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This article was downloaded by: [UQ Library] On: 05 November 2014, At: 14:23 Publisher: Routledge Informa Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK Studia Neophilologica Publication details, including instructions for authors and subscription information: http://www.tandfonline.com/loi/snec20 Fiktionale und nichtfiktionale literatur oder die vorläufigen grenzen einer lexikographierten weltliteratur Gernot Müller Published online: 21 Jul 2008. To cite this article: Gernot Müller (1982) Fiktionale und nichtfiktionale literatur oder die vorläufigen grenzen einer lexikographierten weltliteratur, Studia Neophilologica, 54:1, 186-194 To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/00393278208587842 PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all the information (the “Content”) contained in the publications on our platform. However, Taylor & Francis, our agents, and our licensors make no representations or warranties whatsoever as to the accuracy, completeness, or suitability for any purpose of the Content. Any opinions and views expressed in this publication are the opinions and views of the authors, and are not the views of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracy of the Content should not be relied upon and should be independently verified with primary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for any losses, actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages, and other liabilities whatsoever or howsoever caused arising directly or indirectly in connection with, in relation to or arising out of the use of the Content. This article may be used for research, teaching, and private study purposes. Any substantial or systematic reproduction, redistribution, reselling, loan, sub-licensing, systematic supply, or distribution in any form to anyone is

Fiktionale und nichtfiktionale literatur oder die vorlaufigen grenzen einer lexikographierten weltliteratur

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Studia NeophilologicaPublication details, including instructions forauthors and subscription information:http://www.tandfonline.com/loi/snec20

Fiktionale und nichtfiktionaleliteratur oder dievorläufigen grenzen einerlexikographierten weltliteraturGernot MüllerPublished online: 21 Jul 2008.

To cite this article: Gernot Müller (1982) Fiktionale und nichtfiktionale literatur oderdie vorläufigen grenzen einer lexikographierten weltliteratur, Studia Neophilologica,54:1, 186-194

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Fiktionale und nichtfiktionale Literaturoder die vorläufigen Grenzeneiner lexikographierten Weltliteratur

GERNOT MÜLLER

Zum Lexikon der Weltliteratur. Band 2: Hauptwerke der Weltliteratur in Charakte-ristiken und Kurzinterpretationen. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg.von Gero von Wilpert. 2. erw. Aufl., Stuttgart, 1980.

Präsentation von Band 1 und 2

1963 erschien im Kröner-Verlag der 1. Band des von Gero von Wilpert betreutenLexikons der Weltliteratur. Indem es sich in der Auswahl der Stichwörter aufschöngeistige Autoren konzentrierte und von der Aufnahme von reinen Philoso-phen, Historikern, Essayisten und Fachschriftstellern weitgehend absah, darüberhinaus auch darauf verzichtete, literarische Sach- und Gattungsbegriffe einzubezie-hen, im Gegensatz zum Kindler Literatur-Lexikon sich auch nicht auf zusammenfas-sende Länderartikel einließ, gelang die Konzentration auf ein „Dichterlexikon",das trotz seiner Handlichkeit eine gediegene Fülle an Information bietet. In der 2.Auflage von 1975 ist der 1. Band auf fast 11000 Artikel angewachsen (xi + 1973 S.).Die Neuauflage hat sich als ein zuverlässiges Nachschlagewerk erwiesen, das diewichtigsten Autoren und anonymen Werke verschiedener Zeiten und Völker inäußerst knapper, stichwortartiger Prägnanz vorstellt und auch beim Aufsuchenweniger bekannter Schriftsteller nicht enttäuscht.

Diesem Autoren-Band hat der Herausgeber 1968 den Werke-Band zur Seitegestellt. In Kurzinterpretationen will er die Hauptwerke der Weltliteratur er-schließen und das „Dichterlexikon" vollkommen selbständig ergänzen. In der 2.Auflage von 1980 um 300 Artikel erweitert, umfaßt der Band rund 4500 Werke vonüber 1600 Autoren. Mit berechtigtem Stolz betont der Hg., daß sich der Werke-Band von der bisher fast ausschließlichen und herkömmlichen Form des Literatur-lexikons, dem Autorenlexikon, absetzt, und als das erste einbändige Werk indeutscher Sprache gelten darf, das die Werke selbst zum Gegenstand nimmt (XIII).

Prämissen der Besprechung

Im Vorwort zur 2. Auflage des Werke-Bandes - es weist gegenüber der 1. Auflagekeine wesentlichen Änderungen auf- hat der Hg. Zielsetzung und Prinzipien seinesUnternehmens bezeichnet. Er legt Rechenschaft ab über die Kriterien seiner Aus-wahl der Stichwörter, über die Anordnung und den Aufbau der Artikel. Diesevorgegebenen Gesichtspunkte habe ich zugrunde gelegt. Hauptgewicht lege ich aufdie Kriterien der Auswahl. Dabei interessiert die Frage, wie der Hg. das ObjektWeltliteratur auffaßt, das er abbilden will. Ich stütze mich auf Stichproben zurdeutschen und französischen Literatur des hohen Mittelalters, zur skandinavischenLiteratur, zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts und zur deutschen Gegen-wartsliteratur, insbesondere auf eine Überprüfung der Neuaufnahmen in der erwei-

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terten Auflage. Zu der Bevorzugung deutschsprachiger Literatur zwingt mich zwarauch eigene Begrenzung. Sie wird andererseits aber durch die Auswahl von Wil-perts gerechtfertigt. Zählt man nur die Autoren und Anonyma, ohne zu berücksich-tigen, daß einzelne deutschsprachige Schriftsteller mit mehr Werken als vergleich-bare ausländische vertreten sind (L. Thoma mit 9, Eichendorff mit 9, Raabe mit 23),ergibt sich schon ein deutliches Übergewicht. Neben 578 deutschsprachigenAutoren (Schweiz und Österreich einbegriffen) stehen 211 Vertreter der englischenund 217 der französischen Literatur. (Insgesamt ca. 36% deutschsprachige Au-toren). Ein einbändiges Lexikon in deutscher Sprache wird notgedrungen in ersterLinie ein Verzeichnis der deutschsprachigen Weltliteratur.

In seiner Zielsetzung des Werke-Bandes geht der Hg. davon aus, daß jedeBegegnung mit der Literatur „sich nicht in erster Linie als das Kennenlernen vonAutoren, sondern als eine Auseinandersetzung mit einzelnen Werken" vollziehe(XIII), denn „alle Literaturkenntnis baut im Grunde auf der Kenntnis vieler ein-zelner Werke auf, und immer steht das Einzelwerk als eigentliche Grundlage imMittelpunkt jeder literarischen Diskussion, ohne die das Gespräch sich im luftleerenRaum bewegen würde" (ebd.). Dieses vorurteilslose Sprechen-Lassen von Textenselbst, ist zu begrüßen. Die Tatsache aber, daß das Großunternehmen des Lexikonsder Weltliteratur den Seitentrieb eines Deutschen Dichterlexikons begünstigte (Bio-graphisch-bibliographisches Handwörterbuch zur deutschen Literatur, Stuttgart1963, 2. erw. Aufl. 1976), sowie den Band Moderne Weltliteratur. Die Gegenwartsli-teraturen Europas und Amerikas, Stuttgart 1972 (2. erw. Aufl. 1978, unter Mitarbeitvon Ivar Ivask), läßt die Vermutung aufkommen, daß vielleicht auch verlegerischeKalkulation mitspielte, wenn der Hg. sich im Rahmen des zweibändigen Nach-schlagewerkes so entschieden vom 1. Band absetzt und die Eigenständigkeit desWerke-Bandes betont.

Mir will aber scheinen, daß dem bewundernswerten Unternehmen von Wilpertsmehr Gerechtigkeit widerfährt, wenn wir die beiden Teile als eine sich ergänzendeEinheit entgegennehmen. Denn wenn der Hg. sowohl im Vorwort zu Band 1 wie 2nur beiläufig auf den jeweiligen anderen Teil des Lexikons verweist, stellt er seinLicht unter den Scheffel: zu der reichen Quelle an Information wird das Werkgerade bei gleichzeitiger Benutzung der beiden Teile.

Einmal sprechen die im 1. Band viel reicheren Literaturangaben zu jedem Stichwort dafür, daßder Benutzer zum Lexikon als einer zweibändigen Einheit greift. Dann, weil sich die stichwort-artigen Kurzbiographien des Autoren-Bandes oft nicht mit sturer Faktenaufrechnerei begnü-gen, sondern knappgefaßte, ausgewogene Überblicke zum Gesamtwerk eines Schriftstellersliefern - und gerade zu solchen, die im Werke-Band unberücksichtigt geblieben sind. So magden Liebhaber der schwedischen Literatur überraschen, daß zwar Per Olof Sundman mitseinem Roman Ingenjör Andrées luftfärd, 1967, vertreten ist, aber weder der vielfach über-setzte Erfolgsschriftsteller Vilhelm Moberg - etwa mit seiner Romantetralogie von den Schick-salen der Amerikaemigranten, - noch die 1974 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten EyvindJohnson und Harry Martinson. Johnson, der mit seiner von Th. Mann beeinflußten Umdich-tung der Odyssee, Strändernas svall (1946), auf originelle Weise im Strom einer weltliterari-schen Tradition steht, der mit dem historischen Fresko des von Karl dem Großen humanisier-ten Frankenreiches - Hans nàdes tid. En roman om det närvarande (1960) - einen derbedeutendsten schwedischen Romane schuf. Aber hier, wie auch bei Martinson, der in den30er Jahren von der Kritik Strindberg an die Seite gestellt wurde, springt der Autoren-Bandmit jeweils einem informativen Lebensabriß, einem Werkeverzeichnis und vor allem mitrelativ reichen Literaturangaben in die Lücke.

Ein anderes Beispiel: Die intensiven Versuche einer Vergleichenden Literaturwissenschaftdie Wurzeln des Minnesangs über Spanien in den arabischen Bereich zurückzuverfolgen,Zusammenhänge mit den provenzalischen Vorbildern und die Abhängigkeit von einer Volks-lied-Tradition zu ermitteln, veranschaulichen schlaglichtartig, daß gerade die Lyrik des hohen

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Mittelalters zu den faszinierenden Zeugnissen einer den engen kulturgeographischen Rahmensprengenden Weltliteratur gehört. Über den Minnesang informiert nur der 1. Band.

Indessen ist die Aufnahme von Lyrik ein Problem besonderer Art, was sich schon beiKindlers Literatur-Lexikon zeigte. Kurzinterpretationen einzelner Gedichte hätten den Rah-men des Werkes gesprengt. Nur solche Lyrik-Sammlungen wurden aufgenommen, „die durchihre innere Geschlossenheit oder zyklische Komposition sich als ein Ganzes darstellen"(XIV). So sucht man im 2. Band nicht nur eine Charakteristik Walthers von der Vogelweidevergebens; auch der aufgrund der hundertfachen Übersetzung sicher in den Rahmen einerWeltliteratur gehörende Paul Gerhardt mußte im 1. Band berücksichtigt werden.

Bei ca. 11000 Stichwörtern des 1. Bandes gegenüber ca. 4 500 des zweiten ist die Abschot-tung zu Randbezirken der sog. schönen Literatur auch bei weitem nicht so undurchlässiggeraten, wie das Vorwort zum Autoren-Band vermuten läßt. Das beweist die großzügigeBerücksichtigung von Trivialschriftstellern, Verfassern von Fachliteratur und Dokumentari-sten.

Um der Leistung des Lexikographen von Wilpert gerecht zu werden, sei hier auch auf das1979 zum sechsten Male aufgelegte Sachwörterbuch der Literatur verwiesen, das sich als einegewichtige Ergänzung des Lexikons empfiehlt. Schon hier, wie übrigens auch mit seinerSchiller-Chronik, 1958, dem Band Deutsche Literatur in Bildern, 1965 in 2. Auflage er-schienen, und in der in Zusammenarbeit mit A. Gühring 1967 herausgegebenen Bibliographiezur deutschen Literatur 1600-1960 (Erstausgaben deutscher Dichtung), hat sich von Wilpertauf lexikalischem und biographischem Bereich als äußerst zuverlässig erwiesen und weitge-hende Anerkennung gefunden. Schon im Sachwörterbuch war zwar die deutsche Literaturbevorzugt, insbesondere aber im bibliographischen Teil erwies sich von Wilpert befähigt, denBlick über die Grenzen des eigenen Sprachraumes zu erheben. H. Fromm urteilte über dieersten beiden Auflagen:

„Auf einschlägigem Gebiet übertrifft der Verf. an Reichhaltigkeit sehr häufig Eppelsheimer('Handbuch der Weltliteratur'), Kosch und sogar Körner." - „Es ist durch Exaktheit, Klar-heit, sachgerechte Diktion und durch die einsichtsvolle Art ausgezeichnet, mit der es in denArtikeln auf die Vorläufigkeit der Bestimmung gegenüber der Vielschichtigkeit der Erschei-nung aufmerksam macht."1 Durch solche Tugenden gehört der „Wilpert" seit seiner 1.Auflage 1955 bis heute zum unentbehrlichen leichten Gepäck des Literaturstudenten auf seinersteinigen Wanderung durch das Labyrinth literarischer Begrifflichkeit. Er fügt sich nachErscheinen des Lexikons als ein Baustein in die von Wilpertsche Bestandsaufnahme derWeltliteratur ein. Und nach meinen Stichproben hält der 2. Band des Lexikons das gleichehohe Maß an Zuverlässigkeit.

Anordnung und Aufbau der Artikel

In der Anordnung der Artikel hält sich der Hg. im Gegensatz zum Kindler Literatur-Lexikon an die leichte und schnelle Auffindbarkeit als obersten Grundsatz, wasunbedingt als Vorzug zu werten ist. Denn die Benutzung eines Literaturlexikonssollte nicht vom Zugang eines Lexikons der Erstausgaben abhängig gemacht wer-den. So finden wir das Shakespeare-Drama unter dem Stichwort Hamlet, Prinz vonDänemark und nicht wie im Kindler unter dem Originaltitel der Erstausgabe ein-geordnet: The Tragicall Historie of Hamlet, Prince ofDenmarke. Der Hg. hält sichkonsequent an die Übersetzungstitel, die im Deutschen am geläufigsten sind oder injüngeren Ausgaben bevorzugt werden. Varianten erscheinen als Verweise. Ebensobarock lange Titel oder Doppeltitel. Das Auffinden eines Titels wird erleichtertdurch ein Autorenregister, das alle aufgenommene Werke erfaßt. Der Übersichtlich-keit des Ganzen dient auch das nach Sprachgruppen gegliederte Register nachLiteraturen, in dem die vertretenen Autoren und Anonyma in chronologischerAbfolge erscheinen. Zu erwägen wäre ein drittes Register, daß die nur im 1. Bandberücksichtigten Autoren verzeichnet. Zu rühmen ist die sinnvolle Variation der

1 Hans Fromm, „Bibliographie und deutsche Philologie", in: DtVj 33 (1959), S. 492 u. 493.

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typographischen Mittel, durch die der einzelne Artikel in seiner Dreiergliederung(siehe unten) übersichtlich, die Darbietung des Ganzen einheitlich wirkt. EineAnmerkung zur Aufgliederung in Literaturen: in neueren Darstellungen der Gegen-wartsliteratur setzt sich eine getrennte Behandlung der beiden deutschen Litera-turen mehr und mehr durch2. Vor allem der ausländische Benutzer wäre für dieseAufgliederung im Register dankbar. Von einer „auffallend sparsame(n) Nominie-rung der in der DDR lebenden" Autoren, die G. Seidel noch an der BiographieErstausgaben deutscher Dichtung in seiner Besprechung in Germanistik 1968, S.316f. rügte, ist im Lexikon der Weltliteratur nichts mehr zu spüren.

Der einzelne Artikel ist in 3 Abschnitte gegliedert. Einleitend informiert er nachdem Titel über Gattung, Sprachform (Vers oder Prosa), Autor, genaue Entstehungs-zeit, Erstdruck in Zeitschriften o. ä. Beim letzten Punkt wäre noch mehr Konse-quenz denkbar. So sollte der damals Aufsehen erregende Vorabdruck von BöllsKatharina Blum im Spiegel (Jg. 1974, Nr. 31-34) nachgetragen werden. AuchHinweise zum Abdruck einzelner Werke in Sammelausgaben wären nützlich.

Es folgen im 1. Abschnitt Ort und Jahr der originalsprachigen ersten Buchaus-gabe, bei Dramen Angaben über Datum, Ort und Theater der Uraufführung undschließlich, für ein Lexikon, das seinen Rahmen von der Vorstellung einer Weltli-teratur bezeichnet sieht, die besonders wichtigen Hinweise auf deutsche Überset-zungen mit Namen des Übersetzers und Jahreszahl der 1. Auflage sowie Angabenüber das direkte Fortwirken des betreffenden Werkes in Dramatisierungen, neuenBühnenbearbeitungen, Vertonungen, Opern o.a. Auf solche Verweise einer sichgegenseitig beeinflussenden Weltliteratur hätten einzelne Mitarbeiter noch konse-quenter verpflichtet werden können. Zusammen mit Hinweisen zu Verfilmungen,Auflageziffern und Verbreitung eines Textes dienen gerade solche Fakten denBedürfnissen der rasch wachsenden Rezeptionsforschung.

Wohltuend beim Vergleich mit ähnlichen Hilfsmitteln, erschöpft sich dann der 2.Teil nicht lediglich in einer nichtssagenden banalen Inhaltsangabe des Werkes. Inder Form der Kurzinterpretation werden knappe Angaben zu Aufbau, Sprache, Stil,Struktur, Perspektive usw. geboten, die in den Versuch einer objektiven kritischenWertung der literarischen oder literaturhistorischen Bedeutung einmünden. Hiermacht sich der Vorzug des Expertenteams geltend, etwa gegenüber dem „Kosch"mit seinen zahlreichen peinlichen Stilblüten. Es besteht die Gefahr, daß mancheArtikelverfasser den nüchternen, Wissen vermittelnden Standort des Lexikonspreisgeben. Im großen und ganzen aber ist der Takt der Mitarbeiter hervorzuheben.Es geschieht selten, daß eigene Theorien zu Markte getragen werden. (Im Falle desNibelungenliedes hat allerdings Krogmann nicht darauf verzichten wollen, im Kü-renberger vielleicht den Dichter zu sehen.) Die Artikel präsentieren sich in derRegel erfrischend karg. Bei der sprachlichen Darbietung ist das Stilideal der brevi-tas zu einer Voraussetzung für das Gelingen des Unternehmens geworden. Mitar-beiter wie der Lessing-Forscher Otto Mann, lexikographisch geschulte Expertenwie Elisabeth und Herbert A. Frenzel und der Hg. selbst, scheinen in dieser Tugendbesonders geübt. Um in der Darbietung noch mehr Einheitlichkeit zu erzielen, hättesich dem Hg. die Alternative geboten, seine Mitarbeiter auf die Form einer strengstichwortartigen Darstellung zu verpflichten, mit einem genau vorgeschriebenenKatalog von Fragen an den jeweiligen Text. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob diesdem Lexikon dienlich gewesen wäre, ihm vielmehr die starre, allzu leblose Gestaltdes trockenen Stichwörterverzeichnisses gegeben hätte. Es scheint sinnvoller, dem

2 Vgl. Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, 1973, als Taschenbuchreihe 1980, dieB R D und D D R get rennt b e h a n d e l t ; e b e n s o Wolfgang Beutin u . a . , Deutsche Literaturge-schichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979.

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jeweiligen Spezialisten freie Hand zu lassen, wie er innerhalb der notwendigenBegrenzung von höchstens I Vi Spalten jeweils die Akzente setzen will.

Der Artikel wird abgeschlossen mit den aus verständlichen Gründen äußerstknappen Angaben zur Sekundärliteratur. Sie berücksichtigen nur Buchveröffentli-chungen. Durch diese Beschränkung verzichtet der Hg. auf die Möglichkeit, manch-mal die Spreu vom Weizen zu trennen. Ob die zum Novellenfragment Lenz vonBüchner angeführte Dissertation von K. Voss aus dem Jahre 1922 den letzten Standder Forschung vertritt, darf bezweifelt werden. Dann scheinen auch oft wahllos dieVeröffentlichungen allerjüngsten Datums den Vorzug erhalten zu haben, vielleichtin der nicht immer begründeten Hoffnung, damit gleichzeitig die umfassendstenbibliographischen Angaben zu vermitteln. Vielleicht hätte auch bei der Auswahl derSekundärliteratur der einzelne Mitarbeiter mehr freie Hand haben sollen. DieBerücksichtigung von Aufsätzen und anderen Beiträgen in Sammelwerken wärebesonders der, was die Literaturangaben betrifft, oft stiefmütterlich behandeltenGegenwartsliteratur zugute gekommen.

Die Auswahl und der Begriff Weltliteratur

Trotz der einleitend angedeuteten Bedenken dagegen, die Eigenständigkeit desWerke-Bandes überzubetonen, so kommt doch die Präsentation von ausgewähltenWerken in der handlichen Gestalt eines eigenständigen Bandes einem berechtigtenBedürfnis entgegen. Nicht nur, daß der Wissenschaftler wie der literarisch interes-sierte Laie getrost nach Hause tragen will, was man schwarz auf weiß besitzenkann. Und wer kann sich heutzutage noch leisten, den „Kosch", das KindlerLiteratur-Lexikon oder andere mehrbändige Werke getrost nach Hause zu tragen.Schließlich muß auch in einer Situation der Literaturwissenschaft, wo - wie H.Fromm befürchtet - viele, vielleicht zu viele methodische Türen offen stehen, dasEngagement für eine Methode oft stärker als für den dichterischen Text ist, einUnternehmen wie das von Wilpertsche befreiend wirken. Denn hier wird nüchtern,unverstellt von grauer Theoriewut einer Literaturwissenschaft in die Hände gearbei-tet, die ihren historischen Auftrag ernst nimmt und vor der tiefschürfenden Spekula-tion sammelt, beschreibt, vergleicht, klassifiziert. Und bedenken wir, daß „ohneden Hintergrund weltliterarischer Umschau . . . alle literarische Forschung zurUnfruchtbarkeit verurteilt" ist (Petersen).

Natürlich darf man mit einem einbändigen Lexikon nicht mehr Erwartungenverknüpfen, als es einlösen kann. Es kann nur an die Lektüre der Dichtung selbstheranführen; es kann als Gedächtnishilfe früher gelesene Werke in der Erinnerungwieder auffrischen, über die literarische Bedeutung vororientieren und abhängigvon der Disziplin des Benutzers ein vorläufiges Hilfsmittel sein, sich das lebendigeNetzwerk der literarischen Beziehungen auf eigene Faust zu erarbeiten. Dabei hilft,trotz der vom Hg. streng vorskizzierten Einheitlichkeit der einzelnen Artikel diekeineswegs starre, bei insgesamt 308 Mitarbeitern erfrischend variable Darbietung.Wer den Werke-Band zur Deckung einer punktuellen Informationslücke zur Handnimmt, fühlt sich eingeladen, Querverbindungen nachzugehen und weiterzulesen.Und was könnte eine vornehmere Aufgabe für ein Lexikon der Weltliteratur sein,als über die bloß reihende Bestandsaufnahme hinaus, eine Vorstellung vom Aus-tausch und den wechselseitigen Beziehungen der Nationalliteraturen anzudeuten.

Wir können den so mancherlei Wandlungen unterworfenen Begriff Weltliteraturzunächst rein quantitativ als die Summe aller literarischen Zeugnisse aller Sprach-räume zu allen Zeiten fassen, ohne dabei an eine innere Zusammengehörigkeit odergegenseitige Beeinflussung zu denken. Halten wir uns an diesen Maßstab, so ist fürein einbändiges Werk die Auffächerung auf insgesamt 38 Literaturen reich zunennen, wenn auch innerhalb der europäischen Literatur etwa die neugriechische

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unterrepräsentiert erscheint. Die Auswahl ist indessen nicht von vornherein ein-geengt durch ausschließliche Berücksichtigung der großen Sprachkreise. Ein Be-nutzer aus einem anderen Kulturraum mag sich allerdings an dem fatalen Eindruckstoßen, Europa sei die Welt. Goethe konnte noch bedenkenlos sagen, „euro-päische, das heißt Weltliteratur". Für ihn war im wachsenden Austausch zwischenden Völkern, jener zwischen den Ländern Europas der erste Keim des wachsendenOrganismus 'Weltliteratur'3. Das starke Übergewicht der europäischen Literaturwird für den Benutzer, dem die Goethesche Vorstellung keinen Trost mehr bietet,durch den Rückgriff zum Autoren-Band etwas ausgeglichen.

Wir können dann einen Schritt weitergehen und unter Weltliteratur den Bestandder größten dichterischen Leistungen aller Zeiten begreifen, einer Literatur, dieüber Entstehungsraum und Zeit hinaus als Gemeingut aller Menschen Geltungerringt. Nach Strich Werke, die „zum allgemeinen Schatz der menschlichen Bil-dung" gehören4. Dieser Auffassung kommt der Hg. mit seiner Zielsetzung entge-gen, Beispiele zu dokumentieren, „deren literarischer Wert unabhängig vom Zeit-geschmack die Jahrhunderte überdauert hat" (XIII). Andererseits bindet sich vonWilpert aber nicht an einen starren Kanon von Meisterwerken einer hohen Litera-tur. Auch er folgt, wenn auch zurückhaltend, dem zu begrüßenden Trend einerAusweitung des Stoffgebietes durch die Berücksichtigung von „Meisterwerken derleichteren Muse" (XIV). Zweifellos gehören auch die Gänseblümchen, wie etwa die9 vom Regionalschriftsteller L. Thoma berücksichtigten Werke zum Feld der Weltli-teratur, wenn auch der Benutzer hier so manches unscheinbare Pflänzchen lieberausgejätet sähe, wenn er Löns etwa 4mal, den Nobelpreisträger Pablo Neruda abermit keinem Werk vertreten findet. Daß dann eine deutliche Grenze zur Triviallitera-tur und der sensationellen Unterhaltungsliteratur gezogen wird, ist nur nützlich imBlick auf die einheitliche Geschlossenheit des Bandes. So orientiert über Habe undSimmel oder Ganghofer und Courths-Mahler lediglich der Autoren-Band.

Wir können schließlich an die Vorstellung Goethes anknüpfen. Er hütete sichzwar, die Idee einer Weltliteratur durch eine präzise Definition in eine ein fürallemal verfügbare dürre Begrifflichkeit zu sperren. Für ihn signalisierte aber dochsicher die von ihm geprägte Idee den lebendigen geistigen Verkehr zwischen ver-schiedenen Literaturen und ihr gegenseitiges Zusammenwirken, das dann trotzvorausgegangener ähnlicher Bemühungen Lessings und der Gebrüder Schlegel imdeutschen Sprachraum erst verspätet Gegenstand einer vergleichenden Literatur-wissenschaft wurde, einer „Weltliteraturwissenschaft", wie Strich sie propagierte5.Und auch bei dieser erweiterten Bedeutung des Begriffes wird der Werke-Bandtrotz seiner notwendigen Begrenzungen eine wertvolle Fundgrube. Allerdingswären in diesem Sinne einer Weltliteratur bei einzelnen Artikeln reichere Angabendarüber wünschenswert, wie Stoff und Motive eines Werkes Weiterformungen oderAnregungen darstellen.

Bei alledem ist die Konzentration auf einen Band - vor allem, wenn er sich selbstso betont als unabhängig vom Autoren-Band absetzt - zum Teil eine problematischeLeistung, die den wachen Sinn des Benutzers erfordert. Die in der Literaturwis-senschaft lange vom 'sprachlichen Kunstwerk', von der 'dichterischen Aussage' hermotivierte Aversion nicht nur gegen die Dichterbiographie, sondern alle außerhalbdes Werkes liegenden Faktoren, mag mancher hier in letzter Stunde noch einmalbestätigt finden. Diesem Verdacht entspräche die grundsätzliche Beschränkung aufWerke der sog. 'schönen Literatur'. Daß historische, philosophische, religiöse

3 Vgl. dazu Fritz Strich, Goethe und die Weltliteratur, 2. verb. u. erg. Aufl. 1957, S. 29f.4 a.a.O. S. 15.5 Vgl. dazu Strich a.a.O. S. 28ff.

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Schriften, Essays und Fachliteratur weitgehend ausgeschlossen werden, darindrückt sich vielleicht nicht nur die von der Zielsetzung der Handlichkeit hernotwendige Begrenzung aus. Denn einer Literaturwissenschaft, die Faktoren außer-halb des Werkes mit dem Bannfluch des Zufälligen versah, wurde nicht nur dieAblehnung des biographischen Interesses zu einem Allgemeinplatz. Sie hat auchden engen Literaturbegriff, der ausgeht von einer starren Trinität der GattungenEpik, Dramatik und Lyrik konserviert. Sie liegt der Auswahl von Wilperts zu-grunde. Aber die Zweifel gegen die Goethesche Maxime, es gäbe „nur drei echteNaturformen der Poesie . . . Epos, Lyrik und Drama" sind stärker denn je. Siewerden heutzutage ja nicht nur vom modischen Interesse für die Trivialliteraturoder von jener Position vertreten, der es um eine einseitige Politisierung derLiteratur geht. So ist dem Hg., wenn er dem vor zehn Jahren noch nicht anachroni-stischen Interesse für die Protokoll- und Dokumentarliteratur standhält, kein Vor-wurf zu machen (Über Runge und Wallraff informiert nur der 1. Band. Von v. d.Grün ist Irrlicht und Feuer, aber nichts Dokumentarisches aufgenommen.) Beweistdoch die literarische Entwicklung der 70er Jahre in der Bundesrenublik, daß derTotenschein, welcher der Literatur als Kunstform ausgestellt wurde, nur einenScheintod attestierte. Im 1976 erschienenen Prosawerk Jugend von W. Koeppen, inder 1975 von M. Frisch veröffentlichten Erzählung Montauk, im Hölderlin-Romanvon P. Härtung, 1976 - alle berücksichtigt in der Neuauflage des Werke-Bandes - istdie trockene Dokumentation nicht mehr Selbstzweck oder politisches Mittel selbst-ernannter Weltverbesserer, sondern Bestandteil einer künstlerischen Durchdrin-gung der Wirklichkeit. (Überhaupt ist die Aktualisierung durch die Neuauflage alsgelungen zu bezeichnen. Die Grenze geht bis zum Jahre 1979. Die Erzählung, DasTreffen in Teltge von Grass ist aufgenommen, nicht dagegen Bölls Roman Fürsorg-liche Belagerung vom gleichen Jahr. Was Böll betrifft, wurde die Erstausgabe vonGruppenbild mit Dame falsch auf 1974 datiert [recte: 1971].)

Die Zweifel gegen das triadische Gattungssystem sind indessen prinzipiellerer Artals sie der Trend zur Sozialisierung formulierte. Wird doch durch die Entscheidungdie nichtfiktionale Literatur auszuschließen6, der Begriff einer Weltliteratur ver-engt. Nicht nur im Blick auf manchmal nur kurzlebige Veränderungen der Gegen-wart, sondern auch was die Überlieferung betrifft. Denn noch für F. Schlegelverkörpert in seinen Wiener Vorlesungen 1812 die wissenschaftliche Prosa einenwesentlichen Teil der Literatur. Sengle bemerkt dazu, „daß diese VorlesungenLiteraturgeschichte auf einem erstaunlich breiten Hintergrunde entfalten und dieGebrauchsliteratur in keiner Weise ausschließen"7. Ja, es läßt sich beobachten, daßleichtere Produkte einer schönen Literatur, wie Anakreontik und Verserzählungenin den Schatten einer den Wissenschaften benachbarten Literatur geraten. Nebender Philosophie wird vor allem der „Kritik" und der „historischen Kunst" vielSorgfalt gewidmet. Und andererseits ist bei so manchem Talent d e Gegenwartsli-teratur die Flucht in das ungehemmte Experimentieren oder der Versuch, die Poesiezur Magd der Politik zu nötigen, nicht von vornherein als künstlerisches Versagenabzutun. Auf dem Höhepunkt des wissenschaftlichen Zeitalters ist dem Schrift-steller zum Problem geworden, „was die Poesie zur Verdeutlichung der modernen

6 Mit Ausnahme der rhetorischen Geschichtsschreibung der Antike, die mit sprachkünstleri-schen Maßstäben beurteilt werden kann. Beispiel: Thukydides' Darstellung des Peloponnesi-schen Krieges. Und „ästhetische Nebenwerke bedeutender Dichter, soweit sie für derendichterisches Werk von Belang sind" (XIII). Beispiel: Schillers Uber naive und sentimenta-lische Dichtung.7 Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restaur-ation und Revolution 1815-1848. Bd. 2. Stuttgart 1972, S. 8.

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Welt beitragen kann"8. Als moderne Variation der querelle des anciens et desmodernes scheint sich in unserer Zeit die Auseinandersetzung zwischen belles-lettres und dem wissenschaftlichen Essay - wohlgemerkt nicht nur dem politischenoder soziologischen - abzuzeichnen. Was viele Autoren einer im Werden begrif-fenen Weltliteratur lähmt, läßt sich in manchen Fällen wahrscheinlich auf diebedrückende Ahnung zurückführen, daß eine wissenschaftlich reflektierende Lite-ratur dem Reich der heiteren Kunst bereits das Wasser abgegraben hat.

Daß eine ästhetizistische Verengung des Literaturbegriffes, die ihre Wurzeln ineiner Überbetonung des starren triadischen Systems der Gattungen und im „monar-chischen Anspruch" des Kunstwerks hat, nicht nur im Blick auf eine entstehendeWeltliteratur verunklärend wirken kann, sondern auch für d'.e Literaturge-schichtsschreibung eher hinderlich ist, bestätigt gegenwärtig vielleicht am eindruck-vollsten das wissenschaftliche Werk F. Sengles. Er hat einer Auflockerung desstarren Systems das Wort geredet und mit seinen Zweifeln an der praktischenVerbindlichkeit dieses Systems heute fast allgemeine Zustimmung gefunden9. Inder literarischen Wirklichkeit hat sich, wie Sengle zeigt, trotz der spekulativenKunstphilosophie Hegels, eine reiche Mischung der Gattungen und eine Fülle vonÜbergattungen behauptet, durch die z.B. politisches Schrifttum, Reisebeschrei-bung, Rede, Prosabrief und didaktische Prosa zu den festen Bestandteilen derLiteratur einer Epoche werden. Erst indem Sengle vom in der Theorie geflochtenenGängelband einer starren Gattungstrias absieht, konnte ihm in seiner monumentalenDarstellung der Biedermeierzeit möglich werden, zu dokumentieren, was dieser Zeiteigen und wichtig war.

Aber das Werk von Wilperts hat alles andere als besserwisserische Mäkeleiverdient. Der kritische Benutzer, dem die Vorstellung, die gesamte Weltliteraturzwischen zwei Buchdeckeln nach Hause tragen zu können, als allzu verführerischerscheinen mag, möge bedenken, welchen Vorteil die Konzentration auf vor allemdie amerikanische und europäische Literatur vor einem bloß in die faktenversesseneBreite gehenden „Alexandrinismus der Dokumentation" hat. Auch muß es beieinem so begrenzten Bereich wie ihn F. Lennartz mit seinen Einzeldarstellungenvon deutschen Dichtern der Gegenwart bearbeitet, viel leichter werden, der gebo-tenen Erweiterung des Literaturbegriffs Rechnung zu tragen. In seiner auf 825Seiten angewachsenen 11. Auflage zeigt schon die Titeländerung in DeutscheSchriftsteller der Gegenwart durch die Aufgabe des Dichterbegriffes, wie er diesemTrend folgt. Vor allem durch mehr Vertreter der Unterhaltungs- und Dokumentarli-teratur10. Schon in dem ursprünglich von W. Kayser betreuten Kleinen Literari-schen Lexikon verwahrten sich die Bearbeiter durch die Öffnung gegenüber derUnterhaltungs- und Trivialliteratur gegen „Glasperlenspiele im Flfenbeinturm"/.Viel entschiedener konnten schließlich die Bearbeiter des Deutschen Literatur-Lexikons von Kosch" und das mit seinem Nachtrag auf acht Bände angewachseneKindler Literatur-Lexikon entgegenkommen. Letzteres sieht seine Informationsauf-gabe nicht nur im weiten Feld einer extensiv verstandenen Weltliteratur (insgesamt130 Literaturen sind berücksichtigt). Neben Unterhaltungsliteratur sind auch poli-tisches Schrifttum und literarische Dokumente der Geistes- und Naturwissenschaf-ten aufgenommen. So findet man z. B. einen ausführlichen Artikel über Zolas

8 Walter Jens, „Literatur und Politik. Aspekte deutscher Nachkriegsliteratur", in: Modernaspråk LXIV, 1970, S. 370.9 Vgl. dazu Friedrich Sengle, Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform. 2.verb. u. erw. Aufl. 1969.10 Vgl. dazu Gustav Korlén, in: Moderna språk, LXXIV (1980), S. 404f.11 Vgl. dazu Klaus Kanzog in seiner Besprechung der ersten beiden Lieferungen der 3. völligneu bearbeiteten Auflage in ZfdPh 87(1968), S. 470-74.

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offenen Brief in der Dreyfus-Affäre, J'accuse ... ! Ein solch ungeordnetes Neben-einander von Zeugnissen hoher literarischer Qualität und Texten von mehr doku-mentarischer Bedeutung hat aber sicher auch seine Nachteile. H. Rüdiger, derRezensent der Bände 3 und 4 des Kindler befürchtet mit Recht eine gefährlicheNivellierung der Gegenstände und er stellt die Frage, ob es sich rechtfertigen lasse,alle diese Disparata unter dem bequemen Sammelbegriff 'Literatur' zu vereinen12.

Die Grenzen, die von Wilpert gezogen hat, bieten den Vorzug größerer Geschlos-senheit und Einheitlichkeit. Meine Bedenken am Werkbegriff, an der Gattungsein-teilung und gegen die Ausklammerung nicht-fiktionaler Literatur wollen der durchZuverlässigkeit und klare Gliederung bestechenden Leistung des Hgs. nicht amZeug flicken. Sie sind vielmehr als Anregung an einen so berufenen Lexikographenzu verstehen, durch einen Band 3, der sich der vierten Gattung der Didaktikannimmt, der notwendigen Erweiterung des Literaturbegriffes über die „Meister-werke der leichteren Muse" hinaus Folge zu leisten.

Zwar drohen hier noch größere Probleme der Auswahl. Sie wären vorschlags-weise durch eine Begrenzung und strenge Sichtung der durch Band 1 und 2 gege-benen Stichwörter zu lösen. Wesentlicher Bestandteil dieses 3. Bandes sollte dieÜbersetzungsliteratur und Bearbeitungen poetischer Texte sein, ist doch schonnach Goethe die Übersetzungsliteratur der wesentlichste Bestandteil einer allge-meinen Weltliteratur. Dazu gehören dann die Briefe zwischen Schriftstellern (auchverschiedener Nationen), Reiseberichte, interpretierendes und kritisches Schrift-tum, Reden und in hohem Maße die Biographie und Autobiographie. L. ThomasErinnerungen etwa sind als literarisches Dokument nicht nur der persönlichenEntwicklung des Schriftstellers, sondern des weltoffenen literarischen RaumesMünchen um die Jahrhundertwende, im Rahmen einer Weltliteratur sicher vongrößerer Bedeutung als manche seiner in Band 2 gewürdigten Erzählungen.

Ein Lexikon der Weltliteratur ist zwar noch nicht automatisch ein Instrument derVergleichenden Literaturwissenschaft. Aber das von Wilpert vorgelegte Autoren-lexikon zusammen mit dem Werke-Band und seinem Sachwörterbuch der Literatur,zusätzlich ergänzt durch einen Band, der den literarischen Gebrauchsformen ge-recht wird, würde dieser im deutschen Sprachraum immer noch an einem Nachhol-bedarfkrankenden Wissenschaft reiche Anregungen bieten. Nicht zuletzt durch denVorzug der einheitlichen Geschlossenheit der einzelnen Teile böte sich ein zusam-menhängendes Instrumentarium an, das seinesgleichen suchte.

12 Horst Rüdiger, in: Arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissensch. Bd. 5, 1970,S. 84-89.

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