit der Vergangenheit und Zukunft des Abendlandes im Drama befassen. Soll Faust sich verblendet zu Tode eilen, das Werk selbst braucht Naturlangsamkeit, notfalls lebenslang. Also Kunst, ohne die sich nicht wahrnehmen lsst, was hinter Mord und Totschlag wirklich geschieht.

    Und Ostern? Dass Ostern etwas anderes ist als die langsame Metamorphose, hat der naturfromme und todesngstliche Goethe gewusst. Erbarme dich und la mich leben!, wird die wahnsinnige Margarete den Faust am Ende flehentlich bitten, solches Erbarmen kennt der natrliche Kosmos aus Pflanzen, Knochen, Steinen und Wolken nicht, den Goethe gerne erkundet. Fast wundert man sich, dass Goethe in dieser letzten Szene des Faust dem Christentum sein Ureigenstes, das Erbarmen, entleiht. Aneignung fremder Schtze!

    Denn das Ganze ist schlielich Kunst: dass das himmlische Zeichen an Ostern seinen polaren Gegensatz in den hllischen der Walpurgisnacht finden wird und eine spte Antwort im Ewigweiblichen; dass Mephisto als Negation von Ostern auf den Plan tritt, als Element von Gottes Schpfungsplan zugleich und als ein anderer Motor des Lebens; dass ohne Ostern kein Frhling wre, der die Leute so bhnen- und gefhlswirksam ins Offene treibt; dass Ostern zwar offenkundig Fausts Leben ber den Tod siegen lsst, aber doch nicht verhindert, dass Faust alsbald tten wird; dass Ostern also gebraucht wird, damit das Drama mit seinen Widersprchen in Gang kommen kann, auch damit man von der Polaritt mehr versteht, aus der im

  • Goetheschen Denken Neues entsteht. Auerdem: Als Metapher der bergangszeit, die um 1800 zwischen Ancien Rgime und industrieller Revolution, individueller Moderne die wacklige Brcke bildet, ist Ostern auch ntzlich.

    Ostern, das Auferstehungsfest: Wie sinnvoll das somit fr die sthetik der deutschen Klassik und fr diese schpfungsreligise Tragdie sein kann! Die gemeindet das Christentum in ihre Verse ein, um besser zeigen zu knnen, wer Faust ist. Als liee sich das Offenbarungsgeschehen von Menschenhand irgendwo einbauen. Und so ist Ostern pltzlich in der Kunst als ein Gegensatz des Kunststcks zu sehen. Zu Ostern 1808, vor 200 Jahren, ist also Goethes Faust erschienen. Der Tragdie I. Teil.