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Fischer Weltgeschichte Band 34 Das Zwanzigste Jahrhundert I Europa 1918–1945 Herausgegeben und verfaßt von R.A.C. Parker Der geschichtlichen Entwicklung vor allem in Mittel- und Westeuropa vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gilt dieser Band der Fischer Weltgeschichte. Der Autor, Historiker am Queen’s College, Oxford, behandelt vor allem zwei Probleme, unter deren Nachwirkungen wir auch heute noch zu leiden haben: Aufstieg und Erscheinungsformen des Faschismus in Europa und Ursprung und Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Unter diesem Blickwinkel werden Weltwirtschaftskrise und soziale Spannungen, nationale Rivalitäten und politische Radikalisierung geschildert; zugleich tritt ihre gegenseitige Verflechtung hervor, denn – so Parker – »wenigstens in der modernen Welt sind politische Veränderungen zugleich Ursachen und Folgen wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen«. Neben Kapiteln, in denen die Verhältnisse in den wichtigeren europäischen Staaten jeweils gesondert dargestellt werden, stehen Übergreifende Analysen, aus denen die gleichlaufenden und die divergierenden Tendenzen im Geschichtsablauf der verschiedenen Länder abzulesen sind. Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung. Der Verfasser dieses Bandes R.A.C. Parker, geb. 1927; 1948–1950 Scholar am Christ Church in Oxford; 1950 bis 1952 Senior Scholar; 1952 M.A.; 1956 Dr. phil. an der Universität Oxford; 1952–1955 Assistant Lecturer; 1955–1957 Lecturer für Moderne Geschichte an der Universität Manchester; seit 1957 Fellow, Tutor und Praelector für Moderne Geschichte am Queen’s College in Oxford; Dr. Parker veröffentlichte 1955 ›Coke of Norfolk and the Agrarian Revolution‹ und 1956 ›France and the Rhineland Crisis of 1936‹. 1

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Fischer Weltgeschichte Band 34 Das Zwanzigste Jahrhundert I Europa 1918–1945 Herausgegeben und verfaßt von R.A.C. Parker Der geschichtlichen Entwicklung vor allem in Mittel- und Westeuropa vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gilt dieser Band der Fischer Weltgeschichte. Der Autor, Historiker am Queen’s College, Oxford, behandelt vor allem zwei Probleme, unter deren Nachwirkungen wir auch heute noch zu leiden haben: Aufstieg und Erscheinungsformen des Faschismus in Europa und Ursprung und Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Unter diesem Blickwinkel werden Weltwirtschaftskrise und soziale Spannungen, nationale Rivalitäten und politische Radikalisierung geschildert; zugleich tritt ihre gegenseitige Verflechtung hervor, denn – so Parker – »wenigstens in der modernen Welt sind politische Veränderungen zugleich Ursachen und Folgen wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen«. Neben Kapiteln, in denen die Verhältnisse in den wichtigeren europäischen Staaten jeweils gesondert dargestellt werden, stehen Übergreifende Analysen, aus denen die gleichlaufenden und die divergierenden Tendenzen im Geschichtsablauf der verschiedenen Länder abzulesen sind. Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung. Der Verfasser dieses Bandes R.A.C. Parker, geb. 1927; 1948–1950 Scholar am Christ Church in Oxford; 1950 bis 1952 Senior Scholar; 1952 M.A.; 1956 Dr. phil. an der Universität Oxford; 1952–1955 Assistant Lecturer; 1955–1957 Lecturer für Moderne Geschichte an der Universität Manchester; seit 1957 Fellow, Tutor und Praelector für Moderne Geschichte am Queen’s College in Oxford; Dr. Parker veröffentlichte 1955 ›Coke of Norfolk and the Agrarian Revolution‹ und 1956 ›France and the Rhineland Crisis of 1936‹.

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Vorbemerkung des Autors Rußland und die außereuropäische Welt werden in anderen Bänden der ›Fischer Weltgeschichte‹ behandelt. Die vorliegende Arbeit befaßt sich deshalb vor allem mit Mittel- und Westeuropa. Da der Raum für diese Darstellung begrenzt ist, war ich vor die Wahl gestellt, entweder ein möglichst umfassendes, aber vergleichsweise oberflächliches Gesamtbild der Entwicklung in diesem Gebiet zu geben, oder eine stärker ins einzelne gehende Untersuchung einiger Hauptthemen der europäischen Geschichte vorzulegen. Ich habe mich für den zweiten Weg entschieden und bin mir der daraus resultierenden Unvollständigkeit wohl bewußt. R.A.C. Parker 1. Vom Krieg zum Frieden: Der Friedensschluß mit Deutschland Bevölkerung und Politiker der am Ersten Weltkrieg beteiligten Mächte glaubten, mit Ausnahme Italiens und Japans, daß sie in einem Verteidigungskrieg verwickelt seien. Österreich-Ungarns Regierung begann 1914 den Angriff, um die Monarchie vor den subversiven Machenschaften Serbiens zu retten; Rußland meinte, dem Streben des Germanentums nach Herrschaft in Südosteuropa und am Bosporus entgegentreten zu müssen. Deutschland wollte der drohenden Einkreisung entweichen, ehe es zu spät war, und sich einer slawischen Verschwörung entgegenstellen, die das Ziel habe, den Verbündeten Deutschlands zu vernichten. Diese Verschwörung sei in St. Petersburg mit französischer Ermunterung und dem stillschweigenden Wissen des englischen Außenministeriums ausgeheckt worden. Frankreich trat dem deutschen Versuch, sein Verteidigungsbündnis mit Rußland zu sprengen, entschlossen entgegen und wurde infolgedessen von den Deutschen besetzt. Das englische Außenministerium sah das europäische Gleichgewicht durch Deutschland bedroht, und die öffentliche Meinung Englands erlebte das Belgien in schamloser Weise angetane Unrecht. Zweifellos faßten einige der Mächte nach Ausbruch des Krieges ehrgeizige Expansionspläne, doch sie alle hätten den Gedanken weit von sich gewiesen, aus anderen Motiven als dem reinen Selbsterhaltungstrieb in den Krieg gezogen zu sein. Selbst in Deutschland, wo Vaterländische Vereine, Publizisten, Industrielle und andere vor dem Krieg die verschiedensten Pläne zur Expansion Deutschlands ausgedacht und öffentlich verkündet hatten, glaubte man bei Kriegsausbruch fest daran, daß äußere Umstände Deutschland den Krieg aufgezwungen hätten. Die Militärs, die bewußt einen Präventivkrieg billigten, taten dies in der Überzeugung, daß Deutschlands unversöhnliche Feinde von Jahr zu Jahr stärker würden. Das spätere Interesse der Militärs an Eroberungen war eine Folge des Krieges, nicht seine Ursache.

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Auch die Vereinigten Staaten zogen in den Krieg, um etwas zu verteidigen: das Völkerrecht und die Moral. Unter den Großmächten waren es nur Italien und Japan, die zur Erreichung territorialer Gewinne Krieg führten; beide traten erst später in den Krieg ein – für seinen Ausbruch traf sie gewiß keine Verantwortung. Kurz gesagt, die Völker und die Staatsmänner der großen Mächte waren überzeugt, daß nicht sie, sondern andere für die Schuld am Kriege verantwortlich zu machen seien. Im Lager der Alliierten hatte sich gegen Ende des Krieges die feste Überzeugung Bahn gebrochen, daß Deutschland die Kriegsschuld trage. Die industrielle Stärke der Deutschen und ihre militärische Tüchtigkeit ermöglichten die Fortsetzung des Krieges; für Frankreich, Großbritannien und Amerika war Deutschland der hauptsächlichste und gefährlichste Gegner. Daraus zog man die Schlußfolgerung, daß schließlich die Verantwortung der österreichisch-ungarischen Monarchie für den Kriegsausbruch ähnlich gering sein müsse wie die kämpferische Leistung der Donaumonarchie. Nur die Italiener hatten hier eine durchaus andere Auffassung. Dazu kam, daß die Westmächte annahmen, die Deutschen selbst seien der Meinung, daß das Reich für den Kriegsausbruch verantwortlich sei. Infolgedessen gingen die Urheber des ›Kriegsschuld‹-Artikels des Versailler Vertrages einfach davon aus, daß sie eine allgemein anerkannte Binsenwahrheit wiederholten, wenn sie darauf bestanden, daß Deutschland für die Folgen eines deutschen Krieges verantwortlich sei und dafür finanzielle Entschädigungen zahlen solle. Deutsches Ressentiment gegenüber dieser Klausel rief bei den ›Friedensmachern‹ Erstaunen hervor und der formale Protest der deutschen Unterhändler gegen die Präambel der Reparationsbestimmungen des Friedensvertrages wurden leichten Herzens beiseite geschoben. Die Reichsregierung sollte folgendes unterschreiben: »Die Alliierten und Assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die Alliierten und Assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.« In den Augen derer, die den Friedensvertrag aufsetzten, war dies eine selbstverständliche und berechtigte Feststellung. Für die Deutschen war es eine flagrante Verdrehung der Wahrheit. Zu dem deutschen Protest bemerkte Präsident Wilson im Mai 1919: »Sie erklären heute immer noch, daß nicht sie es waren, die den Krieg verschuldeten. Diese Einstellung ist unglaublich.«1 Dieser Gegensatz der Meinungen macht verständlich, daß ein Friedensschluß, den die eine Seite ernsthaft für die Verkörperung der Gerechtigkeit hielt, von der anderen Seite als ein Akt ungerechter Unterdrückung empfunden wurde. Die Gegner Deutschlands gingen davon aus, daß sich das Reich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht habe, während sich die Deutschen für unschuldig hielten. Die

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Forderung ›Gerechtigkeit für Deutschland‹ hatte eben eine grundverschiedene Bedeutung je nachdem, wo und von wem sie aufgestellt wurde. Dieser Tatbestand ist von größter Bedeutung, da der Reichsregierung vor Abschluß des Waffenstillstandes im November 1918 die Zusicherung gemacht worden war, daß es zu einem gerechten Friedensschluß kommen würde. US-Präsident Woodrow Wilson hatte diese Botschaft in seinen Reden, die die Grundlage für den Abschluß des Waffenstillstands gebildet hatten, verkündet. Wilsons berühmte Äußerungen hatten die Vision eines großartigen Planes für die Lösung der Nachkriegsprobleme und für die Sicherung ewigen Friedens zum Inhalt. Dieser Plan begeisterte die liberal gesinnten Kreise, und er gab dem alliierten Kampf gegen Deutschland, das in Brest-Litowsk Rußland einen Frieden alten Stils mit äußerst harten Bedingungen aufgezwungen hatte, eine moralische Rechtfertigung. Wilsons Reden basierten auf dem Grundgedanken, daß der Frieden nur auf Gerechtigkeit begründet werden könne. Internationale Gerechtigkeit bedeute in erster Linie die Ausübung des Rechts der Selbstbestimmung durch alle Völker, und dies besage, daß die Grenzen nach dem Willen der betroffenen Bevölkerung gezogen werden müßten. Wenn dies geschähe, würden die Völker die Grenzen nicht mehr verändern wollen und der Hauptgrund kriegerischer Auseinandersetzungen wäre beseitigt. Demokratische Regierungsformen würden sicherstellen, daß die Völker mit ihren Grenzen zufrieden seien, und eine derartige Selbstbescheidung würde sich in einer friedfertigen Außenpolitik widerspiegeln. Eine demokratische Kontrolle der Außenpolitik würde durch eine offene Diplomatie erleichtert werden. Wenn echte Streitfragen zwischen einzelnen Ländern entstünden, würden die anderen Nationen im Zusammenschluß des Völkerbundes für einen gerechten Ausgleich Sorge tragen. Sollte es das Unglück wollen, daß doch ein Land unter den Einfluß von Diplomaten mit überholten Auffassungen und von verantwortungslosen Militärs gerate und eine aggressive Politik betreibe, würden die anderen Staaten der Welt unter Führung des Völkerbundes Druck ausüben. Wirtschaftlicher oder auch nur moralischer Druck sollten ausreichen; falls Maßnahmen dieser Art fehlschlügen, würden die Mitglieder des Völkerbundes das Recht haben, bewaffnete Gewalt anzuwenden. Wilson selbst drückte seine Ziele im Juli 1918 so aus: »Was wir erreichen wollen, ist die Herrschaft des Rechts, die auf dem Konsens der Regierten beruht und von der organisierten Willensbekundung der Menschheit untermauert wird.« Das eindrucksvolle Gedankengebäude der Wilsonschen Thesen beruhte auf der Vorstellung, daß eine unparteiische Gerechtigkeit zwischen Nationen möglich sei. Wilson führte dazu im September 1918 aus: »Unparteiische Gerechtigkeit muß jedem zuteil werden; sie darf keinerlei Unterschied machen zwischen denen, die wir gerecht behandeln wollen, und denen, die wir nicht so behandeln wollen. Es muß eine Gerechtigkeit sein, die niemanden bevorzugt und deren einziger Maßstab der ist, allen beteiligten Völkern gleiches Recht zuzuerkennen.« Deutschland wurde im April 1918 Gerechtigkeit versprochen:

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»Wenn wir Deutschland jetzt oder später etwas anderes als Gerechtigkeit, einfache und leidenschaftslose Gerechtigkeit anbieten würden, würde das bedeuten, unsere eigene Sache zu verleugnen und zu entehren, wie immer auch der Krieg ausgehen möge.« Was aber war Deutschland gegenüber gerecht? In den Augen der Deutschen war eine Behandlung, die sie mit den anderen nicht gleichsetzte, auf jeden Fall eine Ungerechtigkeit und ein Verrat feierlich verkündeter Versprechungen. Für die Siegermächte bedeutete eine gerechte Behandlung Deutschlands keineswegs eine Behandlung auf der Basis der Gleichberechtigung, denn ein Verbrecher muß anders behandelt werden als seine Opfer. Wilson glaubte dies ebenso fest wie Lloyd George oder Clemenceau, und eine sorgfältige Analyse seiner Erklärungen bestätigt das recht eindeutig. So erklärte er im April 1918: »Deutschland hat noch einmal klargemacht, daß die Macht der Waffen und nur sie allein darüber entscheiden soll, ob die menschlichen Beziehungen durch Gerechtigkeit und Frieden gekennzeichnet werden, ob das Recht, so wie Amerika es begreift, oder die Gewalt, wie Deutschland sie versteht, das Schicksal der Menschheit bestimmen soll.« Einige Monate später, im September, sagte er: »Die Deutschen müssen ihren Charakter nicht am Verhandlungstisch der Friedenskonferenz, sondern als Folge der dort zu fassenden Beschlüsse ändern.« Das wichtigste Vertragswerk des Pariser Friedensbeschlusses, der Versailler Vertrag, kann nur dann in seiner Eigenart voll verstanden werden, wenn man sich vor Augen hält, daß alle für den Friedensschluß Verantwortlichen von der Annahme ausgingen, die Deutschen seien bislang aggressiv und böse gewesen. Die Friedensschlüsse von Paris betrafen die vier Länder Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei; der Versailler Vertrag, der den Krieg mit dem Deutschen Reich beendete, war bei weitem das bedeutendste dieser Vertragswerke. Die Donaumonarchie war bereits 1918 auseinandergebrochen. Die Teilung des Osmanischen Reiches war gleichfalls bereits vollzogen und das Schicksal Bulgariens konnte nur örtliche Auswirkungen auf dem Balkan haben. Deutschland jedoch bestand zu Beginn des Jahres 1919 noch als einheitliches Staatsgebilde weiter und war potentiell immer noch die bei weitem größte wirtschaftliche und militärische Kraft in Europa. Die Potenz des Deutschen Reiches mußte 1919 sogar noch größer erscheinen als beim Ausbruch des Krieges, da das Russische Reich in den blutigen Zuckungen des Bürgerkrieges lag. Im Jahre 1919 und während der ganzen Epoche bis 1945 stellte die Frage, was man mit Deutschland anzufangen habe, das Kardinalproblem der Weltpolitik dar. Wenn die Wünsche derer, die Deutschland beherrschten, wer sie auch waren, von denen der Regierungen anderer europäischen Staaten abwichen, würde Europa erneuter Kriegsgefahr ausgesetzt sein. Um diesem Dilemma auszuweichen, gab es zwei grundsätzliche Möglichkeiten für die alliierten Regierungen: entweder würde Deutschland entmachtet, oder eine ausreichend große Zahl Deutscher würde sich mit der neuen europäischen Ordnung so

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identifizieren, daß es keiner deutschen Regierung möglich wäre, durch das Anzetteln eines Krieges diese Ordnung zu ändern. Der Versailler Vertrag stellte eine Kompromißlösung zwischen beiden Möglichkeiten dar, und deswegen scheiterte er. Die meisten Franzosen wünschten Deutschland zu schwächen. Die Schwächung Deutschlands, das war die militärische Entwaffnung, die Fortnahme von Gebietsteilen, wenn möglich auch die Auflösung der staatlichen Einheit, die Besetzung durch Truppen, das Abschöpfen der Finanzkraft und die Einkreisung durch mächtige Gegner. Die meisten Franzosen glaubten 1919, daß der Versuch einer deutsch-französischen Versöhnung ein aussichtsloses Unterfangen sei, das in das Reich der Hirngespinste gehöre. Ihre Einstellung enthielt die wahre Überlegung, daß man sich keine Friedensregelung vorstellen könne, die gleichzeitig die Billigung der öffentlichen Meinung Englands und Amerikas – ganz zu schweigen von Frankreich und Polen – und die Zustimmung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung finden würde. Hinsichtlich der Grenzfragen war es beispielsweise offensichtlich, daß es niemals eine deutsch-polnische Grenzziehung gegeben hatte, die gleichzeitig von Polen und Deutschen als gerecht empfunden worden war. Im Jahre 1919 wäre es einfach unmöglich gewesen, die Gunst der Deutschen dadurch zu gewinnen, daß polnische Staatsbürger geopfert wurden, obwohl Lloyd George ernsthaft mit diesem Gedanken spielte. Es war daher logisch, daß die französische Regierung im Jahre 1919 eine Regelung anstrebte, die Deutschland entmachten würde. Die Meinungsverschiedenheiten, die zwischen Staatspräsident Poincaré und Marschall Foch auf der einen Seite und dem Ministerpräsidenten Clemenceau auf der anderen Seite bestanden, bezogen sich lediglich auf die Frage, ob die Schwächung Deutschlands selbst dann versucht werden sollte, wenn dies eine Entfremdung mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten zur Folge haben würde. Poincaré, Foch und die französische Rechte standen auf dem Standpunkt, daß die Entmachtung Deutschlands auch ohne die Zustimmung der beiden großen Verbündeten erzwungen werden müsse. Clemenceau und die französische Linke wollten das gute Einvernehmen mit England und Amerika bewahren und waren zu Abstrichen an ihren Forderungen in der Deutschlandfrage bereit. Dieser Gegensatz der politischen Auffassung in der Deutschlandfrage sollte in Frankreich während der ganzen folgenden zehn Jahre weiterbestehen. Clemenceau war ein maßvoller Politiker, und seiner Bereitschaft zu Kompromissen und dem Zurückstecken von Forderungen hatte Deutschland zwischen den Kriegen viel zu verdanken. Als Leiter der französischen Delegation bei den Friedensverhandlungen brachte es der französische Ministerpräsident mit außerordentlichem Geschick fertig, die englische und amerikanische Unterstützung für die französischen Ansprüche in Europa durch alle Krisen hindurch aufrechtzuerhalten.

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� Abb. 1: David Lloyd George Die Entfremdung gegenüber den angelsächsischen Mächten in den folgenden Jahren kam nicht auf sein Konto, sondern war eine Folge des unklugen Vorgehens Wilsons in der Frage der Ratifizierung des Versailler Vertrages durch den amerikanischen Kongreß und der Politik Poincarés, die Großbritannien verbitterte. Der britische Premierminister Lloyd George war ein Vollblutpolitiker, dem Kompromisse und taktische Manöver selbstverständlich waren und der sich nicht auf starre Grundsätze festnageln ließ. Immer wieder brachte er es fertig, durch seine Formulierungen und Kompromißvorschläge die Konferenz aus Sackgassen herauszubringen und Auswege zu finden, die die Zustimmung aller Verhandlungspartner fanden. Als alter Parlamentarier hatte er ein gutes Gespür für die Reaktionen der öffentlichen Meinung, und er hütete sich wohl, gegen sie offen Front zu machen. Abstrakte Moralprinzipien beherrschten nicht sein politisches Handeln, und das hatte die bedeutende Folge, daß er aus praktischen Erwägungen Deutschland weniger negativ gegenüberstand als Wilson. Wilson sah auf Deutschlands Taten und verurteilte sie, und er war bereit, Deutschland zu diskriminieren. Lloyd George machte die Missetaten der Vergangenheit, auch wenn sie erst kurze Zeit zurücklagen, nicht zur Richtschnur seines Urteils. Er war bemüht, die Zukunft zu formen. Er teilte die Meinung der Franzosen, daß die Bewältigung des deutschen Problems die entscheidende Aufgabe überhaupt

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darstelle, doch während Frankreich in der Entmachtung Deutschlands die Lösung zu finden glaubte, versuchte Lloyd George, die Deutschen dahin zu bringen, die Nachkriegsreglung aus freien Stücken zu akzeptieren. Der Grund für seine Haltung beruhte auf drei Zielen: Deutschland friedfertig zu machen, Deutschland und Europa wirtschaftlich wohlhabend werden zu lassen und zu verhüten, daß Deutschland bolschewistisch würde. Lloyd George, nicht etwa Wilson, setzte sich in Versailles am entschiedensten für deutsche Interessen ein, wenn es auch ein bezeichnendes Licht auf ihn wirft, daß er dies am offensten in den Fragen tat, die die öffentliche Meinung in Großbritannien am wenigsten interessierten, wie beispielsweise Ostpreußen und Schlesien. Das Bild, das Keynes in seinem bekannten Werk The Economic Consequences of the Peace so brillant von der Friedenskonferenz entwarf, ist völlig irreführend. Nach Keynes ließ sich Wilson von seinen Grundsätzen durch die europäischen Egoismen abbringen und wurde von Lloyd George und Clemenceau überrumpelt, die harten und skrupellosen Friedensbedingungen der Sieger Deutschland mit aufzuzwingen. In den Augen der Franzosen war der Versailler Frieden weder hart noch skrupellos, und Clemenceau mußte es sich gefallen lassen, von einigen seiner Mitbürger des Verrats französischer Interessen beschuldigt zu werden. Was Wilson betrifft, so glaubte er, eine gerechte Behandlung Deutschlands sichergestellt zu haben; Lloyd George war mit dem Erreichten weniger zufrieden als der amerikanische Präsident. Tatsächlich fiel es Wilson und Clemenceau leichter, als dies allgemein behauptet wird, sich zu einigen, und es war Lloyd George, der Clemenceau die meisten Hindernisse in den Weg legte. Es muß daran erinnert werden, daß die heftigsten Meinungsverschiedenheiten innerhalb des alliierten Lagers, dem als Hauptverhandlungspartner neben den drei Westmächten Italien und Japan zuzurechnen sind, nicht der deutschen Friedensreglung, sondern den Gebietsforderungen Italiens und der Aufteilung der Türkei galten. Der Versailler Frieden war das Werk dieser drei Männer: Clemenceau, Lloyd George und Wilson. Die letzten Entscheidungen wurden unter ihnen getroffen, und zwar meistens im Rat der Vier, dem als viertes Mitglied der Vertreter Italiens, Orlando, angehörte; seine Rolle beim Festlegen der Friedensbedingungen fiel allerdings kaum ins Gewicht. Erst nachdem ein vollständiger Vertragsentwurf den herbeizitierten Vertretern der Reichsregierung unterbreitet worden war, wurden die deutschen Einwände in Betracht gezogen. Die Arbeit des Rats der Vier beruhte auf den vorbereitenden Entwürfen der Ausschüsse, die von den vier Regierungen eingesetzt worden waren und die die Wünsche und Forderungen der jeweils von einer Frage direkt betroffenen Länder im Lager der Sieger entgegennahmen und prüften. In den Fragen der Neureglung im Fernen Osten und im Pazifik hatte der Vertreter Japans die gleichen Vorrechte wie die Großen Vier. Die vielbeschworene Absage an die Geheimdiplomatie bedeutete nicht, daß die Beratungen des Vierergremiums öffentlich sein oder keine Geheimverhandlungen stattfinden

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sollten, sondern sie besagte schließlich nur noch, daß es keine geheimen Zusatzverträge geben sollte. Die Behandlung der weniger bedeutenden Fragen wurde den Außenministern der Großmächte überlassen, während die Plenarsitzungen der Friedenskonferenz rein formaler Natur waren. Der Versailler Vertrag war bestrebt, als wichtigste Fragen die der Reparationen, der deutschen Grenzen, der Rüstungsbeschränkungen und des Schicksals der deutschen Kolonien zu regeln. Die Reparationsfrage drehte sich um das doppelte Problem der alliierten Forderungen und der finanziellen Leistungsfähigkeit Deutschlands. Wilsons Vierzehn Punkte enthielten den Grundsatz, die von Deutschland besetzten Teile Belgiens und Frankreichs sollten ›wiederhergestellt‹ (restored) werden, doch was bedeutete dies? Der amerikanische Außenminister Lansing drückte das in seiner Note an die Reichsregierung vom 5. November 1918 unmißverständlich aus: »Die alliierten Regierungen sind der Auffassung, daß hinsichtlich der sich aus dieser Bestimmung ergebenden Konsequenzen keinerlei Zweifel bestehen sollte. Sie besagt, daß Deutschland für alle Schäden, die durch die deutsche Aggression zu Lande, zur See und aus der Luft der Zivilbevölkerung der alliierten Länder und ihrem Eigentum entstanden sind, Entschädigungen zu leisten hat.« Der Reichsregierung war so bereits vor dem Abschluß des Waffenstillstandes ein Warnzeichen gegeben worden, daß die Reparationsklausel der Wilsonschen Vierzehn Punkte eine extensive Auslegung erfahren würde. Der Friedensvertrag erlegte Deutschland auf, weit mehr zu bezahlen, als dies überhaupt praktisch möglich erschien. Die genauen Zahlungsverpflichtungen sollten später festgelegt werden, wobei vage Zusicherungen gemacht wurden, daß schließlich vielleicht nicht die gesamte Summe bezahlt werden müsse, wenn die deutsche Finanz- und Wirtschaftslage dies nicht zulasse. Doch auch über die Höhe dieser Summe sollte erst später beschlossen werden. In Deutschland wurden diese Reparationsklauseln verständlicherweise mit Entsetzen zur Kenntnis genommen, und unter Führung Keynes’ wandten sich die Wirtschaftswissenschaftler mit zunehmender Schärfe dagegen. Die Reparationsforderungen der Alliierten hatten sich aus einer Anzahl unterschiedlicher Zielsetzungen herauskristallisiert. Lloyd George hatte dabei drei Motive vor Augen: das Leben müsse auch in Zukunft für Deutschland erträglich sein, England müsse den größtmöglichen Anteil der Reparationen erhalten und die britische öffentliche Meinung müsse überzeugt sein, daß man Deutschland so hart wie nur irgend möglich anfasse. Die letzten beiden Forderungen konnten ohne Schwierigkeiten mit einem Schlage dadurch erfüllt werden, daß die Zahlung der Witwen- und Invalidenrenten und der Trennungszulagen für die Familien von Frontkämpfern der alliierten Seite in die Liste der von Deutschland zu verlangenden Leistungen aufgenommen wurde. Um die erste Forderung, die Sicherstellung einer erträglichen Zukunft für Deutschland, zu erreichen, war es unumgänglich, die Festsetzung der von Deutschland zu entrichteten Gesamtsumme an Reparationen so lange

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aufzuschieben, bis die öffentliche Meinung die Sache weniger leidenschaftlich betrachtete. Clemenceau stellte sich auf den Standpunkt, daß Frankreich die größtmögliche Summe deutscher finanzieller Leistungen erhalten müsse. Wilson und seine Berater strebten an, Deutschland auf seine Zahlungsfähigkeit hin genau zu untersuchen und die Forderungen dementsprechend festzusetzen. Mit großem Nachdruck verfocht Wilson seine These allerdings nicht, da seine Verhandlungsposition schon deshalb schwach war, weil er selbst an die Schuld Deutschlands und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen glaubte; eine weitere Schwächung der amerikanischen Position resultierte daraus, daß die Vereinigten Staaten, wenn sie auch selbst keine deutschen Reparationen forderten, sich doch hartnäckig weigerten, die Amerika gegenüber eingegangene Verschuldung der Verbündeten auch nur zu reduzieren. Dazu kam, daß man Wilson ständig vor Augen hielt, daß Frankreich und England weit mehr unter dem Krieg gelitten hatten als sein eigenes Land, und die Verbündeten versäumten keine Gelegenheit, ihm die Verlustzahlen der französischen, englischen und italienischen Armeen ins Gedächtnis zu rufen. Am 2. Juni 1919 schlug Lloyd George vor, im voraus eine endgültige Summe der deutschen finanziellen Verpflichtungen festzusetzen, da ihn die Möglichkeit beunruhigte, die Deutschen könnten sich weigern, den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Er berief sich dabei auf den Standpunkt seiner Delegation, die »das Fehlen einer zeitlichen Begrenzung und zahlenmäßigen Fixierung der Deutschland auferlegten Schuld« kritisiert hatte. Fünf Tage später hatte er seine Meinung allerdings wieder geändert und erklärte nun: »Die Amerikaner bestehen darauf, sofort eine feste Summe festzusetzen; M. Loucheur [der Vertreter Frankreichs] glaubt, daß dies nicht möglich sei, und ich stimme ihm zu.« Am 9. Juni schließlich führte er aus: »Nichts wäre gefährlicher [als auf einer sofortigen Festsetzung zu bestehen], denn entweder würde unsere Endforderung bei den Deutschen Entsetzen hervorrufen, oder sie würde im Gegenteil so ausfallen, daß es weder Herrn Clemenceau noch mir möglich wäre, die Zustimmung unserer öffentlichen Meinung zu erhalten.«2 Der Friedensvertrag brachte keine Entscheidung und schob die Klärung auf. Die Höhe der Reparationen sollte von einem Ausschuß der Großmächte unter Einschluß Belgiens und Jugoslawiens festgesetzt werden, der die Reichsregierung bis spätestens zum 1. Mai 1921 über die Höhe der Schuldforderungen in Kenntnis setzen sollte und gleichzeitig einen Zahlungsplan vorzulegen hatte, der die ratenweise Begleichung bis zum Jahre 1951 vorsah. Der Ausschuß sollte berechtigt sein, Zahlungsaufschub zu gewähren, wenn von deutscher Seite ein entsprechender Antrag gestellt würde und die Zahlungsfähigkeit des Reiches daraufhin geprüft worden sei; doch die Ermäßigung der Reparationslast konnte nur aufgrund ausdrücklicher Genehmigung der im Ausschuß vertretenen Regierungen erfolgen. Die Reparationen umfaßten auch gewisse Sachleistungen, wie die Übergabe aller Handelsschiffe mit mehr als 1600 BRT und einer Anzahl kleinerer Schiffe. Dazu

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kam die Ablieferung von Kohle, Vieh und chemischen Produkten. Die deutsche Wirtschaft sah einer unsicheren und bedrohlichen Zukunft entgegen. Die Festlegung der Grenzen Deutschlands gab Anlaß zu zahlreichen Streitigkeiten unter den Siegermächten. Am einfachsten wurde noch das Schicksal Elsaß-Lothringens entschieden. Die Rückkehr der beiden Provinzen zu Frankreich war bereits im achten der vierzehn Punkte Wilsons ausdrücklich gefordert worden. Es hieß dort: »Das Unrecht, das Frankreich in Bezug auf Elsaß-Lothringen durch Preußen im Jahre 1871 angetan wurde und das den Weltfrieden seit nahezu fünfzig Jahren in Frage gestellt hat, soll wiedergutgemacht werden, damit der Frieden im Interesse aller wieder sichergestellt werden kann.« Die französischen Forderungen, die eben auf diesem Bedürfnis der Sicherung des Friedens beruhten, gingen allerdings darüber hinaus. Clemenceau erklärte seinen Kollegen am 28. März 1919: »Glauben Sie nicht, daß sie [die Deutschen] uns jemals verzeihen werden. Sie werden nur eine Gelegenheit zur Rache suchen. Nichts wird die Wut derer besänftigen, die die Weltherrschaft erstrebten und die sich ihrem Ziele bereits so nahe glaubten.« Lloyd George erwiderte darauf: »Das britische Volk denkt mit Grauen an die Gefahren, neue Zankäpfel in der Art Elsaß-Lothringens zu schaffen.«3 Die französische Politik ging davon aus, daß eine gerechte Behandlung Deutschlands nicht zum Entstehen eines friedfertigen Deutschland führen würde, während Lloyd George glaubte, daß Ungerechtigkeit gegenüber Deutschland mit Sicherheit einen neuen Krieg heraufbeschwören würde. Wilson glaubte, daß jedwede ungerechte Behandlung irgendeines Landes den Keim des Krieges in sich trage. Die wesentlichsten französischen Forderungen, die seit langem entwickelt und bereits zu Beginn des Jahres 1917 von der Regierung des Zaren gebilligt worden waren, zielten auf eine zeitlich unbeschränkte alliierte oder französische Besetzung der linksrheinischen Gebiete und der hauptsächlichen Brückenköpfe auf der rechtsrheinischen Seite. In verschiedenen Reden und schriftlichen Dokumenten hatte Marschall Foch, der französische Oberbefehlshaber der alliierten Armeen, in zahlreichen offiziösen und offiziellen Stellungnahmen hatte die französische Regierung die Gründe Frankreichs für diese Politik dargelegt. Sie beruhte auf der Überzeugung, daß man selbst einem republikanischen Deutschland nicht trauen dürfe, das eines Tages ebenso aggressiv werden könne, wie dies – so glaubte man – das kaiserliche Deutschland gewesen war. Um diesen aggressiven Impulsen, sei es, daß sie nach Westen, sei es, daß sie nach Osten gerichtet wären, ihre Wirkungskraft zu nehmen, mußte möglicherweise Gewalt angewendet werden. Auf Rußland konnte man nicht mehr zählen, die Hilfe Englands und Amerikas könnte vielleicht zu spät kommen; so mußte die Hauptlast der Verpflichtung, die Welt vor einem Wiedererwachen des deutschen Militarismus zu bewahren, auf Frankreich ruhen, solange nicht in einer fernen und vagen Zukunft der Völkerbund in der Lage sei, diese Aufgaben zu übernehmen. Frankreichs Menschen- und Wirtschaftspotential war aber dem deutschen nicht

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gewachsen, und um diese Nachteile zu kompensieren, wollte Frankreich den leicht zu verteidigenden Rhein unter seine militärische Kontrolle bringen. Wenn die Rheinbrücken in der Hand der Franzosen waren, dann konnte die schnelle Zusammenfassung deutscher Armeen im Westen des Reiches zumindest erschwert werden, und es würde möglich sein, in kurzer Zeit französische Truppen in den Rücken der deutschen Streitkräfte stoßen zu lassen, sollte Deutschland die neuen osteuropäischen Staatsgründungen bedrohen.4 Die französische Wacht am Rhein würde durch die Abtrennung des Rheinlandes vom Deutschen Reich erleichtert werden. Dementsprechend dehnten die Franzosen ihre Forderungen auf die Schaffung eines rheinischen Separatstaates aus, wenngleich sie dabei umsichtiger vorgingen, und der französische General Mangin, Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte im Rheinland, ermutigte eine separatistische Bewegung. Angesichts der entschiedenen Ablehnung der französischen Pläne durch Wilson und Lloyd George gaben die Franzosen nach und verzichteten auf die dauernde Besetzung des Rheinlandes, während die französischen Befürworter der Rheinischen Republik von Paris aufgefordert wurden, die separatistischen Intrigen einzustellen. Es war dies die größte Konzession, die Clemenceau den Angloamerikanern machte, und das Nachgeben des französischen Ministerpräsidenten wirft ein bezeichnendes Licht darauf, wie sehr es ihm auf die Unterstützung Englands und Amerikas ankam. Seine Konzessionsbereitschaft brachte ihm einen Verweis des Staatspräsidenten Poincaré ein, was ihn jedoch kalt ließ, während ihn Fochs verbissene Mißbilligung bedrückte, die zu seiner für ihn gewiß kränkenden Niederlage als Präsidentschaftskandidat beitrug. Es war nur natürlich, daß Clemenceaus Haltung von den Partnern mit weitreichenden Konzessionen honoriert wurde, wenn er auch erst ein ihm zutiefst unsympathisches Schriftstück von Lloyd George in Empfang nehmen mußte, das britische Fontainebleau- Memorandum vom 25. März 1919. Dies legte unter dem Titel Einige Überlegungen für die Friedenskonferenz vor der endgültigen Festlegung der Vertragsbestimmungen die Gesichtspunkte fest, die die britische Außenpolitik in den folgenden zwanzig Jahren leiteten. Danach konnte der Frieden nur gesichert werden, wenn er ebenso wie die Zustimmung der Sieger auch die der Besiegten fand. Dies bedeute, Deutschland wirtschaftlichen Wohlstand zu ermöglichen – »wir können nicht gleichzeitig Deutschland verkrüppeln und erwarten, daß es bezahlen wird«. Ferner müsse vermieden werden, daß Deutschland in die Arme des Kommunismus geriete: »Die größte Gefahr in der augenblicklichen Lage ist meiner Meinung nach das Risiko, daß Deutschland mit dem Bolschewismus gemeinsame Sache macht.« Es sei nicht möglich, Deutschland auf die Dauer militärisch schwächer zu halten als die anderen Großmächte: »Es ist unnütz, den Versuch zu unternehmen, Deutschland einer ständigen Begrenzung der Rüstungen zu unterwerfen, wenn wir nicht gleichzeitig bereit sind, Begrenzungen unserer eigenen Rüstungen

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vorzunehmen.« Dann hieß es weiter: »Wenn Deutschland schließlich glaubt, im Frieden des Jahres 1919 ungerecht behandelt worden zu sein, wird es Mittel und Wege finden, um von den Siegermächten Entschädigung zu fordern.« Der britische appeasement-Gedanke nahm bereits Form an, ehe der Frieden geschlossen war.5 Lloyd George wollte die Friedensverhandlungen bald zum Abschluß bringen, damit wieder stabile Verhältnisse in Europa geschaffen werden könnten, und er sah ein, daß man deshalb Frankreich entgegenkommen mußte. Der bemerkenswerteste Schritt war das militärische Garantieversprechen Lloyd Georges und Wilsons an Frankreich für den Fall einer deutschen Aggression. Für beide Länder stellte dieses Versprechen eine Umkehrung der traditionellen Außenpolitik dar, und dem amerikanischen Senat ging das zu weit, so daß er seine Zustimmung versagte. Weiterhin brachten sowohl Wilson wie Lloyd George ihre Bereitschaft zum Ausdruck, einer entmilitarisierten Zone in Deutschland zuzustimmen; infolgedessen schrieb der Versailler Vertrag Deutschland vor, eine Zone von 50 km Tiefe östlich des Rheins von deutschen Truppen gänzlich freizuhalten, dorthin keine Soldaten zu entsenden und keinerlei militärische Einrichtungen dort zu unterhalten.

� Abb. 2: Georges Clemenceau

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Gleichzeitig willigten beide Staatsmänner in eine Besetzung des Rheinlandes durch interalliiertes Militär, aber nur für die Dauer von zehn Jahren, ein. Die Rheinlandbesetzung sollte sicherstellen, daß Deutschland die Friedensbedingungen, insbesondere die Reparationsverpflichtungen, erfülle. Nach diesem ersten Erfolg arbeitete Clemenceau auf eine weitergehende Lösung hin, die einer permanenten Rheinlandbesetzung nahekommen sollte. Diesem Ziel näherte er sich, als er von Wilson die Zustimmung zu einer Verlängerung der Besatzungszeit um fünf Jahre auf fünfzehn Jahre erhielt. Vorgesehen war die etappenweise Zurückziehung der Streitkräfte nach jeweils fünf Jahren. Die Übereinkunft zwischen Wilson und Clemenceau war erfolgt, als Lloyd George in England weilte, doch der britische Premierminister fühlte sich nach seiner Rückkehr nach Paris genötigt, sich ihr anzuschließen. Es war ein weiterer Erfolg Clemenceaus, daß er einen Zusatzparagraphen zum Artikel 429 des Versailler Vertrages durchbringen konnte. Dieser Zusatz sah vor, daß eine Verlängerung der Besatzungszeit über fünfzehn Jahre hinaus beschlossen werden könne, wenn beim Auslaufen der vertraglich festgesetzten Zeit die Garantien gegen eine deutsche Aggression von den Alliierten und Assoziierten Regierungen als nicht ausreichend angesehen würden. Der Artikel 430 setzte dazu noch fest, daß die Nichterfüllung der Reparationsverpflichtungen durch das Deutsche Reich jederzeit die sofortige Wiederbesetzung des Rheinlandes zur Folge haben würde. In der letzten Phase der Friedensverhandlungen, nachdem die Reichsregierung ihre Stellungnahme zu dem Entwurf abgegeben hatte, machte Lloyd George einen weiteren Versuch zur Herabsetzung der Dauer der Rheinlandbesetzung. Am 2. Juni fügte er die sich auf die Besetzung beziehenden Artikel des Vertragsentwurfes in die Liste der Artikel ein, die, deutschen Beschwerden folgend, abzuändern wären, wenn England den Vertrag unterzeichnen und gemeinsam mit seinen Alliierten die Deutschen zur Annahme nötigen sollte. Sein Vorschlag auf Verkürzung der Besatzungszeit stieß auf den entschiedenen Widerstand Clemenceaus. Wilson kam Lloyd George nicht zur Hilfe. Nachdem die Führer der britischen und französischen Delegation die Angelegenheit unter sich besprochen hatten, konnte Lloyd George lediglich erreichen, daß Clemenceau zugestand, der Abzug der alliierten Truppen könne vor Ablauf der fünfzehn Jahre durchgeführt werden, wenn das Reich die Vertragsbedingungen erfülle.6 André Tardieu, einer der engsten Mitarbeiter Clemenceaus während der Friedensverhandlungen, bemerkte zu der französischen Rheinlandpolitik: »Auf der Fahrt von Amerika nach Frankreich sprach unser Botschafter in Washington, Jusserand, Präsident Wilson auf diese Frage an; Wilson schien sich ihrer Bedeutung bewußt zu sein, und er hatte, nach dem Urteil seiner engsten Mitarbeiter zu schließen, auch zwei Monate später, Anfang März, keine Bedenken gegen unsere Ziele. Dagegen bildete sich auf britischer Seite ein ernergischer Widerstand heraus [...]« Tardieu vertrat die Ansicht, daß Wilson und Clemenceau nur in einem einzigen Punkt wirklich heftig

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aufeinanderstießen, und das war die Saarfrage7 In diesem Fall begründeten die Franzosen einen territorialen Anspruch mit historischen Argumenten: daß nämlich ein Teil des Saargebiets noch 1814 französisch gewesen sei und erst im Wiener Frieden vom Jahre 1815 habe abgetreten werden müssen. Weiterhin forderte Frankreich das Eigentumsrecht an allen Kohlenbergwerken dieses Gebietes beiderseits der neuen Grenze. Die Forderung nach den Kohlenbergwerken wurde damit begründet, daß die Deutschen während des Krieges systematisch die französischen Bergwerke in Nordostfrankreich zerstört hätten. Die Gebietsforderung berief sich dagegen in Ergänzung der historischen Argumentation auf den Grundsatz der Selbstbestimmung, da die Bevölkerung angeblich französisch sei. Wenn dies auf den ersten Blick auch nicht so scheinen möge, so seien die Einwohner dieser Gegend doch im Herzen Franzosen, und in der Vergangenheit seien sie mit Frankreich verbunden gewesen. Präsident Wilson fiel es nicht schwer, die Fadenscheinigkeit der französischen Argumente zu erkennen, und er war entschlossen, dem französischen Verlangen entschieden entgegenzutreten. Im Gegensatz zu seiner sonstigen Einstellung war diesmal Lloyd George den französischen Wünschen weniger abgeneigt als Wilson, und er erklärte sich bereit, einem Vorschlag beizupflichten, der Frankreich das eine oder das andere zusprach, entweder den Gebietsstreifen oder die Bergwerke, aber nicht beides.8 Es stellt sich die Frage, warum Wilson in diesem Teil Europas eher bereit war, den deutschen Anspruch auf Selbstbestimmung zu unterstützen, als in irgendeinem anderen. Der Hauptgrund war wohl, daß die Forderung nicht von Polen oder der Tschechoslowakei gestellt wurde, sondern von Frankreich. Niemand konnte behaupten, daß der Besitz oder der Nichtbesitz eines Teiles des Saarlandes für Frankreich eine lebenswichtige Angelegenheit sei. Den Engländern und Amerikanern waren zudem die westeuropäische Geschichte und die Auseinandersetzung um die deutsch- französische Grenze sehr viel geläufiger als die historische Entwicklung und die Problematik der osteuropäischen Grenzfrage, die Deutschland und seine Nachbarn entzweite. Infolgedessen waren die Fachleute hinsichtlich der Saarfrage in einer viel schwächeren Position, um für ihre Ansichten Billigung zu finden, als bei der osteuropäischen Frage. Ins Gewicht fiel dabei, daß die nicht-deutschen Experten der polnischen und tschechischen Frage mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit den nationalen Wünschen dieser Völker mit Sympathie gegenüberstanden, während die weit weniger esoterischen Expertisen, die Engländer und Franzosen brauchten, um die Saarfrage zu verstehen, nicht dazu angetan waren, prodeutsche oder profranzösische Gefühle zu schaffen. Wilsons Neigung, Forderungen gegen Deutschland a priori wohlwollend zu betrachten, wurde in diesem spezifischen Fall dadurch neutralisiert, daß er sich völlig klar darüber war: diese französische Gebietsforderung stellte eine glatte Verleugnung des Prinzips der Selbstbestimmung dar. Warum war Lloyd Georges Widerstand gegen diese Forderung an Deutschland geringer als sonst? Die wahrscheinlichste

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Begründung ist wohl darin zu suchen, daß er gegen die Punkte Einspruch erhob, von denen er annahm, daß auch die Deutschen sich gegen sie wenden würden. Er wußte also nicht, gegen was er angehen sollte, solange die Deutschen ihm dies nicht klargemacht hatten. Sein Hauptanliegen war es, die Friedensklauseln für Deutschland so annehmbar wie möglich zu gestalten, und deshalb wurde sein Einspruch gegen den Vertragsentwurf auch erst dann besonders deutlich und energisch, nachdem die deutschen Unterhändler die Gelegenheiten gehabt hatten, ihre Bedenken gegen die vorgeschlagenen Bedingungen zum Ausdruck zu bringen. Das einige Zeit vorher (im März 1919) verfaßte Fontainebleau-Memorandum hatte zwar die Notwendigkeit der Beschwichtigung Deutschlands unterstrichen, war aber meistens über Allgemeinplätze nicht hinausgegangen. In der Saarfrage einigte man sich schließlich auf einen Kompromißvorschlag Lloyd Georges, der die Schaffung eines kleinen autonomen Saarstaates und den Übergang der dort befindlichen Gruben in französischen Besitz vorsah. Es wurde dann schließlich Übereinstimmung darüber erzielt, daß der Völkerbund für die Verwaltung des Saarstaates verantwortlich sein solle und nach fünfzehn Jahren das Schicksal der Saar durch eine Volksabstimmung zu entscheiden sei. Sollte die Abstimmung eine Mehrheit für die Rückkehr nach Deutschland bringen, so hatte die deutsche Regierung das Recht, Frankreich die Kohlengruben wieder abzukaufen. Wilson stimmte dieser Lösung nur sehr widerwillig zu.9 Die deutsch-belgische Grenze erfuhr geringfügige Modifizierungen. Eupen, Malmedy und Moresnet kamen an Belgien. Nach einer Volksabstimmung erhielt Dänemark die dänischen Teile Schleswig-Holsteins. Hier gab es keine Komplikationen, da sich die dänische Regierung damit begnügte, die freie Optionsmöglichkeit im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker gewährleistet zu sehen. Die Festlegung der deutschen Ostgrenzen schuf dagegen weit schwerwiegendere Probleme. Eine große Zahl von Deutschen wurde in den polnischen und den tschechoslowakischen Staat einbezogen. Höchstwahrscheinlich hat keine Bestimmung des Versailler Vertrages in Deutschland so viel Verbitterung hervorgerufen wie die polnische Regelung. Zwar hatte Deutschland Wilsons Vierzehn Punkte als Grundlage des Waffenstillstandes und der Friedensverhandlungen akzeptiert, deren Punkt dreizehn besagte: »Ein unabhängiger polnischer Staat sollte errichtet werden, der die Gebiete mit unzweifelhaft polnischer Bevölkerung einschließen sollte, der einen freien und sicheren Zugang zum Meer haben und dessen politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit durch internationalen Vertrag sichergestellt werden sollten.« Sehr bald wurde jedoch offenbar, daß die Meinungen hinsichtlich der Auslegung dieser Bestimmungen sehr weit auseinandergingen, insbesondere, was den Begriff »unzweifelhaft polnische Bevölkerung« betraf.

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Die Auseinandersetzung zwischen Clemenceau und Lloyd George über die Behandlung Deutschlands fand ihren deutlichsten Ausdruck in der Frage der Festlegung der deutsch-polnischen Grenze.

� Abb. 3: Thomas Woodrow Wilson Lloyd George war von der Notwendigkeit durchdrungen, einen Frieden schaffen zu müssen, der von den Deutschen gebilligt werden konnte – auf kurze Sicht durch die Unterzeichnung des Vertrages, auf lange Sicht durch das freiwillige Sich-Einfügen in die neue europäische Ordnung –, und er ließ sich hierin durch die gefühlsbetonte Haltung des Parlamentes und der öffentlichen Meinung zu Haus keine Zügel anlegen. Er redete und handelte in dieser Frage, als sei er ein einfallsreicher und recht bedenkenloser Vertreter der Interessen der Reichsregierung. War der Versailler Vertrag auch formal ein Diktat, so wäre es doch falsch zu meinen, daß die deutschen Gesichtspunkte in den Verhandlungen, deren Ergebnis er war, keine Berücksichtigung gefunden hätten, denn der britische Premierminister machte sich zum Anwalt der deutschen Sache. So erklärte er seinen Kollegen im Rat der Vier am 27. März 1919: »Ich glaube, daß sie [die Deutschen] alles andere akzeptieren werden, einschließlich der schweren finanziellen Bürde; doch der Gedanke, Millionen Deutsche der polnischen Herrschaft auszuliefern, wird sie auf das heftigste treffen.«10

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Wilson wollte Gerechtigkeit walten lassen, eine Gerechtigkeit, die nicht frei war von antideutschen Gefühlen, die Lloyd George fremd waren. In den Augen Wilsons bedeutete Gerechtigkeit für Polen die Schaffung einer staatlichen Einheit, die wirtschaftlich stark genug und so beschaffen war, daß sie gut verteidigt werden konnte. Um dies zu erreichen, mußte über die rein ethnologischen Grenzen Polens hinausgegangen werden. »Es sei daher notwendig, nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die strategischen Erfordernisse dieses Staates zu berücksichtigen, der auf beiden Seiten mit Deutschland zu rechnen haben würde, da der östliche Teil Deutschlands höchst aggressiv sei.«11 Zu der oberschlesischen Frage gab Wilson zu erkennen: »Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß die Frage zwei Seiten hat: da ich gegen die Deutschen bin, gebe ich zu, daß ich auf der Seite der Polen stehe.« Und als Lloyd George klarstellte, britische Truppen würden nicht ohne vorherige Durchführung einer Volksabstimmung dafür kämpfen, daß dieses Gebiet an Polen käme, erklärte Wilson, amerikanische Soldaten würden jedes beliebige Volk gegen Deutschland unterstützen.12 Der amerikanische Hauptberater in der Polenfrage, Professor R.H. Lord, der ein energischer Verfechter des polnischen Nationalstaatgedankens war, beeinflußte die Anschauungen Wilsons. Man sollte sich auch in Erinnerung rufen, daß damals, 1919, die Sache der bis dahin unterdrückten nationalen Minderheiten von jenen liberalen und fortschrittlichen Kreisen wärmstens unterstützt wurde, die am entschiedensten Wilsons Vierzehn Punkte begrüßt hatten. So schrieb Harold Nicolson, Mitglied der britischen Verhandlungsdelegation in Paris, der im allgemeinen den Versailler Vertrag als unnötig hart kritisierte, später: »Es war der Gedanke an das neue Serbien, das neue Griechenland, das neue Böhmen, das neue Polen, der unsere Herzen Hosianna singen ließ.«13 Clemenceaus Haltung ließ sich einfach definieren. Deutschland war der Feind, und je stärker man Polen machte, desto mehr würde Deutschland geschwächt werden und desto stärker würden die Kräfte sein, die eines Tages vielleicht gegen Deutschland antreten müßten. Zum Selbstbestimmungsrecht sagte Clemenceau: »Wenn man, um diesen jungen Völkern Grenzen zu geben, ohne die sie nicht leben können, gezwungen ist, ihrer Souveränität die Söhne eben der Deutschen zu unterstellen, die sie versklavt haben, so ist das bedauerlich, und es muß mit Mäßigung geschehen, doch es läßt sich nicht vermeiden.«14 Der Ausschuß für die polnische Frage auf der Friedenskonferenz legte die Empfehlung vor, weite Gebiete Westpreußens, Ostpreußens, Pommerns, Posens und Oberschlesiens an Polen abzutreten, einschließlich der Stadt Danzig; über das Schicksal des ostpreußischen Gebiets von Allenstein sollte eine Volksabstimmung entscheiden, nachdem die britische Delegation dies ausdrücklich gefordert hatte. So konnte Allenstein bei Deutschland verbleiben.15 Als die Vorschläge des Ausschusses unterbreitet wurden, erhob Lloyd George sofort energisch Einspruch und konnte durchsetzen, daß im Gebiet von Marienwerder eine Volksabstimmung stattzufinden habe, die dann zugunsten

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Deutschlands ausfiel, und daß Danzig mit seinem unmittelbaren Hinterland in eine Freie Stadt unter Aufsicht des Völkerbundes verwandelt würde. Für die französische Osteuropapolitik zeichnete sich bereits die besonders von Clemenceau empfundene Notwendigkeit ab, zurückzustecken, sollte die britische Freundschaft nicht aufs Spiel gesetzt werden. Die deutsche Delegation hatte in ihrer Stellungnahme zu dem Vertragsentwurf außerordentlich heftig gegen den Verlust Oberschlesiens protestiert, das große wirtschaftliche und industrielle Bedeutung für Deutschland besaß. Lloyd George nahm das zum Anlaß, die Frage erneut aufzugreifen. Er konnte auch hier die Abhaltung eine Volksbefragung durchsetzen, die schließlich doch dahin führte, daß rund zwei Drittel des strittigen Gebietes bei Deutschland verblieben. Als es um Danzig und Marienwerder ging, hatte Lloyd George nur geringen Widerstand zu überwinden, doch in der Frage der oberschlesischen Volksabstimmung hatte er im Rat der Vier einen sehr schwierigen Stand. Sein Erfolg bei der Durchsetzung der Volksabstimmung muß als der größte persönliche Beitrag des britischen Premierministers zum Frieden mit Deutschland angesehen werden.16 Trotz der Abschwächung der alliierten Forderungen war die deutsche Öffentlichkeit nach wie vor außerordentlich verbittert darüber, daß immer noch über eine Million Deutsche unter polnische Herrschaft kommen sollten. Für die meisten Deutschen schien das widersinnig und unnatürlich, wie sehr es auch in deutschen Augen vertretbar sein mochte, über polnische Bevölkerungsteile zu herrschen. In der deutschen Stellungnahme zu dem Vertragsentwurf hieß es beispielsweise: »Hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedeutung ist die deutsche Bevölkerung der polnischen und kassubischen bei weitem überlegen.« Daß diese soziale und kulturelle Führungsrolle durch die politische deutsche Herrschaft verstärkt worden war, wurde von der deutschen Regierung übersehen, nicht aber von den Alliierten. In ihrer Antwort rechtfertigen sie ihre Vorschläge: »Es ist eine Tatsache, daß in bestimmten Gebieten, die in vielen Fällen weit von der deutschen Grenze entfernt liegen, wie beispielsweise Bromberg, die Mehrheit der Bevölkerung aus Deutschen besteht. Es wäre unmöglich, eine Grenze zu ziehen, die sicherstellt, daß diese Gebiete bei Deutschland bleiben und gleichzeitig die sie umgebenden rein polnischen Nachbargebiete polnisch werden [...] Die preußische Regierung [...] hat all ihre weitreichenden Machtmittel benutzt, um die ursprüngliche polnische Bevölkerung aus ihrem Besitz zu vertreiben und durch eine Bevölkerung deutscher Zunge und deutscher Staatsangehörigkeit zu ersetzen [...] Wenn anerkannt würde, daß solche Maßnahmen einen dauerhaften Rechtsanspruch auf das Land begründen, bedeutete dies eine Ermutigung und Belohnung der niedrigsten Auswüchse der Ungerechtigkeit und Unterdrückung.«17 Festzuhalten ist, daß während der Friedensverhandlungen von keiner Seite gefordert wurde, einer bestimmten Nationalität angehörende Bevölkerungsgruppen aus den umstrittenen Gebieten einfach summarisch zu

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vertreiben. Derartige Akte der Barbarei sollten erst unter Hitler und Stalin ihren Einzug in die Weltpolitik halten. Die einzige wirkliche und eindeutige Absage an das Recht auf Selbstbestimmung, die der Versailler Vertrag enthält, findet sich in den Artikeln, die die Grenzen Deutschlands mit früher zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebieten festlegen. Das Problem wurde auf verblüffend einfache Weise gelöst: man ließ die Grenzen, wie sie waren. Das führte dazu, daß mehrere Millionen Deutscher zum neuen tschechoslowakischen Staat kamen. Viele von ihnen hätten es vorgezogen, diesem Staat nicht anzugehören. Eine noch größere Zahl von Deutschen wurde gezwungen, staatlich vom Deutschen Reich getrennt in einem neuen Österreich zu leben. Von den Unterhändlern der Großmächte wußten nur die Franzosen von Anfang an und mit voller Klarkeit, was sie erreichen wollten. Es war das Ziel der französischen Politik, zu verhindern, daß diese deutschen Bevölkerungsteile mit dem Reich zu einem größeren Deutschland zusammenwüchsen; zudem sollte die Tschechoslowakei durch Einbeziehung der von Deutschen bewohnten Grenzgebiete mit industriellen Grundlagen und strategisch günstigen Grenzen ausgestattet werden. Der für diese Fragen zuständige Ausschuß der Friedenskonferenz schlug auch diesmal eine Grenzziehung vor, die von strategischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten diktiert war, wenn es auch zu einigen Abänderungen kam. Im Rat der Vier fiel die Entscheidung mit gleichgültiger Eile. Für den abwesenden Präsidenten Wilson entschied über den Kopf Außenminister Lansings hinweg sein Hauptberater, Oberst House, obwohl er keine offizielle Funktion bekleidete. House und Clemenceau kamen schnell überein, die alte deutsch-österreichische Grenze Böhmens unverändert zur neuen Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland werden zu lassen. »Dies war so sehr viel einfacher und enthielt weniger Keime für künftige Streitereien. Ohne große Schwierigkeiten konnten wir sowohl Orlando wie George überreden, unseren Standpunkt zu teilen, und George schien von dem Problem nicht viel Ahnung zu haben.« Tatsächlich hatte Orlando keine Einwände und Lloyd George ließ sich sofort von Clemenceaus geschicktem Argument überzeugen, die Sache gehöre eigentlich überhaupt nicht in den deutschen Friedensvertrag, sondern sollte im Rahmen des österreichischen Friedens betrachtet werden.18 Das mangelnde Interesse Lloyd Georges ist eigenartig, da er nur wenige Wochen vorher die Frage der deutsch-tschechischen Grenzen als ein Problem bezeichnet hatte, das Deutschland Grund zur Klage geben würde. Dieser Hinweis fand sich in dem Fontainebleau-Memorandum, und es ist wahrscheinlich, daß er von einem der besser informierten Berater hinzugefügt worden war. Die Tatsache, daß sich Lloyd George uninteressiert zeigte, kann wohl damit erklärt werden, daß die Reichsregierung selbst wenig Interesse bekundete. Lloyd George hatte naturgemäß nicht die Absicht, Vorteile für Deutschland herauszuschlagen, die die Deutschen selbst nicht forderten. Trotz des Ersuchens um Unterstützung, das Wien an Berlin richtete, begnügte sich die

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deutsche Regierung damit, die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschen in Österreich und Böhmen zu fordern, doch diese Demarche erfolgte ohne Nachdruck, und es wurde nicht verlangt, daß Teile Böhmens zu Deutschland kommen sollten. Die Haltung der Berliner Regierung ist von einigen so interpretiert worden, daß man eine tschechische Intervention für den Fall verhindern wollte, daß sich das Reich weigere, den Versailler Vertrag zu unterschreiben. Sicher ist auf jeden Fall, daß die Sorge Deutschlands weit mehr den Landsleuten galt, die unter polnische Herrschaft kommen sollten, als jenen, die in dem neuen tschechischen Staat lebten.19 Die österreichische Regierung maß dem Problem eine weit ernstere Bedeutung bei, doch als die Wiener Stellungnahme der Friedenskonferenz vorlag, war der Vertragsentwurf bereits endgültig ausgearbeitet. Es war Lloyd George kaum zuzumuten, daß er den Wünschen Österreichs sehr viel Gewicht beimaß, da Österreich für die europäische Politik ein ungleich weniger wichtiger Faktor war als Deutschland. Hinsichtlich der Einstellung Wilsons deutete nichts darauf hin, daß er jemals einen Gedanken auf die Frage verwandte. Lansing hatte sich zwar der Sache angenommen, doch seine Einflußmöglichkeiten auf den Präsidenten waren äußerst gering. Die Österreich auferlegte Verpflichtung, staatlich unabhängig zu sein und zu bleiben, ob die Österreicher das wollten oder nicht, stellte eine weitere glatte Mißachtung des Grundsatzes der Selbstbestimmung dar. Fast mit Sicherheit kann man sagen, daß die Mehrheit der Deutsch-Österreicher 1919 den Anschluß an das Deutsche Reich wünschte. Der Friedensvertrag verbot ihnen dies, es sei denn, der Völkerbundsrat gäbe seine Zustimmung. Da Ratsbeschlüsse des Völkerbundes aber nur einstimmig gefaßt werden konnten, hatte Frankreich die Möglichkeit, sein Veto einzulegen. Die Folge war, daß die Vereinigung Österreichs mit Deutschland der französischen Zustimmung unterlag, und das entsprach völlig dem französischen Bestreben, jede Stärkung des Reiches zu verhindern. Die ganze Tragweite der alliierten Entscheidung war Wilson vielleicht nicht klar, denn Wilson bestand nachdrücklich darauf, daß alle Österreicher das Recht erhalten müßten, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Als die Frage im Rat der Vier zur Behandlung kam, widersprach er der französischen Anregung, die Unabhängigkeit Österreichs müsse »unveräußerlich« sein, und schlug vor, der Völkerbund sollte aufgefordert werden können, eine Vereinigung Österreichs mit Deutschland zu gestatten. Diesem Vorschlag konnte Clemenceau selbstverständlich sofort zustimmen. Lloyd George griff nur wenig in die Diskussion ein. Wahrscheinlich teilte er die weitverbreitete britische Vorstellung, daß die deutschsprachigen Österreicher von den Deutschen völlig verschieden seien, und nahm deshalb an, das augenblickliche Streben der Österreicher nach sofortiger Vereinigung mit Deutschland sei nur vorübergehend und durch Hunger und die Verwirrung über die Niederlage und die Auflösung der Monarchie hervorgerufen. Als er 1938 über die Pariser Friedensverhandlungen

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schrieb, wertete er eine 1919 aufgestellte Vorhersage, der ›Anschluß‹ werde eines Tages kommen, als ein Zeichen von bemerkenswerter Voraussicht.20 Die Grenzregelungen, besonders die deutsch-polnische Grenzziehung, und die Reparationsforderungen riefen von allen Bestimmungen des Versailler Vertrages in Deutschland den stärksten Widerstand hervor und sorgten dafür, daß mit Sicherheit der Versailler Frieden ohne weitgehende Abänderungen niemals von der deutschen Öffentlichkeit gebilligt werden würde. Sowohl die Klauseln, die sich auf die Grenzen, wie die, die sich auf die Reparationen bezogen, gingen von der grundlegenden Annahme aus, daß Deutschland 1914 mutwillig den Krieg hervorgerufen habe und auch in der Zukunft wieder zu einer aggressiven Politik zurückkehren könnte. Den meisten Deutschen waren diese Annahmen einfach unverständlich. Die Beschränkungen des deutschen Heeres und der Marine wurden von einer kleineren, allerdings sehr einflußreichen Gruppe der Öffentlichkeit, von Nationalisten und Konservativen, bitter empfunden, die glaubten, daß die Armee und die harte Disziplin der militärischen Ausbildung die beste Schule der Nation darstellten. Der totale Verlust der deutschen Kolonien fand sowohl gefühlmäßig wie in praktischer Hinsicht die geringste Beachtung, verglichen mit allen anderen Klauseln des Vertrages. Die Entwaffnung Deutschlands und das Verbot der Wiederaufrüstung führten im Lager der Sieger nicht zu wesentlichen Meinungsverschiedenheiten. Wilson erklärte den Delegationschefs am 12. Februar 1919, daß »er der Meinung sei, daß ehe Klarheit über die künftige deutsche Regierung und über die Entwicklung der Haltung des deutschen Volkes bestehe, die Welt ein moralisches Recht habe, Deutschland zu entwaffnen und den Deutschen eine Generation des Nachdenkens aufzuerlegen«21. Hinsichtlich der künftigen deutschen Streitkräfte gab es lediglich unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, ob die deutsche Armee aus kurzdienenden Wehrpflichtigen oder aus langdienenden Freiwilligen bestehen sollte. Lloyd George und Clemenceau gaben der Berufsarmee den Vorzug, doch die alliierten Generale hätten die andere Lösung lieber gesehen, da sie die Befürchtung hegten, eine Berufsarmee könne qualifizierte Ausbilder hervorbringen, die einen schnellen Ausbau der Streitkräfte ermöglichen würden. Die Politiker andererseits fürchteten, daß die allgemeine Wehrpflicht gefährlich große Reservejahrgänge schaffen würde. Die Politiker setzten sich durch, und die Stärke des deutschen Heeres wurde im Friedensvertrag auf 100000 Mann begrenzt; es handelte sich um eine Berufsarmee mit mindestens zwölfjähriger Dienstzeit. Foch und seine Kollegen sollten recht behalten, wenn sie in dieser sehr kleinen Streitmacht den Kern einer schnell wachsenden Wehrmacht sahen, die in den dreißiger Jahren aus dem Boden gestampft wurde. Der ›Große Generalstab‹ wurde verboten, und es wurden der Reichswehr zahlreiche wohlausgedachte Rüstungsbeschränkungen auferlegt, die beispielsweise den Besitz von Panzern untersagten. Die Kriegsmarine wurde auf ähnliche Weise klein gehalten. Neue Schiffsbauten durften nicht größer als 10000 BRT sein. Eine Luftwaffe wurde überhaupt verboten. Um die Rüstungsbeschränkungen in

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Einklang mit den Vierzehn Punkten Wilsons zu bringen, erhielt der Abschnitt über die Rüstungen und Streitkräfte im Vertragstext die einleitende Präambel, die deutsche Abrüstung würde »die Einleitung einer allgemeinen Rüstungsbeschränkung aller Nationen [...] ermöglichen«. Der Artikel 119 des Vertrages lautete: »Deutschland verzichtet zugunsten der Alliierten und Assoziierten Hauptmächte auf alle seine Rechte und Ansprüche bezüglich seiner überseeischen Besitzungen.« Das stellte kein Problem für die Friedenskonferenz dar, da es keiner der Siegermächte in den Sinn kam, anzunehmen, daß Deutschland die Kolonien behalten könnte. So konnte Wilson im Januar 1919 vor dem Rat der Zehn erklären: »er glaube, daß alle darin übereinstimmten, gegen die Rückgabe der deutschen Kolonien einzutreten.« Seiner festen Ansicht nach hatten die Deutschen ihre Kolonien so schlecht behandelt, daß eine andere Auslegung seines fünften Punktes nicht in Frage kam, in dem es hieß: »Eine freie, offene und unbedingt unparteiische Neufestsetzung aller kolonialen Ansprüche [...] die Belange der betroffenen Bevölkerungen müssen das gleiche Gewicht haben wie die gerechtfertigten Ansprüche der Regierungen, deren Besitzrecht festzulegen ist.«22 Die Neuverteilung des deutschen Kolonialbesitzes, die Ansprüche auf chinesisches Gebiet und die künftige Rechtsstellung dieser Besitzungen waren dagegen Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten. Das Problem der neuen Hoheitsform der Kolonien wurde durch die Einführung des Mandatssystems gelöst. Die Mächte, die früheren deutschen Kolonialbesitz als Mandate übertragen bekamen, waren verpflichtet, die Gebiete unter der Aufsicht des Völkerbundes in einer mehr oder weniger langen Zeitspanne der Selbstregierung zuzuführen. In der deutschen Stellungnahme zum Vertragsentwurf wurde zu bedenken gegeben, daß die Wegnahme der deutschen Kolonien im Widerspruch zu Wilsons fünftem Punkt stehe und Deutschland diese Gebiete als Märkte und als Siedlungsland für den heimischen Bevölkerungsüberschuß benötige. Weiterhin wurde darin erklärt, daß »Deutschland sich um das Wohlergehen der Eingeborenen bemüht habe«. Die Alliierten konnten in ihrer Gegenargumentation daran erinnern, daß vor dem Kriege im Reichstag Anklagen gegen die deutschen Kolonialmethoden, besonders von seiten Erzbergers und Noskes, erhoben worden waren. Man hätte ebensogut darauf verweisen können, daß man in Deutschland niemals große Lust gezeigt hatte, in die Kolonien auszuwandern, und daß der Handel mit den Kolonien unbedeutend gewesen war.23 Wie dem auch sei, die Vertragsklauseln über die Wegnahme der Kolonien ebenso wie die Abrüstungsbestimmungen wurden von den Deutschen als ein Beispiel ungleicher Behandlung empfunden. So sah der Versailler Vertrag aus; er schwächte die potentielle Kraft Deutschlands nicht, schuf aber unmittelbar Ressentiments. Konnte Deutschland nicht niedergehalten und dazu gebracht werden, jeden Buchstaben des Vertrages zu erfüllen, oder konnte andererseits Deutschland nicht durch Zugeständnisse mit der neuen europäischen Staatenordnung letztlich versöhnt werden, so

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erschien ein neuer deutscher Krieg nahezu unvermeidlich. Es ist leicht, dies heute rückblickend zu sagen; doch diese Einsicht war auch bereits im Augenblick der Unterzeichnung des Vertrages und vorher bei einigen vorhanden. Foch und Poincaré sagten ganz offen, sie glaubten nicht daran, daß man Deutschland auf unbeschränkte Zeit niederhalten könne, wenn einmal die Besatzungstruppen abgezogen seien. Auf der anderen Seite äußerte General Smuts, der südafrikanische General und Staatsmann, der es sich während des Ersten Weltkriegs angewöhnt hatte, über alle möglichen Dinge weise Erklärungen abzugeben, gleich nach Abschluß des Vertrages in seiner wolkigen und, wie er meinte, überlegenen Ausdrucksweise, der Frieden von Versailles würde keine »gerechtere, bessere Welt« bringen;24 zwei Mitglieder der amerikanischen Delegation traten aus Protest von ihren Posten zurück, und vor allem: J.M. Keynes begann mit der Abfassung seines bestechenden Werks The Economic Consequences of the Peace, in dem er schlüssig nachwies, was die Siegermächte längst recht gut wußten, daß nämlich die Reparationsforderungen absurd seien. Keynes’ Leser übertrugen dieses vernichtende Urteil auf den ganzen Versailler Vertrag. In Frankreich begann sich das Unbehagen herauszubilden, daß man irgendwie um die Sicherheit gebracht worden sei, die der Sieg doch hätte garantieren sollen, und in Großbritannien entstand ein Schuldgefühl, Deutschland ungerecht behandelt zu haben. Das schlechte englische Gewissen stärkte die Überzeugung, die von Lloyd George so oft in privatem Kreise geäußert worden war, daß Wohlstand und Frieden Europas nur durch eine Aussöhnung mit Deutschland sichergestellt werden könne. Der erste Abschnitt des Versailler Vertrages behandelte ein allgemeineres Thema; es trug die Überschrift: »Völkerbundsatzung«. Hier ging es um etwas völlig Neues: um eine Weltorganisation, die sich die »Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen« und die »Gewährleistung des internationalen Friedens« zur Aufgabe machte. Die liberalen und fortschrittlichen Kräfte in allen Ländern der Welt setzten auf dieses Schriftstück die größten Hoffnungen, und Präsident Wilson widmete sein Hauptaugenmerk während seiner Anwesenheit bei der Pariser Friedenskonferenz der Abfassung dieses Dokumentes; man kann wohl vermuten, daß dabei mehr prosaische Fragen, wie beispielsweise die der deutsch-tschechischen Grenzen, in den Hintergrund gedrängt wurden. Oberstes Organ des Völkerbundes sollte der ›Völkerbundsrat‹ sein, dem die Vertreter der Großmächte und der wichtigsten Alliierten und Assoziierten Länder und die Delegierten von vier weiteren Ländern angehören sollten. In der ›Bundesversammlung‹ dagegen sollten alle Mitgliedstaaten vertreten sein. Die Artikel 10 und 16 der Satzung enthielten die wesentlichen Bestimmungen: Die Mitgliedsländer verpflichteten sich, die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit aller Mitglieder zu respektieren und zu verteidigen. Im Falle einer Aggression sollte der Rat die Mitgliedsregierungen über die Schritte beraten, die zur Erfüllung dieser Verpflichtung notwendig erschienen. Auch ohne das Einschreiten des Rates

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sollten die Mitglieder die Wirtschaftsbeziehungen mit einem Angreiferstaat abbrechen, und der Rat würde dann Empfehlungen hinsichtlich der zu ergreifenden militärischen Maßnahmen erteilen. Der Artikel 19 gestattete es der Versammlung, »von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen Verhältnisse auf [zu] fordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte«. Ein Großteil der Artikel enthielt Kann-Vorschriften, und die Arbeitsfähigkeit des Völkerbundes hing von der Bereitschaft der einzelnen Staaten ab, freiwillig zusammenzuarbeiten. Die Franzosen hatten dagegen vergeblich versucht zu erreichen, daß der Völkerbund eine internationale Streitmacht mit einem internationalen Generalstab schüfe, um die Friedenssicherung zu garantieren. Tatsächlich sah es so aus, ols ob die Wirksamkeit des Völkerbundes darauf beschränkt bliebe, die öffentliche Meinung zu mobilisieren, von der Wilson annahm, daß sie künftig der entscheidende Faktor der Weltpolitik sein werde; sobald es darum ging, die Anwendung von Waffengewalt in Erwägung zu ziehen, war der Völkerbund auf die Hilfestellung jener Großmächte angewiesen, die bereit waren, eine Unterstützung zu leisten.25 In den dreißiger Jahren waren die internationalen Störenfriede nicht von der Art, daß sie vor moralischen Verdammungsurteilen zurückgeschreckt wären; auch waren England und Frankreich nicht sehr darauf aus, die Rolle der Verteidiger und Bewahrer des Völkerrechts, die ihnen praktisch zugefallen war, zu spielen. Die Folge war, daß die Einwirkungsmöglichkeiten des Völkerbundes auf die internationale Politik außerordentlich gering blieben. Das ›Versagen‹ der Weltorganisation wird oft dem Umstand zugeschrieben, daß die Vereinigten Staaten ihre Mitarbeit verweigerten, doch ist es wenig wahrscheinlich, daß die Mitgliedschaft der USA allein die amerikanische Öffentlichkeit so weit aufgerüttelt hätte, daß die Vereinigten Staaten in den dreißiger Jahren einen bedeutenden Anteil an der Bewahrung der politischen Ordnung hätten nehmen können. Nur wenn der Völkerbund von England, Frankreich und Amerika ständig gemeinsam geführt und getragen worden wäre, hätte es die Chance gegeben, das Versagen der Weltorganisation zu verhindern. Doch an den unterschiedlichen Tendenzen der öffentlichen Meinung in den drei Ländern mußte jeder derartige Versuch scheitern. 2. Die Friedensschlüsse mit Österreich, Ungarn und Bulgarien Der Pariser Frieden setzte sich aus einer Reihe von Vertragswerken zusammen: aus den Verträgen von Versailles (mit Deutschland), von St. Germain (mit Österreich), von Trianon (mit Ungarn) und Neuilly (mit Bulgarien) und schließlich von Sèvres (mit der Türkei). Der Vertrag von Sèvres erwies sich als zu wenig fest begründet, und es kam schließlich in Lausanne zu neuen Friedensvereinbarungen mit der Türkei.

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Hinsichtlich der Friedensregelung mit dem Habsburgerreich stellte die Tatsache, daß die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn aufhörte zu bestehen, das entscheidendste Element dar: Der Zerfall des Habsburgerreiches war aber keineswegs ein Ergebnis der Arbeit der Friedenskonferenz; denn als diese zusammentrat, war die Donaumonarchie bereits auseinandergefallen, und es hatten sich Österreich, Ungarn, die Tschechoslowakei und Jugoslawien aus der Erbmasse als selbständige Staatengebilde herauskristallisiert. Die Nachfolgestaaten erhoben nun auf Gebietsteile des untergegangenen Habsburgerreiches Ansprüche, die oftmals miteinander unvereinbar waren, während gleichzeitig Polen, Italien und Rumänien ebenfalls Gebiete forderten, die zum Habsburgerreich gehört hatten. Hätte man im Jahre 1919 einen Staat wie die alte Doppelmonarchie wiedererstehen lassen wollen, so wären große Armeen notwendig gewesen, um die ehemals habsburgischen Gebiete zurückzuerobern; an einem solchen Vorgehen lag den leitenden Männern der Großmächte verständlicherweise wenig. Dieselben nationalen Antipathien, die Österreich- Ungarn zusammengehalten hatten, führten auch zu seinem Zusammenbruch. Solange jede Nationalität innerhalb des Vielvölkerstaates eine andere Nationalität unterdrücken konnte, erschien allen die Monarchie als in mehrfacher Hinsicht nützliches Instrument. Nach Auffassung der Deutschen verhinderte die Existenz des Habsburgerreiches, daß die Tschechen in Böhmen das Übergewicht erhielten; die Tschechen fürchteten, daß ohne die Herrschaft Wiens die Deutschen das Land unterdrücken würden. Die Deutschen sollten 1919 recht behalten, die Tschechen 1939. Den Magyaren Ungarns bot das Habsburgerreich die Machtgrundlage für ihr Königtum, und es versetzte sie in die Lage, die ihrem Gebiet angehörigen slawischen Bevölkerungsteile zu unterdrücken. Die Kroaten sahen in dem Vorhandensein der Donaumonarchie einen gewissen Schutz vor den Herrschaftsansprüchen der Magyaren im Innern und der Italiener diesseits und jenseits der österreichischen Grenzen. Dem polnischen Bevölkerungsteil innerhalb des österreichischen Staatsverbandes blieb sowohl die reichsdeutsche wie die russische Unterdrückung erspart, und sie konnten die Ruthenen beherrschen. Für die Serben, die Slowenen, Rumänen und Ruthenen innerhalb der Reichsgrenzen waren vergleichbare Vorteile allerdings nicht gegeben, doch diese Bevölkerungsteile waren noch am rückständigsten, und der Nationalstaatgedanke hatte bei ihnen noch nicht fest Wurzeln gefaßt. Immerhin konnten auch sie von Wien etwas erwarten, beispielsweise das Zurückdrängen des ungarischen Einflusses, so wie es Erzherzog Franz Ferdinand vor 1914 angestrebt haben soll. Die Lebensfähigkeit der Doppelmonarchie hing davon ab, daß die Nationalitäten, die sie umfaßte, das Habsburgerreich trugen und unterstützten; diese Unterstützung aber ergab sich aus der Furcht vor der Aktivität, die andere Nationalitäten möglicherweise entfalten würden, wenn der gemeinsame Rahmen

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des Reiches zerbräche. Als es 1918 klar wurde, daß die Macht der Doppelmonarchie vor dem Zusammenbruch stand, und gleichfalls offensichtlich wurde, daß die neuen Herren der Geschicke Europas, die Alliierten und Assoziierten Mächte, bereit waren, mit den einzelnen Nationalitäten direkt zu verhandeln, stürzte die Monarchie kläglich in sich zusammen, und es setzte ein Wettlauf der Teilländer nach Anerkennung ihrer Unabhängigkeit ein, um so in der heraufbrechenden neuen Ära des Selbstbestimmungsrechtes der Völker möglichst viel für die eigene Sache herauszuschlagen. Wenn bisher die k.u.k. Monarchie die Rolle des Schiedsrichters in den Interessenkonflikten gespielt hatte, so ging nun diese Aufgabe auf die Friedenskonferenz über. Die Habsburger hatten ihre Existenzberechtigung eingebüßt. Diese Entwicklung ergab sich 1918 als einer der revolutionierenden Akte der Geschichte, wie er charakteristisch ist für große Kriege, ein Akt, dessen Folgen damals noch nicht klar abzusehen waren. Vor allem war entscheidend, daß der tschechoslowakische und der jugoslawische Nationalstaat ins Leben gerufen wurden. Während des Krieges hatten die Alliierten zwischen zwei Alternativmöglichkeiten für die Behandlung Österreich-Ungarns zu wählen: entweder konnten sie versuchen, Wien zu einem Separatfrieden zu bewegen und die Einheit der Mittelmächte zu zerstören, oder sie konnten darauf ausgehen, die Doppelmonarchie aufzulösen. Im ersten Fall hätte man das Weiterbestehen der Habsburger Monarchie akzeptieren müssen; wählte man die zweite Möglichkeit, so mußte das dazu führen, die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen der slawischen Bevölkerung zu fördern. Die Gebietsforderungen der Rumänen an Budapest hinsichtlich Siebenbürgens hätten die Existenz des Reiches nicht gefährdet, doch anders sah es mit den Ansprüchen der Tschechen und Jugoslawen aus. Gab man ihnen nach, so war die Lebensfähigkeit Österreich-Ungarns nicht mehr gegeben. Von Seiten der polnischen Bevölkerung waren dagegen weniger Komplikationen zu erwarten. Die Polen hätten sowohl das Weiterbestehen der Donaumonarchie wie den Zerfall des Reiches hinnehmen können. Wäre die staatliche Existenz des Habsburgerreiches nicht in Frage gestellt worden, so hätte man ein autonomes Polen mit Bindungen an Wien durchaus in Erwägung ziehen können, da die Polen dem Reichsgedanken wenig feindselig gegenüberstanden. Andererseits hätte die Schaffung eines völlig unabhängigen polnischen Reiches unter Einbeziehung Galiziens das Habsburgerreich nicht so geschwächt, daß sein Weiterbestehen nicht möglich gewesen wäre. Diese komplexen Zusammenhänge führten dann auch dazu, daß die Vierzehn Punkte Wilsons in bezug auf das Schicksal Polens sehr viel klarer und präziser waren, als dies hinsichtlich der anderen nationalen Forderungen, die von Bevölkerungsteilen des Habsburgerreiches erhoben wurden, der Fall war. Wilsons dreizehnter Punkt legte fest: »Ein unabhängiger polnischer Staat sollte errichtet werden.« Der Punkt 10 war dagegen in seiner Abfassung ein

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Meisterstück der Vieldeutigkeit: »Die Völker Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir sichergestellt und garantiert zu sehen wünschen, sollten die uneingeschränkte Möglichkeit einer autonomen Entwicklung erhalten.« Wilson hatte seine Vierzehn Punkte im Januar 1918 verkündet. Im April desselben Jahres wurden die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn über den Abschluß eines Separatfriedens abrupt abgebrochen, und im Juni erklärte Präsident Wilson dann: »Alle Teile der slawischen Rasse sollten voll und ganz von der deutschen und österreichischen Herrschaft befreit werden.« Im September erkannte er den tschechoslowakischen Nationalrat als kriegführende Regierung an.26 Die Tschechen waren es, die die Monarchie zerstörten; ihnen allen voran tat es Tomas Masaryk, der während fast der ganzen Dauer des Krieges auf eine unabhängige Tschechoslowakei hingearbeitet hatte. Seine Stimme war entscheidend, nicht nur wegen seiner großen Überzeugungskraft, sondern auch, weil er unabhängige tschechische Armeeverbände gebildet hatte, die sich aus Deserteuren und von den Russen gefangengenommenen tschechischen Soldaten des k.u.k. Heeres zusammensetzten. Die jugoslawische Unabhängigkeitsbewegung wurde nicht in so eindeutiger Weise ermutigt – teils weil die Sprecher der Bewegung sich nicht einig waren, teils, weil die Italiener den Verdacht hegten, daß ein unabhängiges Jugoslawien ein Hindernis für ihre eigenen territorialen Ambitionen darstellen könnte. Dennoch hatte die amerikanische Regierung bis zum Oktober »in der vollständigsten Weise die Rechtmäßigkeit der nationalistischen Bestrebungen Jugoslawiens nach Freiheit« anerkannt – diese Mitteilung Präsident Wilsons an die österreichisch-ungarische Regierung kam einem Todesurteil gleich.27 Es ist möglich, daß das Habsburgerreich in der alten oder in einer gewandelten Form überlebt hätte, wenn Wilson und die Alliierten weiterhin bereit gewesen wären, mit der Wiener Regierung zu verhandeln, und sich geweigert hätten, mit den Volksgruppen direkt Verbindung aufzunehmen. Wie die Dinge aber lagen, war der Zerfall der Monarchie besiegelt, noch ehe die Friedenskonferenz zusammentrat – ein Nebenprodukt des Mißerfolgs, der den Friedensverhandlungen mit dem Kaiser und seinen Ministern beschieden war. Die für den Friedensschluß Verantwortlichen hatten daher zwischen den Ansprüchen, die neu entstandene wie auch alte Staaten auf ehemals österreich-ungarische Gebiete erhoben, zu entscheiden: den Ansprüchen Italiens, Serbiens, dessen Umwandlung in einen Teil des serbisch-kroatisch-slowenischen oder jugoslawischen Staates in den ersten Monaten des Jahres 1919 anerkannt worden war, Polens, der Tschechoslowakei, Deutsch-Österreichs, Ungarns, dessen Union mit Österreich am 1. November 1918 beendet wurde, als der österreichische Kaiser und König von Ungarn die ungarische Regierung von dem ihm gegenüber gegebenen Treueeid entband, und Rumäniens. Montenegro, das vor dem Krieg ein unabhängiger Staat an der Grenze des Habsburgerreiches gewesen war, wurde unter den Protesten seines exilierten Königs mit Jugoslawien verschmolzen. Deutschland wurde von der Teilnahme an dem

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Aufteilungsprozeß Österreich-Ungarns durch die Entscheidung ausgeschlossen, daß Deutsch-Österreich nicht das Recht der Vereinigung mit Deutschland haben und die alte böhmisch-deutsche Grenze bestehen bleiben sollte. Der Streit, der der Friedenskonferenz die meisten Schwierigkeiten bereitete, war der zwischen Italien und Jugoslawien um die Aufteilung der früheren österreichisch-ungarischen Gebiete entlang der Adriaküste; richtiger gesagt, handelte es sich um die Streitigkeiten, die in dieser Frage zwischen Italien und Präsident Wilson entstanden. Italiens Kriegseintritt war auf bestimmte Versprechen endgültiger territorialer Gewinne hin erfolgt. Der Londoner Vertrag des Jahres 1915 zwischen Frankreich, Rußland, Großbritannien und Italien setzte fest, daß Italien das Trentino und Südtirol, also die Brennergrenze, erhalten sollte. Gleichfalls wurden Italien versprochen: Triest, Istrien, Görz und Gradiska, die Inseln Cherso (Čres), Lussin (Lošinj) und eine Reihe kleinerer Inseln, der nördliche Teil Dalmatiens bis zum Kap Planka im Süden einschließlich der vorgelagerten Inseln, der albanische Hafen Valona mit seinem Hinterland, die volle Souveränität über die Inselgruppe des Dodekanes und, sollte es zur Aufteilung des asiatischen Gebietes der Türkei kommen, das Gebiet von Adalia, sowie eine territoriale Kompensation in Afrika, wenn Frankreich und England ihren afrikanischen Kolonialbesitz auf Kosten Deutschlands vergrößern sollten. Fiume wurde ausdrücklich nicht von Italien beansprucht, da es Kroatien zugeschlagen werden sollte, das man sich offensichtlich als einen autonomen Staat vorstellte.28 Das Abkommen zwischen Frankreich, Großbritannien und Italien von St. Jean de Maurienne im Jahre 1917, das die italienischen Forderungen auf die türkische Provinz Anatolien bekräftigte und erweiterte, wurde hinterher von England und Frankreich als hinfällig bezeichnet, da die russische Zustimmung nicht erreicht worden war. Mit diesem Programm kam die italienische Delegation unter Führung von Orlando und Sonnino am Ende des Krieges nach Paris. Die Bedingungen des Vertrages schienen eine in Mißkredit geratene Vergangenheit widerzuspiegeln, die die internationale Gerechtigkeit und die Selbstbestimmung der Völker mißachtet hatte. Die Abfassung des Versailler Vertrages zeigte, daß das Bedürfnis, Staaten wirtschaftlich und militärisch abzusichern, manchmal schwerer wog als diese hohen Prinzipien, doch die unglücklichen Italiener sahen sich 1919 dem Sachverhalt gegenüber, daß niemand da war, gegen den sie sich zu verteidigen hatten; in gewisser Hinsicht war der Krieg zu erfolgreich gewesen, und die Großmacht Österreich-Ungarn, der gegenüber es einen Sinn gehabt hatte, wirksame Schutzmaßnahmen zu treffen, bestand nicht mehr. Erschwerend kam noch dazu, daß die italienischen Forderungen weitgehend nur auf Kosten Jugoslawiens hätten befriedigt werden können. Jugoslawien war aber selbst aus dem tapferen Kampf unterdrückter Nationalitäten um ihre Freiheit hervorgegangen. Man hätte beispielsweise mit guten Gründen dafür eintreten können, daß die Abtrennung Dalmatiens von Österreich und seine

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Eingliederung in Italien ein Akt der ›Befreiung‹ sei, es war aber weit schwieriger darzulegen, daß die Abtrennung des serbokroatischen Dalmatiens von einem slawischen Staat irgend etwas mit Befreiung zu tun habe. Ebensowenig war es ohne weiteres einzusehen, warum Jugoslawien Häfen an Italien abtreten sollte, um es diesem zu erleichtern, sich gegen Jugoslawien zu verteidigen, oder um Italien einen gleichen Zugang zur See zu verschaffen. Für die Italiener jedoch galt, daß die ganze italienische Kriegsanstrengung weitgehend als umsonst angesehen werden mußte, wenn die Regierung weniger erreichte, als in dem Londoner Vertrag zugesichert worden war. Weiterhin konnten die Italiener nur schwer den neuen serbisch-kroatisch-slowenischen Staat Jugoslawien als alliierte Macht betrachten, wie dies von Italien auf der Friedenskonferenz erwartet wurde, nachdem die Italiener – außer ihren historischen Erfahrungen mit der kroatischen Unterdrückung – hatten erleben müssen, wie noch kurz vorher die kroatischen Truppen der österreich-ungarischen Armee an der italienischen Front einen entschlossenen Kampfwillen an den Tag legten. Es mußte zum Zusammenstoß zwischen Wilson und Italien kommen, und England und Frankreich hätten dem Königreich aufgrund des Londoner Vertrages beistehen müssen, wenn nicht Italien selbst sie durch eine Aktion vor einem Konflikt mit den Vereinigten Staaten, den sowohl Lloyd George wie Clemenceau tunlichst vermeiden wollten, bewahrt hätte: es war dies die italienische Forderung auf den Hafen Fiume. An und für sich war das eine nicht unvernünftige Forderung, da die Stadt Fiume selbst unzweifelhaft italienisch war, im Gegensatz zur Vorstadt Susak. Präsident Wilson wollte aber auf keinen Fall zulassen, daß der einzige größere Hafen, den Jugoslawien erhalten konnte, unter italienische Herrschaft kam. Für Großbritannien und Frankreich war ausschlaggebend, daß im Vertrag von London Fiume den Italienern nicht versprochen worden war. Diese Tatsache erlaubte es ihnen, angesichts des ständig stärker werdenden Engagements der sich ablösenden italienischen Kabinette, denen die lärmende Forderung der italienischen Öffentlichkeit zunächst den Rücken stärkte, dann aber Schrecken einflößte, die Position von Vermittlern zwischen der Haltung Italiens und Wilsons einzunehmen und es abzulehnen, die Italien gegebenen Versprechen einzulösen. Italiens Forderung auf Fiume versetzte sie in die Lage, darauf hinzuweisen, daß Italien mehr verlange, als der Londoner Vertrag vorsehe, und daß sie sich infolgedessen nicht länger an den Vertrag gebunden betrachteten. Am 3. Mai, während der Abwesenheit der italienischen Delegation von Paris, erklärte Balfour gegenüber Lloyd George: »Der Präsident der Vereinigten Staaten ist der Meinung, daß Sie darauf spekulieren, es werde den Italienern unmöglich sein, Fiume einfach aufzugeben. Wenn sie es aber täten, so muß erkannt werden, daß dann die Schwierigkeiten unlösbar würden.« Lloyd George antwortete: »Ich stimme dem zu. Das ist genau das, was ich am meisten fürchte.«29 Wilson war in seiner Weigerung, der italienischen Forderung auf Fiume nachzukommen, außerordentlich fest. Seine Berater hatten in dieser Frage in

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einer frühen Phase der Friedensverhandlungen klar Stellung bezogen, und es kam selten vor, daß der Präsident einem kategorischen Rat seiner eigenen Experten nicht nachkam. Die Haltung Wilsons in der Fiume- Frage stand in krassem Gegensatz zu seinem Verhalten in der Frage der Brennergrenze, die im klaren Widerspruch zu dem Grundsatz der Selbstbestimmung Italien zugestanden wurde, ohne daß es zu Auseinandersetzungen kam. Es scheint, daß Wilson die Brenner-Frage von vornherein als geregelt ansah, und zwar aufgrund eines Absatzes aus dem Kommentar zu den Vierzehn Punkten, den Oberst House im Oktober 1918 den Alliierten übergab, nachdem Wilson ihn gebilligt hatte. Dieser Absatz interpretierte den neunten der Vierzehn Punkte Wilsons, der eine »Berichtigung der Grenzen Italiens [...] nach den klar erkennbaren Scheidelinien, die die Nationalitäten eingrenzen«, forderte; die Interpretation besagte, daß die Abtretung Südtirols mit Punkt 9 vereinbar sei, vorausgesetzt, daß das kulturelle Leben der Deutschen, die unter italienische Herrschaft kamen, geschützt werde.30 Die Brennergrenze wurde ohne Zweifel deshalb akzeptiert, weil man immer noch in Österreich eine Großmacht sah, oder vielleicht noch mehr deshalb, weil man annahm, daß Österreich in Deutschland aufgehen könnte, und alle darin übereinstimmten, daß verteidigungsfähige Grenzen gegen Deutschland ausschlaggebend seien. Andererseits stellte es sich heraus, daß die Friedenskonferenz nicht in der Lage war, die Fiume- Frage zu lösen. Ende 1920 kam es schließlich in Rapallo zur Unterzeichnung eines Vertrages zwischen Italien und Jugoslawien, nachdem direkte Absprachen zwischen beiden Ländern getroffen worden waren. Fiume sollte Freistaat werden; die eigentliche Stadt Fiume sollte ein Sonderstatut erhalten, Zara italienisch werden. Beide Bestimmungen stellten einen beträchtlichen Erfolg Italiens dar; ferner erhielt Italien die Inseln Cherso, Lussin, Lagosta und Pelagosa. 1924 wurde Fiume italienisch. Die Reglung der Fiume-Frage war vorteilhafter als das, was die Italiener 1919 bereit gewesen waren zu akzeptieren. Vielleicht waren die Jugoslawen beunruhigt, als die Niederlage Wilsons bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1920 ihre Hoffnungen auf einen fortgesetzten amerikanischen Schutz endgültig zunichte machte.31 In anderen Fragen jedoch wurde den italienischen Forderungen wenig Genüge getan. Hinsichtlich der Türkei sah Italien sich einmal der Tatsache gegenüber, daß die Alliierten dem territorialen Ehrgeiz der Griechen den Vorrang gaben, und sodann hatten die Italiener gemeinsam mit den Griechen mit dem heftigen Widerstand der türkischen Nationalisten gegen die Fremdherrschaft zu rechnen. Aus Albanien zogen sich die Italiener schließlich zurück. In Afrika zeigten England und Frankreich wenig Neigung, Italien für ihre eigenen territorialen Gewinne Kompensationen zu gewähren. Die Behauptungen beider Länder, daß sie lediglich Lasten übernähmen, erschienen der italienischen Öffentlichkeit nicht ganz überzeugend. Dennoch konnte sich Italien wirkliche Kriegsgewinne sichern, doch die Genugtuung über diesen Zuwachs – die Brennergrenze, Triest und der Großteil

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Istriens – wurde in den Augen der Italiener von der Fiume-Frage überschattet. Die Fiume-Frage hatte Italien so in Erregung versetzt, daß die mangelnde Unterstützung der italienischen Forderungen durch die Alliierten im Jahre 1915 und die offene Frontstellung Wilsons, die in der Erklärung vom April 1919 zum Ausdruck kam, alle anderen Erwägungen zurücktreten und bei den Italienern das Gefühl aufkommen ließ, daß sie trotz des materiellen Sieges im Kriege als ein geschlagenes Land behandelt wurden. Die italienischen Kriegsanstrengungen waren durch schmerzliche Verluste an Menschen und durch eine Anspannung der Wirtschaftskräfte bis zur Erschöpfung erkauft worden, und die Italiener glaubten, daß sie Österreich-Ungarn allein besiegt hätten. So führte dies Gefühl sie nun in eine gefährliche Ernüchterung, die nur zu schnell einem fremdenfeindlichen Nationalismus den Weg bahnte, der seinen ersten offenen Ausdruck in dem Wirken des Dichters Gabriele d’Annunzio fand. Nur die Sozialisten unterstützten eine Mäßigung der italienischen Forderungen nach außen. Im Sommer 1919 kamen Gerüchte auf, daß Militärs in Verbindung mit Mussolinis Vereinigung ehemaliger Frontkämpfer einen Staatsstreich planten, um die angeblich schwachen und zu Kompromissen bereiten Politiker in der Macht abzulösen.32 Am 12. September 1919 brachte d’Annunzio mit einem Freiwilligen-Kontingent die Stadt Fiume unter seine Kontrolle, ›annektierte‹ sie für Italien und machte sich daran, Amerika, die Alliierten und die italienische Regierung mit seiner willensstarken Beredsamkeit anzuklagen. Es stellte sich heraus, daß die italienische Regierung trotz ihrer Zusicherungen an die Friedenskonferenz nicht in der Lage war, auf d’Annunzio einzuwirken, und daß man nicht darauf vertrauen konnte, daß die italienischen Streitkräfte Befehlen zum Vorgehen gegen d’Annunzio gehorchen würden. Es war ebenso offensichtlich, daß die italienische öffentliche Meinung, mit Ausnahme sozialistischer Kreise, sein Unternehmen billigte.33 Nur dadurch, daß der Dichter in Fiume selbst ständig unpopulärer wurde, gelang es der italienischen Regierung Ende 1920, ihn wieder aus der Stadt zu entfernen. Wilsons Verhalten, d’Annunzios Agitation und die ausweichende Haltung der Alliierten ließen es recht unwahrscheinlich werden, daß man auf die italienische Unterstützung für die endgültige Friedensregelung würde rechnen können, und trugen indirekt dazu bei, in Italien eine verfassungsfeindliche Stimmung und bittere Gefühle nicht so sehr gegen Jugoslawien, als gegen die Alliierten insgesamt zu fördern. Andere Bestimmungen der Verträge mit Österreich und mit Ungarn schufen neue Gegensätze oder brachten alte Rivalitäten und Interessenkonflikte zum Vorschein. Das Problem von Teschen führte beispielsweise zu Spannungen und Mißgunst zwischen Polen und der Tschechoslowakei. Die Tschechoslowakei konnte historisch und wirtschaftlich gut fundierte Ansprüche auf das Herzogtum Teschen mit seinen Kohlevorkommen und dem Eisenbahnnetz geltend machen. Die polnischen Ansprüche wurden dagegen dadurch stark untermauert, daß die Bevölkerung überwiegend polnisch war. Zunächst sah es

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so aus, als ob die beiden neugeschaffenen Staaten das Problem auf freundschaftlichem Wege regeln würden, indem sie die Grenzziehung aufgrund der Sprachgrenze vornähmen: ein entsprechendes provisorisches Übereinkommen wurde am 5. November 1918 erzielt. Kurz darauf setzte sich aber in der Tschechoslowakei der Eindruck durch, man könne vielleicht das ganze Gebiet mit Aussicht auf Erfolg verlangen, und um ihrem Anspruch Nachdruck zu verleihen, entsandte die Prager Regierung am 23. Januar 1919 gegen polnischen Widerstand Truppen in das von Polen besetzte Gebiet. Die Wunde, die durch diese Aktion der polnisch- tschechischen Freundschaft geschlagen wurde, sollte niemals mehr heilen. Zwei an und für sich begründet erscheinende Ansprüche prallten hier auf einander: Die Polen konnten mit Recht auf die Tatsache hinweisen, daß die Bevölkerung weitgehend polnisch war; andererseits brauchte die Tschechoslowakei dringend die Kohle des Reviers von Teschen. Konflikte dieser Art hätten gelöst werden können, wenn es eine europäische Freihandelszone gegeben hätte. Frankreich unterstützte die tschechischen Forderungen aus Furcht davor, daß sonst die Tschechoslowakei eine Annäherung an Deutschland suchen könnte, während man gleichzeitig in Paris davon ausging, daß Polen – unabhängig von der Entwicklung der polnisch-tschechischen Beziehungen – mit Deutschland auf schlechtem Fuß stehen würde. Nur wenige ahnten 1919 oder 1920, daß die Eingliederung der Sudetendeutschen in den neuen tschechischen Staat dahin führen sollte, daß Deutschland und nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, Österreich sich in Frontstellung gegenüber der Tschechoslowakei begeben würde, doch muß hinzugefügt werden, daß derartige Ahnungen auch erst dann wahr wurden, als ein Österreicher der Herr der deutschen Außenpolitik geworden war.34 Die französischen Vertreter im ›Obersten Rat‹ in Paris sorgten 1919 dafür, daß eine für Polen annehmbare Lösung verworfen wurde, indem sie die wohlbekannte Karte einer Volksabstimmung ausspielten. Auf der Konferenz von Spa im Jahr 1920 stimmten die Polen unter dem Zwang, auf alle Fälle die Hilfe der Alliierten gegen die sowjetrussische Invasion sicherstellen zu müssen, dem Vorschlag zu, statt dessen die Frage durch alliierten Schiedsspruch entscheiden zu lassen. Die Alliierten fällten ihr Urteil zur vollen Zufriedenheit der Tschechoslowakei. Auf der Konferenz von Spa bedrängte Lloyd George den polnischen Ministerpräsidenten Grabski und veranlaßte ihn, ein Dokument zu unterschreiben, das die Entscheidung der Alliierten über alle noch nicht geregelten polnischen Grenzfragen billigte.35 Die Polen haben es den Tschechen niemals verziehen, daß sie damals die Zwangslage Polens ausnutzten. Durch die Gebietsforderungen Italiens und die Schaffung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens wurde die neue Republik Österreich in ihrem Umfang auf einen Bruchteil des früheren österreichischen Herrschaftsbereiches der Doppelmonarchie reduziert. Deutschsprechende Bevölkerungsteile Österreichs kamen zu Italien und zur Tschechoslowakei. Die neue Grenze mit Jugoslawien entsprach der Sprachengrenze, nachdem eine

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Volksabstimmung das Schicksal des Gebietes von Klagenfurt zugunsten Österreichs entschieden hatte. Wie wir bereits gesehen haben, wurde dieses verkleinerte Österreich gezwungen, unabhängig zu sein und zu bleiben, und da das Land sich wirtschaftlich nicht selbst erhalten konnte, war es dazu verurteilt, einen harten Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Hunger zu führen. Ähnlich wie bei Österreich verhielt es sich auch bei dem ungarischen Staat, der aus dem Trianon-Vertrag des Jahres 1920 hervorging; er war nur noch ein Überbleibsel des Vorkriegskönigreiches. Ungarn verblieb das, was übriggeblieben war, nachdem die meisten Forderungen der Tschechoslowakei, Rumäniens und Jugoslawiens erfüllt worden waren. Ein kleiner und in der Mehrheit deutschsprachiger Teil kam zu Österreich. Das alte Königreich hatte aus einem von Magyaren bewohnten Kernland bestanden, um das herum große Gebiete lagen, in denen andere Völkerstämme unter den politisch und wirtschaftlich dominierenden Magyaren lebten. Alle diese äußeren Besitzungen wurden Ungarn abgenommen, und außerdem mußte es einige Gebietsteile mit einheitlich magyarischer Bevölkerung abtreten. Die Slowakei erhielt magyarische Gebiete aus wirtschaftlichen Gründen – um der Tschechoslowakei einen Zugang zur Donau zu ermöglichen und da man davon ausging, daß diese Gebiete wirtschaftlich mehr auf das Territorium nördlich als auf das südlich der Donau ausgerichtet waren. Ruthenien, das in erster Linie von Ukrainern bevölkert war, wäre sicher Rußland zugeschlagen worden, hätte man Rußland nicht als in internationalen Fragen nicht existent behandelt. So kam es zur Tschechoslowakei. Mit der Selbstbestimmung der Völker hatte das wenig zu tun, da die Ruthenen nur ein sehr wenig ausgeprägtes Nationalbewußtsein hatten. Man kann sogar mit Sicherheit feststellen, daß die für die Friedensregelung Verantwortlichen keinerlei Vorstellung davon hatten, was mit Ruthenien geschehen sollte; die Tschechen erhielten es einfach deshalb, weil sie den Wunsch danach äußerten. Die Tschechoslowakei verleibte sich so aus der ungarischen Erbmasse ein: nahezu eine Million Magyaren, rund eine halbe Million Ruthenen, eine Viertelmillion Deutsche, die verstreut überall in Ost- und Südosteuropa lebten, besonders in den Städten, und fast zwei Millionen Slowaken. Siebenbürgen kam an Rumänien. Magyaren, Rumänen und gleichfalls Deutsche lebten hier ohne klare ethnische Trennungslinien zwischen Gebieten überwiegend magyarischer Bevölkerung, und diese Mischzonen erstreckten sich bis weit in den östlichen Teil des ungarischen Kernlandes; das von Ungarn abgetretene Gebiet umfaßte so nahezu drei Millionen Rumänen, aber auch eineinhalb Millionen Magyaren. Wenn diese kompakte Volksgruppe an der Grenze Ungarn verlorenging, so deshalb, weil die einzige Nord-Süd-Eisenbahnverbindung in Siebenbürgen an Rumänien kommen sollte. Der Verlust des Banat, das zwischen Jugoslawien und Rumänien aufgeteilt wurde, führte zwar zu schwierigen Problemen hinsichtlich der Teilung dort, wo die Bevölkerung gemischt war, doch wurden nur relativ wenige Magyaren von Ungarn getrennt. Große Teile Kroatiens und Sloweniens mußte Ungarn an

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Jugoslawien abtreten. Die meisten dieser Gebiete hatten unbestreitbar einen nicht magyarischen Charakter und genossen schon vor dem Kriege eine gewisse Autonomie, ebenso wie der größte Teil des Territoriums zwischen Szeged und Belgrad, in dem teilweise geschlossene magyarische Bevölkerungsgruppen lebten und das Jugoslawien offensichtlich zu dem zugeschlagen wurde, um für die Hauptstadt Belgrad einen größeren Brückenkopf nördlich der Donau zu schaffen.36 Das ungarische Volk sah sich geteilt. Zwei Drittel verblieben in den Grenzen des neuen ungarischen Staates, das andere Drittel lebte nun in der Tschechoslowakei, in Rumänien und Jugoslawien. Die meisten dieser Ungarn, rund zwei von insgesamt drei Millionen, die außerhalb der ungarischen Grenzen blieben, lebten vermischt mit anderen Volksgruppen, und es fragte sich, welches der verschiedenen Volkstumselemente die Führungsrolle spielen sollte. Die Magyaren forderten unter Berufung auf ihre höherstehende Kultur, daß sie den maßgeblichen Anteil an der Herrschaft erhalten müßten, während die Tschechen, Slowaken, Rumänen und Jugoslawen diese Überlegenheit entweder in Zweifel stellten oder sie der Tatsache zuschrieben, daß die Magyaren die anderen Völker unterdrückt hatten. Hinsichtlich der rund eine Million geschlossen siedelnden Magyaren in den grenznahen Gebieten wurde die Abtrennung von Ungarn damit begründet, daß Rumänien und die neuen Staaten wirtschaftlich und militärisch abgesichert werden müßten. Die Ungarn gingen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Friedensregelung an: Zunächst kam es unter dem kurzlebigen Regime des Bolschewisten Bela Khun, der die Tschechoslowakei und Rumänien angriff, zu militärischen Maßnahmen, bis er durch den darauffolgenden Einfall der Rumänen vertrieben wurde; dann folgten ständige Dispute und Propagandaaktionen zur Durchsetzung dessen, was die Ungarn als ihr Recht ansahen.37 Die ungarische Reglung brachte ebensowenig wie die Reglung des deutsch-polnischen Grenzproblems die Lösung der Volkstumsfrage. Eine ›Lösung‹ konnte auch nur mit den Methoden erreicht werden, die die Türken als erste anwandten und die dann später von den Deutschen weiterentwickelt wurde: zwangsweise Aussiedlung ganzer Bevölkerungen oder Massenmord. Trotz all der Fehler, die die für den Friedensschluß Verantwortlichen 1919 gemacht haben, muß man doch zu ihren Gunsten sagen, daß sie niemals selbst die mildere Form dieser barbarischen Handlungsweise akzeptiert hätten. In der Tat bestanden sie darauf, daß die Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien und Rumänien sich vertraglich verpflichteten, die Minderheiten ebenso zu behandeln wie die herrschenden Bevölkerungsgruppen.38 So wie der deutsche schuf auch der ungarische Friedensvertrag in dem geschlagenen Land Ressentiments. Unter den gebildeten Magyaren waren diese leidenschaftlichen Gefühle vielleicht stärker als in Deutschland, da die Friedenskonferenz den Wünschen Ungarns sehr viel weniger Rechnung trug als denen der Deutschen. Deutschland war sowohl hinsichtlich seiner augenblicklichen wie seiner künftigen Stärke sehr viel besser

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dran als Ungarn. Das neue Ungarn konnte niemals freiwillig die Nachkriegsregelung hinnehmen, und es wurde so zur Ursache für Furcht und Unsicherheit bei seinen Nachbarn. Der Friedensvertrag von Neuilly mit Bulgarien fiel weniger hart aus als die anderen Friedensverträge. Zwei kleinere Bezirke Ostbulgariens wurden an Jugoslawien abgetreten. Die Begründung war strategischer Natur: zwischen der Eisenbahnlinie durch Jugoslawien nach Saloniki und der bulgarischen Grenze sollte ein größerer Abstand geschaffen werden. Westthrazien mußte von Bulgarien an Griechenland abgegeben werden, und dies bedeutete, daß Bulgarien den Zugang zum Ägäischen Meer verlor. Hätte die Volkstumszugehörigkeit bei der Abtretung West-Thraziens eine Rolle gespielt, so hätte der größte Teil des Gebietes an die Türkei fallen müssen, doch den Türken sprach man die Eignung für die Herrschaftsübernahme ab. Zweifellos wurde der Küstenstrich von Griechen bewohnt, doch das Hinterland wurde dazugenommen, um Griechenland sichere Verbindungslinien zu den griechischen Einflußzonen in Kleinasien zu verschaffen, mit denen man damals glaubte, rechnen zu können.39 Der Verträge von Versailles, Trianon, St. Germain und Neuilly, die dem Europa westlich Polens und Rumäniens ein neues Gepräge gaben, stellten gegen alle Schwierigkeiten und Widerstände, die sich überall in Europa auftürmten, das Werk der ›Friedensmacher‹, das Ergebnis ihrer Vorurteile und ihrer Hoffnungen dar. Während die Friedenskonferenz noch an der Arbeit war, eröffneten die Deutschen mit den Polen, die Tschechen und Slowaken mit den Ungarn und die Rumänen mit den Ungarn eine Serie größerer militärischer Auseinandersetzungen in Osteuropa. Überall dort, wo verschiedene Volksgruppen in ihren Interessen aufeinanderstießen, kam es zu zahlreichen Ausschreitungen und bewaffneten Überfällen. Die Autorität der Friedenskonferenz wurde öfter in Frage gestellt, doch schließlich konnten die Entscheidungen der Pariser Konferenz in den Gebieten durchgesetzt werden, auf die sich die vier Vorortverträge bezogen. Die Tatsache, daß eine Regelung erzielt werden konnte, war den verschiedenen machtpolitischen Einwirkungsmöglichkeiten zuzuschreiben, die von den westlichen Alliierten mit Nachdruck im Sinne eines Ausgleiches angewandt werden konnten: Letzten Endes gaben die Polen aus Furcht vor Deutschland nach; die Tschechoslowakei fügte sich, weil sie Österreich, Polen und Ungarn fürchtete; Ungarn wurde durch die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien zum Nachgeben gezwungen; die Jugoslawen brauchten Hilfe gegen Italien.

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� Abb. 4: Europäische Grenzen 1919–1937 Obwohl die Einflußmöglichkeiten auf Italien und Rumänien weit weniger stark waren, brachen beide Länder niemals völlig aus – Rumänien mochte eines Tages noch die Hilfe gegen Rußland brauchen, und Italien konnte das Risiko einer wirtschaftlichen Isolierung in keinem Falle auf sich nehmen. Selbst während der endgültigen Abfassung der Friedensbedingungen bewies das Verhalten der europäischen Länder, daß der Frieden auf gegenseitiger Furcht und auf einem Machtgleichgewicht beruhen würde, statt auf gegenseitigem Vertrauen und internationaler Zusammenarbeit aufgebaut zu sein. Der von den Westmächten entworfene Frieden würde so lange bestehenbleiben, wie es ihnen gelang, Deutschland unter Kontrolle zu halten, nicht länger. Die Alliierten waren sich 1919 dessen bewußt, und sämtliche größeren militärischen Maßnahmen waren darauf gerichtet, Deutschland unter Kontrolle zu halten. Für andere Zwecke konnten sie keine Truppen mehr aufbringen. Im großen und ganzen entsprachen die Verträge den Belangen Frankreichs, Belgiens, Polens, der Tschechoslowakei, Jugoslawiens, Rumäniens und Griechenlands. Für Italien waren sie nur sehr bedingt annehmbar, und für Deutschland, Ungarn und Bulgarien waren sie keineswegs akzeptabel. Solange Deutschland ruhig gehalten werden konnte, war es möglich, diese Verträge aufrechtzuerhalten und ihre Respektierung zu erzwingen. Wenn sich

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Deutschland der Aufsicht entzog, so konnte es das osteuropäische Machtgleichgewicht verändern und die Verträge zunichte machen, die darauf gegründet waren. Das durch Versailles geschaffene Machtgleichgewicht würde so lange bestehenbleiben, wie Deutschland niedergehalten werden könnte – das wußten die Mächte des östlichen Mitteleuropa 1919 und 1920 sehr wohl, und daraus erklärt sich schließlich ihre auf den ersten Blick überraschende Fügsamkeit gegenüber den Alliierten. In der Zeit danach nahm die Kraft der Alliierten ab. Sie waren außerstande, auch noch auf Rußland und auf die Türkei Zwang auszuüben. 3. Die Konsolidierung des Friedens: Rußland Es gelang ohne Schwierigkeiten, die asiatischen Teile des Osmanischen Reiches außerhalb Anatoliens von der Türkei abzutrennen, da alliierte Truppen (vorwiegend britischer Nationalität) bei Kriegsende dort stationiert waren. Die nationale Bewegung, die von Mustafa Kemal geleitet wurde, vereitelte allerdings die alliierten Pläne in Anatolien und in der europäischen Türkei. Der Versuch, griechische Truppen zur Durchsetzung der alliierten Wünsche zu benutzen, mißlang. 1923 kam es in Lausanne zu einem Verhandlungsfrieden mit der inzwischen wirklich unabhängig gewordenen Türkei. Das Reich im Nahen Osten, das der Türkei verlorengegangen war, kam unter britische und französische Kontrolle. Die Aufteilung der Interessensphären in diesem Gebiet führte zu ernsten Konflikten zwischen Clemenceau und Lloyd George, die nur deshalb beigelegt werden konnten, weil beide Mächte letzten Endes zusammenarbeiten wollten, um die Deutschlandpolitik der anderen gemeinsam zu beeinflussen. Der Friede mit der Türkei beruhte auf Verhandlungen, nicht auf einem Diktat; denn die Alliierten waren nicht stark genug, den Frieden mit Gewalt zu erzwingen. Im Falle Rußlands entsprachen die Bedingungen der Friedensregelung oder vielmehr des Waffenstillstandes, zu dem Rußland und die Westmächte nach dem Kriege gelangten, ebenfalls in keiner Weise den dringenden Wünschen der Alliierten. Vor allem stand das Überleben des Bolschewismus ganz und gar im Gegensatz zu ihren Hoffnungen und Absichten. Hinzu kam, daß die Grenzen der Sowjetunion durch Entwicklungen festgelegt wurden, die von den Erwägungen und Richtlinien alliierter Beratungen und Konferenzen wenig beeinflußt waren. England und Frankreich waren nicht stark genug, um ihren Willen durchzusetzen, oder richtiger, ihr Wille war nicht so stark, daß er Rußland hätte aufgezwungen werden können. Es ist möglich, daß die britischen und französischen Armeen den Bolschewismus mit einem Bruchteil der Anstrengungen, zu denen sie sich 1918 aufgeschwungen hatten, hätten unterdrücken können; aber es war für die britische und französische Regierung völlig unmöglich, einen solchen Einsatzwillen zustande zu bringen. Die Massenheere des Ersten Weltkrieges konnten nicht wie Söldnertruppen

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behandelt werden, ihre Kampfbereitschaft beruhte allein auf dem Glauben der Soldaten an eine Sache: die Befreiung Frankreichs und Belgiens, die Beendigung des Krieges, die Aufgabe, die Welt für die Demokratie reif zu machen. Oft genug war ihnen gesagt worden, der Sieg über Deutschland werde zu diesen ersehnten Zielen führen; dann könnten alle Menschen in Glück und Frieden leben. Es wäre schwierig gewesen, sie davon zu überzeugen, daß in einem fernen Lande ein neues Übel zu beseitigen sei und daß der dringend erhoffte Friede nicht, wie sie angenommen hatten, im November 1918 erreicht, sondern auf unbestimmte Zeit verschoben sei. Mehr noch, die Bolschewisten behaupteten mit einigem Recht, auf der Seite der leidenden Massen, der Arbeiter und Bauern zu stehen, während offensichtlich viel dafür sprach, daß ihre – der Bolschewisten – Gegner in Rußland Großgrundbesitzer und Kapitalisten repräsentierten. Es war keineswegs sicher, daß in einem solchen Konflikt die öffentliche Meinung in England oder Frankreich die Fortsetzung der Kriegsanstrengungen so einmütig unterstützen würde, daß man auf die Kampfbereitschaft britischer oder französischer Soldaten in Rußland würde zählen können. Im Gegenteil, sie mochten durchaus selbst »mit dem bolschewistischen Gift infiziert« werden. Kurzum, die Wahrscheinlichkeit, daß ein ernsthafter Versuch, den Bolschewismus mit Hilfe britischer und französischer Truppen niederzuwerfen, in Westeuropa die Revolution herbeiführen würde, war 1919 ebenso groß wie die, daß er sie verhindern würde. Die einzige Intervention der Alliierten gegen die Sowjets, die wirklich Bedeutung hatte, vollzog sich daher in Form von Geld-, Waffen- und sonstigen Lieferungen. Drei größere Feldzüge wurden 1919 hauptsächlich aus britischen Mitteln finanziert und mit Nachschub versorgt: die Feldzüge Koltschaks, der einen Angriff von Sibirien nach Westen unternahm, Denikins, der vom Schwarzen Meer nach Norden vorrückte, und Judenitschs, der gegen Petrograd marschierte. Die Franzosen zeigten hinsichtlich der Armeen des Weißen Rußland noch mehr Skepsis als die Engländer (obwohl ihre Hilfe, wie sich herausstellte, viel länger dauerte). Am 25. März 1919 verhandelte der Rat der Vier über Rußland. Wilson trat mit Nachdruck für seine Politik ein: »Rußland den Bolschewisten zu überlassen – sie werden im eigenen Saft schmoren, bis die Verhältnisse die Russen klüger machen – und uns darauf zu beschränken, den Bolschewismus am Eindringen in andere Gebiete Europas zu hindern.« Der französische Standpunkt erwies sich bemerkenswerterweise als ähnlich. Marschall Foch sagte mit Entschiedenheit: »Was Denikin geliefert wird, ist verloren. Ich messe Denikins Armee keine große Bedeutung bei, weil Armeen nicht für sich allein bestehen können. Sie müssen eine Regierung hinter sich haben, Gesetze und ein organisiertes Land. Besser eine Regierung ohne Armee als eine Armee ohne Regierung. Aus diesem Grunde sage ich Ihnen: ›Bauen Sie auf Rumänien, denn dort haben Sie nicht nur eine Armee, sondern eine Regierung und ein Volk.‹« Und zwei Tage später sprach Foch von einem cordon sanitaire – »es handelt sich nicht um eine offensive, sondern um eine defensive

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Grenze«.40 So waren die Bemühungen Frankreichs 1919 weitgehend dem Aufbau eines starken Polen und eines starken Rumänien gewidmet, weniger der Unterstützung der antibolschewistischen russischen Armeen. Gegen Ende 1919 schien die Grenzsicherungspolitik erfolgreich zu sein, während die Interventionspolitik mit Gewißheit gescheitert war; doch wurde das Gelingen der ersteren nur dadurch ermöglicht, daß während der kritischen Monate des Jahres 1919 weiterhin Streitkräfte unterhalten wurden, die stark genug waren, die Rote Armee vollauf zu beschäftigen. Ähnlich verhielt es sich 1920: Polen konnte der Vernichtung durch die Rote Armee dadurch knapp entrinnen, daß ihm das letzte Aufflammen des Bürgerkriegs im europäischen Rußland unter Denikins Nachfolger Wrangel zu Hilfe kam. Die Polen bewaffnen, hieß die Erinnerungen an das Polen von 1772 Wiederaufleben lassen, dessen Grenzen im Osten weit über das Gebiet mit polnischer Bevölkerung hinausgereicht hatten. Im September 1919 machten die Polen das Angebot, eine halbe Million Mann auf Moskau marschieren zu lassen, wenn die Alliierten die Kosten in Höhe von etwa 600000 Pfund Sterling täglich zahlten. Clemenceau und Lloyd George machten diesen Plan schnell zunichte, denn sie erwogen eine ganz andere Verwendung der polnischen Armee: die Vertreibung deutscher Streitkräfte aus den ehemaligen baltischen Provinzen Rußlands. Der Waffenstillstand mit Deutschland hatte vorgesehen, daß deutsche Truppen, die auf früher russischem Gebiet standen, erst zurückgezogen werden sollten, »sobald die Alliierten den im Hinblick auf die innere Lage dieser Gebiete geeigneten Zeitpunkt für gekommen halten«. Infolgedessen blieb General von der Goltz mit formierten Einheiten der deutschen Armee in den baltischen Provinzen. Diese Konzentration deutscher Truppen wirkte wie ein Magnet auf übelbeleumdete Rechtsextremisten, die teils von reaktionären Industriellen ermuntert und finanziert, teils von der Aussicht auf Ansiedlung im Baltikum angelockt wurden.41 Zu den Zielen der Führer der verschiedenen Gruppen, die sich im Baltikum befanden, gehörte die Sicherstellung der deutschen Herrschaft in jenem Gebiet, die Restauration der russischen Monarchie und die Niederwerfung der deutschen Republik. Wenn alle diese Ziele erreicht wären, sollte ein russisch-deutsches Bündnis das Werk von Versailles zerstören. Die Alliierten standen 1919 vor der Wahl, entweder die Hilfe dieser bewaffneten Banden gegen Sowjetrußland anzunehmen und die Polen auf Moskau marschieren zu lassen oder das Wiederaufleben des nationalistischen deutschen Militarismus im Baltikum zu zügeln und die polnische Armee unter Kontrolle zu halten, um sie notfalls gegen diese Deutschen einzusetzen. Unverzüglich wurde die Entscheidung getroffen, die deutschen Truppen nach Deutschland zurückzuschaffen und die deutsche Regierung zu zwingen, sie zu entwaffnen. Tatsächlich stand 1919 die deutsche Gefahr den Alliierten drohender vor Augen als die ›Rote Gefahr‹, und obwohl die Alliierten die Zerstörung Sowjetrußlands begrüßt hätten, war es – wie 1941 – zu riskant, den deutschen Nationalisten zu trauen und ihnen zu erlauben, diese Aufgabe auszuführen. Im

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Juni beschlossen Wilson, Lloyd George und Clemenceau, die Deutschen aus dem Baltikum zu entfernen. Im September waren diese in den baltischen Staaten zahlreicher denn je, und die Alliierten trafen die einzige Maßnahme, die ohne Hilfe von anderer Seite in ihrer Macht stand, um dieser oder einer anderen Situation zu begegnen, das heißt, sie drohten der deutschen Regierung. Die von der deutschen Regierung über die Streitkräfte im Baltikum ausgeübte Kontrolle war minimal und beschränkte sich auf den Erlaß eines Appells an die Deutschen im Baltikum, nach Hause zurückzukehren, um einer alliierten Invasion und Blockade zuvorzukommen. Einen Monat später erwogen die Deutschen dort noch immer die Bildung eines unabhängigen ›Ostdeutschland‹ mit Ostpreußen, Litauen und Lettland. Im Oktober versuchten sie, die Letten zu unterwerfen, und erst im Dezember zogen sich die deutschen Truppen zurück. Auf ihrem Rückmarsch hinterließen sie Zerstörung und Verwüstung, indem sie die örtliche Bevölkerung ausplünderten und einschüchterten.42 Ihr Abzug wurde erzwungen durch das Ende der Hilfe von Berlin, wo die zivile Regierung, die von Anfang an eifrig bestrebt war, diese Streitkräfte zu kontrollieren, aber unfähig, es zu tun, von Angehörigen der höheren Ränge der Armee Unterstützung erhielt, nämlich von denjenigen, die General von Seeckts Ansicht teilten, daß offener Widerstand gegen die Westmächte die Erholung Deutschlands verzögern und nicht beschleunigen würde. Nach dem Abzug der deutschen Truppen konnten die baltischen Staaten, die an den Verhältnissen in Rußland uninteressiert waren, vorausgesetzt, daß Rußland sie in Ruhe ließ, auf der Grundlage ihrer Unabhängigkeit zu Abmachungen mit der Sowjetregierung gelangen. Zuerst kam im Februar 1920 ein Vertrag zwischen Sowjetrußland und Estland zustande; Verträge mit Lettland und Litauen folgten.43 Wie so vieles andere zwischen den Kriegen in Osteuropa beruhte die Unabhängigkeit dieser Länder auf der gleichzeitigen Schwäche Deutschlands und Rußlands – eine unsichere Grundlage, um zu überleben. 1920 wurden die Deutschen von den Alliierten niedergehalten, die Russen hatten sich mit Wrangel und Pilsudski auseinanderzusetzen und immer dringender werdende wirtschaftliche Fragen im Innern zu lösen. Der russische Rückzug war in vollem Gange. Der Glaube, eine europäische Revolution werde die wirtschaftlichen und politischen Probleme der Sowjetregierung lösen, war im Schwinden. Die ›Neue Ökonomische Politik‹ im Innern ging einher mit dem Bestreben nach friedlicher Koexistenz mit dem Ausland, nach einer Atempause zur Stabilisierung der russischen Regierung und der russischen Wirtschaft. Das Ziel Pilsudskis, des polnischen Staatsoberhauptes, war die Wiederherstellung eines Groß-Polen durch die Abtrennung der Ukraine, Weißrußlands und Litauens von Rußland und die enge Verbindung dieser Gebiete mit Polen, wobei Pilsudski ihnen vielleicht eine nominelle Unabhängigkeit gelassen hätte. Diese Ambitionen machten Pilsudski die Zusammenarbeit mit Koltschak und Denikin unmöglich, die an dem Gedanken festhielten, die Gebietseinheit des früheren kaiserlichen Rußland

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wiederherzustellen. Auch waren die russischen Konterrevolutionäre nicht Männer von der Art, daß sie sich Pilsudski empfohlen hätten, dessen Karriere durch den Konflikt mit dem zaristischen Rußland gekennzeichnet war und der sich bis 1916 um die Zusammenarbeit mit Österreich-Ungarn und Deutschland gegen Rußland bemüht hatte. Er war 1919 bereit, ja begierig, in Rußland einzufallen, aber er wollte Denikin den Gewinn der Herrschaft über Rußland nicht ermöglichen. Daher sein Angebot an die Alliierten im September, den Bolschewismus für sie zu vernichten; er würde angreifen, wenn er der vollen Hilfe des Westens sicher und daher gewiß sein könnte, daß sein Wort und nicht das Denikins die endgültige polnisch-russische Regelung diktieren sollte. Als diese Hilfe verweigert wurde, suchte die polnische Regierung 1919 ihre Position nach Osten hin zu stärken, ohne die Rote Armee von der Niederwerfung der Gegenrevolution in Rußland abzulenken. Das seltsame Ergebnis waren Geheimverhandlungen zwischen polnischen und sowjetischen Vertretern, bei denen Pilsudski versprach, nicht anzugreifen, solange die Sowjetarmeen mit Denikin kämpften. Als Gegenleistung stimmte die Sowjetregierung der Besetzung weiterer Gebiete durch Polen zu. Inzwischen bereitete sich Pilsudski darauf vor, seine Wünsche auf kriegerischem Wege durchzusetzen – aber erst nach der Überwältigung Denikins. Es ist möglich, daß Lenin und die Bolschewisten ihr Überleben Pilsudski zu verdanken hatten.44 Ende 1919 bot die Sowjetregierung den Polen einen endgültigen Friedensschluß an, wobei sie auf die Beibehaltung der derzeitigen Linie zwischen den polnischen und russischen Heeren anspielte. Pilsudski versuchte, den Standpunkt Englands und Frankreichs zu erfahren. Würden sie Polen helfen, Frieden zu schließen? Würden sie Polen helfen, Krieg zu fuhren? Der Sinn der Antwort, die er bekam, war dunkel: Die Alliierten würden Polen nicht abraten, Frieden zu schließen, aber sie würden selbst keine diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetregierung anknüpfen; sie würden Polen nicht raten, Rußland anzugreifen, falls aber Rußland Polen innerhalb seiner »rechtmäßigen Grenzen« angriffe, würden sie Polen helfen.45 Angesichts wachsender sowjetischer Truppenkonzentrationen beschloß Pilsudski loszuschlagen, forcierte seine Vorbereitungen, und die polnische Offensive begann Ende April 1920. Am 8. Mai wurde Kiew genommen. Anfang Juni führte die Rote Armee einen Gegenangriff durch und zwang die Polen binnen einer Woche, Kiew zu räumen. Während der beiden folgenden Monate rückten die Sowjettruppen mit ununterbrochener Schnelligkeit vor, und als Anfang August die russischen Heere sich Warschau näherten, schien der Untergang Polens und damit der Zusammenbruch des Friedens von Paris und vielleicht der Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft in Deutschland und Europa zum Greifen nahe. Mitte August schlug Pilsudski zurück, und die Sojwetarmeen brachen zusammen. Diesmal benutzten die Polen den Sieg, um zu einer Regelung mit Sowjetrußland zu gelangen, denn Pilsudski fühlte sich verpflichtet, den polnischen Vormarsch nach Osten anzuhalten, »weil es der Nation an moralischer Stärke fehle«.46 Angesichts der Hungersnot im

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Innern und der Notwendigkeit, sich mit Wrangel, dem letzten Kriegführenden der Weißen in Rußland, auseinanderzusetzen, war die Sowjetregierung ebenfalls kompromißbereit. Das Ergebnis war das Rigaer Abkommen vom Oktober 1920, das im März 1921 in einen förmlichen Vertrag aufgenommen wurde. Dadurch wurde eine Grenze zwischen Polen und Rußland vereinbart, die zwar östlich der von den Alliierten 1919 gezogenen sogenannten Curzon-Linie verlief, den Polen jedoch weit weniger als das polnische Gebiet von 1772 gab. Die sowjetische Niederlage war vor allem die Folge der unzulänglichen Ausrüstung und der mangelhaften Nachschubwege der Russen. Sie stellten gegen Polen ungefähr 360000 Mann auf, von denen nur rund 50000 an der entscheidenden Schlacht teilnahmen, obwohl im Oktober 1920 die Rote Armee eine Gesamtstärke von über fünf Millionen Mann hatte. Sodann waren die beiden Linien, auf denen die Rote Armee in Polen einrückte, zu weit voneinander getrennt, als daß sie eine gegenseitige Unterstützung ermöglicht hätten: Die russischen Armeen in Südpolen arbeiteten strategisch nicht mit den nördlichen Armeen zusammen, die auf Warschau marschierten. Ferner erwies sich der Gedanke, die Revolution auf den Bajonetten zu exportieren, als trügerisch, da eine Revolution in Polen ausblieb. Schließlich lenkte die konterrevolutionäre Offensive, die Wrangel von der Krim aus unternahm, die Aufmerksamkeit der Sowjets im Juli und August ab, obwohl andererseits das Ende des polnischen Krieges die rasche Vernichtung von Wrangels Streitkräften sicherte.47 Die Folgen dieses kurzen Feldzuges waren von außerordentlicher Bedeutung in der Nachkriegswelt. In Rußland selbst festigte der Krieg mit Polen das bolschewistische Regime, denn der Konflikt mit den Polen erweckte einen Geist patriotischer Leidenschaft zugunsten des Bolschewismus. Auf der anderen Seite jedoch offenbarte er die Schwäche Sowjetrußlands und verwies Ideen von einem großen Vormarsch des Sowjetkommunismus nach Westen in die Schranken. Er zeigte, daß Sowjetrußland gezwungen war, in einer von Grund auf feindlichen Welt, die noch nicht umgestürzt werden konnte, nach dem Überleben zu trachten, und daß dieses Überleben gebieterisch eine Lösung der russischen Wirtschaftsprobleme forderte. Anfang der zwanziger Jahre fiel die Produktion der russischen Großindustrie auf weniger als ein Fünftel der Vorkriegszahlen. Die Bauern weigerten sich, landwirtschaftliche Erzeugnisse abzugeben, ohne etwas dafür zu erhalten, und in den Städten brach Hungersnot aus. Für den Rest des Jahrzehnts und einen großen Teil des folgenden waren die Energien des Sowjetregimes voll in Anspruch genommen durch das Bemühen um wirtschaftliches Wachstum. Infolgedessen war die russische Politik nach dem Krieg mit Polen defensiv, mehr darauf gerichtet, sich die übrige Welt vom Leibe zu halten, als sie zu ändern. Die Sowjetunion wurde ähnlich wie die Vereinigten Staaten von Amerika, wenn auch aus ganz anderen Gründen, der große Abwesende der europäischen Politik und der Weltpolitik, und die zunehmend künstliche Herrschaft der westeuropäischen Mächte, nämlich Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands, in der Weltpolitik zog sich bis in die

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vierziger Jahre hin. Eine neuerliche Konfrontation Rußlands mit Deutschland wurde verschoben, und bis Hitler einen anderen Kurs einschlug, konnte Deutschland, wie wir sehen werden, mit Rußland wie mit einem Freund und Verbündeten umgehen. Der Vertrag von Riga steht also hinsichtlich der Entscheidung der Geschicke der Welt zwischen den Kriegen in einer Reihe mit dem Vertrag von Versailles. Der eine beruhte auf der deutschen Niederlage, der andere auf der Schwäche Rußlands, so daß die Stabilität der europäischen Ordnung fast mit Sicherheit nur provisorisch und fragwürdig war. Der russisch-polnische Krieg zwang die übrigen europäischen Mächte, mit einiger Dringlichkeit zu erwägen, welches ihre Politik gegenüber der Sowjetunion sein solle, und die Ergebnisse des Krieges zeigten, daß man von der Aussicht auf eine wirksame antibolschewistische europäische Koalition 1920 noch weiter entfernt war als 1919. England und Frankreich blieben durch ihr Bündnis miteinander verbunden; jede der beiden Mächte war weiterhin besorgt, die Deutschland-Politik der anderen zu beeinflussen, was als ein lästiger Hemmschuh für beide wirkte, den zu beseitigen die Regierungen beider Staaten jedoch nicht wagten, aus eigenem Interesse, aber auch deshalb, weil sowohl in England als auch in Frankreich ein echtes Gefühl für gegenseitige Zusammenarbeit bestand. Das Bündnis funktionierte durch Konferenzen und Diskussionen, in deren Verlauf jede der beiden Mächte die andere von der Gültigkeit ihrer eigenen Politik zu überzeugen versuchte. Nur in drei Monaten des Jahres 1920 fand keine Begegnung zwischen Lloyd George und dem französischen Président du Conseil – Clemenceau, Millerand oder Leygues – statt. Bei diesen Zusammenkünften waren oft Vertreter aus Italien, manchmal aus Japan und gelegentlich amerikanische Beobachter zugegen. Doch gingen den Vollkonferenzen der Alliierten gewöhnlich englisch- französische Gespräche voraus, bei denen, mit wechselnden Graden des Erfolgs, eine gemeinsame Linie des Vorgehens gesucht wurde.48 Eine gemeinsame Politik gegenüber Rußland zu erreichen, erwies sich als zunehmend schwieriger. Lloyd George war nie von der Nützlichkeit einer Intervention in Rußland überzeugt gewesen. Seit Anfang 1920 drängte er auf eine Regelung mit der Sowjetregierung sowie auf die Wiederaufnahme des Handels mit Rußland, und im Laufe des Jahres suchte er hartnäckig, sich der Beschränkungen, die Frankreich für diese Maßnahmen durchgesetzt hatte, zu entledigen. So schlug er im Januar in Paris vor, Schritte zur Wiederherstellung des Handels mit Rußland zu unternehmen. Dabei argumentierte er, die durch das Fehlen russischer Exporte verursachte Abhängigkeit von amerikanischem Getreide verzerre die internationalen Wechselkurse und führe zu hohen Preisen in Europa, und »in dem Augenblick, da der Handel mit Rußland aufgenommen würde, würde der Kommunismus weichen«. Bequemerweise könne der Handel über die russischen Genossenschaften geleitet werden, die (theoretisch) vom Sowjetregime unabhängig waren, und auf diese Weise werde, so wurde behauptet, die Blockade Sowjetrußlands ohne jede »Änderung in der Politik der

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alliierten Regierungen gegenüber der Sowjetregierung« aufgehoben. Im März forderte Lloyd George, daß zwischen Rußland und seinen Nachbarn Friede geschlossen werde – einen Monat, bevor Polen angriff. Das Bestreben Englands, den Welthandel durch die Beendigung politischer Konflikte wieder zu beleben, begann sich über alle anderen Sorgen hinwegzusetzen. Lloyd George erlangte im April in San Remo die Zustimmung der Alliierten zu dem Gedanken, mit den Repräsentanten Rußlands über Handel zu sprechen, und Ende Mai begannen in London Gespräche zwischen England, das durch Lloyd George selbst vertreten wurde, und einer sowjetischen Delegation. Zu diesem Zeitpunkt scherten die Franzosen aus, und es nahm keine französische Delegation teil. Millerand äußerte sich im Juni gegen jegliche politische Verhandlungen mit den Bolschewisten, sofern die Sowjetregierung die Verpflichtungen Rußlands gegenüber auswärtigen Regierungen nicht anerkenne, das heißt, sofern sie nicht darin einwillige, die Schulden Rußlands an ausländische Kapitalanleger einzulösen, von denen ein großer Teil Franzosen waren. Man kam zu dem Ergebnis, daß man sich darüber nicht streiten wolle, auch wenn die Meinungen verschieden seien, und die Londoner Gespräche gingen weiter.49 Um diese Zeit scheinen die Franzosen wieder einmal den Sturz des Bolschewismus in Rußland erhofft zu haben. Obwohl offiziell die Franzosen an der Linie der Alliierten festhielten, daß den Polen nicht zum Angriff geraten werden solle, ermutigte Frankreich Polen inoffiziell, den Krieg zu beginnen und ihn nach dem polnischen Sieg fortzusetzen. Zur gleichen Zeit unterstützte Frankreich Wrangel und ging so weit, ihn im August als den rechtmäßigen Herrscher Rußlands anzuerkennen, während England mit Wrangel nichts zu tun haben wollte.50 Frankreich scheint sogar auf Wrangel größere Hoffnungen gesetzt zu haben als auf Polen und leistete Polen nur widerwillig Hilfe, bis die Erfolge der Sowjets dessen Existenz bedrohten. Pilsudskis Verhalten im Jahre 1919 hatte wahrscheinlich französisches Mißtrauen gegen ihn genährt. Im Sommer 1920 war das einzige, worüber Lloyd George und Millerand sich hinsichtlich Polens einigen konnten, die Feststellung, daß der polnische Staat von Grund auf unzuverlässig und Pilsudski selbst sehr wahrscheinlich ein Verräter sei, der sich möglicherweise darauf vorbereite, mit Lenin eine Übereinkunft zu treffen und an der Spitze eines bolschewisierten Polen zu stehen. Lloyd George zog daraus die Schlußfolgerung, daß der russische Vormarsch zum Stehen gebracht werden solle, indem man die Sowjetregierung auf Kosten Polens entschädige – daß mit den Russen zu den bestmöglichen Bedingungen Friede geschlossen werden solle, während Millerand zu dem Schluß gelangte, daß Polen zum Kampfe veranlaßt werden solle, ob Pilsudski es wünschte oder nicht.51 Diese Meinungsverschiedenheit zwischen England und Frankreich wurde offenbar, als die Russen Mitte August ihre Bedingungen vorlegten: England drängte Polen zur Annahme, während die Franzosen zur Ablehnung rieten. Zwar wurde Lloyd George von Kamenev, der noch immer zu

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Handelsgesprächen in London weilte, über das volle Ausmaß der russischen Forderungen falsch informiert, aber auch diejenigen, die er selbst mit Kamenevs Billigung an die polnische Regierung weiterleitete, hätten bedeutet, daß Polen sich künftig nicht mehr hätte verteidigen können. Natürlich trat der Unterschied der Ansichten Englands und Frankreichs auch in der uneinheitlichen Auffassung hinsichtlich der Hilfeleistung für Polen zutage. Die beiden Länder konnten sich lediglich über die Entsendung einer englisch-französischen Delegation einigen, die über die Lage in Polen berichten sollte. Auf britischer Seite gehörte zu den Abgesandten Lord d’Abernon, der entmutigende Berichte über die Moral und Tüchtigkeit der Polen nach England sandte, und Sir Maurice Hankey, der Polen zur Annahme derjenigen britischen Einrichtung, die er selbst erfunden hatte, nämlich der des Kabinettssekretariats, zu veranlassen trachtete; dabei versuchten beide, die Polen zur ›Vernunft‹ zu bringen, das heißt, sie zu einer Regelung mit den Russen zu überreden. Zur französischen Delegation gehörte General Weygand, Fochs Stabschef, der im Westen ein derartiges Ansehen genoß, daß man annahm, der angeblich unzuverlässige Pilsudski werde nicht umhinkönnen, ihm den Oberbefehl über den Feldzug in Polen zu übertragen. Das tat Pilsudski nicht, und der polnische Sieg war, wie Weygand dargelegt hat, allein Pilsudskis Werk. Indessen wurde Weygand von Pilsudskis Gegnern in Polen und Millerands Anhängern in Frankreich als Retter Polens gepriesen.52 Hinsichtlich der tatsächlichen Lieferungen von Kriegsmaterial an Polen handelten England und Frankreich ganz unterschiedlich. Frankreich lieferte Ausrüstungen und erklärte der polnischen Regierung am 30. Juli 1920 sogar, eine sofortige Bezahlung sei nicht erforderlich. Nicht so die Engländer: Ende Juli beschloß die belgische Regierung, Waffen nach Polen zu senden, doch nur, falls England und Frankreich es auch täten, und auf Anfragen von Seiten des belgischen Botschafters in London kam die Antwort, solange Versuche unternommen würden, von den Russen einen Waffenstillstand zu erhalten, würden die Engländer nichts riskieren, was die Sowjetregierung »als eine direkte Zusammenarbeit mit Polen ansehen könnte«. Dementsprechend genehmigte die belgische Regierung die Entsendung von Waffen nicht und widersetzte sich scharfen Protesten von Seiten Frankreichs, das Belgien beschuldigte, gegen die Beschlüsse der Alliierten zu handeln. Aufs neue bat der französische Botschafter in London Lord Curzon, den britischen Außenminister, für die Genehmigung der britischen Regierung zu sorgen, Polen in den Besitz von Kriegsmaterial gelangen zu lassen, das gemäß dem Friedensvertrag den Alliierten übergeben wurde. Die Frage wurde am 2. August gestellt – erst am 13. August antwortete Curzon: »Bis die polnisch-russischen Verhandlungen endgültig gescheitert sind, fühlt sich die Regierung Seiner Majestät zu ihrem Bedauern nicht in der Lage, diesen Vorschlag zu unterstützen.« Die britische Haltung zu den Lieferungen an Polen war von großer Bedeutung, denn Danzig stand zu dieser Zeit unter britischer Herrschaft, nämlich in dem Sinne, daß der vorläufige Administrator der künftigen Freien Stadt, Sir R. Tower, von der britischen Regierung ernannt

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worden war und, obwohl er strenggenommen von den Alliierten eingesetzt war, seine Anweisungen tatsächlich aus London erhielt und seine Blicke wegen militärischer Hilfe nach London richtete.53 Die für Polen vorgesehenen Lieferungen mußten über Danzig gehen, da Deutschland und die Tschechoslowakei sich weigerten, für Polen bestimmte Munition durch ihr Gebiet transportieren zu lassen. Hinsichtlich Danzigs war das Verhalten der britischen Regierung zweideutig und ausweichend. Die Bevölkerung dieser Stadt war zum weitaus überwiegenden Teil deutsch und erfüllt mit bitterer Feindseligkeit gegenüber Polen und der polnischen Bevölkerung, die allerdings keine Neigung zeigte, Provokationen gegenüber den nationalen Empfindungen der Deutschen zu vermeiden. Pazifismus, Sympathie für Sowjetrußland und vor allem Abneigung gegen Polen bewog deutsche Arbeiter zu der Weigerung, für Polen bestimmte Munition anzurühren. Als Lloyd George entschiedene Maßnahmen androhte, gab die Gewerkschaft der Arbeiter nach, jedoch erst nach der Schlacht bei Warschau. Fast einen Monat lang, Ende Juli und Anfang August, war Danzig für militärischen Nachschub gesperrt. Schwächliches Zaudern kennzeichnete in diesen Wochen die Haltung der verantwortlichen Stellen in England, und der britische Außenminister Curzon legte eine lässige Gleichgültigkeit an den Tag, wobei er darauf bestand, er selbst solle statt d’Abernons, der in Warschau war und dessen Interventionen die Entladung eines Schiffes ermöglichten, das Problem in die Hand nehmen.54 Alles in allem erwärmten sich weder die Engländer, die den Kampf der Polen behinderten, noch die Franzosen sehr für Pilsudski und seine Gefährten während ihrer großen Krise. Diese Tatsache hilft die spätere Tendenz dieser Männer erklären, eine nachdrücklich unabhängige Politik zu verfolgen und danach zu streben, sich – töricht genug – allein auf Polens Fähigkeit zum Überleben zu verlassen. Die Londoner Handelsgespräche mit Rußland wurden nach dem Scheitern der in Richtung auf einen Waffenstillstand hin unternommenen Schritte im August abgebrochen und erst im Dezember wieder aufgenommen. Ein englisch-russisches Handelsabkommen wurde im März 1921 unterzeichnet. Obgleich die wirtschaftlichen Ergebnisse gering gewesen sein mögen, stellte der Vertrag, wie der russische Außenminister sagte, einen »Wendepunkt in der sowjetischen Außenpolitik« dar – er bedeutete die de facto-Anerkennung des Sowjetregimes durch England und markierte die Hinnahme friedlicher Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern durch die Sowjets, um so den wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands zu ermöglichen. Die Sowjetregierung versprach die Einstellung revolutionärer Propaganda in allen britischen Gebieten, und obwohl diese Zusage, unaufrichtig genug, nicht als bindend für die Kommunistische Internationale angesehen wurde, zeigte der Vertrag deutlich, daß die russische Außenpolitik sich nicht mehr auf die Revolution in anderen Ländern verließ.55

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Den bemerkenswertesten Auftrieb erhielt die Sowjetregierung in diesen Jahren aus Deutschland. Drei verschiedene mögliche Verhaltensweisen gegenüber den Bolschewisten wurden nach dem Kriege in Deutschland erörtert. Die erste bestand darin, dem Westen Deutschlands Dienste gegen die Sowjets als Entgelt für die Preisgabe der polnischen Ansprüche anzubieten; eine zweite bedeutete den Versuch, den Bolschewismus in Rußland zu vernichten und mit einem antibolschewistischen Rußland ein Bündnis gegen den Westen zu bilden; eine dritte hatte zum Ziel, Deutschland durch Zusammenarbeit mit den neuen Herren Rußlands zu stärken. Auf die Verfolgung der erstgenannten politischen Linie drängte General Groener im Frühjahr 1919.56 Die Feindseligkeit der Alliierten gegen Deutschland war zu groß, als daß etwas dabei hätte herauskommen können. Die Konzessionen, die Lloyd George Deutschland hinsichtlich Polens machte, bezweckten mehr, Deutschland schließlich mit dem Vertrag von Versailles nach Möglichkeit zu versöhnen, als eine sofortige Mitarbeit Deutschlands gegen Rußland zu gewährleisten, und sie gingen nicht weit genug, um die Gestalt des neuen Polen für deutsche Generäle tragbar zu machen. Die alliierten Forderungen nach dem deutschen Rückzug aus dem Baltikum zeigten erneut, daß die Alliierten lieber Polen als Deutschland zu ihrer europäischen Bastion gegen die Sowjets machen wollten. Der Auszug der deutschen Truppen aus dem Baltikum hemmte zwar die Aspirationen von Männern wie General von der Goltz, brachte sie jedoch nicht zum Verschwinden, sondern änderte vielmehr deren Zeitplan: erst sollte die Republik in Deutschland vernichtet, dann den Alliierten und den Bolschewisten Widerstand geleistet werden. Diesen Bestrebungen setzte im März 1920 das Scheitern des Kapp-Putsches ein Ende, der die Niederlage der wildesten Heißsporne unter den deutschen Nationalisten bedeutete. Kühlere und verständigere Köpfe konnten ihre Macht über die deutsche Außenpolitik wieder zur Geltung bringen, nämlich diejenigen, die die Tatsache der Schwäche Deutschlands erkannten und die Notwendigkeit eines Aufschubs sahen, währenddessen Deutschland stark genug würde, um die Nachkriegsregelung anzufechten. Die Haltung der deutschen Armee gegenüber außenpolitischen Fragen war wichtig, denn es war für die deutsche Regierung nach dem Kriege unmöglich, die Wünsche der Armee zu ignorieren. Diese bedeutsame Tatsache resultierte aus den inneren Gefahren, die den republikanischen Regierungen in Deutschland von links und rechts drohten: von Kommunisten auf der einen Seite und von reaktionären Monarchisten sowie autoritär Gesinnten auf der anderen. Die ersteren konnten nicht in Schach gehalten werden ohne die Hilfe der Armee, und zum Lohn für ihren Widerstand gegen den Bolschewismus im Jahre 1918/19 behauptete diese erfolgreich ihre unabhängige Stellung gegenüber der Regierung. Unter diesen Umständen konnte die demokratische Republik ohne die Zustimmung der Armee nicht bestehen, und deren Gehorsam gegenüber der Regierung war bestenfalls zweifelhaft. So hielt sich die reguläre Streitmacht, die Reichswehr, abseits und blieb neutral, als die Freikorps und die aus dem Baltikum heimgekehrten

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Truppen unter Führung fanatischer Generäle im März 1920 versuchten, die Macht zu ergreifen, während der Streik der Gewerkschaften zum Scheitern des Putsches führte. Über die Hilfe der Reichswehr mußte verhandelt werden, die deutsche Regierung konnte nicht darauf zählen. Daher wurde nach dem Putsch General Reinhardt, der bereit gewesen war, die Regierung gegen Kapp und Lüttwitz, die Anführer des Putsches, zu unterstützen, des Kommandos über die Armee enthoben und durch General von Seeckt ersetzt, der mit Erfolg auf einer neutralen Haltung der Reichswehr bestanden hatte. Nach dieser Kapitulation vor der Unabhängigkeit der Armee stimmte die Regierung einem regelrechten Feldzug zu, den die Reichswehr gegen eben die Kräfte unternahm, die die Regierung unterstützt hatten – namentlich im Ruhrgebiet, wo Streiks, die als Antwort auf den Kapp-Putsch begonnen hatten, sich als eine Herausforderung des Militarismus in Deutschland und als Maßnahme zur Unterstützung des echten republikanischen Geistes und der Demokratie fortsetzten. Die Arbeiter glaubten zu Recht, daß die von der Reichswehr bei dem Putsch eingenommene Haltung gegenüber der Republik weniger als loyal gewesen sei. Deshalb kämpften sie gegen die Reichswehr und für die Schaffung einer echten republikanischen Armee. Die Regierung war gezwungen, die Bewegung als rein kommunistisch zu behandeln, was sie nicht war, und so die Auffassung der Reichswehr zu übernehmen; denn der Kapp-Putsch hatte gezeigt, daß bei voller Unterstützung der Armee ein Staatsstreich gelingen könnte.57 Die Wirkung des Kapp-Putsches bestand also in der erneuten Stärkung des Einflusses der Armee in Deutschland und innerhalb der Armee in der Stärkung des Einflusses General von Seeckts und derer, die wie er dachten. Seeckt, selbst Monarchist, war bereit, die Republik als zeitweiligen Notbehelf zu dulden, als einen Schirm, hinter dem Deutschland erneut erstarken konnte. Die Grundlage dafür mußte die Armee sein, und die Armee mußte von republikanischem Geiste und von äußerer Einmischung freigehalten werden. Der Vertrag von Versailles, der die Macht Deutschlands beschränkte, mußte stillschweigend umgangen werden, bis er offen beseitigt und Polen zerstört werden konnte. Hilfe aus dem Ausland war nötig, Rußland konnte sie leisten. Dieser Gedanke war im Nachkriegsdeutschland ziemlich weit verbreitet. Seeckt war einer der ersten, die glaubten, daß die Gültigkeit dieser Idee nicht von der Beschaffenheit des russischen Regimes abhänge. Schon im Januar 1920 bezeichnete Seeckt eine politische und wirtschaftliche Einigung mit Sowjetrußland als »unverrückbares Ziel unserer Politik«, und er glaubte, dieses Ziel sei mit der rigorosen Unterdrückung des Bolschewismus in Deutschland absolut vereinbar. Andere waren aus anderen Gründen an Rußland interessiert, unter ihnen Walther Rathenau, der Sohn des Gründers der großen Elektrofirma AEG. Er hatte angeblich die Entsendung von Industriellen nach Rußland organisiert, die in der Mitte des Jahres 1919 von Deutschland abreisten, und bildete Anfang 1920 einen Kreis von Industriellen zum Studium Rußlands.58

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Der russisch-polnische Krieg weckte in Deutschland gespanntes Interesse. Niemandem in Deutschland wäre es eingefallen, Polen zu helfen, dem verachtenswerten Staat mit seinen ungerechten Grenzen und seinen absurden Ansprüchen in Schlesien. Doch sollte Deutschland Rußland helfen? Seeckt hoffte, Polen würde verschlungen,59 aber was würde Rußland dann tun? »Neutralität« im polnischen Krieg wurde förmlich von Simons, dem deutschen Außenminister, im Juli 1920 verkündet. Sie war der Preis, den Deutschland Rußland als Entgelt für den sowjetischen Verzicht auf ein Eingreifen in Ostpreußen und als Gegenleistung für die erhoffte Hinnahme der Vorkriegsgrenzen Deutschlands durch Rußland anbot. Die deutsche Neutralität war für die Sowjetregierung von entscheidender Bedeutung, da militärische Lieferungen für Polen nicht durch Deutschland transportiert werden konnten. Abteilungen der Roten Armee wurden vereinbarungsgemäß zurückgezogen, wenn sie in Ostpreußen eingedrungen waren. So trat ein tatsächliches, wenngleich nicht schriftlich fixiertes sowjetisch- deutsches Bündnis ins Leben, als die Rote Armee auf Warschau vorrückte; aber es fiel natürlich auseinander, als die Russen zurückgeworfen wurden. Gleichviel, obwohl Hoffnungen auf eine sofortige Teilung Polens und auf die Zerstörung des Werks von Versailles zunichte gemacht wurden, blieben doch wirtschaftliche – und militärische – Gründe für das Interesse Deutschlands an Rußland bestehen. Was auf sowjetischer Seite die Verdüsterung der durch den polnischen Krieg belebten Hoffnung auf sofortige Verbreitung der Revolution im Ausland bedeutete, formulierte Lenin mit den Worten: »Unsere Existenz hängt in erster Linie von dem Bestehen einer radikalen Spaltung im Lager der imperialistischen Mächte ab, und zweitens von der Tatsache, daß der Sieg der Entente und der Friede von Versailles die große Mehrheit der deutschen Nation in eine Lage gebracht haben, in der sie nicht leben kann. [...] Die deutsche bürgerliche Regierung haßt die Bolschewisten wütend, aber die durch die internationale Lage bedingten Interessen treiben sie gegen ihren Willen zum Frieden mit Sowjetrußland.«60 Mochte nun das Bestreben Deutschlands, den Stahlexport nach Rußland anzukurbeln, zur Entwicklung eines besonderen russisch-deutschen Verhältnisses führen oder nicht, die Rußland-Politik Seeckts stellte die Zusammenarbeit zwischen den herrschenden Kräften in beiden Ländern in einem solchen Ausmaße sicher, daß die Verständigung heimlich vonstatten gehen mußte; denn während der russische Markt in Verbindung mit anderen westlichen Ländern genutzt werden konnte, konnte die russische Hilfe für eine heimliche deutsche Wiederaufrüstung, nach der Seeckt Ausschau hielt, natürlich nur hinter dem Rücken der britischen und der französischen Regierung sichergestellt werden. Im Dezember 1920 begannen Gespräche zwischen Kopp, dem russischen Vertreter in Berlin, der im November 1920 zu Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen eingetroffen und zur Erörterung weiterreichender Fragen geblieben war, auf der einen Seite und den deutschen militärischen Stellen sowie gewissen Industriellen auf der anderen Seite. Die

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Gespräche bezweckten den Wiederaufbau der russischen Rüstungsindustrie mit deutscher Unterstützung als Gegenleistung für russische Hilfe für die Reichswehr, und Seeckt richtete eine geheime Dienststelle im Reichswehrministerium zur Führung der Verhandlungen ein. Am Anfang des Frühjahrs wurde eine Vereinbarung über die Herstellung von Waffen in Rußland erzielt, die für Deutschland verboten waren, und zwar mehrere Monate, bevor der deutsche Reichskanzler auch nur davon unterrichtet wurde, daß die Gespräche im Gange waren.61 Auf wirtschaftlichem Gebiet ermutigte das englisch-sowjetische Handelsabkommen die deutsche Regierung, im Mai 1921 ein ähnliches Abkommen zu schließen und dem Austausch offizieller Vertreter zwischen Deutschland und Rußland zuzustimmen. Ende des Jahres wurde jedoch das Problem für Deutschland akut, ob es beim Ausbau des Handels mit Rußland und bei der Entwicklung der russischen Wirtschaft durch Investitionen und technische Beratung mit anderen Mächten zusammenarbeiten oder allein vorgehen sollte. Die Frage war von großer Tragweite: Deutschland konnte eine Milderung des Vertrages von Versailles durch Zusammenarbeit mit dem Westen anstreben oder mit Rußland auf die Beseitigung des Vertrages hinarbeiten. Bis zur Veränderung der internationalen Szene im Jahre 1924 gab es keinen Weg, die eine und die andere Politik zugleich zu verfolgen. Jedes Ereignis, das auf die Unmöglichkeit der Zusammenarbeit mit Frankreich schließen ließ, wie das Ergebnis der Volksabstimmung in Oberschlesien und der Aufstieg Poincarés zum französischen Ministerpräsidenten, verstärkte daher die Tendenz zur russisch-deutschen Zusammenarbeit. Wieder waren die Ansichten unter den deutschen Geschäftsleuten geteilt. Während die Schwerindustrie eifrig bestrebt war, die in der Vorkriegszeit innegehabte Vorrangstellung auf dem russischen Markt wiederzugewinnen, waren andere Gruppen unter den deutschen Produzenten verhältnismäßig enger mit dem Westen verbunden.62 Im Herbst 1921 entwickelte der französische Finanzminister Loucheur den Plan einer französisch- deutschen Zusammenarbeit zum Ausbau der deutschen Industrie, um so die französischen Reparationsforderungen realistischer zu machen. Loucheurs Entwurf weitete sich aus zu dem Plan einer alliierten Zusammenarbeit bei der gemeinsamen wirtschaftlichen Nutzung Rußlands. Auf der alliierten Konferenz von Cannes im Januar 1922 schlug Lloyd George eine allgemeine »Wirtschafts- und Finanzkonferenz« vor, auf der auch Deutschland und Rußland vertreten sein sollten.63 Zu diesem Zeitpunkt kam Poincaré als französischer Ministerpräsident an die Macht. Dieses Ereignis verurteilte die Wirtschaftskonferenz von Genua von vornherein zum Scheitern, da Poincaré nicht die Absicht hatte, mit Deutschland zusammenzuarbeiten. Infolgedessen brachte die im April und Mai 1922 abgehaltene Konferenz von Genua statt allgemeiner wirtschaftlicher Einigung und Zusammenarbeit eine förmliche sowjetisch-deutsche Übereinkunft hervor, den Vertrag von Rapallo. Dieser Vertrag entsprang der Furcht seiner Urheber: Jeder der beiden Partner wünschte den anderen an feindlichen Maßnahmen zu hindern. Die Russen standen jedem

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Plan internationaler Zusammenarbeit bei Wirtschaftskontakten mit Rußland mißtrauisch gegenüber, denn die Sowjetpolitik empfand unter anderem tiefe Besorgnis vor der Bildung eines feindlichen politischen Blocks. Die Russen sahen es weit lieber, daß westliche Geschäftsleute im Wettbewerb miteinander standen, als daß sie sich zusammenschlossen, um Bedingungen zu diktieren. Auf deutscher Seite führten die von den Russen sorgfältig genährten Befürchtungen einer französisch- sowjetischen Verständigung zur Unterzeichnung des Vertrages von Rapallo. Die Deutschen wurden in dem Glauben bestärkt, die Russen hätten von Poincaré weitgehende Angebote erhalten, daß Frankreich Rußland Anleihen gewähren und sogar Polen fallenlassen würde, wenn Rußland sich an der Aufrechterhaltung des Vertrages von Versailles und der Unterdrückung Deutschlands beteiligte. Das Recht Rußlands, von Deutschland Reparationen zu bekommen, war im Vertrag von Versailles wohlweislich gewahrt worden. Selbst unter diesen Umständen waren die deutschen Delegierten geteilter Meinung. Dem Außenminister Rathenau lag daran, keinen offenen Bruch mit den Westmächten zu riskieren. Erst als der Verlauf der Vorbesprechungen in Genua darauf schließen ließ, daß England und Frankreich im Begriffe seien, mit Rußland eine separate Vereinbarung abzuschließen, stimmte er der Unterzeichnung zu. Der Gang der Erörterungen in Genua zeigt, daß Rapallo nicht die direkte Folge des Drucks von Seiten General von Seeckts war – dieser war überrascht, als er die Nachricht hörte. Rapallo war vielmehr das Ergebnis einer geschickten Ausnutzung der Umstände durch die Russen. Tatsächlich nutzte Rapallo, wenigstens auf kurze Sicht, den Russen mehr als den Deutschen. Für die Russen bedeutete es, daß es keine antirussische europäische Koalition geben werde, für die Deutschen, daß Rußland sich an der Unterdrückung Deutschlands nicht beteiligen werde – aber Frankreich war in jedem Falle bereit und imstande, das allein zu tun. Es war sogar wahrscheinlicher, daß Rapallo die Franzosen zum Handeln veranlaßte, als daß es sie zurückhielt. Der tatsächliche Gewinn für Deutschland war langfristig: Rapallo schaffte eine Atmosphäre des Vertrauens zwischen Deutschland und Rußland, die Seeckt ausnutzte, um die Hilfe Rußlands beim Aufbau der Reichswehr als Grundlage einer zukünftigen großdeutschen Armee zu erlangen. Um diesem Zweck zu dienen, mußte die Reichswehr einen hohen Ausbildungsstand erhalten und mit modernen Waffen und deren taktischen Möglichkeiten gründlich vertraut gemacht werden, was man nicht erreichen konnte, ohne den Vertrag von Versailles zu umgehen und der Aufsicht der Alliierten zu entkommen. Wahrscheinlich erklärten sich im Sommer 1922 die Russen bereit, der deutschen Armee Militärstützpunkte zur Ausbildung von Angehörigen der Reichswehr im Fliegen, in der Panzertaktik und in der Gaskriegführung zur Verfügung zu stellen.64 Es ist jedoch möglich, daß sogar auf militärischem Gebiet Rußland mehr gewann als Deutschland: militärische und technische Beratung von deutscher Seite ermöglichte es der Roten Armee, sich rascher zu modernisieren, als sie es sonst hätte tun können.

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Deutsche Soldaten halfen bei der Ausbildung ihrer furchtbarsten zukünftigen Feinde. Nichts zeigt deutlicher die Kluft zwischen den Bestrebungen Seeckts und denen Hitlers: Seeckts Tätigkeit ging davon aus, daß Polen Deutschlands wahrer Feind und Rußland infolgedessen Deutschlands natürlicher Verbündeter sei, während Hitler es umgekehrt sah. Seeckt dachte an das Bismarck-Reich, das mit einem mächtigen Rußland in Koexistenz leben konnte, Hitler an ein Großdeutschland, das dazu nicht in der Lage war. 4. Die Konsolidierung des Friedens: England, Frankreich und das deutsche Problem I. Jahre der Spannung – Die Frage der Reparationen; Probleme der Grenzziehung und der deutschen Abrüstung Das englisch-französische Bündnis überlebte die Meinungsverschiedenheiten über Polen, Rußland, die Türkei und Syrien, weil die Hauptsorge beider Mächte Deutschland galt. Jedes der beiden Länder fürchtete, das andere könnte, wenn es sich selbst überlassen bliebe, das deutsche Problem Wiederaufleben lassen, könnte eine Situation herbeiführen, in der eine erneute Ausweitung deutscher Macht und deutschen Machtstrebens eine gewaltsame Beschränkung erfordern würde. Für Frankreich schien die Sicherheit in der Durchsetzung des Vertrags von Versailles zu liegen, während die britische Politik nach der Versöhnung Deutschlands durch eine Revision oder wenigstens durch eine milde Anwendung des Vertrages strebte. So standen die französischen Staatsmänner vor der mißlichen Entscheidung zwischen der gewaltsamen Durchsetzung des Vertrags auf der einen und der Freundschaft und Hilfe Englands auf der anderen Seite. Es ist im großen und ganzen richtig, zu sagen, daß die französische Politik sich bis 1924 für die Aufrechterhaltung des Vertrags und nach 1924 für die britische Hilfe entschieden habe. Zwar suchten vor 1924 die leitenden französischen Politiker die Mitarbeit Englands zu erlangen, aber sie waren eher bereit, ohne sie auszukommen oder sie für selbstverständlich zu halten, als in wesentlichen Fragen nachzugeben. Nach 1924 zeigten sich die französischen Regierungen mehr und mehr abgeneigt, ohne vorherige Befragung Englands Maßnahmen gegen Deutschland zu ergreifen. Meinungsverschiedenheiten zwischen England und Frankreich entstanden über vier Fragen; es waren dies die Erzwingung von deutschen Reparationszahlungen, die Maßnahmen zur Gewährleistung der deutschen Abrüstung, die Oberschlesien-Frage und die für die Beibehaltung der deutschen Grenzen, besonders der deutsch-polnischen Grenze, vorzusehenden Garantien. Die französischen Regierungen waren in diesen Jahren willens, in deutsches Gebiet einzudringen, um Deutschland zu zwingen, und bestanden auf besonderen britischen Verpflichtungen für die Integrität des polnischen Gebiets. In den zwanziger Jahren waren die deutsch-polnischen Grenzen diejenigen,

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deren Rechtmäßigkeit von der deutschen öffentlichen Meinung am entschiedensten bestritten wurde, so daß Frankreich schon 1921 ein festes Defensivbündnis mit Polen, ein ähnliches, aber loseres Abkommen mit der Tschechoslowakei dagegen erst 1924 abschloß.65 Allerdings fürchtete die Tschechoslowakei zu dieser Zeit die Feindschaft Ungarns mehr als die Deutschlands. Diese Furcht wurde von Jugoslawien und Rumänien geteilt, deren Grenzen ebenfalls von Ungarn beanspruchtes Land einschlossen. 1920/1921 vereinigten sich diese Länder in der sogenannten ›Kleinen Entente‹, die Ungarn in Schach halten sollte. Der französisch-tschechische Vertrag von 1924 verband Frankreich mit dieser Gemeinschaft, und es entstand eine Mächtegruppe – Frankreich, Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien – die auf die Pariser Verträge festgelegt war. Für diese Gruppe wünschte Frankreich von England gewisse Zusagen, besonders für Polen, das am unmittelbarsten bedrohte Land; aber England, zwar bereit, Frankreich und Belgien zu verteidigen, sträubte sich, in Osteuropa weiterreichende Verpflichtungen einzugehen als solche, die in der Satzung des Völkerbundes enthalten waren. Zum ersten offenen Zusammenstoß zwischen England und Frankreich kam es wegen der militärischen Bestimmungen des Vertrags von Versailles. Gemäß dem Vertrag wurde eine entmilitarisierte Zone geschaffen, die durch eine 50 Kilometer östlich des Rheins verlaufende Linie begrenzt wurde und innerhalb derer Deutschland keine Truppen oder militärische Einrichtungen haben sollte. Provisorisch war der deutschen Regierung gestattet worden, einige Truppen zur Wahrung der Ordnung in dieser Zone zu unterhalten. Im März 1920 bat die Reichsregierung um die Erlaubnis, mehr Militär ins Ruhrgebiet zu entsenden, um den Aufstand von links zu unterdrücken, der durch den Kapp-Putsch heraufbeschworen worden war. Millerand regte zuerst an, die Alliierten sollten selbst die Ordnung wiederherstellen, und machte dann den Vorschlag, sie sollten als Garantie für den schließlichen Rückzug der deutschen Truppen aus dem Ruhrrevier andere Teile des deutschen Gebiets in Besitz nehmen. Die Engländer lehnten diesen Vorschlag ab, und während hitzige Debatten vor sich gingen, rückten deutsche Truppen ein. Die Antwort war die Besetzung von Frankfurt, Darmstadt und drei kleineren Städten durch französische Einheiten am 6. April, trotz britischer Einwände und Proteste. Offenbar hatte Millerand, gedrängt von Foch, nicht nur Gegenmaßnahmen gegen die Verletzung der entmilitarisierten Zone durch Deutschland im Sinn, sondern beabsichtigte darüber hinaus klarzumachen, daß Frankreich, notfalls allein, Gewalt anwenden würde, um Deutschland zur Erfüllung des Vertrags von Versailles in seiner Gesamtheit zu veranlassen. Als Millerand dieses Vorgehen gegenüber der britischen Regierung rechtfertigte, schrieb er von den »höheren und dauernden Interessen der Zivilisation« und, mehr auf Einzelheiten eingehend, von dem Versäumnis Deutschlands, Kriegsverbrecher auszuliefern, Kohle zu liefern oder abzurüsten. »Ermißt [die] britische Regierung nicht [die] Gefahr dieser fortlaufenden und systematischen Rechtsbrüche? Wann wird sie Deutschland Einhalt gebieten?

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Wenn sie es nicht tut, muß Frankreich es tun.« Die Angelegenheit kam zum Abschluß, als Millerand versprach, in Zukunft nicht ohne vorherige Zustimmung der Alliierten zu handeln.66 Ebenso bedeutsam war die oberschlesische Frage. Man wird sich erinnern, daß Lloyd George auf der Abhaltung einer Volksabstimmung bestanden hatte, um die Wünsche der Bevölkerung dieses wichtigen Industriegebietes festzustellen, statt es einfach Polen zu übergeben, wie der erste Entwurf des Vertrags von Versailles vorgesehen hatte. Die Volksabstimmung fand am 20. März 1921 statt. Um diese Zeit hatten die Engländer die feste und berechtigte Überzeugung, daß der französische Vorsitzende der alliierten Abstimmungskommission, General Le Rond, es völlig an Unparteilichkeit fehlen lasse. Le Rond duldete oder förderte sogar die zweifelhafte Tätigkeit Korfantys, des polnischen Agenten in Oberschlesien, und der diesem zur Verfügung stehenden bewaffneten Banden. Die Engländer versuchten vergeblich, die Abberufung Le Ronds und die Ausweisung Korfantys vor der Volksabstimmung zu erreichen – der britische Einfluß war durch das Fehlen britischer Truppen in dem Gebiet und durch die konsequente Beherrschung der dort vorhandenen alliierten Streitkräfte durch die Franzosen beschränkt.67 Das Plebiszit selbst ergab auf die Frage nach dem politischen Schicksal Oberschlesiens eine unklare Antwort, was leicht bei Volksabstimmungen der Fall ist, wenn sie in Gebieten abgehalten werden, wo die Wünsche der Bevölkerung wirklich ungewiß sind. Im ganzen Abstimmungsgebiet wurden etwa 700000 Stimmen für Deutschland und etwa 480000 für Polen abgegeben. Die Deutschen forderten daher das ganze Gebiet, die Polen hingegen bestanden darauf, daß die Teile, in denen eine polnische Mehrheit war, an Polen gehen sollten und daß, um dies zu ermöglichen, auch einige Gemeinden mit deutscher Mehrheit Polen gegeben werden müßten. Diese Gemeinden umfaßten nun gerade die wichtigsten Industriebezirke – im allgemeinen stimmten die Städte im Industriegebiet für Deutschland, die sie umgebenden ländlichen Gegenden dagegen für Polen. Der britische und der italienische Kommissar für die Volksabstimmung sprachen sich in ihren Berichten dafür aus, das gesamte Industriegebiet bei Deutschland zu lassen, der französische Vertreter Le Rond befürwortete eine Lösung, die den von Polen beanspruchten Grenzlinien weitgehend entsprach. Als Korfanty die Führung eines Aufstandes übernahm, der offensichtlich den Zweck hatte, die polnischen Ansprüche zu unterstreichen, und als die deutsche Regierung Truppen zur Unterdrückung der Revolte anbot, verwarfen die Franzosen das Angebot; Lloyd George riet zur Annahme. Während Polen und deutsche Freikorps in Oberschlesien kämpften, wurde das Schicksal des Gebiets von England und Frankreich bis August erörtert. Dann vereinbarten Briand und Lloyd George, der versucht hatte, von dem Industriegebiet so viel wie möglich für Deutschland zu retten, die Frage dem Völkerbund zu unterbreiten – ein Symptom der Geschmeidigkeit, mit der Briand weiterhin die englisch-französische Zusammenarbeit vor dem völligen Erlöschen bewahrte, solange er französischer

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Außenminister blieb. Der Schiedsspruch des Völkerbundes vom Oktober 1921 teilte das umstrittene Industriegebiet zwischen Polen und Deutschland.68 Ende 1921 suchte Briand eine feste Grundlage für ein harmonisches englisch-französisches Verhältnis zu schaffen, indem er über ein förmliches Defensivbündnis mit England verhandelte. Das von England und Amerika 1919 gegebene Versprechen, Frankreich gegen Deutschland zu verteidigen, wofür Frankreich seine Forderung nach einer ständigen Besetzung des linken Rheinufers aufgegeben hatte, war hinfällig geworden, da die Vereinigten Staaten die Ratifizierung der Friedensverträge unterlassen hatten. Briand erstrebte eine britische Garantie, aber eine weiterreichende als die von 1919. Vor allem wünschten die Franzosen zwei Dinge: das Versprechen Englands, bei der Verteidigung Polens zu helfen, und eine Verpflichtung der Briten, Frankreich bei der Aufrechterhaltung der entmilitarisierten Zone zu unterstützen. Was den ersten Punkt anging, so vertraten die Franzosen die Ansicht – um es mit den Worten ihres Botschafters in London, Comte de St. Aulaire, zu sagen –, ohne diese Zusage würde »ein solches Bündnis uns wenigstens gegen ein Sedan, wenn nicht gegen ein zweites Charleroi schützen, aber nicht gegen ein polnisches Sadowa, das für Deutschland die beste Vorbereitung für ein zweites Sedan wäre«*. Mit anderen Worten: Deutschland könnte bestrebt sein, als Auftakt zu einem Angriff auf Frankreich Polen zu zerstören, so daß England, wenn es Frankreich verteidigen wollte, gemeinsam mit Frankreich auch Polen verteidigen sollte. Die britische Antwort, wie sie Briand von Lloyd George mitgeteilt wurde, verdient eine ausführliche Wiedergabe, denn sie enthielt die britische Polen- und Osteuropa-Politik im allgemeinen, die bis März 1939 gültig blieb: »Hinsichtlich der Westgrenze Deutschlands wäre es möglich, Frankreich eine vollständige Garantie gegen einen Einfall zu geben. Das englische Volk sei an den Ereignissen an der Ostgrenze Deutschlands nicht sehr interessiert; es sei nicht bereit, sich in Streitigkeiten verwickeln zu lassen, die wegen Polens, Danzigs oder Oberschlesiens entstehen könnten. Im Gegenteil bestehe eine allgemeine Abneigung, in diese Fragen irgendwie hineingezogen zu werden. Das englische Volk glaube, die Bevölkerung in jenem Teil Europas sei unbeständig und leicht erregbar, sie könnte jederzeit einen Kampf beginnen, und es könnte sehr schwer sein, Recht und Unrecht bei dem Streit zu entwirren. Er [Lloyd George] glaube daher nicht, daß dies Land [England] geneigt sei, Garantien zu gewähren, die sie [die Engländer] unter irgendwelchen Umständen in Kampfhandlungen in diesem Teil der Welt verwickeln könnten. Andererseits, wiederholte er, würde die öffentliche Meinung gern eine Garantie gegen einen deutschen Angriff auf französischen Boden geben.« Tatsächlich wollte England die Friedensregelung von 1919 nicht als Ganzes verteidigen; wenn Frankreich das wollte, mußte es auf britische Hilfe verzichten. Doch die britische Regierung weigerte sich sogar, gemeinsamen Beratungen mit den Franzosen über die Fragen zuzustimmen, die vermutlich den Frieden gefährdeten, und sich zu verpflichten, »gemeinsam die

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zur baldigen Sicherstellung einer friedlichen und gerechten Regelung notwendigen Maßnahmen zu prüfen«. Die Unabhängigkeit und Unversehrtheit Frankreichs wurden als britische Interessen angesehen, die Verteidigung all dessen, was östlich von Elsaß-Lothringen lag, nicht. Mochte Frankreich ein aggressives Deutschland zu zügeln trachten oder nicht, die Unterstützung Englands würde es nicht bekommen, falls es das versuchen sollte. Nach dem von England vorgeschlagenen Vertrag sollten die Parteien »gemeinsam beraten, falls irgendein Bruch« der Bestimmungen des Vertrags von Versailles über die Errichtung der entmilitarisierten Zone drohe. Briand bestand darauf, England müsse eine Verletzung der entmilitarisierten Zone durch Deutschland und sogar jeden Bruch der Bestimmungen des Vertrags von Versailles über Militär, Marine und Luftwaffe als gleichbedeutend mit einem direkten Aggressionsakt gegen Frankreich behandeln. Poincaré, der jetzt Ministerpräsident wurde, nachdem Briand angesichts der Kritik an seiner angeblich schwachen Haltung gegenüber England zurückgetreten war, hielt natürlich an dieser Linie fest. Als Antwort legte Curzon eine weitere bedeutende politische Erklärung vor: »Dies sei eine Verpflichtung, deren Annahme durch das britische Volk ich nicht für wahrscheinlich hielte. Mehr noch, sei nicht der Vorschlag, sie anzunehmen, gänzlich unvereinbar mit der neuen Theorie, auf der nach allgemeiner Überzeugung die Politik Europas nach dem Kriege basieren solle? Überall sei gepredigt worden, daß die alte Politik rivalisierender Gruppen von Großmächten verschwinden und durch die Eintracht der Nationen ersetzt werden solle.« England, um es noch einmal zu sagen, wollte sich nicht mit anderen Mächten zur Verteidigung der Verträge gegen ein sich möglicherweise wieder erhebendes Deutschland verbinden: England erstrebte Einmütigkeit, nicht Zwang. Als sich die Engländer weigerten, den französischen Forderungen stattzugeben, brachte Poincaré gegenüber dem britischen Botschafter in Paris völliges Desinteresse an künftigen Erörterungen über ein Defensivbündnis zum Ausdruck, »dem er in der ihm vorgelegten Form«, fügte er hinzu, »keinerlei Bedeutung beilege [...] Er betrachtet es als eine Mystifikation ohne jeden wirklichen Wert, da, falls Umstände wie 1914 einträten [...], England in seinem eigenen Interesse dieselben Maßnahmen wie damals werde ergreifen müssen«69.

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� Abb. 5: Raymond Poincaré Wegen der von Deutschland zu zahlenden Reparationen kam es zwischen England und Frankreich zu einem offenen Bruch. Nach Inkrafttreten des Vertrages von Versailles, der die Arten von Schäden festlegte, für welche die Deutschen Ersatz leisten sollten, namentlich Pensionen und Trennungsentschädigungen, die von den Siegermächten in und nach dem Kriege gezahlt wurden, sowie die durch deutsche militärische Operationen verursachte physische Zerstörung alliierten Eigentums, wurden Versuche unternommen, eine Einigung zwischen den Alliierten selbst herbeizuführen über die Festsetzung des Betrages, den Deutschland für den Verzicht auf die Tributleistungen zahlen sollte, die nach dem Vertrag von der Reparationskommission zu errechnen waren. Den Engländern war daran gelegen, daß Deutschland freiwillig eine Summe akzeptierte, um deren Zahlung es sich dann ernsthaft bemühen und die es aufbringen könnte. Bis Poincaré an die Macht kam, hielten die Franzosen die Hilfe Englands für wesentlich, um Deutschland zum Zahlen zu bewegen, und versuchten daher, einen Kompromiß mit dem englischen Standpunkt zu finden. Die Engländer wünschten ihrerseits ebenfalls einen Kompromiß mit Frankreich, um zu vermeiden, die Franzosen zu extremen Maßnahmen zu treiben. Der Mißerfolg der Verhandlungen ließ zu Beginn des Jahres 1921 eine gespannte Atmosphäre entstehen. Briand kündigte die Besetzung des gesamten

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Ruhrgebietes an, falls es zu keiner Regelung käme. Das Ergebnis war paradox: Unter Androhung der Invasion wurde der mildeste Reparationsplan, den die Alliierten bisher ersonnen hatten, den Deutschen am 5. Mai 1921 nach der zweiten Londoner Konferenz aufgezwungen. Wie kam es dazu? Die Antwort liegt wohl vor allem darin, daß Briand sich wohl bewußt war, daß man Deutschland nur zwingen konnte zu zahlen, was es zu zahlen imstande war, aber er konnte das nicht offen sagen. Er konnte seinen Überzeugungen nur folgen, wenn er nach außen hin das Gegenteil tat. Die gegen Deutschland ausgesprochenen Drohungen ermöglichten es ihm, den Eindruck zu erwecken, als wende er Gewalt an. Den gleichen Eindruck machte auch ein weiteres Ereignis: Am 27. April 1921 gab die Reparationskommission bekannt, Deutschland sei verpflichtet, 132 Milliarden Goldmark zu zahlen. Wenn Briand sich theoretisch anzuschicken schien, diese Summe einzutreiben, konnte er in der Praxis Anstalten machen, es nicht zu tun. Lloyd George hatte wahrscheinlich aufrichtig gewünscht, eine Regelung mit den Deutschen zu erzielen, die das Ergebnis von Verhandlungen war, und ganz sicher lag ihm an der wirtschaftlichen Erholung Deutschlands. Erst die Schwierigkeiten bei den Verhandlungen mit der deutschen Regierung hatten ihn bewogen, die lauten Drohungen und das Säbelrasseln zu akzeptieren, das Briand benötigte, um sich der Auffassung von Lloyd George anschließen zu können. Der Zahlungsplan vom Mai 1921 gliederte die Deutschland präsentierte Rechnung in drei Teile: A, B und C. Teil A betrug 12 Milliarden Goldmark, Teil B 38 Milliarden, Teil C 82 Milliarden. Die Gesamtsumme von 132 Milliarden wurde von der Reparationskommission festgesetzt. Deutschland sollte für alle diese Klassifizierungen Obligationen ausgeben und 5 Prozent Zinsen sowie 1 Prozent Amortisation auf die Gesamtsumme zahlen. Jedoch sollte der Zinsendienst der Schuldverschreibungen der Serie C, also von mehr als der Hälfte der Gesamtsumme, so lange nicht fällig werden und das durch die Schuldverschreibungen der Serie C dargestellte Kapital so lange nicht zurückgezahlt werden, bis die von Deutschland geleisteten Zahlungen dafür ausreichten. Diese Zahlungen wurden auf jährlich zwei Milliarden Goldmark in bar und 26 Prozent des Wertes der deutschen Ausfuhr festgesetzt. Von diesen Beträgen sollten alle Sachleistungen abgezogen werden. Mit anderen Worten, der Betrag, den Deutschland zu zahlen aufgefordert wurde, wurde getrennt aus der festgelegten Gesamtsumme seiner Verpflichtungen abgeleitet. Die Obligationen der Serie C, des größten Teiles des theoretischen Gesamtbetrags der deutschen Verpflichtungen, würden, wie von Anfang an klar war, wahrscheinlich nie beglichen oder erst dann bezahlt werden, wenn in ferner Zukunft die A- und B-Obligationen getilgt sein würden. Jedoch war das Reparationsproblem von der Lösung weit entfernt. Die von Deutschland zu leistenden Barzahlungen wurden in Goldmark festgesetzt. Die deutsche Währung war Papiermark, und deren Wert fiel 1921 und 1922 ständig, noch vor dem katastrophalen Sturz im Jahre

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1923. In der folgenden Tabelle wird der Gegenwert einer Goldmark in Papiermark gezeigt. 19211922 Januar1546 Februar1550 März1566 April1569 Mai1569 Juni1675 Juli18117 August20241 September25348 Oktober36718 November621618 Dezember461757 Diese Situation bedeutete, daß die Reparationszahlungen die Papiergeldbeträge plötzlich ansteigen ließen. Damit die deutsche Regierung die erforderlichen Summen in Papiergeld hätte aufbringen können, hätten die Steuersätze in Deutschland ebenso rasch erhöht werden müssen, wie die Mark fiel: eine administrative Glanzleistung, die schwer zustande zu bringen war. Wenn Papiermark in ausreichender Menge vorlag, hätte man sie in Gold oder Devisen einlösen müssen, um Reparationen zu zahlen. Der Versuch, die betreffende Menge Papiergeld auf dem ausländischen Währungsmarkt zu verkaufen, hätte mit Sicherheit den Außenwert der Mark noch weiter fallen lassen und so das Problem noch verschlimmert. Zwei zusammenhängende Ursachen machten die Zahlung von Reparationen zunächst schwierig und dann 1922 unmöglich: die fallende Kaufkraft der Papiermark in Deutschland und ihr noch rascherer Sturz im Verhältnis zu anderen Währungen. Wie kam es zu dieser Situation? Nach Meinung der damaligen und späteren deutschen Regierungen, Bankiers, Industriellen, Journalisten und einiger Wirtschaftler lag die Ursache außerhalb Deutschlands, führte der Sturz des Außenwertes der Mark, der daher rührte, daß Deutschland mehr an das Ausland zahlte, als es an Zahlungen für deutsche Güter und Anleihen empfing, zu höheren Kosten der deutschen Einfuhr in der Mark-Währung und daher zu einem Anstieg der Preise in Deutschland, der eine wachsende Ausgabe von Papiermark bewirkte; dadurch kam die Inflation in Deutschland zustande. Nach dieser Erklärung konnte man die Zahlungen an die Alliierten für den Sturz der Mark verantwortlich machen. Helfferich behauptete 1924, die Abwertung der deutschen Mark gegenüber ausländischen Währungen sei durch die übermäßigen, Deutschland aufgebürdeten Lasten und durch die von Frankreich angewandte Gewaltpolitik verursacht worden. Es stimmt, daß

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Deutschlands Einfuhrüberschuß in den Jahren 1919 bis 1922 11 Milliarden Goldmark betrug, wozu die Zahlungen an die Alliierten noch hinzuzurechnen sind. Doch war im Jahre 1922 die Zahlungsbilanz tatsächlich günstig; gleichwohl setzte sich die Abwertung der Mark fort und beschleunigte sich in den restlichen Monaten des Jahres noch, obwohl die Reparationszahlungen in bar seit September 1922 ausgesetzt wurden. Mangel an Vertrauen in die langfristige Zukunft der Mark infolge der ständigen Drohung der Reparationen macht dies Phänomen zum Teil verständlich, kann aber sein Ausmaß nicht erklären. Der Sturz des Wertes der Mark ließ deutsche Waren und Dienstleistungen für Ausländer billiger und ausländische Güter und Dienstleistungen für Deutsche teurer werden, so daß der Sturz des Außenwertes der Mark notwendigerweise verhältnismäßig bald zum Halten gekommen wäre, wenn keine anderen Faktoren als Zahlungen ins Ausland mitgewirkt hätten. Eine viel plausiblere Erklärung sowohl für die Ursachen wie für das Ausmaß des Sturzes der Mark liegt in der Finanzpolitik der deutschen Regierung. Während des Krieges entsprachen die Einnahmen der Regierung nicht den Ausgaben. 1917 und 1918 betrugen die Ausgaben fast 100 Milliarden, die Einnahmen ungefähr 7 Milliarden, worin auch durch Anleinen aufgebrachtes Geld enthalten war. Die Lücke wurde durch die Ausgabe von Schatzanweisungen geschlossen. Soweit diese von Banken und anderen Institutionen gezeichnet wurden, stellten auch sie geliehenes Geld dar, doch wurde die Hälfte dieser Anweisungen von der Reichsbank diskontiert, das heißt, in Papierwährung umgewandelt. Eine Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen blieb auch nach dem Kriege. Wieder wurde die Lücke durch eine Steigerung der schwebenden Schuld geschlossen, das heißt durch Anleihen bei Banken und anderen Institutionen und durch Geld, das die Reichsbank drucken ließ. Dieser Zustand mußte zum Zusammenbruch der Mark führen, den nur ein ausgeglichener Haushalt hätte verhindern können. Nachdem der Sturz der Mark einmal begonnen hatte, war es aus Gründen, auf die schon hingewiesen wurde, äußerst schwierig, die Steuern genügend zu erhöhen, um den Haushalt auszugleichen; immerhin gab es eine Gelegenheit dazu, doch die deutsche Regierung versäumte sie. Zwischen April 1920 und März 1921 blieb der Wert der Mark fast stabil, und die Regierung hätte daher dem Dilemma der Steuern entrinnen können, die nicht mehr den bei ihrer Einziehung erwarteten Wert hatten. Sie bemühte sich nicht, diese Frist hinreichend zur Steuererhöhung oder zur Zügelung der Regierungsausgaben zu nutzen. Es ist nicht wahr, daß die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen durch die Zahlungen an die Alliierten verursacht wurde. Einnahmen und Ausgaben des Reiches in Millionen Goldmark EinnahmenAusgabenAusgaben nach dem Vertrag

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von Versailles 191925598560– 1920317893291851 1921292866512810 1922148839511136 1923 (bis Okt.)5195278– Sicherlich hätten die deutschen Regierungen, um die Reparationsforderungen zu erfüllen, die Steuern zum Ausgleich des Haushalts stärker erhöhen müssen, als es ohne die Reparationen erforderlich gewesen wäre. Das heißt jedoch nicht, daß die Reparationen den Sturz der Mark verursacht hätten. Haben die deutschen Regierungen den Wert der Mark absichtlich zerstört, um den Reparationen zu entgehen? Nichts spricht dafür, daß sie es getan hätten. Viel wahrscheinlicher ist, daß die Theorie, der Fall der Mark sei nur die Folge der unglücklichen Zahlungsbilanz, die deutschen Behörden an allen ernsthaften Versuchen, den Haushalt auszugleichen, hinderte. Das Ergebnis war dasselbe, und die Unterlassung der von der Reparationskommission beharrlich geforderten Finanzreformen bestärkte das Ausland in dem Glauben, die Deutschen betrögen die Alliierten um ihr Recht.70 Im Jahre 1921 kam Deutschland den ihm durch den Zahlungsplan auferlegten Verpflichtungen nach, aber im Dezember kündigte die Regierung an, sie werde die im Januar und Februar 1922 fälligen Raten nicht zahlen können. Man einigte sich, daß die deutschen Verpflichtungen provisorisch auf 31 Millionen Goldmark, die alle zehn Tage zu zahlen wären, reduziert würden. Im März wurde diese Regelung auf 50 Millionen monatlich herabgesetzt. Dafür mußte die deutsche Regierung versprechen, daß die schwebende Schuld nicht erhöht werde und daß die Reparationskommission über Maßnahmen zum Ausgleich des deutschen Haushalts unterrichtet und um Rat gefragt würde. (Am 24. Juni 1922 wurde der deutsche Außenminister Walther Rathenau ermordet, und mit ihm verschwand einer der wenigen deutschen Staatsmänner, die trotz ihres unermüdlichen Eintretens für die Interessen Deutschlands den alliierten Verhandlungspartnern sowohl Vertrauen wie Achtung einflößten.) Am 11. Juli 1922 bat Deutschland um eine Aussetzung der Barzahlungen für den Rest des Jahres sowie für 1923 und 1924. Dieses Ersuchen wurde im August abgelehnt, wobei jedoch für 1922 den Deutschen erlaubt wurde, mit Schatzanweisungen zu zahlen, das heißt die Zahlungen für 1922 wurden gestundet. Am 14. November bat die deutsche Regierung um einen Zahlungsaufschub für drei oder vier Jahre, mit Ausnahme der Realleistungen zum Wiederaufbau zerstörter Gebiete, die ohne Erhöhung der schwebenden Schuld Deutschlands aufgebracht werden konnten.71 Dieses Ersuchen führte einen offenen Bruch zwischen England und Frankreich herbei. Poincaré hatte es schon abgelehnt, die französischen Forderungen an Deutschland zu ermäßigen, und für den Fall, daß die Alliierten damit nicht einig

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gingen, einseitiges Vorgehen angedroht, um Garantien dafür zu erhalten, daß Deutschland zahlte. Dies konnte geschehen, indem man sich deutscher Produktionsmittel bemächtigte und sie unter alliierter oder französischer Aufsicht ausbeutete.72 Die Engländer waren der Ansicht, es sei entscheidend notwendig, die Mark zu stabilisieren, und Eingriffe in die deutsche Industrie würden die deutsche Währung endgültig ruinieren. Was waren die Motive der britischen Politik gegenüber Frankreich und Deutschland? Oft wird eine einfache, nicht überzeugende Antwort vorgebracht: England habe das Gleichgewicht in Europa aufrechtzuerhalten gesucht, indem es eine schwache Macht, Deutschland, gegen die vorherrschende europäische Großmacht, Frankreich, unterstützte. Es wird behauptet, die englische Außenpolitik sei, vielleicht seit dem 16. Jahrhundert, mit Sicherheit seit Beginn des 19. Jahrhunderts, automatisch bestimmt worden. Die englischen Staatsmänner hätten festgestellt, welche europäische Macht jeweils die stärkste gewesen sei, und deren Gegner zu stärken gesucht. Diese Auffassung verdunkelt mehr, als sie erklärt. Denn beispielsweise stieß das Bismarck-Reich, das Europa nach 1871 klar beherrschte, auf keine Feindschaft von seiten Englands, und sogar noch 1901 wurde ein englisch-deutsches Bündnis in London ernsthaft erwogen. England geriet am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Deutschland nicht deshalb in Konflikt, weil Deutschland mächtig war, sondern wegen der Art und Weise, wie Deutschland von seiner Macht vermutlich Gebrauch machen würde. Ähnlich war die englische Politik gegenüber Frankreich nach 1918 nicht durch die Stärke Frankreichs bestimmt, die sich im Laufe des Krieges gegenüber der Deutschlands als weit unterlegen erwiesen hatte, sondern durch die Art und Weise, wie sie angewandt wurde. Die britischen Staatsmänner waren sich wohl bewußt, daß die französische Vorherrschaft im Nachkriegs-Europa die künstliche Folge der englisch-amerikanischen Unterstützung in dem großen Kriege war. Manche Leute sprachen und schrieben von einem Gleichgewicht der Kräfte gegen Frankreich, aber nur, weil die oft wiederholte Behauptung, die britische Außenpolitik strebe immer nach dem Gleichgewicht, Kommentatoren veranlaßte, ihre Deutung der internationalen Beziehungen dieser herkömmlichen Form anzupassen. Zeugnisse, die zeigen, daß die britischen militärischen Stellen Spekulationen über die Auswirkungen eines Krieges mit Frankreich anstellten, sollten nicht in dem Sinne aufgefaßt werden, daß man mit einem solchen Krieg gerechnet hätte, denn Militärs können eine Verteidigungspolitik nur mit großer Schwierigkeit ohne einen hypothetischen Feind ausarbeiten. Frankreich übernahm jene Rolle in den zwanziger Jahren für den britischen Generalstab ebenso, wie Anfang der dreißiger Jahre in den Vereinigten Staaten Pläne gemacht wurden, um einem bis zur Lächerlichkeit unwahrscheinlichen gleichzeitigen Angriff von England und Japan zu begegnen. Eine andere Hypothese besagt, die englische Politik sei von der Furcht vor dem Kommunismus diktiert worden. Deutschland konnte selbst kommunistisch werden, wenn man es zu schroff behandelte, oder unter irgendeiner Regierung

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mit der Sowjetregierung zusammenarbeiten, um die neue Ordnung in Europa zu zerstören, oder aber es konnte als Alternative dazu eine Schranke gegen das Vordringen des Bolschewismus nach Westen aufrichten helfen. Es ist klar, daß die Furcht vor einem etwaigen kommunistischen Deutschland Lloyd George 1919 beeinflußte. Die Ereignisse von 1920 und der Rapallo-Vertrag unterstrichen die Möglichkeit einer sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit gegen den Westen. Auf der anderen Seite ließen der polnische Sieg von 1920 und der russisch-polnische Vertrag von 1921 keinen Zweifel daran, daß keine unmittelbare Gefahr drohte, Rußland werde mit Waffengewalt in ein westliches Land einfallen. Darüber hinaus bestand Lloyd Georges Rußland-Politik in den Jahren 1920,1921 und 1922 nicht so sehr darin, der Sowjetunion durch die Errichtung eines westlichen Verteidigungsbündnisses entgegenzutreten, als vielmehr darin, die Sowjetregierung durch die Herstellung von Handelsbindungen mit Rußland zu beschwichtigen. Auch nahmen die Engländer die Aussicht auf politische und militärische Zusammenarbeit zwischen Rußland und Deutschland nicht allzu ernst. Es stimmt wahrscheinlich, daß die britischen Staatsmänner Unruhe und Revolution von kommunistischer Seite in Deutschland befürchteten. Diese Furcht und der Wunsch, nicht die Saat eines neuen deutschen Krieges zu säen, geben eine hinreichende Erklärung für die britische Deutschlandpolitik in den Jahren 1919 und 1920.73 Viele Zeugnisse sprechen dafür, daß die Wirtschaft zum beherrschenden Motiv der britischen Politik wurde. Im Jahre 1921 fiel die Produktion der britischen Industrie, die Ausfuhr nahm plötzlich ab und die Arbeitslosigkeit erreichte einen Grad, wie er noch nie dagewesen war, seit darüber eine genaue Statistik geführt wurde. Das Ausmaß der Krise stellte eine Überraschung dar. Das Absinken der Industrieproduktion zwischen 1920 und 1921 übertraf in seinem Umfang jede Schrumpfung während des Jahrhunderts vor 1914. Auf diesen plötzlichen Produktionsrückgang konzentrierte sich die Aufmerksamkeit. Was war hier nicht in Ordnung? Die Antwort war einmütig: der internationale Handel hatte nach dem Kriege keine Wiederbelebung erfahren. Wenn man den Handel der Vorkriegszeit wiederherstellte, würde der Schaden behoben sein. Im Jahre 1920 und danach galt das Bestreben von Lloyd Georges Außenpolitik vor allem anderen der wirtschaftlichen Erholung, und insbesondere versuchte er, Rußland für den Handel zu öffnen und wirtschaftlichen Wohlstand für Deutschland zu ermöglichen. Daher seine Bemühungen um die ergebnislose Konferenz von Genua im Jahre 1922. Im Dezember 1921 hatte er in einem Memorandum, das Briand in Cannes übergeben wurde, auf französischer Mitarbeit am »Wiederaufbau Europas« als einer Bedingung für einen englisch-französischen Sicherheitspakt bestanden. Das Memorandum bemerkte, »fast zwei Millionen englische Arbeiter« seien »arbeitslos«. Im April 1922 sagte Lloyd George vor dem Unterhaus: »Bevor der Handel voll wiederhergestellt werden kann, muß man imstande sein, überall die Konvertierbarkeit einer Währung mit Gold oder dessen Gegenwert einzuführen.« Mit anderen Worten, der Wert der

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Währungen müsse stabilisiert werden, besonders natürlich der Wert der Mark. Im Dezember 1922 fragte Bonar Law, Lloyd Georges Nachfolger als Premierminister, Keynes wegen der Reparationen um Rat. Die Auffassung dieses Nationalökonomen, daß »hauptsächlich vom Wohlstand Deutschlands der Wohlstand der übrigen Länder des Kontinents abhänge«, war wohlbekannt. Im August 1923 sprach der Nachfolger Bonar Laws, Stanley Baldwin, von einer unausweichlichen Alternative: entweder ein am Boden liegendes Deutschland, das keine Reparationen zahlen werde, was den Welthandel in einem solchen Zustand lasse, daß es der Arbeit von Generationen bedürfen werde, den Schaden wiedergutzumachen und neue Betätigungsgebiete der Industrie zu finden, oder ein Deutschland, das eine starke Industriemacht sein und angemessene Reparationen zahlen werde. Im November 1923 sagte Baldwin: »Ich glaube, wir alle müssen uns davon überzeugen, daß in erster Linie infolge der Ruhr-Besetzung und deren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage Deutschlands der wirtschaftliche Aufbau Europas um Jahre verzögert worden ist [...] Wären alle unsere alten Absatzmärkte verfügbar gewesen, würden wir heute nicht unter Arbeitslosigkeit leiden.« Diese Ansicht wurde von der Opposition geteilt. Für die Labour Party erklärte Snowden im Februar 1923: »Der Premierminister hat gesagt, daß wir für die Arbeitslosenunterstützung jährlich 100 Millionen Pfund zahlen. Das, so behaupte ich, ist hauptsächlich die Folge der französischen Politik und der Hemmnisse, die die Franzosen dem Wiederaufbau des europäischen Marktes in den Weg gelegt haben.« Im November faßte Charles Buxton die Angelegenheit mit den Worten zusammen: »Die internationale Frage ist das Problem der Arbeitslosigkeit.« Tatsächlich vermengten sich im Unterhaus Debatten über Arbeitslosigkeit mit solchen über internationale Politik, weil man die beiden Themen für untrennbar hielt.74 Im Dezember 1922 wurde in London eine Konferenz der Alliierten abgehalten, um die Bitte Deutschlands um einen Aufschub der Reparations-Barzahlungen zu prüfen. Zur gleichen Zeit wurde die Frage der Schulden der Alliierten untereinander erwogen. Während des Krieges hatten die Vereinigten Staaten große Geldsummen an alle europäischen Mächte, einschließlich Großbritanniens, verliehen. Anfang 1923 schuldeten die Alliierten (wenn man Rußland, dessen Zahlungswillen höchst zweifelhaft war, außer Betracht ließ) den Gegenwert von 42 Milliarden Goldmark. Der britische Anteil betrug 19 Milliarden Goldmark, der französische rund 14 Milliarden und der italienische 8 Milliarden. Auch England hatte beträchtliche Summen verliehen, und zwar an Frankreich, das ihm 12 Milliarden, und an Italien, das ihm 10,5 Milliarden Goldmark schuldete. England hatte folgerichtig gefordert, daß die interalliierten Schulden einfach gestrichen werden sollten, was in der Praxis bedeutete, daß die Vereinigten Staaten auf ihre Forderungen an die Alliierten zu verzichten hätten, die dann ihre gegenseitigen Forderungen aufgeben würden. Der Endeffekt wäre die Erleichterung der auf Frankreich und Italien liegenden Last, die dann vielleicht bereit wären, ihre Forderungen gegenüber Deutschland zu verringern. Der

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Gedanke war in Wirklichkeit ein Plan amerikanischer Hilfe für Europa, der der öffentlichen Meinung in den USA nicht genehm war. Der Kongreß der Vereinigten Staaten und Präsident Harding bestanden im Gegenteil im Frühjahr 1922 darauf, daß Anstalten für die Rückzahlung des Kapitals getroffen würden und ein Anfang mit den Zinsleistungen gemacht würde. Im August gab die britische Regierung bekannt, sie werde von ihren Schuldnern in Europa so viel verlangen, wie die USA von England verlangen würden.75 In London legten die Mächte ihre Positionen fest. Bonar Law erklärte, England werde ungeachtet der Haltung der Vereinigten Staaten eine Modifizierung seiner Forderungen an seine Verbündeten in Erwägung ziehen, wenn Deutschland ein Moratorium gewährt würde. Poincaré bestand darauf, daß kein Moratorium gebilligt werden könne, wenn man sich nicht deutscher Produktionsmittel bemächtige, wozu die Besetzung von Essen und Bochum gehöre, und daß man die Schulden der Alliierten untereinander durch den Transfer von Reparations-Obligationen der Serie C regeln könne, das heißt solcher Obligationen, die wahrscheinlich nie etwas wert sein würden. Mussolini sprach sich für weniger einschneidende Pfändungsmaßnahmen aus, als Poincaré sie gefordert hatte. Als die Konferenz ihre Beratungen im Januar in Paris wieder aufnahm, legten England und Frankreich ihre bekannten Standpunkte lediglich mehr im einzelnen dar. Poincaré machte geltend, die finanzielle Lage Deutschlands sei das Ergebnis überlegten Vorgehens der deutschen Industriellen, und Deutschland weiche seinen Verpflichtungen absichtlich aus. Abermals schlug er vor, sich deutscher Produktionsmittel und staatlicher Einnahmequellen zu bemächtigen, um Reparationen unmittelbar einzutreiben und Deutschland unter Druck zu setzen, damit es gangbare Pläne für künftige Reparationszahlungen vorlege. Die einzige Ermäßigung der deutschen Schulden, die er akzeptieren wollte, war die Abschaffung der zweifelhaften C-Obligationen, wenn England C-Obligationen im theoretischen Gegenwert der Beträge annehme, die ihm seine europäischen Alliierten schuldeten. In seiner Antwort wandte Bonar Law ein, der französische Plan werde den Handel und den Kredit Deutschlands ruinieren und eine ernste politische und soziale Krise auslösen. Er schlug vor, Deutschland solle vier Jahre lang keine Barzahlungen leisten, danach vier Jahre lang jeweils zwei Milliarden Goldmark sowie die darauf folgenden zwei Jahre jeweils 2,5 Milliarden Goldmark zahlen. Danach solle ein unparteiisches Gericht den Betrag festsetzen. England werde auf den Großteil seiner Schuldforderungen in Europa verzichten. Trotz der so Frankreich angebotenen Vorteile wollte Poincaré nichts von alledem wissen. Er behauptete, der englische Plan unterschätze die deutsche Zahlungsfähigkeit und bedeute vor allem eine rasche Wiederherstellung der deutschen Hegemonie in Europa. Poincaré war entschlossen, den Vertrag von Versailles und die 1921 getroffene Regelung der Reparationsfrage mit Gewalt aufrechtzuerhalten. Die Konferenz brach in offenem Streit auseinander.76 Am 26. Dezember 1922 erklärte die Reparationskommission mit drei Stimmen (Frankreich, Belgien, Italien) gegen eine (England), Deutschland sei hinsichtlich

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der Reparationslieferungen an Holz im Rückstand, und am 9. Januar erklärte dieselbe Mehrheit, Deutschland sei mit Kohlenlieferungen in Verzug geraten. Sofort unterrichteten die französische und die belgische Regierung Deutschland, sie würden ins Ruhrgebiet zum Zwecke der Kontrolle eine Mission entsenden, die dem dortigen Kohlensyndikat sowie den Verkehrsbehörden Anweisungen erteilen, von allen wirtschaftlichen Organisationen Informationen fordern und die Zahlung von Reparationen in bar und in Sachleistungen sichern werde. Am 11. Januar 1923 rückten französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet ein und dehnten nach der Verkündung des passiven Widerstandes durch die Reichsregierung die Besetzung auf praktisch das gesamte Revier aus. Die italienische Regierung unterstützte die Aktion, indem sie in die Mission interalliée de contrôle des usines et des mines (MICUM) Ingenieure entsandte, wahrscheinlich deswegen, weil sie bestrebt war, einen Anteil an den deutschen Kohlelieferungen zu erhalten, und weil Mussolini den seltsamen Gedanken gefaßt hatte, die Ruhr-Aktion könne zu einem gegen das britische Empire gerichteten Festlandblock führen.77 Die französischen und die belgischen Behörden gingen dazu über, aus dem Ruhrgebiet herauszuholen, was sie konnten. Dabei bedienten sie sich folgender Methoden: sie verschafften sich Kohle bei deutschen Produzenten, sie erhoben eine Steuer auf Kohleförderung, sie trafen Maßnahmen für Holzlieferungen, indem sie die Verwaltung von Wäldern selbst in die Hand nahmen, und sie errichteten östlich und westlich der besetzten Gebiete Zollschranken. Sowohl an der östlichen wie an der westlichen Grenze wurden Ausfuhren nur mit Genehmigung und bei Zahlung von Steuern gestattet. Auf der westlichen Seite und in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 auch auf der östlichen wurden Einfuhren, mit Ausnahme von Lebensmitteln und Rohstoffen, ebenfalls der Genehmigung und Besteuerung unterworfen. Die Folge des passiven Widerstandes war die Weigerung der Deutschen, die Bergwerke und die Eisenbahnen in Betrieb zu halten. Die MICUM bemühte sich unter mancherlei Schwierigkeiten, einige Gruben selbst zu bewirtschaften, und sicherte sich eine gewisse Menge Kohle durch die Beschlagnahme von Vorräten. Mit größerem Erfolg funktionierte unter französischer und belgischer Leitung die Eisenbahn. Die Reichsregierung verbot den Deutschen jegliche Zusammenarbeit mit den französischen und belgischen Verwaltungsstellen, so daß Ausfuhr- und Einfuhrgenehmigungen nicht beantragt wurden. Die Folge war, daß der passive Widerstand die Zollschranken in eine Blockade des besetzten Gebietes verwandelte, aus dem keine Lieferungen mehr den Weg nach außen nahmen, auch nicht in das unbesetzte Deutschland, ebensowenig wie Einfuhren, außer Lebensmitteln und Rohstoffen, weiter in die okkupierte Zone gelangten. Die Zeit des passiven Widerstandes erzeugte Verbitterung und Ressentiments gegenüber Frankreich. Obwohl die französische Armee im Ruhrgebiet auf weit weniger Widerstand stieß als 1920 die Reichswehr, kam es zu einigen Zwischenfällen, bei denen Gewalt angewandt wurde, vor allem in Essen, wo im März 1923 dreizehn Arbeiter getötet wurden. Viele Versuche, die

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Eisenbahn zu sabotieren, wurden unternommen. Am 25. Mai wurde Albert Leo Schlageter wegen der Teilnahme an einem solchen Anschlag erschossen. Im nächsten Monat jedoch wurden zwölf belgische Soldaten bei einer Explosion auf einer Rheinbrücke getötet. Ungefähr 150000 Eisenbahner und Beamte wurden in dieser Zeit von den französisch-belgischen Behörden gewaltsam ausgewiesen. Im besetzten Gebiet kam die Industrieproduktion bald fast völlig zum Erliegen, außerhalb des Reviers mußten Industrieprodukte aus dem Ausland eingeführt werden. Die Reichsregierung nahm die Last finanzieller Unterstützung der Bevölkerung des besetzten Gebietes auf sich, eine Maßnahme, die wiederum durch den Rückgriff auf die Druckerpresse statt durch die Reform des Steuerwesens finanziert wurde. Diese Flut von Papiergeld und die durch die Blockade der Ruhr verursachte Verschlechterung der deutschen Zahlungsbilanz ruinierten die Mark endgültig, die – nach einer Pause Anfang 1923, als die Reichsbank ihre Reserven benutzte, um den Sturz aufzuhalten – rapide zur Wertlosigkeit absank. Im September 1923 lag der durchschnittliche Wechselkurs des Dollar bei 120 Millionen Papiermark. Deutschland mußte nachgeben. Am 23. September 1923 wurde die Aufgabe des passiven Widerstandes angeordnet. Hiermit hatte Poincaré endlich gesiegt, wenigstens in einer Hinsicht. Das Ruhr-Unternehmen bezweckte zweierlei: erstens, sofort Reparationen zu erhalten, zweitens, Deutschland zur Ausführung des Friedensvertrages und des Zahlungsplans von 1921 zu zwingen. Nunmehr näherte sich Poincaré dem ersten Ziel; aber statt des zweiten erreichte er, wie wir sehen werden, eine internationale Intervention. Es war nur ein kurzfristiger Sieg, dem später eine völlige Niederlage folgte, aber er ermöglichte die Eintreibung von Reparationen im Nettowert von beinahe 900 Millionen Goldmark, wovon Frankreich 313 Millionen, Belgien, infolge seines Vorrechts auf Barzahlungen, 458 Millionen und Italien 63 Millionen erhielt.78 Denn nach dem Ende des passiven Widerstandes begannen die Bergwerke wieder Kohle zu fördern, die Eisenbahnen arbeiteten reibungslos, und die gegenüber dem übrigen Reich gezogenen Zollschranken begannen Geld einzubringen, statt eine Blockade zu erzwingen. Der Sommer des Jahres 1923 wurde durch einen eleganten und bissigen Notenwechsel zwischen Lord Curzon sowie dem britischen Foreign Office auf der einen und Poincaré auf der anderen Seite belebt. Poincaré verlangte hartnäckig die Beibehaltung des Zahlungsplans vom Mai 1921 und erklärte, das Ruhrgebiet werde erst geräumt, wenn Deutschland in ausreichendem Maße Reparationen zu zahlen beginne; die Reparationskommission sei das einzige Gremium, das berechtigt sei, Deutschlands Zahlungsfähigkeit zu beurteilen, und vor allem werde nur Gewalt Deutschland zur Ausführung des Vertrags von Versailles veranlassen. »Seit Unterzeichnung des Friedensvertrages hat England stets versucht, eine Grundlage des Ausgleichs zu finden, auf welcher Deutschland als gleichberechtigter Partner mit den Alliierten verhandeln könnte [...] Wir sind auf der anderen Seite der Überzeugung, daß, wenn Deutschland, weit davon entfernt, den Friedensvertrag auszuführen, nur bestrebt war, seine

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Verpflichtungen zu umgehen, der Grund darin lag, daß Deutschland noch nicht zum Bewußtsein seiner Niederlage gelangt ist [...] Tatsächlich haben die Alliierten niemals etwas von Deutschland erhalten, außer wenn sie gemeinsam mit Gewaltanwendung gedroht haben.« Lord Curzon machte geltend, das Ruhr- Unternehmen sei nicht rechtmäßig, Reparationen seien nur durch einen Plan zu erlangen, der von allen betroffenen Parteien als ausführbar und annehmbar angesehen werde, die Reparationskommission sei nicht unparteiisch, und unparteiische Fachleute sollten Deutschlands Zahlungsfähigkeit prüfen.79 Die Annahme des Dawes-Plan von 1924 stellte den Triumph dieser britischen Politik dar. Wie kam es dazu? Der Wendepunkt trat im November 1923 ein. In jenem Monat schlug Poincaré vor, ein Ausschuß von Fachleuten solle eingesetzt werden, um Deutschlands Zahlungsfähigkeit zu prüfen. Diese Fachleute sollten von den Alliierten und Assoziierten Mächten bestimmt werden, das heißt, es sollten auch Amerikaner unter ihnen sein. Gegenüber der Öffentlichkeit beharrte Poincaré darauf, daß die Zuständigkeit der Fachleute beschränkt sein solle, daß sie nur erwägen sollten, was Deutschland während eines Zeitraums von drei Jahren zahlen könne, und daß sie die Besetzung des Ruhrgebietes nicht als innerhalb ihrer Kompetenz liegend betrachten sollten. Unter der Hand machte Louis Barthou, der französische Vertreter und Vorsitzende der Reparationskommission, klar, daß die Tätigkeit der Fachleute keinen Einschränkungen unterliege. Dies war ein bedeutsamer Rückzug: Im Sommer hatte Poincaré den Gedanken, die Reparationsfrage von Fachleuten prüfen zu lassen, rundweg abgelehnt. Der Hauptgrund für den Sinneswandel war vielleicht, daß Frankreich in der Reparationskommission nicht länger auf Unterstützung von Seiten Belgiens und Italiens zählen konnte, deren Stimmen im Dezember 1922 und im Januar 1923 die Besetzung des Ruhrgebiets entscheidend ermöglicht hatten. Das Verhalten Italiens im Jahre 1923 war zwiespältig gewesen. Italienische Ingenieure arbeiteten an der Ruhr, doch wurden keine italienischen Truppen nach dort gesandt, und im November zeigte sich, daß die italienische Politik sich dem britischen Standpunkt angenähert hatte. Am 16. November verlangte Mussolini öffentlich ein Moratorium, eine Ermäßigung der deutschen Schuld und die Ablösung der Ruhr-Besetzung durch Zahlungsgarantien anderer Art. Die belgische Regierung, die von Meinungsverschiedenheiten zwischen England und Frankreich immer peinlich berührt war, drängte im Oktober darauf, daß die Alliierten eine Einigung über die Reparationsfragen suchen sollten. Offensichtlich wurde es wenigstens Barthou klar, daß Frankreich einen Kompromiß schließen müsse, um eine völlige Isolierung zu vermeiden. Poincaré war um diese Zeit anscheinend unsicher, was er mit seinem gegen den passiven Widerstand errungenen Erfolg anfangen solle. Er hatte immer behauptet, die Ruhr-Besetzung werde Deutschland zwingen, ernsthafte Vorschläge für die Zahlung der Reparationen, wie sie 1921 festgelegt worden waren, zu machen, doch kamen keine derartigen Vorschläge. Poincaré hatte seine Trumpfkarte ausgespielt und Deutschland gezüchtigt, aber Ende 1923

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begann Deutschland sich von den katastrophalen Ereignissen des Jahres zu erholen und zeigte keinerlei Absicht, sich den französischen Wünschen demütig zu fügen. Im Januar 1924 nahmen die Fachleute ihre Arbeit auf. Der Hauptausschuß sollte prüfen, wie der deutsche Haushalt ausgeglichen und die deutsche Währung stabilisiert werden könne. In dem Hauptausschuß saßen zwei Amerikaner, General Dawes, ein Anwalt und Bankier, dessen militärischer Rang auf seine Ernennung zum Leiter des Nachschubwesens bei der amerikanischen Armee im Kriege zurückging, und Owen D. Young, ein weiterer Bankier und Geschäftsmann, der für das endgültige Ergebnis eine größere Rolle spielte als Dawes selbst. Im April wurde der – gewöhnlich Dawes-Plan genannte – Plan der Reparationskommission unterbreitet. Er schlug vor, Deutschland solle im ersten Jahr nach Inkrafttreten des Plans eine Milliarde Goldmark zahlen, wovon 800 Millionen durch eine Anleihe im Ausland aufgebracht werden sollten; während der folgenden Jahre solle der jährlich zu entrichtende Betrag ständig ansteigen und vom fünften Jahr an 2,5 Milliarden Goldmark betragen. Diese Summe könne entsprechend einem sorgfältig ausgearbeiteten Index des wirtschaftlichen Wohlstandes Deutschlands ergänzt werden. Um eine Inflation zu verhüten, solle der neuen Reichsbank die Diskontierung von Schatzanweisungen verboten werden, und sie solle Rücklagen in Gold und ausländischer Währung im Werte von wenigstens 40 Prozent des Notenumlaufs behalten. Um die Zahlung von Reparationen zu garantieren, sollten die Erträge der deutschen Eisenbahnen, deutscher Industriekonzerne, bestimmter Verbrauchssteuern und bestimmter Zölle als Sicherheit abgetreten werden. Alle diese Maßnahmen sollten von ausländischen Fachleuten überwacht werden, und ein Ausschuß solle den Transfer deutscher Zahlungen ins Ausland beaufsichtigen und dafür sorgen, daß er den Außenwert der Mark nicht übermäßig belaste. Die wirtschaftliche und steuerliche Einheit des Reiches müsse wiederhergestellt werden, und Maßnahmen wie die Ruhr-Besetzung sollten nur im Falle flagranter deutscher Säumigkeit ergriffen werden, und auch dann nur auf einstimmige Veranlassung aller Gläubiger Deutschlands hin; daß heißt, die französische Regierung wurde höflich aufgefordert, ihre derzeitige Politik aufzugeben und auf jegliche künftige Wiederholung derselben zu verzichten. Ausdrücklich wurde festgestellt, der Plan werde als Ganzes vorgelegt, aus dem kein einzelner Teil herausgelöst werden könne.80 Am 17. April 1924 nahm die deutsche Regierung den Dawes-Plan grundsätzlich an, am 24. folgte die Zustimmung der britischen, der italienischen und der belgischen Regierung, und am 25. April stimmte Poincaré zu. Furcht vor der Isolierung und Unsicherheit, welchen nächsten Schritt er tun solle, bewogen Poincaré auch weiterhin, zurückzuweichen, doch war diesmal ein zwingenderes und dringlicheres Motiv zunehmend wirksam: der Franc stand vor dem Zusammenbruch. Im Januar 1923 war ein Dollar ungefähr 15 Franc wert, im Dezember ungefähr 19. Danach beschleunigte sich der Fall, und am 8. März 1924

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ereichte der Dollar über 27 Franc. Um wieder imstande zu sein, den Franc durch den Kauf von Unternehmen zu stützen, lieh die Bank von Frankreich sowohl in London wie in New York Geld, und anscheinend verlangten die Geldgeber die Aufgabe von Poincarés Außenpolitik.81 Die Ursachen für den Sturz des Franc entsprachen denen für den Sturz der Mark: Die Regierung verließ sich bei der Finanzierung ihrer Ausgaben auf Anleihen statt auf steuerliche Maßnahmen. Allerdings war der französische Steuerzahler nicht willens, für die Züchtigung Deutschlands zu bezahlen, und das Ruhr-Unternehmen brachte nicht genug ein, um die finanzielle Stabilität Frankreichs sicherzustellen. Trotz aller Behauptungen Poincarés ergab der Dawes-Plan für Frankreich nicht mehr als Bonar Laws Vorschlag, den Frankreich Anfang 1923 in Bausch und Bogen abgelehnt hatte.82 In diesem Sinne hatte Frankreich von dem Ruhr-Unternehmen keinen Gewinn. Darüber hinaus war der Verlust an gutem Willen unschätzbar – nicht nur in Deutschland, sondern auch in der übrigen Welt hielt man Frankreich allmählich für einen fehlgeleiteten, selbstsüchtigen, rücksichtslosen Tyrannen. Andererseits kann man feststellen, daß die Ruhr-Besetzung auch günstige Ergebnisse für Frankreich und sogar für die Welt brachte, wenngleich nicht von der Art, wie Poincaré sie erwartet hatte. Die Besetzung deutschen Gebietes, verbunden mit dem Desaster der Inflation, zwang die deutsche Regierung zu ernsthaften Anstrengungen, die Reparationen in Gang zu bringen und die deutsche Währung zu stabilisieren. Die Folge war, daß Deutschlands Gläubiger regelmäßige Zahlungen erhielten, solange der Dawes-Plan galt, und daß gleichzeitig der internationale Kredit Deutschlands wiederhergestellt sowie das wirtschaftliche Wachstum Deutschlands auf eine gesundere Grundlage gestellt wurde. Es ist unwahrscheinlich, daß ohne die Katastrophe von 1923 sich eine deutsche Regierung gefunden hätte, die die im Dawes-Plan enthaltenen Beschränkungen der deutschen Finanz- und Haushaltspolitik akzeptiert hätte, und ohne diese Beschränkungen hätte sich das Vertrauen in die Mark wahrscheinlich nicht wieder eingestellt. Der relative Wohlstand in Deutschland und die Stabilität in Europa von 1924 bis 1929 war also teilweise Poincaré zu verdanken. Als jedoch der Wohlstand zusammenbrach, konnte der deutsche Haß gegen Frankreich durch die Erinnerung an 1923 leicht wiederbelebt werden. Jedenfalls, wie wohltätig der Dawes-Plan sogar für Frankreich war, seine Annahme bedeutete ein Nachgeben, einen Verzicht Frankreichs auf den Anspruch, den Friedensvertrag mit Gewalt durchzusetzen. Auch war zu der Zeit nicht klar zu erkennen, was durchaus der Fall gewesen sein mag: daß nämlich Frankreich aus den Folgen der Ruhr-Besetzung irgendeinen Gewinn zog, den es ohne diese nicht hätte erzielen können. In den Wahlen vom Mai 1924 lehnte die Mehrheit des französischen Volkes einseitige Gewaltanwendungen ab und entschied sich für Versöhnung und internationale Zusammenarbeit. Dies war ein Ausdruck der Ernüchterung, der das französische Denken bis 1939 beeinflußte. Ende Juli und Anfang August einigte sich in London eine zunächst nur von den Alliierten abgehaltene

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Konferenz, zu der dann eine deutsche Delegation hinzugezogen wurde, über die Durchführung des Dawes-Plans. Es war das letztemal, daß deutsche Vertreter ausgeschlossen wurden, bis sich die Alliierten untereinander geeinigt hatten. Die französische Delegation kämpfte um das Recht Frankreichs, im Falle künftiger Säumigkeit allein gegen Deutschland vorzugehen. Zum Schein erhielt sie es in umständlichen Formulierungen, nachdem sie im wesentlichen schon nachgegeben hatte, und Frankreich erklärte sich damit einverstanden, das Ruhrgebiet zusammen mit den 1921 besetzten Städten binnen Jahresfrist zu räumen.83 Fußnoten * Nach Sadowa, einer Ortschaft bei Königgrätz, benannten die Franzosen die Entscheidungsschlacht des preußisch-österreichischen Krieges von 1866. (Anm. d. Übers.) II. Die Zeit der Annäherung – Stresemann und Briand Mit der Londoner Konferenz und der Annahme des Dawes-Plans begann ein neuer Ton in den internationalen Beziehungen vorzuherrschen; Begriffe wie Friede, Verständigung, Versöhnung wurden alltägliche Schlagworte. In England gab Ramsay MacDonald, ein Mann des Ausgleichs, einer konsequenten britischen Politik Ausdruck – sie galt der Stabilisierung der Verhältnisse in Europa; Herriot verkörperte die Distanzierung Frankreichs von Poincaré und seinem Pochen auf die französischen Rechte; der neue deutsche Außenminister Gustav Stresemann verstand es sehr gut, seine Äußerungen mit den neuen Friedensmelodien in Einklang zu bringen. In London traf sich Stresemann heimlich mit Herriot. Herriot gewann die Überzeugung, einen vernünftigen und vertrauenswürdigen Staatsmann vor sich zu haben, der zu seinem eigenen Bedauern durch eine nationalistische öffentliche Meinung in Deutschland gezwungen sei, Konzessionen von Seiten der Alliierten zu erstreben. Solche Konzessionen würden die Fortsetzung einer maßvollen, versöhnlichen Politik in Deutschland sicherstellen, so daß das eigene Interesse der Alliierten Kompromisse und Beweglichkeit erfordere. Stresemann seinerseits glaubte, seine Bereitschaft, zu einer Einigung mit den früheren Alliierten zu gelangen, werde ihre Feindseligkeit und ihren Argwohn gegenüber Deutschland mildern. Das Dawes-Plan-Abkommen war also die erste allgemeine Regelung der Reparationsfrage, die von Deutschland freiwillig angenommen wurde. Dennoch nahm Stresemann das Abkommen nie ernst, für ihn war es etwas, das revidiert werden mußte und konnte, wenn es gelungen sein würde, die Sympathie der Alliierten für Deutschland zu wecken. Er nannte den Dawes-Plan in Briefen einen wirtschaftlichen Waffenstillstand, dessen Bedingungen für Deutschland

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bereits 1927 unerträglich sein würden, das heißt, wenn die nach dem Plan zu leistenden Zahlungen steigen würden.84 Die Bedeutung des Dawes-Plans sei politisch, er solle das Ende der Ära der Gewaltpolitik gegenüber Deutschland und den Anfang einer Zeit der Zusammenarbeit, die zur langsamen Auflösung des Vertrages von Versailles führen solle, markieren. Ein schwerer Rückschlag ereignete sich Ende 1924: Im Dezember kündigte die alliierte Botschafter- Konferenz an, die nach dem Vertrag von Versailles 1925 fällige Räumung der nördlichen Zone des Rheinlandes von alliierten Truppen werde verschoben. Die Gründe wurden im Januar in einer Note der Alliierten dargelegt; sie basierten auf einem Bericht der interalliierten Kontrollkommission für die deutsche Abrüstung, die sich über die Wiederherstellung des Großen Generalstabs beschwerte, ferner über die Ausbildung von kurzfristig einberufenen Freiwilligen, über das Versäumnis, Rüstungswerke auf nichtmilitärische Produktion umzustellen, über die Beibehaltung überflüssiger militärischer Ausrüstungen, über das Ausbleiben des Einfuhr- und Ausfuhrverbots für Waffen und über die Duldung von rechtsstehenden Organisationen. Stresemanns eindrucksvolle Antwort war in seinen Noten an die britische Regierung vom 20. Januar 1925 und an die französische Regierung vom 9. Februar 1925 enthalten. Darin bot er einen Sicherheitspakt an, der die im Friedensvertrag festgelegten Grenzen zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland garantieren würde. Stresemann sah, daß Frankreich vor allem den Wunsch nach Sicherheit hatte und daß für Frankreich der Vertrag von Versailles und dessen Durchsetzung Mittel zu diesem Zweck waren. Wenn Frankreich – durch für Deutschland annehmbare Mittel – Sicherheit gegeben werden könnte, dann würde es sich gegenüber Deutschland nachsichtiger verhalten und einen Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft und sogar einer Wiederherstellung der militärischen Stärke Deutschlands zustimmen. Die Politik der gewaltsamen Durchsetzung des Friedensvertrags, einschließlich seiner militärischen Bestimmungen, würde möglicherweise nicht länger verfolgt werden. Stresemanns Politik führte zu den 1925 abgeschlossenen Verträgen von Locarno. Die Idee war nicht neu; Stresemann selbst hatte im August 1923, wie schon die Regierung Cuno vorher, davon gesprochen.85 Poincaré hatte darauf mit Verachtung reagiert, aber seit dem Dawes-Plan und dem Sturz Poincarés im Jahre 1925 beruhte die französische Politik nicht mehr auf der gewaltsamen Durchsetzung des Friedensvertrags gegen Deutschland. Die Verträge von Locarno waren ebenso wie der Dawes-Plan in dem Streben nach der Mitarbeit Deutschlands bei der Erhaltung des Friedens begründet. Die wesentlichen formalen Merkmale der Locarno-Verträge sind zunächst darzulegen; danach kann die Politik der betroffenen Länder analysiert werden. Die Abmachungen von Locarno bestanden aus einem gegenseitigen Garantievertrag zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, England und Italien; aus Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Belgien sowie zwischen Deutschland und Frankreich; und aus Schiedsverträgen zwischen Deutschland

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und Polen sowie zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei. Das Schlußprotokoll der Konferenz von Locarno enthielt auch eine Erklärung Frankreichs, daß in Locarno auch Vereinbarungen zwischen Frankreich und Polen sowie zwischen Frankreich und der Tschechoslowakei abgeschlossen worden seien. Der Garantievertrag legte fest, daß Deutschland und Belgien sowie Deutschland und Frankreich einander nicht angreifen, noch überfallen, noch Krieg gegeneinander fuhren würden, außer im Verfolg eines Beschlusses des Völkerbundes oder im Widerstand gegen eine Verletzung der Bestimmungen des Vertrags von Versailles, die die Entmilitarisierung des Rheinlandes vorsahen (gegen eine Verletzung der Art, daß sie sofortiges Handeln erforderlich mache). Deutschland, Belgien und Frankreich verpflichteten sich, im Falle von Streitigkeiten untereinander eine schiedliche Entscheidung anzunehmen, wie sie die einzelnen Abkommen vorschrieben. Die in Versailles gezogenen Grenzen Deutschlands mit Belgien und Frankreich wurden förmlich anerkannt. Wenn eine der Signatarmächte einen bewaffneten Angriff auf eine andere unternähme oder die entmilitarisierte Zone verletzte, würden die anderen Mächte dem Opfer sofort zu Hilfe kommen. Daraus folgte, daß England und Italien den Deutschen gegen einen belgischen oder französischen Angriff Garantie leisteten sowie den Belgiern und den Franzosen gegen einen deutschen Angriff. Die Schiedsverträge Deutschlands mit Polen und der Tschechoslowakei sahen Verfahrensweisen für gütliche oder schiedliche Regelungen im Falle von Streitigkeiten vor; aber die in Versailles festgesetzten Ostgrenzen wurden von Deutschland nicht anerkannt, noch waren irgendwelche Garantien vorgesehen, um die Erfüllung dieser Verträge sicherzustellen. Die von Polen und Frankreich abgeschlossenen, ins Gesamtprotokoll jedoch nicht aufgenommenen Verträge verpflichteten die Vertragspartner zu gegenseitiger Hilfe gemäß Artikel 15 und 16 der Völkerbundssatzung im Falle deutscher Verstöße gegen die in Locarno eingegangenen Verpflichtungen. Die Verträge sollten in Kraft treten, wenn Deutschland Mitglied des Völkerbundes würde. Diese Bestimmung gab Anlaß zu Schwierigkeiten. Die erste entstand, weil Deutschland auf einem ständigen Sitz im Völkerbundsrat beharrte, ein Anspruch, der andere Mächte, besonderns Brasilien, zu ähnlichen Forderungen bewog, wodurch sich der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund um einige Monate verzögerte. Die zweite Schwierigkeit war bedeutsamer: Deutschland lehnte die Übernahme sämtlicher Verpflichtungen aus Artikel 16 der Völkerbundssatzung unter dem Vorwand ab, daß ihm seine Abrüstung dies unmöglich mache. Man fand die Lösung, indem man als verbriefte Auslegung der Völkerbundssatzung den Gedanken übernahm, daß ein Völkerbundsmitglied verpflichtet sei, beim Widerstand gegen einen Angriff nur »in dem Maße, das mit seiner militärischen Situation vereinbar ist und das seine geographische Lage in Betracht zieht«, mitzuwirken. In Locarno war Deutschland nicht länger als besiegter Feind, sondern als gleichberechtigter Verhandlungspartner behandelt worden. Stresemann

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begrüßte die Abmachungen als »Anfang einer Periode vertrauensvollen Zusammenlebens der Nationen«. Diese verschwommene und schwungvolle Ausdrucksweise, die für viele von Stresemanns öffentlichen Reden charakteristisch ist, rief unter seinen Bewunderern den Glauben hervor, Stresemann trachte danach, die Einheit Europas oder der Welt zu errichten, die kleinliche nationale Bestrebungen und Rivalitäten überwinden und in die Vergangenheit verweisen solle. Unter Stresemanns nationalistischen und völkischen Gegnern in Deutschland bekräftigte diese Ausdrucksweise dagegen die Überzeugung, er sei wie so viele andere hervorragende und intelligente Deutsche ein ›Verräter‹, ein Befürworter des Verzichts auf Deutschlands Rechte und der Erfüllung der Forderungen seiner Feinde. Keine dieser beiden Meinungen von Stresemann war richtig. Er war in hohem Maße ein deutscher Patriot mit einer stark nationalistischen Vergangenheit, der – anders als seine Gegner – vernünftig genug war zu begreifen, daß die Ziele der deutschen Außenpolitik in einer Zeit der Schwäche Deutschlands nicht im Tone der Herausforderung in die Welt hinausgerufen, sondern nur durch geduldiges Manövrieren vorangebracht werden konnten. Was waren diese Ziele? Am 7. September 1925 schrieb Stresemann an den früheren Kronprinzen und legte sie knapp und präzise dar. Die Reparationen müßten für Deutschland erträglich gemacht und der Friede gesichert werden, damit Deutschland wiedererstarken könne. Deutschland müsse bestrebt sein, die Deutschen im Ausland zu schützen, »jene zehn bis zwölf Millionen Stammesgenossen, die jetzt unter fremdem Joch in fremden Ländern leben«.

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� Abb. 6: Gustav Stresemann Die deutsch-polnischen Grenzen müßten geändert werden, und Danzig, der Polen mit dem Meer verbindende Korridor sowie ein Teil von Oberschlesien müßten für Deutschland wiedergewonnen werden. »Im Hintergrund steht der Anschluß von Deutsch- Österreich.« Die ausländische Besetzung deutschen Gebietes müsse beendet werden. Obwohl dies nicht die Ziele eines Mannes sind, der vor allem für eine ›europäische‹ Idee eintritt, sind sie relativ maßvoll: Stresemann akzeptierte anscheinend, daß Deutschland eine gewisse Menge an Reparationen leisten sollte – schließlich, wie er dem Kronprinzen schrieb, war die Schuldenlast, die der deutsche Bürger zu tragen hatte, wesentlich niedriger als die in Frankreich oder England. Er glaubte, die Rückkehr Posens solle von Deutschland nicht gefordert werden, das heißt, er beabsichtigte nicht, die deutsche Ostgrenze von 1914 wiederherzustellen. Das Deutschland, das Stresemann schaffen wollte, ein unabhängiges, wohlhabendes, starkes Deutschland, war gewiß ein Deutschland, dessen Einfluß in Europa beherrschend sein würde, dessen Ambitionen für andere europäische Mächte aber nicht untragbar sein würden – ausgenommen vielleicht für Polen.86 Was waren die Mittel, die er zu diesem Zweck anwandte? Das zentrale Element seiner Politik war die französisch-deutsche Aussöhnung. Man mußte Frankreich beruhigen, ihm das Gefühl der Sicherheit geben und es so dazu bringen, ein Wiedererstarken Deutschlands für annehmbar zu halten. Um dies

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zu tun, war Stresemann bereit, jegliche Garantie, jegliche internationale Sicherung zu akzeptieren, die man zur Verhinderung eines deutschen Angriffs auf Frankreich ersinnen konnte, und er war bereit, die deutschen Ansprüche auf Elsaß-Lothringen aufzugeben und sogar die entmilitarisierte Zone hinzunehmen. Wenn man Frankreich auf diese Weise dazu bringen konnte, Deutschland zu vertrauen, Deutschland sogar als Freund anzusehen, dann konnte Frankreich vielleicht einer Beendigung der Besetzung des deutschen Gebietes, weiteren Modifizierungen der Reparationen zustimmen, vielleicht die Wiederaufrüstung Deutschlands dulden und vor allem möglicherweise Polen fallenlassen und vielleicht sogar die Vereinigung Österreichs mit Deutschland dulden. Daher die Bestimmungen von Locarno, welche die Regelung der Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland sorgfältig garantierten, während Locarno für Polen keine Garantien vorsah, die nicht schon durch den Mechanismus des Völkerbundes festgelegt waren. Locarno errichtete eine Art Rangordnung der Grenzen: die deutsch- französische Grenze wurde sanktioniert, die polnisch- deutsche Grenze erhielt einen weniger vornehmen Status. Es wurde also ein Anfang gemacht mit einer Zweiteilung der Grenzfestsetzung von Versailles: ein Teil wurde akzeptiert und ein Teil in Frage gestellt. Im April 1925 schrieb Stresemann: »Unsere Politik bezüglich des Sicherheitspaktes war unzweifelhaft richtig, sichert das Rheinland vor den Folgen einer französischen Verfolgungspolitik, hat die Entente zersprengt und eröffnet neue Möglichkeiten für den Osten.« Hier trat die Bismarcksche Politik wieder ins Leben: Frankreich sollte veranlaßt werden, Bündnisse mit östlichen Staaten, die sich gegen Deutschland richteten, hintanzusetzen. Außerdem sicherte Locarno Deutschland gegen Frankreich, indem es eine Wiederholung der Ruhr-Besetzung unmöglich machte. Dies zielte zusammen mit dem Dawes-Plan darauf ab, Deutschland kreditwürdig, es zu einem Lande zu machen, dem im großen Umfange ausländische Anleihen gewährt würden. Was die Entente anging, so war ein Ziel von Stresemanns Locarno-Politik, eine jede Erneuerung englisch-französischer Zusammenarbeit von der Deutschland ausgeschlossen war, zu verhindern. Insbesondere argwöhnte man Ende 1924, der neue britische Außenminister Austen Chamberlain beabsichtige, die früheren englischen Angebote einer eindeutigen Garantie für Frankreich gegen Deutschland zu erneuern, ohne irgendeinen Schutz Deutschlands vor Frankreich zu verlangen. Stresemanns Angebot vom Januar 1925 bezweckte, einem neuen derartigen englisch-französischen Pakt zuvorzukommen. Neue »Möglichkeiten für den Osten« eröffneten sich durch Deutschlands Eintritt in den Völkerbund. Stresemann teilte dem Kronprinzen mit: »Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien, die sämtlich durch internationale Verträge gebunden sind, für ihre Minderheiten, das heißt speziell für die deutschen Minderheiten, zu sorgen, werden sich nicht so sträflich über ihre Verpflichtungen hinwegsetzen können, wenn sie wissen, daß Deutschland alle diese Verfehlungen vor den Völkerbund bringen kann.« Tatsächlich begann der

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Völkerbund, als Deutschland Mitglied wurde, viel von den angeblichen Leiden der unter fremder Herrschaft stehenden Deutschen zu hören, besonders von den Leiden derer unter polnischer Herrschaft. Auf diese Weise suchte Stresemann die Grenzziehung von Versailles zu erschüttern, indem er Zweifel an ihrer Richtigkeit säte und Gefühle der Sympathie für die deutschen Revisionsforderungen erweckte.87 Gegenüber Polen wurden noch stärkere Maßnahmen ergriffen, derart, daß sie nicht leicht mit der Vorstellung von dem großen Europäer Stresemann in Einklang zu bringen sind. Im April 1926 schrieb Stresemann an den deutschen Botschafter in London und erteilte ihm die Anweisung, die britische Regierung zu überreden, Polen keine wirtschaftliche Hilfe zu leisten, denn eine Änderung der polnischen Grenzen werde nicht erfolgen, »ohne daß die wirtschaftliche und finanzielle Notlage Polens den äußersten Grad erreicht« habe. Wenn Polen dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nahe genug wäre, wäre es gezwungen, sich Deutschland zuzuwenden, das Bedingungen stellen könnte, ehe es wirtschaftliche Hilfe anböte. Seit Sommer 1925 führte Deutschland einen Zollkrieg gegen Polen, während Stresemann und der Reichsbankpräsident Schacht amerikanische und britische Geldgeber dringend davon zu überzeugen suchten, Polens wirtschaftliche Schwierigkeiten könnten nur durch eine Zusammenarbeit Polens mit Deutschland behoben werden.88 Was erreichte Stresemanns Westpolitik? Sie verfolgte zwei Hauptziele: das hartnäckige Festhalten der Alliierten, besonders Frankreichs, an der wörtlichen Ausführung des Vertrags von Versailles abzuschwächen und Frankreich von seinen östlichen Verbündeten, besonders Polen, zu trennen. Es gelang Stresemann, den Friedensvertrag in dreifacher Hinsicht zu modifizieren. Zum ersten hörte die wirksame Überwachung der deutschen Abrüstung auf, zum zweiten wurde die Zeit der Besetzung deutschen Gebietes durch die Alliierten abgekürzt, zum dritten wurden die Reparationsforderungen weiter herabgesetzt. Gegen Ende des Jahres 1926 geschahen zwei Dinge, die jeden, der nicht blind sein wollte, darauf hätten bringen müssen, daß Deutschland wichtige militärische Bestimmungen des Vertrags von Versailles umging. Erstens legte die alliierte militärische Kontrollkommission in ihrem letzten Bericht dar, daß »Deutschland nie abgerüstet hatte, nie die Absicht abzurüsten gehabt hatte und seit sieben Jahren alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um die zur Kontrolle seiner Abrüstung eingesetzte Kommission zu täuschen und eine ›Gegenkontrolle‹ über sie auszuüben«. Zweitens hielt am 16. Dezember 1926 Scheidemann eine Reichstagsrede für die Sozialdemokratische Partei, die einzige größere politische Partei in Deutschland, deren Blicke sich aufrichtig und aus vollem Herzen auf eine friedliche Zukunft des Reiches richteten, und prangerte die illegale Aufrüstung Deutschlands, die Förderung bewaffneter rechtsstehender Organisationen durch die Reichswehr und die militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Sowjetrußland an. Die westlichen Alliierten wollten blind sein, denn abgesehen von der Umkehrung der Politik des

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Vertrauens gegenüber Deutschland gab es nichts, was sie hätten tun können. Allerdings bedeutete die Umgehung der Abrüstungsbestimmungen des Vertrags von Versailles durch Deutschland nur, daß die Grundlagen für den Wiederaufbau einer großen deutschen Armee erhalten wurden, nicht aber, daß die Schaffung einer solchen Armee gedroht hätte, oder daß Deutschland zu dem Zeitpunkt zu irgendwelchen ernsthaften militärischen Operationen fähig gewesen wäre. Im Januar 1927 wurde die alliierte militärische Kontrollkommission zurückgezogen und durch eine Völkerbundskontrolle ersetzt, die von vornherein darauf angelegt war, nur fiktiven Charakter zu haben.89 Unmittelbar nach der förmlichen Unterzeichnung der Locarno-Verträge begann die Räumung der nördlichen alliierten Besatzungszone in Deutschland. Die Räumung war Anfang des Jahres verschoben worden und kam etwa im Januar 1926 zum Abschluß. Jedoch erhielt Stresemann erst im August 1929 die Mitteilung, daß die restliche Besetzung deutschen Gebietes durch die Alliierten im Jahre 1930 beendet würde.90 In der Besatzungsfrage ließ Stresemanns Erfolg also lange auf sich warten, weil Frankreich zögerte, Briands Politik der Verständigung mit Deutschland auszuführen. Das beschleunigte Ende der alliierten Besetzung kam schließlich im Rahmen einer Übereinkunft, deren deutsche Gegenleistung die Zustimmung zu der »endgültigen«, im Young-Plan enthaltenen Regelung der Reparationsfrage bildete. Obwohl Stresemann oft die Ansicht geäußert hatte, daß der Dawes-Plan revidiert werden müsse, kam die Initiative zur Revision nicht von ihm, sondern von dem Generalagenten für die Reparationen, Parker Gilbert, und paradoxerweise von Poincaré. Der erstere vertrat die Ansicht, daß die Zahlungen nach dem Dawes-Plan, wenn sie ihre volle Höhe erreichten, Deutschlands Zahlungsfähigkeit überschreiten würden; der letztere, dessen Anliegen nunmehr der Schutz des Franc war, stand unter dem Einfluß der Zahlung französischer Schulden an England und die Vereinigten Staaten. Diese Zahlungen waren 1926 auf der Grundlage von 62 Jahresraten geregelt worden, aber zusätzlich war im Jahre 1929 die Zahlung von 400 Millionen Dollar an die Vereinigten Staaten für Aktien fällig, die Frankreich am Ende des Krieges auf Kredit gekauft hatte. Um hiermit fertig zu werden, erstrebte die französische Regierung eine neue Lösung, die die Modifizierung der Reparationen mit einer Modifizierung der interalliierten Schulden verband – was die amerikanische Regierung zu erwägen ablehnte – oder, wenn das nicht gelang, eine Neuregelung der Reparationszahlungen, die es erlaubte, einen Teil der deutschen Reparationen zu kapitalisieren und für die Rückzahlung französischer Schulden an die Vereinigten Staaten zu benutzen. Dies konnte nur geschehen, wenn der Devisentransfer der deutschen Zahlungen wenigstens teilweise obligatorisch war, während nach dem Dawes-Plan die Möglichkeit bestand, den Transfer deutscher Zahlungen in andere Währungen aufzuschieben. Diese Sachlage

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führte zur Bildung eines neuen Ausschusses von Fachleuten unter dem Vorsitz des amerikanischen Bankiers Owen D. Young. Anders als der Dawes-Plan setzte der Young-Plan eine zeitliche Grenze für die Zahlungen Deutschlands fest, die in Jahresraten bis zum Jahre 1988 geleistet werden sollten (man sollte hier vielleicht erwähnen, daß der Plan praktisch nur wenig länger als ein Jahr ausgeführt wurde). Für die Höhe der Leistungen Deutschlands wurden die Zahlungen von Kriegsschulden zugrunde gelegt, die die Alliierten selbst hätten leisten müssen, plus eine Entschädigung für die Behebung von Kriegsschäden, besonders in Frankreich. Daraus ergaben sich Beträge, die im Zeitraum von 36 Jahren von ungefähr 1,6 Milliarden Mark bis zu etwa 2,3 Milliarden Mark anstiegen und für die letzten 22 Jahre, in denen die Zahlungen Deutschlands nur die Kriegsschulden der Alliierten begleichen würden, sich von rund 1,6 Milliarden auf etwa 1,7 Milliarden erhöhten. Ein Teil dieser Jahresraten war sofort in ausländische Währungen zu transferieren, die Transferierung des Restes konnte aufgeschoben werden, falls der Zustand der Mark es erforderte. Der nach dem Young-Plan von Deutschland zu zahlende Gesamtbetrag stellte eine beträchtliche Minderung der im Dawes-Plan vorgesehenen Summe dar.91 Ein Hauptziel von Stresemanns Frankreich-Politik war die Schwächung der internationalen Stellung Polens. Wenn dieses Ziel erreicht würde, sollte dadurch eine allmähliche Auflösung des französisch-polnischen Bündnisses herbeigeführt werden. In den Jahren nach Locarno gab es Anzeichen, die auf einen Erfolg dieser Politik schließen ließen. Im Jahre 1927 stieß Stresemann mit dem Gedanken einer Revision der polnischen Grenzen auf keine Kritik von Seiten Briands, und Berthelot, der Generalsekretär im französischen Außenministerium, war anscheinend ebenfalls zu einer Änderung bereit. Die Entwicklung der französischen Außenpolitik nach dem Rücktritt Poincarés im Jahre 1924 wurde in Polen mit düsteren Befürchtungen beobachtet. Im Jahre 1926 ergriff Pilsudski in Polen die Macht und verfolgte eine Politik auf der Grundlage des Mißtrauens gegenüber Frankreich, eines Mißtrauens, das er wahrscheinlich schon 1920 gefaßt hatte. Obwohl Pilsudski es vermied, seinen Standpunkt in den Grenzfragen genauer darzulegen, suchte er eine Verbesserung der Beziehungen mit Deutschland einzuleiten. Diesem Bestreben verlieh er Ende 1927 in einer Unterredung mit Stresemann auf das lebhafteste Ausdruck.92 Der Prozeß, der von Locarno zu der polnisch-deutschen Verständigung von 1934 führte, nahm seinen Fortgang. Er wurde unterstrichen durch das dramatische Symptom der Isolierung Frankreichs: die Errichtung einer großen befestigten Linie hinter der deutsch-französischen Grenze, der Maginot-Linie, die nach Locarno begonnen wurde. Die Freundschaft Deutschlands mit Sowjetrußland, die im Rapallo-Vertrag und in militärischen Abmachungen zwischen der Reichswehr und der Roten Armee Gestalt annahm, war in gemeinsamer Feindschaft gegen die Westmächte begründet. Stresemann beseitigte oder verbarg wenigstens die deutsche

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Feindschaft gegenüber Frankreich und England, und trotzdem gelang es ihm, die Verbindung mit Rußland voll in Gang zu halten. Er vermied die Entscheidung zwischen Ost und West. Natürlich lag das nicht allein an Stresemanns Fähigkeiten. Die Franzosen und noch mehr die Engländer waren so versessen auf ein versöhntes und zur Zusammenarbeit bereites Deutschland, daß sie willens waren, über die deutsch-russische Verbindung hinwegzusehen und entgegen dem Augenschein zu hoffen, sie werde vergehen. Die russische Regierung ihrerseits fürchtete so sehr eine Festlegung Deutschlands auf einen antisowjetischen westlichen Block, daß sie bereit war, nahezu um jeden Preis auf eine Verständigung mit Deutschland hinzuarbeiten. Selbst unter diesen Umständen mußte Stresemann es jedoch vermeiden, im Westen übermäßige Zweifel daran aufkommen zu lassen, wie weit die Aussöhnung Deutschlands mit dem neuen Europa gehe, während er gleichzeitig in Moskau nicht den Eindruck entstehen lassen durfte, er sei durch diese Aussöhnung so sehr mit dem Westen verbunden, daß es für Rußland notwendig würde, die Beziehungen zu seinen Nachbarn, besonders Polen, zu verbessern und seinen wichtigen Beitrag zum deutschen Militärpotential einzustellen. Stresemann tat dies mit Hilfe des Zeitplans: er ließ die Russen warten, indem er ihnen so lange Hoffnungen machte und beruhigende Erklärungen abgab, bis Frankreich sich auf die Locarno- Politik festgelegt hatte. Dann verstärkte Stresemann den Draht nach Moskau durch entschiedene Konzessionen an die Befürchtungen der Sowjets. In Anbetracht der Tatsache, daß die Sowjetregierung jedes verfügbare Mittel benutzte, um Deutschland durch Einschüchterung oder Schmeichelei zur Aufgabe der Locarno-Politik zu veranlassen, benötigte und bewies Stresemann eine Kühnheit und Wachsamkeit, wie sie selbst Bismarck kaum hätte erreichen können. Nach der Einigung über den Dawes-Plan im Jahre 1924 hatte tiefe Unruhe die Sowjetregierung erfaßt über die Grundrichtung von Stresemanns Außenpolitik, seine Tendenz zur Herstellung guter Beziehungen zu den Westmächten und über seine Bereitschaft, in den Völkerbund einzutreten. All dies deutete vielleicht auf einen antisowjetischen westlichen Block hin und auf die Möglichkeit deutscher Mitwirkung an Aktionen des Völkerbundes gegen Rußland. Im Dezember 1924 schlug das sowjetische Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten deutsch-russische Gespräche vor, um eine endgültige Verständigung über die polnische Frage und politische Fragen im allgemeinen herbeizuführen. Es regte ferner eine Vereinbarung an, die beide Regierungen verpflichten sollte, keine politischen oder wirtschaftlichen Bündnisse mit dritten Partnern einzugehen, die gegen die andere gerichtet wären. Dieser Vorschlag wurde in den folgenden Monaten wiederholt und erweitert. Er war von mehr oder weniger verhüllten Drohungen begleitet: Rußland könnte ein Zusammengehen mit Frankreich anstreben, das im Oktober 1924 das Sowjetregime anerkannt hatte, und Rußland könnte die polnischen Grenzen garantieren. Stresemann lehnte jede neue Verpflichtung ab, solange die zum

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Locarno-Pakt führenden Verhandlungen im Gange waren, aber zur gleichen Zeit legte er wiederholt dar, seine Politik enthalte nichts Rußlandfeindliches. Der sowjetische Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, Tschitscherin, erhielt die Versicherung, alle Verpflichtungen, die Deutschland beim Eintritt in den Völkerbund gegenüber Polen eingehen könnte, würden rein theoretisch sein; Deutschland sei entschlossen, darauf zu bestehen, daß es an keinerlei Völkerbundssanktionen teilnehmen könne, und diese Neutralität würde tatsächlich dazu dienen, Rußland gegen den Völkerbund zu schützen. Stresemann beteuerte beharrlich den Russen gegenüber, die vorgeschlagenen Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei seien nicht mehr als eine bedeutungslose Geste an die Adresse Frankreichs, und Deutschland habe die polnischen Grenzen nie anerkannt. Stresemann legte dar, er versuche im Westen lediglich einen Schutz gegen Frankreich zu schaffen, um das deutsche Gebiet von alliierter Besetzung zu befreien und die Franzosen allgemein zu veranlassen, ihren Deutschland umklammernden Würgegriff zu lösen. Stresemann erfüllte das Versprechen, die vollen Verpflichtungen der Mitgliedschaft im Völkerbund abzulehnen, dadurch, daß er sich in Locarno der schon zitierten Formel versicherte. Verhandlungen über einen Handelsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurden während der Vorverhandlungen über den Locarno-Pakt fortgesetzt, und im Oktober 1925 wurde ein Handelsvertrag unterzeichnet. Nach der förmlichen Unterzeichnung der Locarno-Verträge nahm Stresemann die politischen Gespräche für eine neue Übereinkunft mit Rußland wieder auf. Die Sowjetunion half den Dingen nach durch gleichzeitige – ergebnislose – Verhandlungen mit Frankreich auf der Grundlage französischer Kredite für Rußland und der Wiederaufnahme der Zinszahlungen auf die Schulden des zaristischen Rußland sowie durch die Drohung, einen Nichtangriffspakt mit Polen abzuschließen. Der Berliner Vertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde am 24. April 1926 unterzeichnet. Er bestimmte, daß, wenn eines der Länder angegriffen würde, das andere neutral bleiben und daß keines der beiden Länder sich an einem wirtschaftlichen und finanziellen Boykott gegen das andere beteiligen würde. In einem Notenwechsel versprach Deutschland energischen Widerstand gegen etwaige antisowjetische Tendenzen des Völkerbundes. Die Völkerbundssatzung wurde von Deutschland folgendermaßen ausgelegt: Ein Völkerbundsbeschluß, irgendein Land zum Aggressor zu erklären, könne für Deutschland ohne deutsche Zustimmung nicht bindend sein, und Deutschland könne deshalb nicht gezwungen werden, gegen die Sowjetunion vorzugehen. Zwei Monate später erhielt Rußland von Deutschland einen beträchtlichen Kredit. In der Zwischenzeit ging die militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland weiter, ohne durch die Locarno-Politik gestört zu werden.93 Als Stresemann im Oktober 1929 starb, hatte er eine Reihe triumphaler Erfolge errungen. Deutschland nahm jetzt an der europäischen Diplomatie auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit den anderen Großmächten teil und genoß

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sogar Vertrauen. Freilich blieben Beschränkungen der deutschen Wiederbewaffnung und der Rechte Deutschlands in der entmilitarisierten Zone im Rheinland bestehen, aber Stresemann hatte die Beseitigung einer wirksamen ausländischen Kontrolle der deutschen Streitkräfte erreicht, die mit russischer Hilfe imstande waren, die Grundlage für einen vollständigen Wiederaufbau der deutschen Militärmacht zu bilden. Im Westen war der Vertrag von Versailles grundlegend revidiert worden; das vorzeitige Ende der Besetzung deutschen Gebietes durch die Alliierten war in Sicht, und zwar als Teil eines Tauschgeschäfts, das sich aus der Anerkennung des Young-Plans von seiten Deutschlands ergab. Durch den Young-Plan waren die Reparationen schließlich auf eine anscheinend dauerhafte und erträgliche Basis gestellt worden. Eine Wiederholung der Ruhr-Besetzung von 1923 war unmöglich geworden. Politische Stabilität hatte Deutschland wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand gebracht, was Stresemann als Folge der Locarno-Politik vorhergesagt hatte, wenngleich der Wohlstand auf dem unsicheren Fundament ausländischer Anleihen beruhte. Lediglich die Herrschaft Frankreichs über das Saargebiet blieb bestehen – das einzige Versagen des ›Geistes von Locarno‹ hinsichtlich der Erreichung der Ziele Deutschlands. Im Osten war die Verbindung Polens mit Frankreich gelockert, und die moralische Grundlage der Versailler Grenzfestsetzung war untergraben worden. Im Jahre 1929 war es weit weniger wahrscheinlich als 1923, daß Polen bei der Verteidigung seiner Grenzen gegen deutsche Forderungen auf französische Hilfe zählen könnte, während die Wahrscheinlichkeit, daß England einer territorialen Revision im Osten völlig gleichgültig gegenüberstehen würde, noch größer geworden war. Die Freundschaft mit Rußland und die daraus resultierenden militärischen Vorteile waren bewahrt worden, und die Sowjetunion war noch immer nicht darauf festgelegt, die Gebietsregelungen der Nachkriegszeit zu unterstützen. Hitler trat das Erbe der Leistungen Stresemanns an: Ohne dessen Arbeit an der Untergrabung des Glaubens an die Gültigkeit des Vertrags von Versailles wäre Hitler bei seinen militanten Revisionsbestrebungen wohl mit Sicherheit früher in die Schranken gefordert worden. Stresemanns endgültiger Triumph wurde durch die zögernde französische Politik hinausgeschoben. Briand glaubte an die Zusammenarbeit, aber er konnte Poincarés Mißtrauen erst überwinden, als finanzielle Überlegungen die Annahme des Young-Plans unausweichlich machten. Briands Hoffnung auf eine Schwächung des Nationalismus in Deutschland wurde schon bei den Reichstagswahlen von 1930 bitter enttäuscht. Die Hoffnung auf einen Mann, der wirklich die Nachfolge Stresemanns antreten würde, schwand rasch dahin. Ein Deutschland, das wiedererstarken wollte, aber bereit war, dieses Ziel mit solchen Mitteln zu verfolgen, die den Frieden Europas bewahren würden, gehörte bald der Vergangenheit an. In dem Sinne scheiterte Briands Politik völlig. Das heißt nicht, daß es eine törichte Politik gewesen wäre, denn der Fehlschlag rührte vielmehr daher, daß die Bedingungen für stabile

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Verhältnisse und eine Politik der Mäßigung in Deutschland, nämlich Wohlstand und Zufriedenheit im Innern, im Jahre 1929 zu verschwinden begannen. Briands Politik ist unter solchen Umständen, die allein zu ihrem Erfolg hätten führen können, niemals auf die Probe gestellt worden. III. Die Rolle Italiens Italien hatte in diesen Jahren wenig Einfluß auf die entscheidenden Entwicklungen in Europa. Die Friedensverträge hatten die Bestrebungen Italiens, wie sie in den während des Krieges abgeschlossenen Verträgen von London und St. Jean de Maurienne ausgedrückt waren, keineswegs in vollem Umfange befriedigt. Die italienischen Regierungen, die vor Mussolinis Machtergreifung im Oktober 1922 amtierten, waren geneigt gewesen, die Nachkriegsregelung hinzunehmen, nicht aus Begeisterung, sondern aus Resignation, die aus der Einsicht in die Schwäche Italiens resultierte. Zwischen Frankreich und England hatte Italien einen Mittelweg eingeschlagen, obwohl es dazu tendierte, die britische Politik des Ausgleichs und nicht die französische Politik der Gewalt zu unterstützen.

� Abb. 7: Aristide Briand

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Von Mussolini konnte man erwarten, daß er einen anderen Kurs steuern werde. Soweit irgendeine zusammenhängende politische Linie aus seinen zahlreichen Schriften und Reden der Nachkriegszeit abgeleitet werden konnte, war es die, daß Italien die Neuordnung der Welt nicht hinnehmen, sondern danach trachten sollte, sie zu ändern, und danach streben sollte, der Größe Italiens durch territoriale Expansion und durch selbstbewußtes diplomatisches Auftreten Ausdruck zu verleihen.94 Im Jahre 1923 schien der Korfu-Zwischenfall zu zeigen, daß Mussolini sich tatsächlich als eine Gefahr für den Frieden in Europa erweisen könnte. Der italienische General Tellini führte den Vorsitz in einer von der Botschafter-Konferenz in Paris entsandten Kommission, die die Grenzen Albaniens festsetzen sollte. Hier wurden er und sein italienischer Adjutant von Attentätern unbekannter Nationalität ermordet. Mussolini entschied sich für die Vermutung, die griechische Regierung stecke hinter dem Mord, und setzte gegen Griechenland Gewaltmaßnahmen ins Werk, die schon vor der bequemen Rechtfertigung, die der Mord lieferte, geplant gewesen sein mußten. Ein gebieterisches Ultimatum gab der griechischen Regierung 24 Stunden Zeit, die Forderung nach einer umfangreichen Entschädigung, der Todesstrafe für die Mörder sowie Entschuldigungen und Verbeugungen gegenüber Italien anzunehmen. Als die Griechen das Ultimatum im wesentlichen annahmen, die besonders entehrenden Forderungen jedoch zurückwiesen, gab Mussolini den Befehl, italienische Kriegsschiffe sollten Korfu in Besitz nehmen. Am 31. August wurde nach vorheriger Beschießung eines alten Befestigungswerks, worin sich griechische Flüchtlinge und Waisenkinder aus Kleinasien befanden, die Insel besetzt. Die griechische Regierung appellierte umgehend an den Völkerbund. Mussolini drohte mit dem Austritt aus dem Völkerbund, falls der Streit dort diskutiert würde. Angesichts der Gefahr einer Intervention des Völkerbundes gab Mussolini nach, ließ von der vermutlichen Absicht, in Korfu zu bleiben, ab und akzeptierte einen Ausweg, den ein Vorschlag des klugen italienischen Botschafters in Paris wies. Mit französischer Hilfe, die der Besorgnis um die weitere Duldung der Ruhr- Besetzung durch Italien entsprang, wurde der Völkerbund überredet, die Angelegenheit der Botschafter- Konferenz zu übertragen. Diese arbeitete eine vernünftige Beilegung des Zwischenfalles aus und schonte das Prestige Italiens, indem sie es ihm ersparte, vor dem Völkerbund klein beigeben zu müssen.95 Obwohl der Korfu-Zwischenfall in Italien als großer Erfolg der ungestümen Kraft Italiens und der Energie des Faschismus laut gefeiert wurde, unterstrich er in Wirklichkeit die Schwierigkeiten, auf die Mussolinis Streben nach Größe stieß. Ohne Duldung Englands und Frankreichs konnte sich Italien auf eine Expansionspolitik nicht einlassen, weil jene Mächte eine erdrückende Übermacht in Westeuropa und im Mittelmeer besaßen. Noch gab es keine Macht in Europa, die ein Gegengewicht gegen die englisch-französische Vorherrschaft hätte bilden können – die Furcht Frankreichs vor Deutschland bezog sich auf die Zukunft,

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nicht auf die Gegenwart. Auch erreichten die zwischen England und Frankreich auftretenden Schwierigkeiten keinen solchen Grad, daß Italien hätte hoffen können, die eine Macht gegen die andere auszuspielen. Jene Schwierigkeiten beruhten nämlich nicht auf einer direkten Kollision der Interessen beider Länder, sondern nur auf Meinungsverschiedenheiten über den besten Weg zur Sicherung des Friedens in Europa. Italien konnte daher einen Konflikt mit Frankreich oder England nicht riskieren. Die Expansionspolitik mußte sich auf Worte oder bestenfalls auf die nutzlose Tötung wehrloser Griechen beschränken sowie auf die Annahme von Geschenken Englands; diese bestanden aus einigen Wüstengebieten und der Zusammenarbeit bei der Gewinnung wirtschaftlicher Vorteile in Äthiopien. Erst als die Macht Deutschlands wiederauflebte, konnte Mussolinis Verantwortungslosigkeit sich in vollem Maße äußern. Es gibt Anzeichen, daß Mussolini dies erkannte und daß er, anders als die vernünftigen italienischen Berufsdiplomaten, den deutschen Nationalismus und die deutsche Angriffslust ermuntern wollte, um sich von einer aufgezwungenen und als lästig empfundenen Haltung des Anstandes gegenüber anderen Nationen freizumachen. Es ist nahezu sicher, daß im Jahre 1923 verbotene, wahrscheinlich für die Reichswehr bestimmte Waffen von Italien nach Deutschland gesandt wurden, und es ist sicher, daß Kontakte zu rechtsstehenden Gruppen in Bayern, auch zu den Nationalsozialisten, hergestellt wurden. Gewisse Zeugnisse sprechen dafür, daß die Nationalsozialisten, die einzige Gruppe unter den deutschen Nationalisten, die bereit war, Südtirol aufzugeben, finanzielle Hilfe von Mussolini erhielten.96 Mussolini mußte in den zwanziger Jahren in einem zunehmend stabilen Europa leben, mochte ihm diese Tatsache, wie diese Zeugnisse nahelegen, auch noch so sehr mißfallen. Locarno, das die Beendigung der französisch-deutschen Spannungen mit sich brachte, war ihm zwar keineswegs willkommen, doch lag auf der Hand, daß die Abmachungen ungeachtet der Haltung Italiens zustande kommen würden. Daher trat Mussolini dem Pakt bei. Er tröstete sich, indem er betonte, nach dem Locarno-Vertrag würden England und Italien als die beiden Garanten des Rheinland- Paktes einander gleichgestellt, und indem er – durchaus zutreffend, wie sich erwies – Locarno nachdrücklich als einen Waffenstillstand, nicht als definitive Beendigung der Konflikte in Europa bezeichnete. Eines Tages würden die Dinge wieder in Bewegung geraten, dann könnten Gebietsansprüche erhoben werden, und um dafür bereit zu sein, »müssen wir uns kriegsbereit machen, müssen wir eine starke Armee und eine starke Marine haben, eine Luftwaffe, die den Himmel beherrscht, und vor allem in sämtlichen Bevölkerungsschichten einen Geist, der zu Opfern bereit ist«97. Da Frankreich einem Ausgleich mit einem mehr und mehr auf Friedenspolitik festgelegten Deutschland zustrebte und Mussolini es mit einem zwar freundlichen, aber von Grund auf konservativen England zu tun hatte, konnte er in der Zwischenzeit wenig erreichen. Ende 1928 hatte das faschistische Italien nur Fiume erworben, und zwar für eine kurzlebige Freundschaft mit

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Jugoslawien, ferner eine faktische Protektoratsherrschaft über Albanien, die unter britischer Duldung in Verträgen mit Achmed Zogu Gestalt annahm, sowie unbedeutende Gebiete an den Grenzen von Britisch-Kenia und des von England beherrschten Ägypten. Beim Jahreswechsel 1928/29 konnten die Europäer zum letztenmal vertrauensvoll friedlichen Zeiten entgegensehen. Die Sowjetunion war durch die rücksichtslose Modernisierung der Verhältnisse unter Stalin voll in Anspruch genommen, und die kommunistische Revolution in der übrigen Welt war auf unbestimmte Zeit vertagt. Niemand sprach von Krieg, außer Mussolini, und dessen Äußerungen konnte man ohne Gefahr ignorieren. Frankreich lebte in Sicherheit. In Großbritannien konnten die Regierungen mit gutem Grund behaupten, die Verteidigungsplaner könnten es für ausgemacht halten, daß es in absehbarer Zukunft – der Zeitraum wurde auf zehn Jahre definiert – keinen größeren Krieg geben werde. Für niemanden gab es eine denkbare Ursache, die Vereinigten Staaten zu fürchten. Vor allem, und das war die ausschlaggebende Tatsache, schien Deutschland den Frieden akzeptiert zu haben. Sogar eine Gruppe in der Deutschnationalen Partei hatte anerkannt, daß Stresemanns Politik nicht in Frage gestellt werden könne, und begann sich an republikanischen Regierungen zu beteiligen. Zweifellos hatte Deutschland den Vertrag von Versailles nicht hingenommen, aber wenigstens nach außen hatte es zugunsten der Waffe der Überzeugung den Krieg als Mittel zur Revision dieses Vertrages verworfen. Deutschland lebte nunmehr im Wohlstand, und die Macht derjenigen, welche darauf aus waren, den Gedanken der Zusammenarbeit in einem friedlichen Europa verächtlich zu machen, war in Deutschland im Abnehmen begriffen. Verhandlungen über die Verkleinerung der Armeen hatten, wenn auch langsam, begonnen. Der Kellogg-Pakt von 1928, durch den die Mächte den Angriffskrieg als Werkzeug nationaler Politik ächteten, war zu diesem Zeitpunkt ein glaubwürdigeres Vertragswerk, als er es zu jeder früheren Zeit hätte sein können. Die Grundlagen des Friedens, die durch die 1929 im Haag erzielten Abkommen über den Young-Plan und über das Ende der alliierten Besatzung in Deutschland scheinbar fest gefügt waren, begannen in demselben Jahr zu zerbröckeln. 5. Europa und die Weltwirtschaft Die auffälligste äußere Veränderung der Weltwirtschaft in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verglichen mit der Zeit vor 1914 war der Rückgang des Anteils Europas am internationalen Handel. Von 1909 bis 1913 betrugen die Ausfuhren von Europa in die übrige Welt 30 Prozent der gesamten Exporte, während es von 1925 bis 1938 nur 25 Prozent waren. Vor 1913 betrug die Ausfuhr der nichteuropäischen Länder untereinander nur 25 Prozent der Weltausfuhr, von 1925 bis 1938 dagegen 40 Prozent. Dieser Wandel war ein Symptom für eine breite Skala von Schwierigkeiten, die die europäische Wirtschaft beeinflußten.

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Einige dieser Schwierigkeiten hatten sich schon vor dem Kriege gezeigt. Sie verschärften sich insgesamt durch die Auswirkungen des Krieges.98 Die Struktur des Welthandels vor 1914 wurde durch den Austausch der Fertigwaren Europas gegen Grundstoffe oder unverarbeitete Produkte aus den nichteuropäischen Ländern, nämlich Lebensmittel und Rohstoffe, bestimmt. Bis 1914 führte das wirtschaftliche Wachstum in Europa zur Steigerung der Nachfrage nach Grundstoffen, die es umgekehrt den Herstellern von Grundstoffen ermöglichte, mehr Fertigwaren zu kaufen und so die Entwicklung der Industrie in Europa weiter anzuregen. Europäische Investitionen in den Ländern, die Grundstoffe produzierten, machten eine ständige Expansion der Produktionsmittel der Nahrungsmittel und Rohstoffe liefernden Länder möglich. Der Krieg wirkte sich in mannigfacher Hinsicht auf viele dieser nichteuropäischen Länder bedeutsam aus. Erstens förderten kriegsbedingte Schwierigkeiten in der Lieferung von Fertigwaren aus Europa deren einheimische Industrie. Zweitens führte die kriegsbedingte Nachfrage aus Europa, zusammen mit einem zeitweiligen Rückgang der europäischen Grundstoffproduktion, besonders auf landwirtschaftlichem Gebiet, zu einer raschen Ausdehnung der eigenen Produktion dieser Länder. Bei Kriegsende fand die europäische Industrie einige ihrer Märkte weniger aufnahmebereit für ihre Produkte, während die Grundstoffe herstellenden Länder die Preise für ihre Exporte, besonders Lebensmittel, sinken sahen, als sich die Landwirtschaft in Europa wieder erholte. Die Tatsache, daß die Exporte aus Europa ihren früheren Stand nicht wieder erreichten, bedeutete eine Verminderung der Nachfrage Europas nach Einfuhren, die umgekehrt die Exportkapazität der Grundstoff-Erzeugerländer schwächte und infolge der Verbilligung von Lebensmitteln und Rohstoffen deren Tendenz zur Entwicklung ihrer industriellen Unabhängigkeit (oft hinter Schutzzollschranken) förderte und die Stellung europäischer Fertigwaren weiter verschlechterte. Die folgende Tabelle bringt Beispiele aus drei Ländern. Daran zeigt sich, daß ein starkes Anwachsen der Einfuhren in der Zeit von 1899 bis 1913 nach dem Kriege gehemmt wurde und nach 1929 eine rückläufige Entwicklung nahm. Die Zahlen gelten für die Einfuhr von Fertigwaren aus 12 Ausfuhrländern und verstehen sich in Millionen Dollar auf der Preisbasis von 1955.99 1899191319291937 Argentinien2187441064725 Brasilien174429489372 Indien70412191159796 Ein weiterer Grund für die Schwächung der Position Europas im Welthandel lag im Anwachsen der Konkurrenz nichteuropäischer Länder, besonders der Vereinigten Staaten, aber auch Japans. Die nächste Tabelle zeigt das prozentuale Verhältnis der gesamten Fertigwarenausfuhr von fünf Ländern in der Zeit von

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1913 bis 1937 zum Gesamtexport von Fertigwaren aus Westeuropa, Kanada, den USA und Japan.100 191319291937 USA122121 Großbritannien322220 Deutschland262016 Frankreich12126 Japan2310 Die folgenden Tabellen zeigen die Entwicklung der Ausfuhr von Fertigwaren in drei Länder in Millionen Dollar auf der Preisbasis von 1938.101 Nach Argentinien aus:Großbrit.Deutschld.FrankreichUSAinsges. 1913131874048306 19281217732127356 193880571676229 Nach Brasilien aus:Großbrit.Deutschld.FrankreichUSAinsges. 191372651945201 192855421564176 19382158750136 Nach Indien aus:Großbrit.Deutschld.FrankreichUSAJapaninsges. 191346646111016549 192833648113449478 19381604232652283 Das Anwachsen der japanischen und amerikanischen Konkurrenz erfolgte zum Teil während des Krieges, als Europa in einem gewissen Ausmaße seine üblichen Kunden nicht beliefern konnte, aber es setzte sich nach dem Kriege aus anderen Gründen fort. Im Falle Japans handelte es sich um einen Erfolg in einem frühen Stadium der Industrialisierung; Japans Ausfuhr beruhte auf dem Absatz von billigen und verhältnismäßig einfachen Fertigwaren, namentlich Textilien von geringerer Qualität. Die Ausfuhr der Vereinigten Staaten war bedingt durch die besondere Schnelligkeit, mit welcher die dortigen Industriellen neue Produktionstechniken, besonders die Massenproduktion, und neue Produktionstypen entwickelt hatten, so daß die industrielle Produktion der Vereinigten Staaten nicht nur insgesamt gesehen voranschritt, sondern daß sich

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die Nachfrage nach ihren Exportgütern anteilig noch mehr steigerte. Das auffälligste Beispiel ist die Automobilindustrie: Im Jahre 1929 exportierten die Vereinigten Staaten mehr als dreimal so viel Personenwagen und gewerbliche Fahrzeuge wie England, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. Erst in den dreißiger Jahren begannen die europäischen Länder eine Motorenindustrie zu entwickeln, die auf Massenmärkten mit der der Vereinigten Staaten in Wettbewerb treten konnte. Die Ausfuhr von Maschinen aus den Vereinigten Staaten war 1929 gegenüber 1913 auf das Zweieinhalbfache angestiegen, während die Ausfuhr aus Westeuropa nur um rund ein Fünftel zugenommen hatte.102 Die USA spielten jedoch nicht dieselbe Rolle wie die westeuropäischen Länder vor 1914, denn sie waren hinsichtlich der Lebensmittel weitgehend autark und bezüglich der Rohstoffe relativ unabhängig. Anders als Großbritannien waren sie durch hohe Zölle geschützt. Die Exporte aus den Ländern, die Grundstoffe ausführten, in die Vereinigten Staaten nahmen daher nicht in demselben Maße zu wie ihre Einfuhren aus den Vereinigten Staaten. Die kriegsbedingte Nachfrage in Europa förderte das rasche Wachstum der Schwerindustrie, und im Frieden reichte die Nachfrage nicht aus, um die so geschaffenen Kapazitäten auszulasten. In den wichtigsten Industrieländern ging die Entwicklung dahin, daß bestimmte Produktionszweige und Arbeitskräfte nicht voll beschäftigt waren, wobei ihr abnehmendes Einkommen ihre Nachfrage in anderen Industriezweigen verminderte und so eine allgemeine Stagnation förderte. Ein gutes Beispiel ist der Schiffsbau, dessen Kapazität vor und im Kriege infolge der Nachfrage nach Kriegsschiffen und nach Transportmöglicheiten für Kriegsmaterial und infolge des Bedarfs an Ersatz für verlorenen Handelsschiffsraum übermäßig zugenommen hatte. Diese angeschwollene Kapazität stieß nach dem Kriege auf eine beschränkte Nachfrage, da der Welthandel den Vorkriegsumfang nicht wieder erreicht hatte. Das lag nicht an der Konkurrenz der Vereinigten Staaten, denn die europäischen Werften behielten die vor dem Kriege innegehabten wirtschaftlichen Vorteile, sondern an der Überkapazität, die zur Arbeitslosigkeit führte. In den Jahren vor dem Kriege hatte sich die Produktion von neuen Handelsschiffen auf durchschnittlich 2,5 Millionen BRT jährlich belaufen. Diese Zahl fiel auf weniger als 2 Millionen BRT zwischen den Kriegen, während gleichzeitig der Bau von Kriegsschiffen rapide absank. Wie in anderen Industrien waren die ältesten Produzenten die am schwersten betroffenen – besonders in England –, während jüngere Werften – wie die in Skandinavien –, die sich auf den Bau von Motorschiffen spezialisierten und die neuesten technischen Methoden anwandten, ihren Produktionsanteil verbessern konnten.103 Überkapazität zeigte sich auch auf einem anderen bedeutenden Industriesektor in Westeuropa: dem des Kohlenbergbaus. Es gab hierfür zwei Arten von Gründen: erstens dehnte sich die kohlebenutzende Industrie nach dem Kriege langsamer aus als vorher – beziehungsweise gar nicht –, und

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zweitens führte der technische Fortschritt zur Benutzung konkurrierender Brennstoffe, nämlich des Öls und mit Wasserkraft gewonnener Elektrizität. Beim Schiffsbau traf beides zusammen: er verbrauchte bei der Produktion weniger Kohle, und die Schiffe selbst benutzten mehr und mehr Öl. Auch hiervon waren einige Kohlengebiete schlimmer betroffen als andere, besonders die exportabhängigen Kohlenreviere in England. Ebensowenig, wie der Handel zwischen Europa und der übrigen Welt die Wachstumsrate der Vorkriegszeit wieder erreichen konnte, erreichte der Handel der europäischen Länder untereinander den Vorkriegsstand wieder. Die Beschränkung der Ausfuhr von einem europäischen Land in Länder außerhalb Europas führte bei diesem Land zu sinkender Nachfrage, die ihrerseits andere Länder in Europa berührte. Insbesondere zogen die geringen britischen Exporte in der Nachkriegszeit dadurch, daß sie indirekt die britische Nachfrage verminderten, andere Länder, namentlich Deutschland und Frankreich, in Mitleidenschaft. Der Handel zwischen den wichtigsten westeuropäischen Industrieländern, nämlich Deutschland, Frankreich und Großbritannien, erreichte den Stand von 1913 nicht wieder.104 Die kleineren Industrieländer machten jedoch in der Zeit zwischen den Kriegen nicht dieselbe Erfahrung wie die größeren. Sie entwickelten eine Ausfuhr auf der Grundlage industrieller Spezialprodukte oder eines höheren Durchschnittsniveaus technischer Perfektion. So nahm beispielsweise die Ausfuhr von Fertigwaren aus Belgien und Luxemburg zwischen 1913 und 1929 rapide zu, mit einem nur geringfügigen Absinken von 1929 bis 1937, während der entsprechende Export Schwedens innerhalb dieses gesamten Zeitraums anstieg.105 Auch machten die Hauptagrarländer Europas unterschiedliche Erfahrungen. Alle standen besonders in den dreißiger Jahren vor Schwierigkeiten wegen der niedrigen Weltmarktpreise für Ackerbauprodukte, Schwierigkeiten, die sich durch die Schutzzollpolitik der großen Industrieländer zugunsten ihrer eigenen Landwirtschaft verschärften. Darunter litten einige Gebiete mehr als andere. Die höher entwickelten westeuropäischen Länder, wie zum Beispiel Dänemark, exportierten in der Hauptsache tierische Produkte, während sie die notwendigen Futtermittel teilweise einführten – auf diese Weise zogen sie aus den niedrigen Getreidepreisen einen gewissen Profit. Osteuropäische Länder, wie Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien, deren Ausfuhr hauptsächlich aus Getreide bestand, hatten schwer unter den sinkenden Preisen zu leiden.106 In dieser Gruppe europäischer Grundstoffproduzenten setzte sich im Gegensatz zu den hochindustrialisierten Nationen die Bevölkerungszunahme fort, während die Möglichkeit, nach den Vereinigten Staaten auszuwandern, durch die amerikanische Gesetzgebung drastisch eingeschränkt wurde. Die europäischen Industrieländer, vor allem die größeren, konnten also das Vorkriegswachstum der Industrieproduktion nicht fortsetzen und litten, besonders in exportabhängigen Industriezweigen, unter Arbeitslosigkeit und mangelnder Ausnutzung der Produktionsmittel. Die

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Agrarnationen litten unter niedrigen Preisen für Ackerbauprodukte, besonders solche Länder, die Getreide für den Export produzierten. Mehrere Veränderungen wären notwendig gewesen: vor allem Maßnahmen zur Förderung des internationalen Handels, eine Verlagerung des Gleichgewichts von Produktion und Investitionen in den größeren Industrieländern in Richtung auf fortschrittlichere und kompliziertere Arten von Fertigwaren hin und weg von den wichtigsten Erzeugnissen der Vorkriegszeit – wie billige Textilien und Stahlschienen – sowie Investitionen der reicheren Nationen in der Wirtschaft der weniger entwickelten Länder sowohl in Europa wie außerhalb Europas. Statt dessen wurde der internationale Handel, besonders in den dreißiger Jahren, durch Zölle und Einfuhrschranken erschwert, die die Wirtschaft der einzelnen Nationen schützen und Monopole auf den kolonialen Märkten sicherstellen sollten. Die Umstellung der Produktionsmittel in den Hauptindustrieländern wurde durch starre administrative Maßnahmen behindert, wie die Kontrolle der Wohnungsmieten, und mehr noch durch eine deflationistische Pollitik, die bezweckte, die internationalen Wechselkurse aufrechtzuerhalten. Das internationale Anleihewesen wurde durch die in England und Deutschland herrschende Devisenknappheit beeinträchtigt, während französische Kapitalanleger etwaigen Anleihen an das Ausland nach dem Verlust der gesamten französischen Investitionen in Rußland mit verständlichem Mißtrauen gegenüberstanden. Die USA boten diesen Ländern keinen ausreichenden Ersatz, da amerikanischen Geldleuten die Erfahrung europäischer Geldinstitute im Anleihewesen fehlte und sie vor 1929 dazu neigten, kurzfristige Anleihen für unproduktive Projekte zu vergeben, während sie nach 1930 dahin tendierten, überhaupt keine Anleihen an das Ausland zu gewähren. Die Wirtschaftspolitik des Laissez-faire war zusammengebrochen oder vielmehr, die Härten, die die Anwendung des Laissez-faire bei der Herstellung eines neuen wirtschaftlichen Gleichgewichts mit sich bringen würde, waren zu groß, um für die Bevölkerungen und ihre Regierungen erträglich zu sein. Wie wir jedoch sehen werden, wenn wir die Geschicke einzelner Länder prüfen, waren die Regierungen nicht immer erfolgreich bei ihren Versuchen, ihren Völkern durch Eingriffe in den Ablauf der Wirtschaft zu helfen. Obwohl die Gesamtlage der europäischen Wirtschaft in den Jahren zwischen den Kriegen weniger ermutigend und hoffnungsvoll war als vor 1914, war sie nicht in jeder Beziehung düster. Einigen Ländern und einigen Industrien ging es gut. Die Industrieländer und die Personen, die in ihnen industriell tätig waren, profitierten von den sinkenden Lebensmittelpreisen auf dem Weltmarkt; besonders galt das von Großbritannien. Bis 1929 schien es darüber hinaus, als ob der Fortschritt der Vorkriegszeit neu eingesetzt hätte. Ebenso wie in den zwischenstaatlichen Beziehungen begann das Jahr 1929 wirtschaftlich voll Hoffnung und Vertrauen. Es endete mit den Anfängen der Katastrophe. Der obige Bericht über die Weltwirtschaft hat es mit langfristigen Trends zu tun, die in der gesamten Periode zwischen den Kriegen feststellbar sind. Diese

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Trends waren jedoch manchmal stärker, manchmal schwächer, und zwar aus Gründen und infolge wirtschaftlicher Entwicklungen von kürzerer Dauer, besonders derjenigen, die mit dem Konjunkturzyklus zusammenhingen. Das Schema der Weltwirtschaft zwischen den Kriegen war, grob gesagt, folgendes: ein heftiger Aufschwung in den Jahren 1919 und 1920 machte 1921/22 einem Rückschlag Platz; es folgte ein stetiger Anstieg von 1922 bis 1929, mit Unterbrechungen in den Jahren 1924 und 1927. Von 1929 bis 1932 trat ein drastischer Rückschlag ein, dem eine langsame und schmerzhafte Erholung seit 1932 bis zu einem neuen Höhepunkt der Wirtschaftstätigkeit um 1937 folgte, wonach sich plötzlich Kriege und Kriegsvorbereitungen einstellten. Diese allgemeinen Tendenzen führten im Verein mit den Verhältnissen beziehungsweise der Politik einzelner Länder zu weit voneinander abweichenden Ergebnissen. In England zum Beispiel wurde die Depression von 1921 bis 1922 schwer empfunden, während in Frankreich, wo leichtere Kreditbedingungen und eine lockerere fiskalische Politik die Nachfrage hochhielten, die Prosperität auf inflationistischer Grundlage bestehen blieb. In Deutschland wurde diese Phase des Konjunkturzyklus von den Anfängen einer Inflation, die ohne Widerstand bis zu ihrem Ende fortschritt, völlig überspült. Diese wirtschaftlichen Schwankungen sind am besten in ihren Auswirkungen auf einzelne Ländern zu untersuchen, deren politisches Leben sie beherrschten. Der Rückschlag, der 1929 begann, hatte jedoch so weitreichende Folgen, daß er eine eigene Analyse verlangt. Die große Depression begann in den Vereinigten Staaten. Einer unvergleichlichen Zunahme des Wohlstandes in den zwanziger Jahren folgte der Zusammenbruch. Von 1921 bis 1929 stieg das Brutto-Sozialprodukt von 62,5 Milliarden Dollar auf 93,6 Milliarden Dollar, wenn man von gleichbleibenden Preisen ausgeht. 1932 war die Industrieproduktion der Vereinigten Staaten auf fast die Hälfte von 1929 und das Sozialprodukt auf 58 Milliarden Dollar gesunken.107 Die Ursachen des Konjunkturrückgangs in Amerika sind nach wie vor umstritten. Es ist jedoch ziemlich klar, daß die erste Abschwächung des Booms auf dem Bausektor eintrat: die private und öffentliche Bautätigkeit begann im Jahre 1929, insgesamt gesehen, zu sinken. Gleichzeitig fiel die Konsum-Zuwachsrate, wodurch folgerichtig die Investitionstätigkeit gehemmt wurde. Im Juli 1929 begann das Volumen der Industrieproduktion abzunehmen. Diese Entwicklungen wurden durch den Börsenkrach im Oktober beschleunigt, der das Vertrauen der Geschäftswelt erschütterte und die Bereitschaft zu Investitionen verringerte. Diese Gründe für ein Sinken der Nachfrage wurden verstärkt und ausgeweitet durch eine Krise der amerikanischen Landwirtschaft, die zu der Krise der Banken von 1930 bis 1933 erheblich beitrug. Die Preise für landwirtschaftliche Produkte waren in den späteren zwanziger Jahren auf einem niedrigen Niveau geblieben, und beim Eintreten des Rückschlags in der Industrie brachen sie zusammen. Den Farmern, die allgemein verschuldet waren, fiel es schwer, weiterhin die Zinsleistungen aufzubringen, oder sie wurden zum

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völligen Bankrott gezwungen. Die Folge war eine Reihe von Konkursen von Banken, und zwar hauptsächlich kleiner örtlicher Banken, was dazu führte, daß Mangel an Vertrauen um sich griff. Dadurch drohte bis März 1933 sogar der Zusammenbruch der Großbanken. Notstandsgesetze bannten die Gefahr.108 Der Rückschlag in den Vereinigten Staaten wirkte sich in der ganzen Welt aus, mit Ausnahme der völlig isolierten Wirtschaft der Sowjetunion. Erstens nahm die Nachfrage der Vereinigten Staaten nach der Ausfuhr sowohl der Grundstoffe produzierenden Länder als auch derer, die Fertigwaren herstellten, rapide ab. Das wirkte sich auf die Produzenten von Lebensmitteln und Rohstoffen höchst schädlich aus: Obwohl sich die Einfuhr der Vereinigten Staaten in den zwanziger Jahren nicht ebenso schnell ausgedehnt hatte wie ihre Wirtschaft, war der amerikanische Markt so groß, daß eine Verminderung der Einfuhr der Vereinigten Staaten die bereits geschwächte Wirtschaft der Rohstoffe und Lebensmittel liefernden Länder schädigte. Zwischen 1929 und 1932 sanken die Weltmarktpreise für Rohstoffe um mehr als die Hälfte, die für Lebensmittel um fast die Hälfte. Daher ging wiederum die Nachfrage nach europäischen Fertigwaren zurück. Eine weitere Folge der Depression in Amerika war die Beeinträchtigung der amerikanischen Anleihen an überseeische Länder, vor allem an Deutschland und die Grundstoffe produzierenden Länder. »Im Jahre 1929 stellten die Vereinigten Staaten für die übrige Welt durch Einfuhren und Investitionen die Summe von 7,4 Milliarden Dollar bereit (die gesamte Welt-Einfuhr belief sich auf 35,601 Milliarden Dollar); dieser Betrag verringerte sich im Jahre 1932 um fünf Milliarden Dollar auf nur 32 Prozent der Summe, die 1929 verfügbar gewesen war.«109 Diejenigen Länder, die von den Vereinigten Staaten Anleihen aufgenommen hatten, sahen sich einer Gefährdung ihrer Zahlungsbilanz gegenüber, die sie zwang, die Einfuhr durch die Errichtung von Zollschranken, ferner durch die Abwertung ihrer Währungen oder durch Einfuhrbeschränkungen zu drosseln. Diese Maßnahmen fügten ihrerseits dem Welthandel neue Schläge zu. Die Vereinigten Staaten gingen bei der Erhöhung der Zölle mit dem Smoot-Hawley-Tarif voran, der die einheimischen Produzenten schützen sollte. Andere Länder, einschließlich Großbritanniens, folgten früher oder später nach. In den Jahren 1929 und 1930 mußten einige wichtige Grundstoffe herstellende Länder eine Minderung des Außenwertes ihrer Währungen hinnehmen – auf diese Weise verbilligten sie ihre Exporte und verteuerten ihre Importe und brachten so ihre Zahlungsbilanz in Ordnung, indem sie die Ausfuhr anspornten und die Einfuhr hemmten. Diese Entwicklung wurde durch die Folgen der europäischen Bankkrise von 1931 beschleunigt. Diese Krise brachte das internationale Anleiheweisen, das sich 1930 neu belebt hatte, zum völligen Stillstand. Die Krise begann in Österreich, dessen finanzielle Lage seit Kriegsende schwach gewesen war. Im Mai 1931 wurde bekanntgegeben, daß die Creditanstalt schwere Verluste erlitten habe und in Gefahr sei, ihren Verpflichtungen nicht nachkommen zu können. Die Ankündigung, die möglicherweise von

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französischen Interessenten ins Werk gesetzt war, die die damals vorgeschlagene Zollunion zwischen Österreich und Deutschland zu vereiteln trachteten, jedoch wahrscheinlich nicht die Folge der Abhebung französischer Gelder war, löste Befürchtungen hinsichtlich der Stabilität deutscher Banken aus.110 Es folgte die Kündigung ausländischer Guthaben bei deutschen Banken. Trotz des Moratoriums für Zahlungen der Regierungen untereinander, das heißt für deutsche Reparationen und für die Zahlung von Kriegsschulden an England und die USA, war die Darmstädter und Nationalbank im Juli gezwungen, ihre Schalter zu schließen. Die Lage anderer deutscher Banken war bedrohlich, und die Reichsregierung setzte für Rückzahlungen Restriktionen fest, die im August durch die Stillhalteabkommen für ausländische Anleihen verstärkt wurden. Diese Abkommen prolongierten kurzfristige Kredite an deutsche Schuldner. Da ausländische Werte, darunter britische Guthaben, auf diese Weise an Deutschland gebunden waren, entstanden Befürchtungen hinsichtlich der Sicherheit ausländischen Besitzes in London. Auch regten sich Zweifel an der Entschlossenheit der britischen Regierung, durch eine strenge Ausgabenpolitik den Wert des Pfundes zu halten. Diese Zweifel führten zu einem Ansturm auf die Londoner Banken, da ausländische Gläubiger Pfundbestände hastig für Werte in Währungen verkauften, die stabiler schienen. Dieses Vorgehen führte die Krise herbei, der es vorbeugen sollte, und im September 1931 ging England vom Goldstandard ab, das heißt, es war nicht länger möglich, Pfundnoten zu einem festen Preis gegen Gold einzulösen, und der Wert des Pfundes konnte sinken.111 Viele andere Länder folgten dem englischen Beispiel. Andere, die es nicht taten, namentlich Deutschland, wurden zu verzweifelten Maßnahmen getrieben, um den Kurswert ihrer Währungen durch Einfuhrbeschränkungen aufrechtzuerhalten und durch Drosselung der Nachfrage im Inland die Preise für ihre Exporte davor zu bewahren, daß sie zu hoch über die Preise derjenigen Länder stiegen, deren Währungen abgewertet wurden. Diese Einfuhrbeschränkungen, sei es durch direkte Kontrollmaßnahmen, sei es durch Zölle, führten zu Gegenmaßnahmen anderer Länder, so daß der Handel einer Vielfalt von Restriktionen unterworfen war. Im Jahre 1932 erreichte der Welthandel mit Fertigwaren nur sechzig Prozent des Standes von 1929.112 Die Krise bedeutete das Ende der Hoffnungen der zwanziger Jahre auf die Wiederherstellung einer liberalen Weltwirtschaft. Man hatte gehofft, ein allgemeiner Wohlstand könne auf der Grundlage eines wachsenden internationalen Handels aufgebaut werden, eines Handels, der durch stabile Währungen gefördert würde, deren Wert fest bliebe und die untereinander frei konvertierbar wären. Auch hatte man gehofft, freier Kapitalverkehr zwischen den Ländern würde automatisch zu gesunden und produktiven Investitionen sowie zu stetigem wirtschaftlichem Wachstum führen. Nun schien die liberale internationale Wirtschaftspolitik völlig versagt zu haben, und die einzelnen Länder suchten ihr Heil in nationaler Wirtschaftspolitik, ohne auf deren weiterreichende Auswirkungen viel Rücksicht zu nehmen. Das Versagen der

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selbsttätigen Mechanismen der klassischen Wirtschaftstheorie führte dazu, daß man sich auf die nationalen Regierungen als Instrumente der wirtschaftlichen Sicherheit der Bürger verließ. Mehr und mehr billigte man die Lenkung der Wirtschaft durch den Staat; Zweifel an der Gültigkeit freier Wirtschaftssysteme innerhalb einzelner Nationen wurden durch den Zusammenbruch der freien Weltwirtschaft bekräftigt. Inwiefern die Hauptindustrieländer mit Maßnahmen zum Schutz ihrer Wirtschaft Erfolg hatten, zeigt die untenstehende Tabelle.113 (Dabei ist daran zu denken, daß der offensichtliche Mißerfolg der Vereinigten Staaten zum Teil das Ergebnis ihres ungewöhnlichen Erfolges in den zwanziger Jahren war.) Die Tabelle gibt auch einen Hinweis auf den Anteil der Großmächte an der wirtschaftlichen Macht. Die Großmächte verfügten zusammen über vier Fünftel der Fertigwaren-Kapazität der Welt. Die Zahlen bedeuten den prozentualen Anteil an der Weltproduktion von Fertigwaren. USAUdSSRDeutschl.Großbrit.Frankr.JapanItalien 192943,35,011,19,46,62,53,3 193231,811,510,610,96,93,53,1 193735,114,111,49,44,53,52,7 193828,717,613,29,24,53,82,9 6. England 1919–1939 Die Jahre zwischen den Kriegen waren in Großbritannien vor allem die Zeit der Massenarbeitslosigkeit. Weder vorher noch nachher ist eine Arbeitslosigkeit von so großem Ausmaß verzeichnet worden. Die Politik der Regierung war in dieser Zeit gewöhnlich geeignet, die Arbeitslosigkeit noch härter zu machen und den Lebensstandard der Beschäftigten und manchmal sogar der Arbeitslosen in Frage zu stellen. Die bemerkenswertesten Tatsachen dieser Jahre sind das Fehlen politischer Unruhen, die Stabilität des parlamentarischen Systems, das Ausbleiben von Gewalttätigkeit, die Schwäche extremistischer Parteien, das Vorhandensein eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das ausreichte, um Klassenkampf und Revolution oder extremistische Reaktion zu verhindern. In dieser Hinsicht bildet die Geschichte Englands in jenen Jahren einen scharfen und kennzeichnenden Gegensatz zur Geschichte der großen kontinental-europäischen Industrieländer und sogar der USA, wo die wirtschaftliche Depression immerhin zum Radikalismus des New Deal führte. Eben diese paradoxe Tatsache sucht dieses Kapitel zu erhellen und zu erklären. Prozentsatz der Arbeitslosen in Großbritannien114 192116,619279,6193319,8 192214,1192810,7193416,6 192311,6192910,3193515,3

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192410,2193015,8193612,2 192511,0193121,1193710,6 192612,3193221,9193812,6 Die Hauptursache dieser katastrophalen Lage mit ständig wenigstens einer Million Arbeitslosen war die Schwächung der Ausfuhr Englands nach 1920. Großbritannien wurde in einem Maße, das eine Ausnahme bedeutete, von der schon beschriebenen Stagnation der Nachfrage nach europäischen Fertigwaren getroffen, weil die bedeutendsten britischen Exportindustrien der Vorkriegszeit genau diejenigen waren, die die ernsteste Schädigung durch die Abschwächung ihrer Nachfrage insgesamt erlitten. Kohle, Eisen und Stahl, Maschinen, Fahrzeuge, Schiffe und Textilien machten vor dem Krieg zwei Drittel aller britischen Exporte aus.115 Die Ausfuhr der meisten dieser Produkte ging zurück. Der Export von Kohle hielt sich bis 1924 auf einem hohen Stand, weil die Folgen der kriegsbedingten Störungen, die die Kohleförderung im Ausland sinken ließen, aufgrund von Streiks und vor allem aufgrund der Ruhrbesetzung im Jahre 1923 weiter andauerten. Danach stand England vor den vollen Auswirkungen der Konkurrenz der technisch leistungsfähigeren europäischen Kohlengebiete, während die Nachfrage nach Kohle auf dem Weltmarkt dadurch, daß andere Brennstoffe an ihre Stelle traten, und wegen der Krise der Industrie, besonders nach 1929, stark sank. So fiel die Kohleförderung in England von etwa 270 Millionen Tonnen vor 1914 auf etwa 230 Millionen Tonnen in den Jahren unmittelbar vor 1939. Die Zahl der im Kohlenbergbau Beschäftigten ging von über einer Million auf ungefähr 700000 zurück.116 Vor dem Kriege betrug die jährliche Nettoausfuhr an Eisen und Stahl etwa 2750000 Tonnen, 1921/22 etwa 1250000 Tonnen und von 1927 bis 1929 750000 Tonnen. Während des Krieges und unmittelbar danach hatte sich die Stahl-Produktionskapazität über das durch die Nachfrage nach 1920 gerechtfertigte Maß hinaus erweitert, so daß die britische Stahlindustrie zwischen den Kriegen durchschnittlich mit weniger als zwei Dritteln ihrer Kapazität arbeitete. Darüber hinaus hatte die britische Industrie Wettbewerbsvorteile verloren. Ihr verglichen mit Deutschland und Frankreich langsameres Produktionswachstum vor 1914 hatte sie mit ihrer Modernisierung in den Rückstand geraten lassen, während die Modernisierung auf dem Kontinent es ermöglicht hatte, dort bereits verfügbare Erze auszubeuten. Das Fehlen von Schutzzöllen bis 1932 ließ den britischen Markt offen für ausländische Konkurrenz, während die schwache britische Wettbewerbsposition Englands Anteil am Weltexport von Stahlprodukten von 38 Prozent im Jahre 1912/13 auf 34 Prozent im Jahre 1927/28 und 25 Prozent in der Zeit von 1936 bis 1938 sinken ließ. Zyklische Schwankungen trafen die inländische und ausländische Nachfrage nach Eisen und Stahl besonders heftig, so daß in der Industrie infolge des in Perioden der Hochkonjunktur zeitweilig gestiegenen Bedarfs Arbeitskräfte gehalten wurden, die während depressiver Phasen in großer Zahl arbeitslos wurden. So betrug die Arbeitslosenzahl 1924 bei

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den Arbeitern in der Eisen- und Stahlindustrie 21 Prozent, im Jahre 1929 20 Prozent, 1932 47 Prozent und 1937 10 Prozent.117 Das Schicksal der britischen Schiffbauindustrie veranschaulicht die meisten Ursachen von Englands wirtschaftlicher Schwäche. Um es noch einmal zu sagen: Die britische Industrie war durch ein allgemeines Sinken der Nachfrage geschädigt – doch sie war schwerer getroffen als ihre ausländischen Konkurrenten. Vor 1914 produzierten die britischen Werften ungefähr das Siebenfache des gesamten in Italien, Belgien, Holland, Schweden, Dänemark, Norwegen und Spanien hergestellten Schiffsraums. In den zwanziger Jahren war es dreimal so viel, und in den dreißiger Jahren nur doppelt so viel. Die britischen Schiffbauer gingen nur langsam dazu über, von den wichtigsten technischen Neuerungen – wie elektrischem Schweißen – Gebrauch zu machen und ihre Werften für die Produktion von Motorschiffen und neuen Schiffstypen – wie Öltankern – einzurichten. Auch gelang es ihnen nicht, die Produktionskosten niedrig zu halten. Die hohen Kosten für Arbeitskräfte beispielsweise blieben infolge eines der schädlichsten Merkmale des britischen Gewerkschaftswesens bestehen, nämlich der Existenz mehrerer Gewerkschaften, deren Mitgliedschaft sich aus Arbeitern zusammensetzte, die mit der Fertigung eines einzelnen Artikels beschäftigt waren. Jede Gewerkschaft bestand auf der Erhaltung des alleinigen Rechtes ihrer Mitglieder an der Ausübung ihrer besonderen Kenntnisse und Fertigkeiten, so daß eine Aufgabe, die in Schweden oder Norwegen vielleicht die Arbeit eines Mannes erforderte, in England möglicherweise die Mitwirkung von vier oder fünf Männern notwendig machte. Die durchschnittlichen Produktionskosten wurden auch durch die mangelnde Auslastung der Kapazität und den sich daraus ergebenden Druck auf den Gewinn verteuert. Dadurch wurden Investitionen und Modernisierungsbestrebungen gehemmt. Obwohl viele Arbeiter den Schiffbau verließen – ungefähr ein Viertel der im Jahre 1924 etwa 250000 Beschäftigten in diesem Industriezweig –, betrug infolgedessen die Arbeitslosenzahl im Schiffbau und in der Schiffsausbesserung 30 Prozent im Jahre 1924, 1929 24 Prozent, 63 Prozent im Jahre 1932 und 24 Prozent im Jahre 1937.118 In der Textilbranche schrumpfte die britische Baumwollindustrie rapide – nicht, weil die Nachfrage nach Baumwollstoffen auf dem Weltmarkt sank, sondern weil der Bedarf von Englands Vorkriegskunden entweder von deren eigener neuer Industrie oder durch Einfuhren von neuentwickelten Industrien außerhalb Englands gedeckt wurde. Die folgende Tabelle veranschaulicht dies: Netto-Ausfuhr und -Einfuhr von Baumwollstoffen (in 1000 t): 191319251938 Ausfuhr aus:Großbritannien576377135 Japan3103234 Einfuhr

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nach:Indien24911667 China1811272 Vor 1914 wurde mehr als die Hälfte der Produkte der Baumwollindustrie ausgeführt. Der Rückgang der Exporte versetzte dieser Industrie daher einen schweren Schlag. Die Ursachen dafür lagen in der Abhängigkeit der britischen Ausfuhr vom Umsatz billiger Baumwollstoffe, die verhältnismäßig leicht von den im Entstehen begriffenen Industrien solcher Länder wie Indien und China hergestellt werden konnten und die von den Japanern, die den Anteil der englischen Baumwolle bei einer gleichzeitigen Abnahme des internationalen Handels fortschreitend geringer werden ließen, billiger produziert werden konnten. Obwohl die Zahl der (in der britischen Baumwollindustrie beschäftigten) Arbeitskräfte zwischen 1924 und 1937 um etwa ein Viertel zurückging, war die Arbeitslosenziffer hoch, nämlich 13 Prozent in den Jahren 1924 und 1929, 29 Prozent im Jahre 1932 und 12 Prozent im Jahre 1937.119 Maschinen- und Fahrzeugbau gehörten beide zu den Industrien, die zwischen den Kriegen expandierten. Unglücklicherweise wurden die britischen Spezialprodukte aus der Zeit vor 1914 den Veränderungen in der Nachfrage auf dem Weltmarkt nicht gerecht. Die britischen Fabrikanten waren besonders erfolgreich in der Ausfuhr von nichtelektrischen energieerzeugenden Maschinen und Eisenbahn-Ausrüstungen gewesen. Auf beiden Sektoren verlief die Entwicklung rückläufig, während die Vereinigten Staaten die Führung bei der Ausweitung des Handels mit Büromaschinen und Straßenfahrzeugen innehatten und Deutschland sowie die Vereinigten Staaten gemeinsam den wachsenden Handel mit Werkzeugmaschinen und elektrischen Anlagen beherrschten. Daher sank im Gegensatz zu den Erfahrungen, die in allen anderen Industrieländern gemacht wurden, zwischen 1913 und 1929 der Wert der britischen Ausfuhr von Maschinen tatsächlich. Wenn auch die britische Ausfuhr von Transportausrüstungsgegenständen in denselben Jahren anstieg und sich ungefähr verdoppelte, so schnitt sie doch bei einem Vergleich mit der mehr als zehnfachen Vergrößerung des Exports der Vereinigten Staaten schlecht ab. Kurzum, im Gegensatz zu Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten gelang es England nicht, den Wert seiner Fertigwaren-Ausfuhr zwischen 1913 und 1929 zu steigern. Nach 1929 wurde es von dem allgemeinen Sinken der Weltausfuhr mitbetroffen.120 Diese Stagnation in den wichtigsten Zweigen der britischen Ausfuhr war eindeutig die Hauptursache der Arbeitslosigkeit in England zwischen den Kriegen, und zwar wegen ihrer unmittelbaren Auswirkungen sowie wegen ihrer indirekten Folgen, die in einer Beeinträchtigung der Nachfrage nach den Produkten anderer Industrien bestanden. Die Gründe lagen darin, daß die britische Industrie sich entwickelt und eine Blütezeit gehabt hatte, indem sie Bedürfnisse befriedigte, die jetzt stagnierten oder zurückgingen, und darin, daß sie weniger gut darauf eingerichtet war, sich ihres Anteils an wachsenden

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Handelszweigen zu bemächtigen. Um die britische Industrie wieder gesunden zu lassen, wäre eine Verlagerung von Investitionen und Arbeitskräften von abnehmenden Industriezweigen zu solchen Fabriken, die im Wachsen waren, und wahrscheinlich auch eine gewisse Steigerung der Produktion für den Inlandsmarkt im Verhältnis zur Produktion für den Export erforderlich gewesen. Diese Ziele waren vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeit und schwacher Nachfrage schwierig zu erreichen. Auch half die Politik der Regierung dabei nicht. Wie wir sehen werden, bezweckte sie hauptsächlich den Schutz des Außenwertes der Pfundwährung, was eine deflationistische Politik bedeutete. Diese beschleunigte den Niedergang schwacher Industrien, verlangsamte dagegen den Fortschritt der gesunden. Die Bemühungen Englands zur Bewältigung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Nachkriegszeit beruhten auf der Annahme, eine erneute Ausdehnung des Welthandels wie in den Jahren vor dem Krieg sei das wichtigste Mittel zur Lösung des Problems, und das Haupthindernis hiergegen liege in der Unstabilität der Währungen sowie dem sich daraus ergebenden Mangel an Vertrauen unter Händlern und Produzenten. Daher war die britische Außenpolitik um die Wiederherstellung der politischen Stabilität und vor allem um eine Zügelung der französischen Reparationsforderungen an Deutschland bemüht und bestrebt, die französischen Regierungen daran zu hindern, daß sie die deutsche Wirtschaft durch die Erzwingung solcher Forderungen schädigten. Auf dem Gebiete der Innenpolitik setzten sich die britischen Regierungen für die Stabilisierung des Pfundes und für die Rückkehr zur Konvertierbarkeit des Pfundes in Gold ein. Man ging davon aus, daß diese Rückkehr zum Goldstandard auf der Basis des Vorkriegskurses durchgeführt werden solle. Das hieß praktisch, daß der Wert des Pfundes im Verhältnis zum US-Dollar auf dem Vorkriegsstand stabilisiert werden sollte. Man glaubte, eine Rückkehr Englands zum Goldstandard werde sowohl eine Voraussetzung wie eine Ursache einer allgemeinen derartigen Entwicklung sein, wodurch die Stabilität der wichtigsten Währungen der Welt gesichert werde. Man hielt den selbsttätigen Mechanismus des Goldstandards für die zuverlässigste Garantie der Stabilität. Sehr vereinfacht ausgedrückt, funktionierte der Mechanismus folgendermaßen: Jedes Land, dessen Zahlungsbilanz sich ungünstig entwickelte, pflegte die Feststellung zu machen, daß der Außenwert seiner Währung zum Sinken neigte und daß Inhaber einer solchen Währung sie für Gold eintauschten. Das Land, dessen Währung auf diese Weise getroffen wurde, und zwar im allgemeinen deshalb, weil es mehr ein- als ausführte, sah sich gewöhnlich einem Verlust von Gold gegenüber. Infolgedessen wurden von seinen Banken weniger Anleihen gewährt, der Kredit beeinträchtigt und die Nachfrage geschwächt, was die Preise auf dem Inlandsmarkt sinken ließ. Das pflegte die Ausfuhr anzuregen und die ursprüngliche Schwierigkeit zu beheben. Wenn umgekehrt ein Land mehr aus- als einführte, erlebte es einen Zustrom von Gold, der den Bankkredit erhöhte und die Preise im Inland steigen ließ. Dadurch wurde die Einfuhr

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angeregt und die Ausfuhr gemindert. Der Wert der Währungen blieb daher von selbst stabil, und der internationale Handel konnte zuversichtlich gedeihen. Wenige Wirtschaftler in England bezweifelten die Gültigkeit dieser Argumente. Ebenso meinten nur wenige, England solle den Goldstandard zu einem niedrigeren Kurs als dem der Vorkriegszeit wiedereinführen. Tatsächlich wurde die letztere Möglichkeit kaum erwogen, bis sie wirklich eingetreten war. Es gab für die Rückkehr zum Goldstandard der Vorkriegszeit sowohl moralische als auch praktische Gründe. Man sah es als ein Gebot der Pflicht an, den Wert des Geldes aufrechtzuerhalten, das dem Staate von britischen Bürgern oder von Ausländern geliehen war, und daher den früheren Wert des Pfundes wiederherzustellen. Man hielt diese Wiederherstellung für eine entscheidende Maßnahme zur Begründung des Vertrauens in die Sterling-Währung, eines Vertrauens, das man benötigte, um London wieder zum Finanz- und Bankzentrum der Welt zu machen. Im Jahre 1920 sank der Wert des Pfundes unter 3,5 Dollar – der Vorkriegskurs war 4,86 Dollar gewesen. Die Voraussetzung, daß das Pfund auf den Gegenwert von 4,86 Dollar gebracht werden solle, erforderte eine deflationistische Politik der Regierung, eine Rückkehr zu sogenannten gesunden finanziellen Verhältnissen. Die weltweite Rezession von 1921, die dem Ende des Wiederaufbau-Booms der Nachkriegszeit folgte, verursachte infolge der allgemeinen Abnahme der Nachfrage ein Sinken des britischen Preisgefüges. Diese Abnahme, die durch die Verhältnisse des Welthandels bedingt war, wurde durch Maßnahmen der Regierung zur weiteren Beschränkung der Nachfrage verstärkt. Die Regierungsausgaben wurden gekürzt, namentlich im Jahre 1922 auf Empfehlung eines Ausschusses von Finanzfachleuten unter Leitung von Sir Eric Geddes, der die Mittel für die Streitkräfte und für die Sozialausgaben, besonders im Erziehungswesen, beschnitt, so daß von 1920 bis 1924 ein beträchtlicher Haushaltsüberschuß erzielt wurde. Gleichzeitig hielt das Schatzamt durch die Vergabe von langfristigen Anleihen zur Minderung der kurzfristigen schwebenden Schuld den Zinssatz für langfristige Kredite von 1920 bis 1921 auf einem Stand von mehr als 5 Prozent und für die übrigen zwanziger Jahre auf ungefähr 4,5 Prozent – im Jahre 1913 hatte der Zinssatz weniger als 3,5 Prozent betragen. Infolgedessen wurde es schwieriger, Kapital für produktive Investitionen aufzubringen.121 Diese Maßnahmen ließen die Preise in England sinken. Jedoch waren sie, verglichen mit denen in den USA, nicht tief genug gesunken, um das Pfund im Verhältnis zum US-Dollar wieder auf den Vorkriegswert zu bringen, als im April 1925 der Beschluß gefaßt wurde, den Goldstandard zum Vorkriegs-Wechselkurs wiedereinzuführen. Die Preise in England hätten zu dieser Zeit einen Wechselkurs von etwa 4,5 Dollar für ein Pfund gerechtfertigt. Die Wiedereinführung eines Wechselkurses von 4,86 Dollar bedeutete, daß die Preise zur Aufrechterhaltung dieses künstlichen Wertes weiter gesenkt werden mußten. Das führte zu dem Generalstreik von 1926 und der Fortsetzung der Restriktionen

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auf dem Gebiete der Kreditpolitik, mit hohen Zinssätzen, die Ausländer ermuntern sollten, britisches Geld zu behalten, statt Gold aus England abzuziehen, und die die Nachfrage niedrig halten sollten. Der neue Wechselkurs hatte zur Folge, daß die Preise für die englische Ausfuhr in ausländischen Währungen zu hoch waren, zumal andere Länder, darunter Frankreich und Belgien, einen niedrigeren Kurswert ihrer Währungen im Verhältnis zum Gold festsetzten und auf diese Weise ihren Exporten einen Wettbewerbsvorteil einräumten. Die britischen Exporte wurden niedrig gehalten, was die Arbeitslosigkeit zu einem Dauerzustand machte. Die mit der Aufrechterhaltung des Außenwertes des Pfundes verbundene Schwierigkeit führte zu hohen Zinssätzen im Inland, die die notwendige Umstellung der britischen Industrie auf eine neuartige in- und ausländische Nachfrage behinderte. Es mißlang England weitgehend, sich an der weltweiten Hochkonjunktur von 1925 bis 1929 zu beteiligen. Die durchschnittliche britische Fertigwaren-Produktion lag geringfügig unter dem Stand von 1913. In der ganzen Welt dagegen lag sie um mehr als ein Viertel darüber, und der Anteil Englands an der Fertigwaren-Ausfuhr der 12 größten Industrieländer sank von 30 Prozent im Jahre 1913 auf 23 Prozent im Jahre 1929.122 Die in den zwanziger Jahren durch Exportschwierigkeiten hervorgerufene Arbeitslosigkeit in England wurde also durch die Sorge um den Außenwert der Sterling-Währung verschlimmert. Der britische Arbeiter wurde der Londoner City geopfert. Nach 1929 wurde England von der allgemeinen Rezession getroffen, und die Exportindustrien wurden durch eine sinkende Nachfrage auf dem Weltmarkt weiter geschädigt. Im Jahre 1937 betrug der Wert der britischen Ausfuhr nur zwei Drittel des Wertes von 1929.123 Zwar war England nach 1931 gezwungen, den Goldstandard zu verlassen, und wurde nicht länger durch politische Maßnahmen zur Aufrechterhaltung eines künstlich hohen Pfundwertes wirtschaftlich geschwächt, und die Zölle dienten jetzt weit mehr dazu, den Inlandsmarkt zu schützen, aber der Rückgang des Welthandels war derartig, daß die Arbeitslosigkeit in England auf einem noch höheren Stand blieb als in den zwanziger Jahren, bis der Krieg ihr ein Ende setzte. Unter diesen Umständen schienen in England alle Voraussetzungen für den Klassenkampf und für den Aufstieg von Rechts- oder Linksextremisten zur Herausforderung der parlamentarischen Demokratie vorzuliegen. Statt dessen überlebte die demokratische Regierungsform unversehrt und blieb, was die große Mehrheit der Bevölkerung anging, unbestritten, und es regierten in diesen Jahren sogar sozial und politisch konservativ eingestellte Kabinette in England, die von der Masse der Bevölkerung wirklich getragen wurden. An erster Stelle ist zu sagen, daß es für die relativ ruhigen Verhältnisse in England wirtschaftliche Gründe gab. Große Arbeitslosigkeit war auf bestimmte Industriezweige und bestimmte Gebiete beschränkt: auf die zur Deckung der Nachfrage nach den Ausfuhrprodukten der Vorkriegszeit aufgebauten Industriezweige und auf diejenigen Gebiete, wo sich diese angesiedelt hatten,

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nämlich Schottland, Wales und Nordengland. Andere Gegenden Englands, wo sich Industrien zur Befriedigung der Nachkriegs-Nachfrage nach neuen Produkten entwickelten, lebten in der gesamten Zeit zwischen den Kriegen im Wohlstand. Im Jahre 1937 betrug die Arbeitslosigkeit in Wales 24 Prozent, in Mittelengland 6 Prozent. Im selben Jahr beschäftigte die Elektroindustrie, soweit sie Leitungen und sonstige elektrische Anlagen herstellte, fast dreimal soviel Arbeiter wie 1927 und die Motoren- und Flugzeugindustrie eineinhalbmal soviel, während im Kohlenbergbau weniger als Dreiviertel der Zahl von 1927 tätig waren. Andererseits waren nicht alle Arbeitslosen dazu verurteilt, die Hoffnung auf eine neue Stellung in absehbarer Zeit aufzugeben. Von rund einer Million Arbeitsloser im September 1929 hatten nur 50000 seit einem Jahr oder länger keine Arbeit gehabt. Die Wirtschaftskrise verschlimmerte die Lage, und nach 1932 bildete sich ein Heer von dauernd Arbeitslosen, deren Zahl bis kurz vor dem Krieg nicht unter 250000 sank.124 Unterernährung und schlechter Gesundheitszustand war unter den Arbeitslosen sicher weit verbreitet, doch gab man sie nicht dem Hungertod preis. Die meisten Arbeiter waren zwangsweise Mitglieder einer Arbeitslosenversicherung, und wenn jemand die ihm zustehenden Vergünstigungen ausgeschöpft hatte, wurden die Zahlungen durch die Regierung in London oder örtliche Behörden fortgesetzt, wenn auch erst nach Prüfung der Bedürftigkeit eines Antragstellers. Als diese Bedingung nach 1931 streng durchgeführt wurde, erregte sie beträchtliche Verbitterung. Es bleibt erstaunlich, daß die Arbeitslosigkeit nicht zu einem bedrohlichen politischen Faktor wurde. Von der Kommunistischen Partei wurde der Versuch gemacht, sie in der ›Nationalen Bewegung der arbeitslosen Arbeiter‹ (National Unemployed Workers Movement – NUWM) zu einer revolutionären Armee zu organisieren. Auch gab es, mit gelegentlichen Erfolgen in den frühen zwanziger Jahren, Versuche, die organisierten Arbeitslosen dazu zu benutzen, in Lohnstreitigkeiten einzugreifen und Fabriken zu besetzen sowie die Einstellung der Arbeit zu erzwingen. Demonstrationen, die zu gelegentlichen Unruhen führten, wurden organisiert, und vor allem wurde eine Reihe von ›Hungermärschen‹ arrangiert, wobei arbeitslose Männer aus Wales, Schottland oder Nordengland nach London marschierten. Diese Märsche wurden von dem kommunistischen NUWM geleitet, doch waren auch Nicht-Kommunisten dabei. Die Märsche waren gewöhnlich friedlicher Natur. Die tatsächliche Mitgliederzahl dieser kommunistischen Organisation stieg nicht über etwa 40000.125 Ob die britische Linke revolutionär würde oder nicht, hing vor allem von den Gewerkschaften ab. Deren Mitgliederzahl lag 1920 bei mehr als 8 Millionen. Sie sank auf etwa 4,5 Millionen im Jahre 1933 und stieg wieder auf gut 6 Millionen im Jahre 1939. Die meisten dieser Gewerkschaften waren dem Trades Union Congress (TUC) angeschlossen.126 Hier war eine potentiell revolutionäre Macht, die in der Praxis nicht revolutionär war. Ein Faktor, der dazu beitrug, war die Tatsache, daß der Lebensstandard der beschäftigten Arbeiter im Steigen war.

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Reallöhne (1930 = 100)127 192094/71932106,1 192491/91937105,2 192996/71938107,0 Dies lag an einer Zunahme der Produktion je Arbeitsstunde pro Mann und, was am wichtigsten war, am Sinken der britischen Importpreise, vor allem der Lebensmittelpreise. Auf diese Weise profitierten die Beschäftigten auf Kosten der Grundstoff-Erzeugerländer und auf Kosten der alten Exportindustrien, deren Märkte infolge der sinkenden Einnahmen der Lebensmittelproduzenten geschwächt waren. Dies traf besonders während des Tiefpunkts der Wirtschaftskrise in den Jahren 1929 bis 1932 zu. In den Inflationsjahren nach dem Kriege, als die Arbeiter ihre Löhne in angemessener Relation zu den Preisen zu halten suchten, sowie in den Jahren, als die Politik der Regierung bestrebt war, die Preise zu senken, um den Goldstandard zum Vorkriegskurs wiederherzustellen, und die Arbeitgeber die Löhne kürzen mußten, häuften sich jedoch die Streiks: Jährliche Durchschnittszahl von Arbeitstagen, die durch Streiks verlorengingen (ohne den Generalstreik von 1926): 1919–2149100000 1922–2638800000 1927–393100000 Unmittelbar nach dem Kriege fürchtete die Regierung, die Gewerkschaften könnten ihre Macht zu politischen Zwecken gebrauchen, um die kapitalistische Demokratie herauszufordern. Im August 1920 setzten die Gewerkschaften und die Labour Party tatsächlich einen Aktionsrat ein, und Hunderte von örtlichen Räten wurden gegründet, um ein Eingreifen Englands gegen die Sowjetunion im polnisch-russischen Krieg zu verhindern. In denselben Jahren gingen die Gewerkschaften dazu über, mit dem Generalstreik zu drohen, um die Regierung und die Öffentlichkeit zu zwingen, die Eigentümer einzelner Industrien zu Konzessionen an ihre Arbeitnehmer zu nötigen. Die durch die Bildung des Dreibundes von Bergleuten, Eisenbahnern und Transportarbeitern gemachten ersten Versuche blieben ergebnislos, als gegenseitige Mißverständnisse im April 1921 zur Distanzierung der Bundesgenossen der Bergleute von einem versprochenen Streik führten. Die Regierung traf jedoch Vorbereitungen, um einem Generalstreik mit einer auf militärische Gewalt gestützten Diktatur zu begegnen, die euphemistisch als ›Notstand‹ beschrieben wurde. Die Parlamentsakte über die Machtausübung im Notstandsfalle (Emergency Powers

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Act) von 1920 ermächtigte das Kabinett, in einer solchen Lage mit Verordnungen zu regieren. Der große Zusammenstoß kam mit dem Generalstreik von 1926, als England vor einer Situation stand, die ein Vorspiel zum Bürgerkrieg hätte sein können, es jedoch nicht war. Die britischen Kohlenbergleute bildeten die Vorhut im Kampf der Arbeiter. Die Industrie war zur Erhaltung der Vorkriegsprosperität von der ausländischen Nachfrage abhängig. Als die Auswirkungen der französischen Ruhrbesetzung abklangen, zeigte sich, daß ausländische Konkurenz die britische Ausfuhr bedrohte. Die Rückkehr zum Goldstandard bedeutete eine Verteuerung englischer Exporte in ausländischen Währungen. Die Preise mußten gesenkt werden. Die Löhne bildeten einen hohen Anteil an den Kosten der Kohleförderung. Die Grubenbesitzer forderten 1925 eine Lohnkürzung und eine Verlängerung der Arbeitszeit der Bergleute. Diese bereiteten sich auf einen Widerstand vor, und der Trades Union Congress versprach, notfalls einen Generalstreik zu ihrer Unterstützung auszurufen. Viel stand auf dem Spiel. Die Bergleute waren von allen Arbeitern am besten organisiert, ihr Gefühl der Solidarität war einzigartig, ihre Disziplin unvergleichlich. Wenn man sie zwingen konnte, Lohnkürzungen hinzunehmen, war es schwer, sich vorzustellen, wie irgendeine andere Gruppe von Arbeitern Widerstand leisten könne. Wenn andererseits die Regierung durch einen Generalstreik gezwungen würde, gegen die Besitzer der Kohlengruben einzuschreiten, war eine Beschränkung der gewerkschaftlichen Macht schwer vorstellbar. Die Regierung suchte Zeit zu gewinnen, um sich auf einen Kampf vorzubereiten, indem sie vorübergehend Subventionen zahlte und so eine Verzögerung der Lohnkürzungen ermöglichte. In den folgenden Monaten wurden von einem Notstandskomitee unter Führung des ständigen Leiters des Innenministeriums, Sir John Anderson, große Kohlen- und Lebensmittelvorräte gesammelt. Das Land wurde in Bezirke aufgeteilt, die von Zivilkommissaren mit weitreichenden Vollmachten zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung regiert werden sollten. Der Transport auf den Straßen wurde organisiert, und Pläne wurden ausgearbeitet zur Bemannung der Docks mit Marinepersonal und für bewaffnete Konvois für Lebensmittellieferungen.128 Das Ende der staatlichen Subventionszahlungen stand für den 1. Mai 1926 bevor, und wenn sich die Bergarbeiter und die Grubenbesitzer nicht einigen würden, würden keine weiteren Subventionen gewährt werden. Eine solche Einigung war unmöglich, da die Arbeiter keine Lohnkürzungen hinnehmen wollten. Die Arbeitgeber gaben bekannt, daß die bestehenden Tarifverträge am 30. April auslaufen würden, und am 1. Mai hörte die Arbeit in den Kohlenbergwerken auf. An diesem Tag erhielt der Generalrat des Trades Union Congress die Zustimmung der ihm angeschlossenen Gewerkschaften, den Streit auszutragen. Der Streik begann am 4. Mai um 0.00 Uhr. Am 3. Mai sagte der Premierminister Stanley Baldwin vor dem Unterhaus, die Gewerkschaftsführer seien »im Begriff, der Proklamation des Bürgerkrieges näher zu treten, als wir es

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seit Jahrhunderten gewesen sind«.129 Zu einem Bürgerkrieg gehören jedoch zwei Seiten, und weder die Gewerkschaften noch die Regierung hatten im entferntesten die Absicht, etwas Derartiges zu tun. Es ist sogar erwiesen, daß für die Führer des TUC die Androhung des Generalstreiks ein Mittel war, Verhandlungen durchzusetzen, nicht aber etwas, was sie tatsächlich ausführen wollten. Nachdem der Generalrat die Vollmacht, einen Streik auszurufen, erhalten hatte, machte er sogleich in einem Schreiben an den Premierminister das Angebot, zu verhandeln. Gespräche begannen und wurden von der Regierung am 3. Mai unter dem Vorwand abgebrochen, die Streikaktion habe schon begonnen mit der (spontanen) Weigerung der Druckereiarbeiter der Daily Mail, einen Artikel zu drucken, der die Gewerkschaften angriff.130 Die Regierung hatte beschlossen, einem Streik zu begegnen und ihn niederzuzwingen. Mit Recht hielt sie die Risiken für belanglos und glaubte nicht, der Drohung einer Revolution oder auch nur der Drohung ernsthafter Manifestationen von Gewalt ins Auge sehen zu müssen. Zwar gab es Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die Regierung mit den Gewerkschaften umgehen sollte, ob und inwieweit mit einer Demonstration von Gewalt oder aber mit versöhnlichen Gesten. Doch war dies ein Unterschied der Taktik, nicht des Zieles, denn die Vertreter beider Ansichten rechneten mit einer Kapitulation der Gewerkschaften. Die Gewerkschaftsführer wurden zu einem Streik gezwungen, den sie nicht wollten. Ihr Wunsch war, zu verhandeln, nicht zu kämpfen, die bestmöglichen Bedingungen für die Bergleute zu erreichen, nicht eine Revolution zu entfesseln oder die Verfassung umzustürzen. Am 3. Mai hielt J.H. Thomas, der Führer der Eisenbahner, der zum Generalrat des TUC gehörte und Mitglied der Labour-Parlamentsfraktion war, vor dem Unterhaus eine etwas gefühlvolle Rede und sagte: »Gnade uns Gott, wenn bei einem Anschlag auf die Verfassung die Regierung nicht gewinnen sollte.« Während des Streiks notierte W.M. Citrine, der amtierende Generalsekretär des TUC, in seinem Tagebuch seine Befürchtungen, was geschehen könnte, wenn die Regierung militärische Macht demonstrieren und Freiwillige einsetzen würde, um streikende Männer zu ersetzen: »Die größte Gefahr ist die Wirkung, die solche Demonstrationen auf die Moral unserer Leute haben könnte. Wenn einige sehen, daß ihr Arbeitsplatz durch Lumpen von Freiwilligen besetzt ist, könnten sie verzweifeln und zu Gewaltmitteln greifen. Das bedeutete Aufruhr, und das wiederum eine Rechtfertigung für polizeiliches und militärisches Eingreifen.«131 Die Führer des Streiks bemühten sich nach Kräften, Gewalttätigkeit zu vermeiden: Der TUC bestand darauf, daß Streikposten sich friedlich verhalten sollten, das heißt, daß keine Gewalt angewendet werden solle, um Freiwillige oder Nicht-Gewerkschaftler an streikbrecherischen Handlungen zu hindern. Auch weigerte sich der TUC nachdrücklich, Vorschlägen zuzustimmen, daß Arbeiter-Schutz-Verbände aufgestellt werden sollten. Der Generalrat überlegte, wie streikende Arbeiter ihre Zeit verbringen sollten, und schlug vor, Sportveranstaltungen und sonstigen Zeitvertreib für sie zu organisieren. Tatsächlich war der Streik, damals

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und seither aller Welt außer dem TUC als Generalstreik bekannt, keineswegs umfassend: an erster Stelle traten die Transport-, Bau-, Druckerei- und Eisenhüttenarbeiter in den Ausstand, andere – in der metallverarbeitenden Industrie – erst an dem Tage, bevor der ganze Streik abgebrochen wurde. Mehr noch, die Organisatoren des Streiks, weit davon entfernt, ihre Position voll auszunutzen, machten das Angebot, Maßnahmen für die Beförderung von lebenswichtigen Nahrungsmittellieferungen zu treffen, und gestatteten die Ausgabe von Genehmigungen, die streikenden Arbeitern den Transport von Nahrungsmitteln erlaubten. Die Regierung war zwar ohnehin in der Lage, mit Hilfe freiwilliger Arbeitskräfte die Lebensmittelversorgung ausreichend zu handhaben, aber die Politik des TUC zeigt hier wieder einmal die mangelnde Entschlossenheit der Streikführer.132 Der Generalrat des TUC suchte dem unwillkommenen Streik eiligst zu entkommen. Die Regierung wollte nicht verhandeln, wenn nicht der Streik beendet würde. Der TUC konnte den Streik nicht beenden, ohne die Bergarbeiter im Stich zu lassen, wenn die Regierung nicht das Versprechen abgab, die Grubenbesitzer zu einem Kompromiß zu zwingen, was die Regierung nicht tun würde. Der TUC beschritt den einzigen Ausweg: er beschloß, die Bergleute, deretwegen der Streik ursprünglich ausgerufen worden war, im Stich zu lassen. Das Tagebuch Lord Citrines (Citrine erhielt 1935 die Würde eines Ritters – was ihm »ein eigenartiges Vergnügen« verursachte – und 1946 die eines Peers) zeigt, wie der Generalrat mehr und mehr über die Unnachgiebigkeit der Bergarbeiterführer verärgert war und sogar die Regierung für weniger böswillig hielt als die Bergarbeitergewerkschaften – mit der Regierung konnte man verhandeln, mit den Bergleuten nicht. Am 12. Mai wurde der Streik auf der schwachen Grundlage der Aussicht beendet, daß die Regierung, die keine Versprechungen abgab, vielleicht eine von Sir Herbert Samuel ausgearbeitete Kompromißlösung des Kohlenstreits annehmen würde. Dies war in Wirklichkeit eine völlige Kapitulation des TUC. Die Bergleute setzten den Streik noch fast acht Monate fort, bis ihr Widerstand schließlich aufhörte. Seitdem ist kein Streik von einem solchen Ausmaß in England mehr unternommen worden. Die Gewerkschaftsführer nahmen nach dem Streik sogar eine weniger revolutionäre und weniger kämpferische Haltung ein als vorher. Im Jahre 1927 luden 20 bedeutende Arbeitgeber unter Führung von Sir Alfred Mond den TUC ein, an Gesprächen über den »Wiederaufbau der Industrie« teilzunehmen, und die sogenannten Mond-Turner-Gespräche begannen mit Billigung der Gewerkschaftsführer. Warum waren die Gewerkschaftsführer so maßvoll, warum zeigten sie so wenig Neigung, die kapitalistische Demokratie herauszufordern? Es genügt nicht, diese Frage mit allgemeinen Hinweisen auf die angeborene Neigung der Engländer zu Kompromiß und Diskussion und auf ihren Abscheu gegen gewaltsame Konflikte zu beantworten. Vielmehr muß man die Gründe suchen, indem man fragt, weshalb Reformen und friedliche Veränderungen den Männern, die die organisierten britischen Arbeiter führten,

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realisierbar schienen. Die Antwort ist eindeutig historischer Natur, nämlich, daß eine vorsichtige Politik in der Vergangenheit erfolgreich gewesen war. Die britische Gewerkschaftsbewegung war am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die stärkste der Welt. Ihr Recht, für die Arbeiterklasse zu sprechen und für ihre Mitglieder Vorteile anzustreben, war vor 1914 voll anerkannt und gebilligt. Die Regierungen waren weit davon entfernt, ihre Macht beschneiden zu wollen. Die Gewerkschaftsbewegung war durch Gesetz anerkannt und sogar in eine privilegierte Stellung erhoben. Seit 1824 waren die Gewerkschaften keine illegalen Organisationen mehr. Im Jahre 1875 wurden sie gegen strafrechtliche Verfolgung geschützt. Nachdem es 1901 den Anschein gehabt hatte, daß die Gerichte die Gewerkschaften weiterhin zivilrechtlich belangen wollten, um finanziellen Schadenersatz für Streikschäden sicherzustellen, ergriff der Gesetzgeber im Jahre 1906 Maßnahmen zum Schutz der Gewerkschaftskassen und zur Bekräftigung der Rechte der Gewerkschaften. Sogar in den Jahren zwischen 1901 und 1906, als die Gewerkschaften verwundbar waren und sich die britische Wirtschaft in einer Depression befand, waren die meisten Arbeitgeber nicht bemüht, die Gewerkschaften zu vernichten, sondern zogen den Versuch vor, mit ihnen zusammenzuarbeiten.133 Es ist daher verständlich, daß die Gewerkschaftsführer Mäßigung zeigten und bereit waren, innerhalb der Grenzen der Legalität zu bleiben. Die ordentlichen Mitglieder der Gewerkschaften wählten aus ähnlichen Gründen größtenteils solche gemäßigten Männer zu ihren Führern. Die Gewerkschaften schienen handgreifliche Vorteile für sie erzielt zu haben, und man konnte erwarten, daß sie es weiterhin tun würden. Diese Überzeugung hing jedoch eindeutig davon ab, daß der Lebensstandard der Arbeiterklasse im allgemeinen und der Gewerkschaftsmitglieder im besonderen stieg. In der Zeit von 1900 bis 1910 wurde die im 19. Jahrhundert beobachtete Tendenz zu wachsenden Reallöhnen durch einen Anstieg der Preise für die britische Lebensmitteleinfuhr gehemmt und sogar umgekehrt. In der gleichen Zeit ist ein zunehmendes Mißtrauen der Gewerkschaftsmitglieder gegen ihre Führer festzustellen.134 Es war also wichtig, daß, wie wir gesehen haben, der Lebensstandard der Beschäftigten in der Zeit zwischen den Kriegen im Steigen war. Denn in diesen Jahren entwickelte sich unter kommunistischem Einfluß in der sogenannten Minderheitsbewegung der Gewerkschaften eine ernsthafte Bedrohung der gemäßigten, auf Reformen bedachten Führerschaft der Gewerkschaften. Diese Minderheitsbewegung suchte die bestehenden Gewerkschaften unter die Kontrolle ihrer Kandidaten zu bringen oder neue Organisationen zu gründen, um die bestehenden zu schwächen. Diese Politik schadete den Kommunisten wahrscheinlich mehr, als sie ihnen nützte, denn die Taktik der Spaltung von Gewerkschaften zielte zu offensichtlich darauf ab, die Gewerkschaftsbewegung insgesamt zu schwächen. Der Versuch, kommunistische Kandidaten in leitende gewerkschaftliche Positionen zu bringen, führte gelegentlich zum Erfolg. Das bemerkenswerteste Beispiel ist die Wahl A.J. Cooks zum Generalsekretär der

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Bergarbeitergewerkschaft. Cook war zwar kein Kommunist, man konnte ihn jedoch dazu verwenden, die kommunistische Parteilinie zu unterstützen. Seine Berufung auf diesen Posten hilft vielleicht die nutzlose Hartnäckigkeit erklären, mit welcher der Bergarbeiterstreik von 1926 in die Länge gezogen wurde. Indessen waren solche Siege (der Kommunisten) selten, denn, wie der Organisator der britischen Kommunisten in der Industrie 1931 zugab, die Arbeiter waren mehr daran interessiert, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern, als Machtkämpfe auszutragen, und betrachteten die Minderheitsbewegung als einen Außenseiterschwindel.135 Den Kommunisten gelang es ebensowenig, in der nationalen Politik die Unterstützung der Massen zu erhalten. Die Mitgliedschaft der Partei hat zwischen den Kriegen wahrscheinlich 20000 nie erreicht.136 Die Liste kommunistischer Bewerber um einen Parlamentssitz enthüllte dieses Versagen noch deutlicher. Im Jahre 1924 erhielt nur einer von acht Kandidaten einen Sitz, 1929 und 1931 nicht einer von 25 bzw. 26, im Jahre 1935 einer von nur zwei Bewerbern. 1929 verloren von 25 Kandidaten alle bis auf vier den hinterlegten Geldbetrag (das heißt, sie konnten nicht mehr als ein Achtel der in ihren Wahlkreisen abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen), und im Jahre 1931 widerfuhr dasselbe 21 von 26 Kandidaten. Die von den Kommunisten ausgesuchten Wahlkreise waren fast ausschließlich solche, in denen sie sich die größten Hoffnungen auf einen Erfolg machten, in denen Wähler aus der Arbeiterklasse eine überwältigende Mehrheit bildeten. Die Arbeiter in England glaubten nicht, daß der Staat ihren Bestrebungen feindselig gegenüberstehe, und hatten daher nicht den Wunsch, ihn zu revolutionieren. Denn erstens hatten die Vorkriegsregierungen, besonders die liberale Regierung von 1905 bis 1915, sich bereit gezeigt, Gesetze zugunsten der Armen und der Arbeiterklasse zu erlassen. Zweitens eröffnete der Aufstieg der Labour Party die Möglichkeit für eine schließliche Machtergreifung dieser Partei auf demokratischem und verfassungsmäßigem Wege sowie die Aussicht auf Regierungen, die noch mehr zu sozialen Reformen verpflichtet sein würden. Tatsächlich bildete die Labour Party in diesen Jahren zweimal die Regierung, und zwar im Jahre 1924 sowie von 1929 bis 1931. Diese Regierungen waren schwach und im Parlament auf die Tolerierung durch die Liberalen angewiesen. Daher waren die von ihnen herbeigeführten Veränderungen äußerst begrenzt, aber sie stärkten die Hoffnungen auf die Zukunft, die sich mit dem Sieg der Labour Party im Jahre 1945 erfüllten. Die Entwicklung der britischen Politik zwischen den Kriegen läßt sich am besten zusammenfassen durch eine Wiedergabe der Ergebnisse der Parlamentswahlen und durch eine Liste der Regierungen, die durch die Wahlen an die Macht kamen oder in der Macht bestätigt wurden. Eine Tabelle mit diesen Angaben ist am Ende dieses Kapitels abgedruckt. Bis 1922 hatte die Labour Party die Liberalen als stärkste antikonservative Partei verdrängt, und um 1935 war erwiesen, daß die Labour Party die einzig mögliche Basis einer nichtkonservativen Regierung war. Bei den

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Parlamentswahlen dieses Jahres wurden 154 Labour-Abgeordnete gewählt, um eine Opposition gegen das sogenannte ›Nationale Kabinett‹ zu bilden – jedoch nur 20 oppositionelle Liberale. Die Labour Party war ein überzeugendes Instrument, der politischen Auffassung derjenigen Ausdruck zu verleihen, die nach einer Beschleunigung der sozialen Veränderungen strebten, und sie machte es für die Arbeiterklasse annehmbar, sich für Reformen und nicht für die Revolution zu entscheiden. Ein weiterer wichtiger Grund für die maßvolle Haltung der britischen Arbeiterklasse war der, daß die Konservative Partei, spätestens seit Disraeli, Wert darauf gelegt hatte, nicht als eine Partei angesehen zu werden, die nur das Interesse einer Gruppe, nämlich der Besitzenden, repräsentiere. Sie nahm für sich in Anspruch, immer die Belange der gesamten Nation zu verfolgen. Die Zahl der Konservativen, die hiervon aufrichtig überzeugt war, war groß genug, um diesen Ansprüchen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Stanley Baldwin, der Führer der konservativen Partei von 1923 bis 1937, vermochte in besonderer Weise den Eindruck zu vermitteln, er stehe über den Gruppeninteressen und es gehe ihm um Großbritannien und ganz besonders um England, und nicht um die Besitzenden. Baldwin erweckte als Premierminister während des Generalstreiks den Glauben – der möglicherweise berechtigt war –, seine Regierung habe die kämpferische Haltung, die den Streik forcierte, gegen sein besseres Urteil und zu seinem Bedauern eingenommen. Er verlegte sich auf versöhnliche, betont ehrliche, augenscheinlich spontane Äußerungen. Die Wirkung war bedeutsam. Baldwin brachte es fertig zu verhindern, wenngleich manchmal unter Schwierigkeiten, daß seine Partei als eine Seite im Klassenkampf erschien. Es gelang ihm, den Eindruck hervorzurufen, daß seine Kabinette sich alle Mühe gäben, soziale Probleme zu bewältigen, und daß ihr völliges Unvermögen, mit der Arbeitslosigkeit fertig zu werden, nicht aus mangelnder Sorge um das Wohlergehen der Arbeitslosen resultiere.137 Die auffälligste Demonstration des auf diese Weise erzeugten Gefühls der Einheit im politischen Leben Englands erfolgte im Jahre 1931. Die Labour-Regierung unter Führung Ramsay Mac-Donalds setzte sich mit der europäischen Finanzkrise auseinander, als das Ausland das Vertrauen in den zukünftigen Wert des Pfundes zu verlieren begann. Da britische Währung auf dem ausländischen Devisenmarkt verkauft wurde, nahmen die britischen Reserven an fremder Währung rapide ab, und um eine Abwertung zu vermeiden, wurde es notwendig, eine Anleihe in den Vereinigten Staaten aufzunehmen. Es erwies sich, daß eine derartige Anleihe nicht aufgenommen werden konnte, wenn die britische Regierung nicht drastische deflationistische Maßnahmen ergriff, insbesondere nicht die Regierungsausgaben kürzte, um die inländische Nachfrage zu senken sowie die Preise in England zu drücken und so den Wert des Pfund Sterling zu erhalten. Amerikanische Bankiers glaubten, das Vertrauen in den Wert des Pfundes könne auf diese Weise nur sichergestellt werden, wenn die öffentliche Meinung in England und besonders die britischen Bankiers die

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vorgeschlagenen Kürzungen für ausreichend hielten. Die konservative Opposition, die sich zweifellos auf die Meinung der Bankiers verließ, behauptete, die Maßnahmen, denen die Labour-Regierung zustimmen könnte, reichten nicht aus, und forderten eine Kürzung der Arbeitslosenunterstützung. Über diese Frage spaltete sich das Labour-Kabinett. Die eine Gruppe, darunter der Premierminister und der Schatzkanzler Snowden, war zur Annahme dieser Forderung bereit, die andere Gruppe nicht. Die Labour-Regierung konnte nicht im Amte bleiben. Die Folge war, daß Mac-Donald sich bereit erklärte, den Posten des Premierministers in einem ›Nationalen Kabinett‹ zu übernehmen, in das auch die Labourmitglieder eintraten, die ihn zusammen mit Konservativen und Liberalen unterstützen wollten. Diese Regierung wollte auf eine Lösung der Finanzkrise hinarbeiten und eine sichere Parlamentsmehrheit für die angeblich notwendigen Ausgabenkürzungen herbeiführen. Die meisten Abgeordneten der Labour-Fraktion weigerten sich, eine Regierung zu unterstützen, die sich verpflichtet hatte, die Einkünfte der ärmsten Bevölkerungsschicht zu kürzen, und nur vier der ranghöheren Labourminister blieben bei MacDonald. Die übrigen und die Masse der Labour-Fraktion traten in Opposition zu der neuen Regierung.138 Diese Ereignisse können auf zweierlei Art und Weise interpretiert werden: als ein Akt der Selbstaufopferung MacDonalds und seiner nächsten Gefährten, die sich von ihrer Partei trennten, um einer Wirtschaftspolitik, die sie im Interesse der Nation für wesentlich hielten, die breitestmögliche Unterstützung zu verschaffen – oder als Verrat an der Labour Party, die gespalten und geschwächt wurde durch das Abtrünnigwerden von Männern, die die Arbeiterklasse preisgaben. Welche Interpretation auch immer akzeptiert wird, die Bedeutung des Ergebnisses bleibt für die vorliegende Erörterung dieselbe. Das ›Nationale Kabinett‹ wurde im August 1931 gebildet und bestand im Oktober einen Wahlkampf. Es erhielt ein weithin vernehmbares Vertrauensvotum: Die Anhänger der Regierung gewannen 554 Sitze (von denen die meisten an die Konservativen gingen), während nur 52 an die eigentliche Labour Party sowie 9 an sonstige fielen. Dies muß als ein Zeichen dafür angesehen werden, daß die Masse der Wählerschaft die Tätigkeit der Politiker, die das britische parlamentarische System hatte nach oben gelangen lassen – billigte. Auch ist klar, daß viele Anhänger der Labour Party für die Kandidaten des ›Nationalen Kabinetts‹ gestimmt hatten – über 30 Wahlkreise, wo die Labour Party 1929 eine Mehrheit von über 10000 Stimmen gehabt hatte, gingen den oppositionellen Labour-Kandidaten verloren.139 Es war eine klare Demonstration, daß viele Wähler der Arbeiterklasse in einer Notlage die nationale Einheit der Politik einer Gruppe voranstellten. Auch wendeten sich diejenigen, die die Ansicht vertraten, Mac-Donalds Handeln sei ein Verrat an der Labour Party, nicht dem Extremismus oder der Gewalt zu: Die Kommunisten spielten bei den Wahlen von 1931 die übliche erbärmliche Rolle, als von 26 Kandidaten kein einziger einen Sitz errang.

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Desgleichen verloren die übrigen Labour-Abgeordneten in der Opposition nicht ihren Glauben an das Regime; der Tribut, den Baldwin ihnen im Parlament zollte, war gerechtfertigt: »Sie haben dazu beigetragen, die Flagge der parlamentarischen Regierungsform weiterhin in der Welt wehen zu lassen. [...] Ich weiß, daß sie wie ich selbst für unsere Verfassung und für unser freies Parlament eintreten.«140 Diese Haltung wurde durch zwei Dinge gefördert. Zum einen wurde die Hoffnung auf die Zukunft neu belebt, als die Labour Party in den Wahlen von 1935 mit 154 Sitzen die parlamentarische Stärke wiedergewann, die sie von 1924 bis 1929 gehabt hatte. Die zweite Tatsache, die mitspielte, resultierte aus dem Versagen des ›Nationalen Kabinetts‹, seinen ursprünglichen Zweck, die Rettung des Pfundes, zu erfüllen. Im September 1931 verließ England den Goldstandard, und das Pfund fiel um ungefähr ein Drittel des vorherigen Wechselkurses. Es war nicht mehr notwendig, die deflationistischen Restriktionen durchzusetzen, die der fortgesetzte Schutz eines überhöhten Wechselkurses erfordert hätte. Im Jahre 1934 wurden beispielsweise die Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung von 1931 rückgängig gemacht. Die Folge des Abrückens vom Goldstandard war, daß England sich von dem großen Rückschlag schneller und vollständiger erholte als viele vergleichbare Industrieländer, und daß die Produktion anstieg, während die Lebensmittelpreise durch die Verbilligung auf dem Weltmarkt niedrig gehalten wurden. Im Gegensatz sowohl zu Deutschland als auch den Vereinigten Staaten stieg die Arbeitslosigkeit im Jahre 1932 nur geringfügig über den Stand von 1931 und sank danach schneller als in den Vereinigten Staaten. Im Wohnungsbau entwickelte sich eine Hochkonjunktur, von der auch der Wohnungsbau durch lokale Behörden mit staatlicher Unterstützung betroffen war. In den dreißiger Jahren erhielten mehr als eine Million Angehöriger der ärmsten Bevölkerungsschichten neue Wohnungen.141 Diese mit Händen zu greifenden Fortschritte bildeten in etwa ein Gegengewicht zu dem trüben Schauspiel der Arbeitslosigkeit, die selbst in den zwanziger Jahren in einem derartigen Ausmaß nicht dagewesen war. Auf der äußersten politischen Rechten tauchte in den dreißiger Jahren eine Bedrohung der liberalen parlamentarischen Demokratie unter einem Führer auf, der mindestens ebenso fähig und ebensowenig abstoßend war wie die meisten der ihm entsprechenden Gestalten auf dem Kontinent. Diese Bedrohung, obgleich unangenehm, blieb weit davon entfernt, Erfolg zu haben, bis der Krieg endgültig die sehr dürftigen Aussichten auf die Einführung einer Diktatur nach deutschem oder italienischem Vorbild unter Sir Oswald Mosley in England zunichte machte. Dieses Scheitern erklärt sich wenigstens zum Teil aus der Tatsache, daß man sich schwerlich durch die rote Gefahr in England ernstlich beunruhigt fühlen konnte. Die Stärke der kommunistischen Partei Großbritanniens reichte nicht aus, um eine rechtsradikale Reaktion hervorzurufen oder zu rechtfertigen, und es war vollends unmöglich, die Labour Party als eine mit Umsturz und Vernichtung drohende Macht zu behandeln. Es

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gab in der britischen Politik nichts, was den Mittelstand in Angst hätte versetzen können. Gewiß litten viele seiner Angehörigen unter Arbeitslosigkeit oder stagnierenden geschäftlichen oder beruflichen Verhältnissen, und viele, die selbst nicht zu leiden hatten, waren durch den Gedanken an das Los anderer bekümmert, obwohl gesagt werden muß, daß die deflationistische Politik und die Stabilität der Preise in der Zeit zwischen den Kriegen der großen Gruppe des Mittelstandes mit festen oder unveränderlichen Einkünften half. Doch das Vorhandensein offensichtlicher Übelstände und Mißhelligkeiten führte nicht notwendigerweise zu der Überzeugung, daß Lösungen nur in einer völlig neuen politischen Ordnung gefunden werden könnten. Die britische Verfassung flößte vielleicht besonders denjenigen Bevölkerungsschichten, für die eine faschistische Bewegung als attraktiv hätte gelten können, ein Gefühl des Respektes ein, das sich teilweise aus dem hohen Alter ihrer Ursprünge ableitete, teilweise aus der Erinnerung an frühere Erfolge, in deren Genuß England unter einem System gelangt war, das deutlich sichtbar der Vorfahr der Herrschaftsstruktur des 20. Jahrhunderts war. Wenn nicht Respekt, so führten doch wenigstens diese Erwägungen dazu, daß das Postulat, das britische Regierungssystem für selbstverständlich zu halten, verhältnismäßig selten in Frage gestellt wurde. Darüber hinaus brachte das Funktionieren des demokratischen Systems in England etwas hervor, dessen Fehlen der Kritik an einigen kontinentaleuropäischen Demokratien die überzeugendsten Gründe lieferte: stabile Regierungen. Das britische Wahlsystem beruhte auf dem Wahlkreis, der gewöhnlich einen einzigen Kandidaten in das Unterhaus entsandte und in dem derjenige Kandidat gewählt war, der in einem Wahlgang die meisten Stimmen erhielt. Dies System wirkte sich gegen Minderheitsparteien aus, denn es war für eine Partei möglich, eine große Anzahl von Wählerstimmen zu erhalten, die, wenn sie über verschiedene Wahlkreise verstreut waren, in deren jedem eine andere Partei mehr Stimmen hatte, ihr keine Vertretung im Unterhaus einbringen würden. Auf diese Weise erhielten zum Beispiel die Kommunisten mit einem Anteil von 74824 Stimmen an der Gesamtzahl der Wahlberechtigten im Jahre 1931 keinen einzigen Sitz, während sie in einem System mit strengem Verhältniswahlrecht zwei Sitze für ihre 26 Kandidaten gewonnen hätten (bei einer Gesamtzahl von 21,5 Millionen Wahlberechtigten, die 615 Abgeordnete wählten). So führte die Streuung bei den gewonnenen Stimmen einer Minderheitspartei nicht zu einem entsprechenden Einfluß im Parlament und erschwerte es einer solchen Partei, durch den äußeren Eindruck einer ernsthaften politischen Kraft an Stärke zu gewinnen, denn es schien sinnlos, ihr überhaupt die Stimme zu geben. Andererseits gewannen im Gegensatz zu einer Splitterpartei, deren Stimmenanteil gleichmäßig verstreut war, die größeren Parteien eine Anzahl von Sitzen, die in keinem Verhältnis zur Gesamtheit ihrer Wählerstimmen stand. Auf diese Weise konnte das britische System einer einzigen Partei eine Parlamentsmehrheit verschaffen, wozu ein System mit exaktem

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Verhältniswahlrecht nicht imstande gewesen wäre. Die Unterhauswahlen von 1924 bieten dafür eine gute Erläuterung.142 GesamtzahlGewählteKandidatenProzentualer der abgegeb.AbgeordneteAnteil an Stimmen der Gesamt- zahl der abgegeb. Stimmen Konservative803959841955248,3 Liberale29287474034017,6 Labour549807715151233,0 Kommunisten55346180,3 Sonstige1265114160,8 Summe166482796151428100,0 Wahlberechtigte21731320

In dieser Situation hätte ein strenges Verhältniswahlrecht keine konservative Mehrheit im Unterhaus hervorgebracht. Tatsächlich hatten die Konservativen eine Mehrheit von über 200 Sitzen gegenüber allen anderen Parteien. Auf diese Weise wurde die Entwicklung unstabiler Regierungen gehemmt und die Bildung einer starken Regierung in einem gewissen Sinne ermöglicht. Daher schien es nicht erforderlich, die parlamentarische Demokratie durch eine autoritäre Herrschaftsform zu ersetzen, weil die Demokratie durch das Wahlsystem begrenzt und beschränkt war. Unter diesen Umständen wurde Mosleys Partei, die ›Britische Faschisten-Union‹ (British Union of Fascists – BUF) nie mehr als ein unerquickliches Ärgernis. Sir Oswald Mosley war ein reicher Mann, intelligent und von hohem Ehrgeiz. Er kam 1918 als Anhänger von Lloyd George ins Unterhaus, war jedoch 1924 der Labour Party beigetreten und entwickelte sich zu einem hervorragenden und glänzenden Mitglied der Parteiführung. Mit 32 Jahren wurde er 1929 in der zweiten Labour-Regierung (Staats-)Minister, obgleich nicht Kabinettsmitglied, und erhielt den Auftrag, zusammen mit J.H. Thomas, einem Kabinettsminister, einen Lösungsvorschlag für die Arbeitslosigkeit auszuarbeiten. Die Unfähigkeit von Thomas erfüllte ihn mit wachsender Ungeduld. Er machte sich an die Arbeit und entwarf mit Hilfe von dritter Seite selbst einen Plan. Dieser Plan, der in vieler Hinsicht gewiß die besten und fortschrittlichsten Gedanken jener Zeit enthielt, wurde dem Kabinett im Januar 1930 vorgelegt und unter dem Einfluß des Finanzministeriums und des Schatzkanzlers zurückgewiesen. Im Mai 1930 trat Mosley voll Abscheu zurück. Obwohl seine Ideen mit Sympathie aufgenommen worden waren, erhielten sie weder die förmliche Unterstützung durch die Labour-Parlamentsfraktion noch durch den Labour-Parteitag im Oktober 1930. Danach tat Mosley den entscheidenden Schritt. Anstatt seine sehr starke Position in der Labour Party zu deren Umwandlung zu benutzen, strebte er nach Mitteln, die einen solchen Umweg überflüssig machten. Im Februar 1931 gab Mosley die Gründung einer neuen Partei bekannt, die bei den Unterhauswahlen im Oktober 24 Kandidaten aufstellte und völlig scheiterte.

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Nach diesem Fehlschlag trennte sich Mosley, der schon vorher autoritäre Neigungen gezeigt hatte, von orthodoxen demokratischen politischen Methoden und stellte sich nach Besuchen in München und Rom sowie nach einer Begegnung mit Mussolini die Aufgabe, eine faschistische Bewegung in England zu organisieren. In den zwanziger Jahren waren in England einige faschistische Gruppen ins Leben getreten, die die Tendenz hatten, sich zu spalten, und nicht sehr wirksam waren. Mosley lud die Mitglieder dieser Gruppen ein, der BUF beizutreten, die im Oktober 1932 gegründet wurde. Die ganze äußere Aufmachung des Faschismus begann in Erscheinung zu treten: schwarze Hemden, Reithosen, Schaftstiefel, Paraden und Märsche. Antisemitische, antisozialistische und antiparlamentarische Propaganda wurde in großem Stil verbreitet. Wie in solchen Fällen üblich, ist schwer zu sagen, woher das Geld für diese Umtriebe kam – sicherlich von Mosley selbst sowie von Industriellen und anderen, die mit Mosley sympathisierten, wahrscheinlich von Mussolini. 1934 hatte die BUF über hundert Ortsgruppen. Im Januar 1934 sprach sich eine große, in ganz England verbreitete Zeitung mit einer Riesenauflage, die Daily Mail, für Mosley aus. Gewisse Kreise der Konservativen Partei begannen Sympathie zu zeigen. Im Juni 1934 hielten die Faschisten in der Londoner ›Olympia‹ eine große Versammlung ab. Sie war gekennzeichnet durch äußerst gewaltsames Vorgehen gegen Personen, die die Versammlung störten, was Bestürzung verursachte und wahrscheinlich die Unterstützung, die Mosley bis dahin bekommen hatte, zurückgehen ließ. Kurz darauf brachte der Röhm-Putsch in Deutschland den Nationalsozialismus weiter in Mißkredit und vergrößerte den Abscheu vor einer Bewegung, die den Nationalsozialismus offen nachahmte. Im Juli hörte Rothermere, der Eigentümer der Daily Mail, auf, Mosley zu fördern, zum Teil wegen der mehr und mehr antijüdischen Haltung der BUF (obwohl die Daily Mail weiterhin mit Nazi-Deutschland sympathisierte – ein Beispiel dafür, wie manche Engländer eine doppelte Moral vertraten, die gegenüber der Bosheit im Ausland duldsamer war als gegenüber ähnlichen Manifestationen in England). Dennoch wurden die Faschisten von einigen Führern der Labour Party, besonders in der Sozialistischen Liga, so ernst genommen, daß diese bereit waren, eine Einheitsfront mit den Kommunisten zu befürworten und zu fordern, daß eine künftige Labour-Regierung diktatorische Vollmachten ergreifen müsse, um einem etwaigen faschistischen Widerstand entgegenzutreten. Aber die Sozialistische Liga wurde von der Mehrheit der Labour Party nicht unterstützt und 1937 aus der Partei ausgestoßen.143 Nachdem es im Oktober 1936 im Osten Londons zu Krawallen gekommen war, hielt die Regierung es für notwendig, gesetzgeberische Maßnahmen zum Verbot von Uniformen und zur Beschränkung der Versammlungsfreiheit sowie der Zulassung von Märschen und Umzügen vorzuschlagen. Diese Maßnahmen und eine augenscheinliche Abschwächung der finanziellen Unterstützung beschleunigten seitdem den Niedergang der BUF.

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Es ist schwierig, die zahlenmäßige Stärke der BUF zu bestimmen, da sie an den Wahlen von 1935 nicht teilnahm – Mosley hatte seine Anhänger aufgefordert, ihre Stimmen nicht abzugeben, ohne damit sehr eindrucksvolle Ergebnisse zu erzielen. Die einzigen Wahlerfolge, deren die BUF sich rühmen konnte, kamen bei den Wahlen zum Londoner County Council im Jahre 1927 zustande, als die Faschisten in drei Wahlkreisen mit beträchtlichem jüdischem Bevölkerungsanteil 14–23 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten, ohne jedoch dem Gewinn eines Sitzes nahezukommen. Bei den in demselben Jahr zu einem späteren Zeitpunkt abgehaltenen Stadtratswahlen bewiesen die Faschisten wiederum eine gewisse Stärke in denselben begrenzten Londoner Stadtteilen, aber im übrigen Londoner Gebiet und mehr noch in Provinzstädten spielten sie eine jämmerliche Rolle.144 Es ist also gerecht, zu sagen, das politische Leben in England in der Zeit zwischen den Kriegen habe die Form einer friedlichen und weitgehend vernünftigen Auseinandersetzung zwischen einer kompromißbereiten konservativen Partei und einer zur Mäßigung geneigten Arbeiterpartei angenommen, mit den Liberalen als einer im Abnehmen begriffenen dritten Kraft zwischen beiden. Die Konservativen, die großenteils von der Industrie finanziert wurden, vertraten die aus Grundbesitzern und Großunternehmern bestehende Oberschicht und die Masse des Mittelstandes, die um die Verteidigung der bestehenden Sozialstruktur und der bestehenden Verteilung von Einkommen und Eigentum besorgt waren, sowie eine Gruppe der Arbeiterschaft, die bereit war, sich mit ihrem Platz innerhalb der sozialen und wirtschaftlichen Rangordnung abzufinden. Die Labour Party, die ihre Geldmittel weitgehend von den Gewerkschaften erhielt, vertrat eine fortschrittliche Gruppe innerhalb des Mittelstandes, besonders unter Gehaltsempfängern wie Lehrern, und die breite Masse der Arbeiterschaft. Die wachsender Geldknappheit ausgesetzten Liberalen repräsentierten diejenigen, die mit der Entscheidung zwischen den beiden großen, reichen Parteien, deren letzte Grundlage Gruppeninteressen bildeten, unzufrieden waren. Andere waren liberal aufgrund von Traditionen und Gewohnheiten, die sich in unmodern gewordenen Auseinandersetzungen, wie zum Beispiel der um den Schutz des Non-Konformismus gegen die anglikanische Kirche, oder solchen, die im Begriff waren, unzeitgemäß zu werden, wie die Auseinandersetzung um den Schutz des Freihandels gegen den Protektionismus, herausgebildet hatten. Trotz extremistischer Herausforderungen, trotz der Meinung einiger Konservativer, daß ihre Partei übermäßig nachgiebig und kompromißbereit sei, und trotz der Auffassung einiger Leute in der Labour Party, ihre Partei müsse einen militanten Sozialismus vertreten, gaben sich die beiden großen Parteien weiterhin damit zufrieden, im Rahmen der bestehenden Verfassung zu arbeiten und gegenüber ihren Gegnern mit duldsamer Selbstbeschränkung zu verfahren. Infolgedessen war die Gesellschaft in England im Jahre 1939 trotz der Schwierigkeiten und Nöte der voraufgehenden zwanzig Jahre in ihren Anschauungen einig und

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politisch weniger unruhig als im Jahre 1914. Zwischen 1919 und 1939 ging in England bei politischen und wirtschaftlichen Konflikten nicht ein einziges Menschenleben verloren. Die Geschichte Englands steht in diesen Jahren in einem ausgeprägten Gegensatz zu der Geschichte der meisten Länder des europäischen Festlandes. Parteien, Wahlen und Regierungen in England 1918–1940* WahlterminParteiSitze imRegierungen Unterhaus Dez. 1918Konservative 335Koalitionsregierung (Befürworterunter D. Lloyd der Koalition)George bis Okt. 1922 Liberale133 (Befürworter der Koalition) Labour10 (Befürworter der Koalition) Konservative23 Liberale28 Labour63 Irische105 Abgeordnete Sonstige10 *Quelle: D.E. Butler und J. Freeman: British Political Facts 1900–1960 (London 1963), S. 9–26, 122–124. Die meisten der im Dezember 1918 gewählten irischen Abgeordneten nahmen ihre Sitze nicht ein. Die Mitgliedschaft irischer Abgeordneter endete mit dem Ausscheiden Irlands (mit Ausnahme der sechs nördlichen Grafschaften) aus dem Vereinigten Königreich. Die ›Nationalen‹ Liberalen sind nach 1935 praktisch als Konservative anzusehen. WahlterminParteiSitze imRegierungen Unterhaus Nov. 1922Konservative345Konservative unter A. ›National‹-Bonar Law bis Mai Liberale541923, danach unter Liberale62Stanley Baldwin bis Labour142Jan. 1924 Sonstige12 Dez. 1923Konservative258Labour unter Ramsay Liberale159MacDonald bis Nov. Labour1911924 Sonstige7 Okt. 1924Konservative419Konservative unter Liberale40Stanley Baldwin bis Labour151Juni 1929 Sonstige5 Mai 1929Konservative260Labour unter Ramsay Liberale59MacDonald bis Aug. Labour2881931

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Sonstige8 Okt. 1931Konservative473›Nationales Kabinett‹ ›Nationale‹*unter Ramsay Mac- Labour13Donald bis Juni 1935 ›Nationale‹* Liberale35 Liberale33 Labour52 Sonstige9 Nov. 1935Konservative432›Nationales Kabinett‹ Liberale20(fast ausschließlich Labour154konservativ) unter Sonstige9Stanley Baldwin bis Mai 1937, dann unter Neville Chamberlain bis Mai 1940

*D.h. solche, die das ›Nationale Kabinett‹ unterstützten (Anm. des Übers.). 7. Italien 1919–1940 In Italien war der Ausgang des Kampfes um die liberale Demokratie, der die Geschichte Westeuropas in der Zeit zwischen den Kriegen beherrschte, schnell entschieden. Der Name derer, die in Italien siegten, wurde sogar zur Bezeichnung der meisten Gegner des Liberalismus und der Demokratie in Europa, deren Unterstützung aus anderen Kreisen der Gesellschaft als denen des industriellen Proletariats kam, benutzt: Faschisten. Es ist wichtig, zu bestimmen, was Faschismus in Italien bedeutete, um desto leichter sehen zu können, inwieweit der italienische Faschismus für rechtsradikale Bewegungen in der Zeit zwischen den Kriegen typisch und inwieweit er ein spezifisch italienisches Phänomen war. Wenn er Eigenschaften besaß, die auch Bewegungen der politischen Rechten in anderen Ländern hatten, dann mag das Verstehen der Geschichte jener Länder durch eine Untersuchung des faschistischen Erfolgs in Italien gefördert werden, und die Beschäftigung mit den italienischen Faschisten wird den Versuch ermöglichen, verallgemeinernde Feststellungen über das Wesen des Faschismus und die Voraussetzungen für seinen Triumph zu treffen. Die Bedeutung der Geschichte Italiens in diesen Jahren liegt daher sowohl in ihren allgemeinen Bezügen wie in dem ihr selbst innewohnenden Interesse. Repräsentierte der Faschismus irgendwelche Ideen? Regierungen beeinflussen Ereignisse notwendigerweise durch Handeln oder Unterlassen, und man kann ihnen Ideen zuschreiben, indem man diesen Einfluß untersucht. Die Gefahr dieser Darstellungsweise liegt darin, daß die Taten einer Regierung einfach aus dem Druck äußerer Ereignisse oder Situationen resultieren können. So verhält es sich mit der faschistischen Regierung in Italien: sie wurde von den Ereignissen mehr beherrscht, als sie die Ereignisse beherrschte. Dennoch entschied sie sich in der Hauptsache für zwei Verfahrensweisen: Die eine bestand in der Drohung mit Gewalt auf dem Gebiete der Außenpolitik, die andere in der Verteidigung der

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wirtschaftlichen Ungleichheit im Innern des Landes. Wie weit ergab sich diese Politik aus theoretischen Überzeugungen aufgrund geistiger Analysen der italienischen Interessen? Diese Frage ist am leichtesten mit Ausdrücken aus dem Denken Mussolinis zu beantworten, denn die Faschisten hielten es für ausgemacht, daß faschistische Herrschaft gleichbedeutend war mit der lauthals verkündeten Diktatur Mussolinis. Es zeigt sich deutlich, daß Mussolini zwar gewisse verschwommene Überzeugungen auf außenpolitischem Gebiet, aber keinerlei Ideen hinsichtlich der inneren Ordnung Italiens hatte, außer der, daß er dabei eine bedeutende Rolle spielen sollte. Mussolini machte sich einen Namen als Befürworter des italienischen Kriegseintritts. Es spricht einiges dafür, daß er in dieser Haltung durch französisches Geld bestärkt wurde. Es gab zwei deutlich hervortretende Typen von Befürwortern des Kriegseintritts: diejenigen, die glaubten, Italien solle seinen Platz bei einem Kreuzzug für die Befreiung der Nationalitäten, für die Durchsetzung internationaler Gerechtigkeit und die Schaffung einer neuen Ordnung friedlicher Zusammenarbeit einnehmen, sowie diejenigen, die den Krieg als eine gute Gelegenheit zur Ausbreitung der Macht und Größe Italiens ansahen. Nach einigem Zögern machte sich Mussolini leidenschaftlich den zweiten Standpunkt zu eigen, zu einer Zeit, als seine spätere Haltung zu innenpolitischen Fragen noch nicht geformt war. Wenigstens mit Worten für die Größe Italiens einzutreten, und zwar in Äußerungen der Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, hörte Mussolini auch nach dem Krieg niemals auf. Obwohl, wie zuzugeben ist, eine solche Haltung darauf abzielte, ihm Popularität und die Hilfe derjenigen Italiener zu gewinnen, die durch die Ergebnisse des Krieges enttäuscht und über die peinlichen Ereignisse der Nachkriegszeit bestürzt waren, ist es schwer zu bestreiten, daß Mussolini in gewisser Weise daran glaubte. Wenn das der Fall ist, stellte diese Haltung die Summe von Mussolinis ›Denken‹ dar, denn es ist klar, daß er in sozialen und wirtschaftlichen Fragen oder auch nur in politischen Dingen keinerlei feste Überzeugungen hatte und daß der vom Faschismus eingenommene Standpunkt Mussolini und seiner Bewegung von Nützlichkeitserwägungen aufgedrängt wurde.145 Mussolini begann sein politisches Leben als Sozialist, und als er mit der Masse der italienischen Sozialisten brach, weil er den Kriegseintritt Italiens befürwortete, blieb er ein Sozialist von bemerkenswert gewalttätiger Art. Im März 1919, als bei einer Versammlung in Mailand die Fasci di Combattimento als nationale Organisation hervortraten, waren die meisten Anwesenden politisch Linksstehende, und das im Juni herausgegebene Programm war entschieden revolutionär. Bei den Wahlen im November 1919 versuchte Mussolini in Mailand zusammen mit anderen Linksparteien erfolglos, eine gemeinsame Kandidatenliste zustande zu bringen.146 Dieses sozialistische Auftreten war ein jämmerlicher Fehlschlag. Bei den Wahlen wurde nicht ein einziger Faschist gewählt, und Mussolini selbst erhielt eine drastische Abfuhr. Die Faschisten konnten nicht hoffen, die gleiche Anziehungskraft wie die sozialistischen

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Parteien (und der neue katholische Partito Popolare [Volkspartei]) auf die arbeitenden Klassen auszuüben. Deren Bestrebungen hatten bereits ein geeignetes Betätigungsfeld. Erst 1920 fand Mussolini seine eigentliche Rolle: nicht die Hoffnungen der Linken, sondern die Befürchtungen der antisozialistischen Kreise zu vertreten. Kurzum, Mussolini selbst repräsentierte gar nichts; er war ein ehrgeiziger Demagoge, der eine politische Macht suchte, die ihn emportragen sollte, und wenn das nicht die arbeitenden Schichten täten, würden deren Feinde dem gleichen Zwecke dienen. Mussolini sagte im Herbst 1920: »Ich bin reaktionär und revolutionär je nach den Umständen.«147 Insoweit also Mussolini für den italienischen Faschismus sprechen kann, und das Recht dazu ist ihm schwerlich zu bestreiten, hatte der Faschismus keinerlei abstrakte Ideen zur Grundlage, außer vielleicht einer allgemeinen Neigung zu nationalistischem Auftreten gegenüber dem Ausland. Nachdem Mussolini die Herrschaft über Italien erlangt hatte, traten natürlich Exponenten faschistischen ›Denkens‹ in Erscheinung. Ihr Beitrag zur politischen und sozialen Theorie war trivial: ihre philosophischen Äußerungen waren deutlich aus verschiedenen Strömungen des Denkens des 19. Jahrhunderts abgeleitet, namentlich von Hegel und seinen Nachfolgern sowie von falschen Anwendungen der Darwinschen Lehre auf politischem Gebiet nebst gewissen Anleihen beim katholischen Denken in sozialen und wirtschaftlichen Fragen.148 Glücklicherweise brauchen wir uns um den Faschismus als Philosophie nicht zu kümmern, denn der Erfolg des Faschismus in Italien ergab sich nicht aus faschistischem ›Denken‹; vielmehr war faschistisches ›Denken‹ eine Folge des faschistischen Sieges; und wenn man annehmen kann, es habe vor Mussolinis Machtergreifung so etwas wie ein faschistisches Denken gegeben, so spricht nichts dafür, daß Mussolini viel Kenntnis davon gehabt habe. Wie gewannen denn der Faschismus und Mussolini, die weder Einsichten noch Ideen und Programme zu bieten hatten, die Herrschaft über Italien? Die Antwort kann nur die sein, daß Mussolini und seine Bewegung starken sozialen und wirtschaftlichen Kräften Ausdruck verliehen. Diese Kräfte entstammten denjenigen Kreisen der italienischen Gesellschaft, die sich vor der sozialen Revolution und paradoxerweise sogar vor Gewalt und Bürgerkrieg fürchteten (paradoxerweise, weil die Gewalttätigkeit, von der der Faschismus Italien rettete, von ihm selbst erzeugt und der Bürgerkrieg, den er abwendete, ein Konflikt war, den nur er selbst hätte schaffen können). Der Faschismus bezog seine Stärke aus der Furcht vor sozialen Veränderungen. Eine solche Furcht hätte einen Konservatismus herkömmlicher Art fördern können, der auf der Herrschaft der mit Industriellen und Geldleuten verbündeten Grundbesitzer beruhte. Einer derartigen Entwicklung standen jedoch Schwierigkeiten im Wege. Unter einem demokratischen Regime muß ein solcher Konservatismus Wählerstimmen gewinnen. In den Jahren von 1919 bis 1922 hatte es den Anschein, daß man auf eine gegen drastische soziale Veränderungen eingestellte Mehrheit nicht zählen könnte. Die Demokratie war in Italien neu. Bis 1913 war das Wahlrecht

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beschränkt auf einen kleinen Teil der Bevölkerung, und diejenigen, die privilegierte Positionen zu verteidigen hatten, hatten keine Zeit gehabt, die Fähigkeit und das Vertrauen zu erwerben, um dies mit Hilfe einer Massenwählerschaft zu tun, bevor die wirtschaftlichen Schläge der Nachkriegszeit Italien trafen. (Bei den Wahlen von 1909 hatten 8,3 Prozent der gesamten Bevölkerung das Stimmrecht; bei denen von 1913 waren es 23,2 Prozent.149) Wenn die Demokratie zusammenbrach, brauchte die privilegierte Schicht eine Massenstreitmacht, um die Drohung der roten Herrschaft abzuwehren. In jedem Falle benötigte die Reaktion die Hilfe der Massen. Die Faschisten brachten sie oder vielmehr: gaben ihr Ausdruck. Es wäre eine allzu große Vereinfachung, an reiche Reaktionäre zu denken, die Faschisten kauften, um sich einen zahlenmäßig starken Rückhalt zu verschaffen. Es ist richtiger, zu sagen, daß die Faschisten für die Reaktion eine massenhafte Anhängerschaft auf den Plan brachten, die sie selbst auf eine Weise ausnutzen konnten, wie es traditionsgebundenere Reaktionäre nicht hätten tun können. Das ist der große Beitrag des italienischen Faschismus zur politischen Geschichte: er machte die unerwartete Entdeckung, daß der Antisozialismus Anziehungskraft auf die Massen ausüben konnte, daß es in Ermangelung einer geschmeidigen und geschickten konservativen Partei wie der in England und trotz des Vorhandenseins einer aktiven und aufrüttelnden sozialistischen Partei eine noch zu erschließende Gruppe der Gesellschaft gab, die bisher von denjenigen, die die Politik machten, vernachlässigt worden war. Im 19. Jahrhundert und früher waren die besitzenden Klassen in England im Laufe der Entwicklung ein Teil der regierenden Schicht geworden, und in dem Maße, wie die Demokratie aufkam, eigneten sie sich die angemessenen Methoden des Ausgleichs, der Zugeständnisse und der Überzeugungskraft an. Das ermöglichte es ihnen, bestehende Positionen zu verteidigen, ohne die direkteren und brutaleren Methoden des Faschismus dulden zu müssen. Die herrschenden Klassen im Italien des 19. Jahrhunderts besaßen diese Erfahrung nicht. Sie nahmen daher die Hilfe an, die ihnen politische Führer eines neuen Typs verschafften. Diese neuen politischen Führer entstammten gewöhnlich nicht der herkömmlichen Oberschicht und noch weniger der geistigen Elite oder den höheren Berufsständen. Mussolini war ein recht typisches Beispiel: ein Mann aus kleinen Verhältnissen und von oberflächlicher Bildung. Seine Redseligkeit, sein Selbstbewußtsein und sein unausgegorener Tiefsinn spiegelten die geistige Befangenheit vieler Italiener wider und halfen ihren Sinn für Wichtigtuerei und Individualismus steigern; es waren diejenigen, die sich für etwas Besseres als die Arbeiter hielten und denen das Bewußtsein ihrer bescheidenen Stellung in der überkommenen gesellschaftlichen Rangordnung Unbehagen verursachte. Solche Kreise der Gesellschaft, die den sehr reichen Leuten, dem Land- und Geldadel mißtrauisch gegenüberstanden, ließen sich in Ermangelung einer wirksamen politischen Führerschicht von seiten der Hauptnutznießer der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu deren Festigung durch die neuen Methoden

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des Faschismus gewinnen. Die Ehrgeizigeren und Anmaßenderen darunter konnten im Faschismus eine bisher unbekannte Befriedigung finden. Ein schwarzes Hemd brachte Ansehen und Macht sowie die Chance, die Schranken des grauen Alltags zu überschreiten. Andererseits darf man das Ausmaß des Rückhalts, den der Faschismus vor dem sogenannten ›Marsch auf Rom‹ bei der Masse der Bevölkerung erlangte, nicht übertreiben. Der Faschismus verdankte seinen Erfolg nicht einer überwältigenden Zahl von Wählerstimmen (die war viel kleiner als die von den deutschen Nationalsozialisten 1932 erreichte) oder der Stoßkraft einer revolutionären Armee (die faschistischen Verbände waren militärisch sicher bedeutungsloser als die deutsche SA im Jahre 1932), sondern der Tatsache, daß er genügend Wählerstimmen gewann und genügend physische Kraft aufbrachte, um Regierungen und Politiker einzuschüchtern, die sich vor der Linken so sehr fürchteten, daß sie den Kampf mit einem neuen Feind auf der Rechten zu vermeiden wünschten und sogar bestrebt waren, den neuen Feind zu einem Verbündeten zu machen. Der Faschismus kam in Italien an die Macht, weil die Inflation der Nachkriegszeit eine rege und erfolgreiche Agitation der Arbeiterklassen für höhere Löhne in den Städten und auf dem Lande anstachelte und weil Übervölkerung auf dem Lande dort den Klassenkampf auslöste. Der Faschismus wurde von denjenigen gefördert, die die rote Revolution, den Bolschewismus, den Sozialismus und die klassenlose Gesellschaft fürchteten. Diese Förderung war stark genug, den eher sanften Widerstand des liberalen Staates, dessen Vertreter selbst mehr Furcht vor einer sozialistischen Revolution als vor einem faschistischen Umsturz hatten, zu überwinden. Während des Krieges waren die Lebenshaltungskosten in Italien rascher gestiegen als die Löhne, und der Lebensstandard der Arbeiterklasse wurde herabgesetzt. Im Jahre 1918 lagen die Reallöhne ungefähr ein Drittel unter dem Stand von 1913. In den Jahren 1919 und 1920 suchten die Arbeiter diese Einbuße wettzumachen und hatten Erfolg damit. Im Jahre 1914 hatte es 781 Streiks unter Beteiligung von ungefähr 170000 Arbeitern gegeben. Während des Krieges war die Zahl niedriger gewesen. Im Jahre 1919 kam es zu mehr als 1800 Streiks mit etwa 1,5 Millionen Arbeitern und 1920 zu über 2000 Streiks mit fast zwei Millionen Teilnehmern (diese Zahlen beziehen sich nicht auf Streiks, die im ganzen Lande durchgeführt wurden). Dabei kam es zu erheblichen Gewalttätigkeiten: von April 1919 bis September 1920 wurden über 320 Arbeiter getötet, wobei die Polizei nur sehr geringe Verluste erlitt. Im September 1920 erreichte der von der organisierten Arbeiterschaft ausgeübte Druck seinen Höhepunkt in der ›Besetzung der Fabriken‹. Diese begann mit einem Plan der FIOM, des Verbands der Metallarbeiter, für einen Sitzstreik. Als die Arbeitgeber mit Aussperrungen Vergeltung zu üben versuchten, ordneten die Gewerkschaften an, die Fabriken zu besetzen. Zuerst fielen in Mailand und dann auch anderweitig Fabriken in die Hände von Arbeiterausschüssen, die die

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Produktion in Gang zu halten versuchten und in der ersten Septemberhälfte des Jahres 1920 die Macht über die Fabriken behielten.150 In ländlichen Gebieten führte Landhunger dazu, daß besitzlose Bauern sich Land, das Großgrundbesitzern gehörte, aneigneten. Die Bewegung begann im Juli 1919 in Latium in der Umgebung Roms mit der Inbesitznahme von unbebautem Boden. Doch seit August breitete sie sich aus, und auch in Gebieten, die intensiv bebaut wurden, wurde Land in Besitz genommen. Im Jahre 1920 erkannte die Regierung die daraus resultierende Bodenreform an, wobei sie versuchte, Entschädigungen für die früheren Eigentümer und Maßnahmen zur Verbesserung der Bebauung durchzusetzen. Noch ernster war der durch Übervölkerung verursachte ländliche Klassenkampf, der sich in einigen der reichsten landwirtschaftlichen Gebiete Italiens zeigte: in der Emilia und in der Po-Ebene. Hier wurde eine intensive Wirtschaft betrieben und eine große Menge von Arbeitskräften benötigt. Es standen jedoch – außer während der Ernte, der arbeitsreichsten Zeit – mehr Männer zur Verfügung, als erforderlich waren. Den meisten Arbeitern wurde nur für die Hälfte des Jahres Arbeit angeboten. Daraus konnten sich zwei Konsequenzen ergeben: die Löhne konnten so niedrig gehalten werden, daß manche der Arbeiter hungerten oder auswanderten, oder die Arbeit konnte gerecht unter die gesamten Arbeitskräfte verteilt werden, wobei kollektive Vereinbarungen die Löhne das ganze Jahr hindurch auf einer erträglichen Höhe hielten. Um letzteres zu erreichen, bedurfte es einer Organisation der Arbeiter, und zwar einer straffen und sogar diktatorischen Organisation. Die Interessen der Arbeiter konnten nur dann geschützt werden, wenn alle gezwungen waren, ihren Organisationen zu gehorchen, und wenn alle Grundbesitzer genötigt waren, ihre Arbeitskräfte durch Vermittlung jener Organisationen einzustellen. Wenn diese Einigkeit einmal zustande kam, konnten die Arbeiterorganisationen das gesamte wirtschaftliche Leben ihrer Bezirke beherrschen. Einige Arbeitskammern (Camere del Lavoro) setzten sowohl die Preise als auch die Löhne und Arbeitsbedingungen fest und verteilten die landwirtschaftlichen Erzeugnisse durch die von ihnen kontrollierten Genossenschaften. Diese wirtschaftliche Kontrolle wurde durch politische Herrschaft ergänzt: Fast alle Gemeinden der Emilia waren in der Hand der Sozialisten. Sowohl kleine Grundbesitzer und Pächter als auch Großgrundbesitzer – und diese noch mehr als jene – sahen ihr Eigentum bedroht, ihre Gewinne beschnitten und ihren Rang angesichts des Aufstiegs der Arbeiter verringert.151 Diese Fortschritte des städtischen und ländlichen Proletariats waren nicht etwa Bestandteil eines großen, von den Sozialisten ausgearbeiteten Plans, der auf die Zerstörung des Privateigentums, die Ausrottung des Kapitalismus und die Bolschewisierung Italiens abgezielt hätte. Im Gegenteil, sie waren gewöhnlich das Werk von Männern, denen an sofortigen Reformen im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung und nicht an ihrem sofortigen Umsturz gelegen war, das Werk praktisch denkender Führer, die sich mit spezifisch

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lokalen Gegebenheiten befaßten. Die beunruhigende Haltung und die Äußerungen der Politiker der offiziellen sozialistischen Partei Italiens ließen jedoch vermuten, daß die rote Revolution bevorstehe. Diese Männer imitierten Lenin in ihrer Redeweise, obwohl sie ganz und gar nicht imstande waren, ihn in ihren Taten nachzuahmen, und keine Ahnung hatten, wie eine Revolution in Italien verwirklicht werden könne. Diese revolutionäre Haltung war erstaunlich, wo doch die Bemühungen um Reformen gleich nach dem Krieg so beträchtliche Erfolge errungen hatten. Eine Erklärung liegt möglicherweise in der Spaltung der sozialistischen Partei durch den Kriegseintritt Italiens. In England, Frankreich und Deutschland hatte der Krieg ein Gefühl der nationalen Einheit erweckt und so die Tendenz, die politische Mäßigung der Linken zu bekräftigen, entwickelt, obwohl sich diese Tendenz im Laufe des Krieges abschwächte. In Italien hielten die meisten Angehörigen der Arbeiterklasse den Krieg für etwas, was sie nichts anging, was ihnen mehr durch die Machenschaften inländischer Interessenverbände als durch Angriffe aggressiver ausländischer Kräfte aufgezwungen sei. Gleichviel, was die Gründe sein mochten, die italienischen Sozialisten, mit Ausnahme einer von Treves, Turati und Modigliani geführten Minderheit, nahmen eine Haltung revolutionärer Unnachgiebigkeit ein und verkündeten das unmittelbare Bevorstehen einer revolutionären Diktatur des Proletariats. Der Erfolg, den die Arbeiterklasse angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten mit der Erhöhung der Löhne errang, erweckte im Mittelstand weitere Ressentiments. Die Jahre 1919 und 1920 sahen eine durch Streiks erzwungene Neuverteilung des Einkommens zu Lasten derer, die von relativ festen Einnahmen abhängig waren, und zugunsten von Lohnempfängern. 1921 waren die Lebenshaltungskosten gut viermal so hoch wie 1913, während beispielsweise die Gehälter höherer staatlicher Bediensteter nur das zweieinhalbfache betrugen.152 Viele Leidtragende aus dem Mittelstand erwarteten, der Staat werde das Gleichgewicht wiederherstellen. Eine weitere Gereiztheit kam besonders in dem Teil des Mittelstandes, dem die Mehrzahl der Kriegsoffiziere entstammte, wegen der Opposition der Sozialisten gegen den Krieg auf. Man glaubte, sozialistische Propaganda habe 1917 die schwere Niederlage von Caporetto verursacht. Die offene Feindseligkeit gegen den Militarismus und die Verachtung, die die Sozialisten nach dem Kriege den Streitkräften der Krone bezeigten, provozierte Abneigung und Erbitterung sowohl bei dienenden wie bei ehemaligen Offizieren. Diese Empfindungen trugen dazu bei, daß die Armee und die Polizei es versäumten, Widerstand gegen faschistische Gewalttätigkeit zu leisten. Die Kabinette, die während der Auflösung des italienischen Staates voll Unbehagen regierten, wurden von folgenden Präsidenten des Ministerrates geleitet: Orlandobis Juni 1919

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NittiJuni 1919 – Juni 1920 GiolittiJuni 1920 – Juni 1921 BonomiJuli 1921 – Februar 1922 FactaFebruar 1922 – Oktober 1922 Die Unstabilität der Regierungen war selbst eine Ursache der wachsenden Diskreditierung der parlamentarischen Regierungsform und des schwindenden Vertrauens in die Zukunft, das viele ihrer führenden Vertreter empfanden. Orlando und Nitti sahen sich zwischen Präsident Wilson und dem italienischen Nationalismus gefangen. Beide waren nicht in der Lage, Wilson zur Billigung der italienischen Forderung nach einer vollständigen Ausführung des Vertrages von London zu veranlassen, aufgrund dessen Italien in den Krieg eingetreten war und der Italien Istrien sowie ein beträchtliches Stück von Dalmatien oder aber den Besitz Fiumes versprach. England und Frankreich versagten den italienischen Ansprüchen die Unterstützung, und die italienischen Nationalisten (einschließlich der Faschisten) schmähten die sich daraus ergebende ›Verstümmelung des Sieges‹. Die Macht des Staates wurde im September 1919 weiter in Frage gestellt, als ein Haufen von Nationalisten, deren Anführer der Dichter d’Annunzio war, Fiume mit Duldung der dortigen italienischen Besatzungstruppen in Besitz nahm. Wegen der Unzuverlässigkeit der Streitkräfte konnte Nittis Regierung d’Annunzio nicht entfernen. Im November 1919 fanden Wahlen zur Deputiertenkammer statt, die die Macht der Regierung stärken sollten. Das tatsächliche Ergebnis war eine Kammer, deren Zusammensetzung unstabile Regierungsverhältnisse zur Gewißheit machte. Die Wahlen setzten den langen Jahren ›liberaler‹ Herrschaft in Italien ein Ende. Die Liberalen waren nicht eine einzelne Partei, sondern eine Sammlung von Gruppen, die alle die repräsentative Regierungsform und die konstitutionelle Monarchie als den politischen Rahmen akzeptierten, innerhalb dessen eine Oligarchie führen und regieren konnte. Diese Gruppen hatten genug Gemeinsames, um gegenseitige Kompromisse als Basis von Mehrheiten zu ermöglichen. Jetzt brachten die Wahlen nationalen Massenparteien mit klar definierten Programmen eine beherrschende Position in der Kammer: 156 Sozialisten und 100 Abgeordnete einer neuen Partei – des Partito Popolare Italiano (Italienische Volkspartei – PPI). Die Volkspartei vertrat diejenige Richtung, von der man eine Stärkung des italienischen Staates hätte erwarten können, denn ihre Grundlage war christlich, das heißt unter italienischen Verhältnissen: katholisch. Das Bestehen dieser Partei bedeutete, daß katholische Wähler die Existenz des italienischen Staates hinnahmen, bedeutete einen Schritt in Richtung auf die Beendigung des langen Konfliktes zwischen Kirche und Staat. Aber altmodischen Liberalen wie Giolitti schien die neue Partei ein gefährliches Phänomen zu sein. Sie stand auf nationaler Grundlage, trat nicht für örtlich bedingte Interessen ein und nahm für sich den Charakter einer modernen Partei in Anspruch: monolithisch und einer zentralen Leitung gehorchend. Sie stellte

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eine Bedrohung des alten Systems dar, das Giolitti meisterhaft gehandhabt hatte, eines Systems, innerhalb dessen Politik die Kunst des Kompromisses zwischen Individuen oder Gruppen war, und sie bedeutete das Ende parlamentarischer Geschmeidigkeit – dies jedenfalls befürchteten Liberale wie Giolitti. Solche Befürchtungen waren eindeutig fehl am Platz, denn die Volkspartei war weit davon entfernt, homogen oder einig zu sein. Ihr gehörten Männer an, die aufrichtig nach einer Änderung der sozialen Verhältnisse strebten, denen an den Rechten der Arbeiter und der Entwicklung landwirtschaftlicher Genossenschaften lag, aber auch Männer, die an eine mystische Überwindung der Klassengegensätze glaubten, deren Ideen praktisch reaktionär waren. Zwar machte auf kurze Sicht gesehen die Existenz dieser Partei die Bildung einer stabilen Parlamentsmehrheit nahezu unmöglich, denn es war für Liberale schwierig, mit ihr zusammenzuarbeiten, da sie auf ihrem Programm bestand. Besonders schwierig war es für Liberale, die Giolittis Mißtrauen gegenüber jeglicher Art von klerikaler Einmischung teilten. Für Giolitti bedeutete der politische Sekretär der Volkspartei, der Priester Don Sturzo, wahrscheinlich sogar die größte Herausforderung des liberalen Staates, mehr als die Sozialisten und sicherlich viel mehr als Mussolini. Giolittis im Juni 1920 gebildetes Kabinett bedeutete den Wendepunkt im Aufstieg des Faschismus, denn unter seiner Regierung entwickelte sich der Faschismus von einem kraftlosen Haufen geschwätziger Agitatoren zu einer ernsten Bedrohung des italienischen Staates. Giolitti erstrebte einen friedlichen Ausgleich, die Beseitigung der Zwietracht, die Lösung der akutesten Streitigkeiten im öffentlichen Leben Italiens. Er hatte den Sieg eines aufgeklärten, in sozialer Hinsicht fortschrittlichen Konservatismus im Sinn, der die bedeutendsten Kräfte der italienischen Gesellschaft in die Schranken der Verfassung bringen würde. Eine versöhnliche Außen- und Innenpolitik würde den Frieden für Italien wiederherstellen und den liberalen Staat wieder festigen. In seiner im Oktober 1919 in Dronero gehaltenen Rede forderte Giolitti die Wiederherstellung der Autorität des Parlaments, die durch die Art und Weise von Italiens Kriegseintritt und die Art der Kriegführung in Frage gestellt worden war, sowie die Besteuerung der Reichen – namentlich was deren Kriegsgewinne betraf – durch eine progressive Einkommensteuer, durch Erbschaftssteuer und eine sofortige Vermögensabgabe. Gleichzeitig gab er bekannt, die privilegierten Klassen könnten nicht länger die alleinigen Lenker der Menschheit sein.153 In mancher Hinsicht war Giolittis Kabinett sehr erfolgreich. Als im Juni 1920 Truppen gegen ihre Entsendung nach Albanien in Ancona meuterten, wurde daraufhin der Beschluß gefaßt, Albanien zu räumen und seine Unabhängigkeit anzuerkennen. Im November wurden durch den Vertrag von Rapallo, der das Ergebnis direkter zweiseitiger Verhandlungen war, endlich die italienisch-jugoslawischen Grenzen geregelt, wobei Italien ganz Istrien behielt, während Dalmatien mit Ausnahme von Zara (Zadar) bei Jugoslawien blieb. Fiume wurde eine freie Stadt. Dem Vertrag folgte die Entfernung d’Annunzios aus Fiume, ein

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Erfolg, der wegen der dort wachsenden Unbeliebtheit d’Annuncios erreicht werden konnte. So löste Giolitti die wichtigsten außenpolitischen Probleme Italiens, stellte die guten Beziehungen zu den Kriegsverbündeten wieder her und errichtete eine Grundlage für die Entwicklung des italienischen Einflusses in Südosteuropa.154 Giolittis größter Erfolg bestand in der Regelung der Frage der Fabrikbesetzungen. Im September 1920 wurden 120 Fabriken in Mailand von den Arbeitern besetzt. Dies Beispiel wurde in Turin und anderen Orten Italiens nachgeahmt. Giolitti weigerte sich nachdrücklich, Truppen gegen die Arbeiter einzusetzen, und suchte sie statt dessen zu beschwichtigen, indem er ihnen gesetzgeberische Maßnahmen versprach, um eine gewisse Beteiligung der Arbeiter an der Führung der Industrie als Gegenleistung für die Räumung der Fabriken sicherzustellen. Als die Arbeiter, die die Fabriken beherrschten, die Feststellung machten, daß es für sie unmöglich sei, die Produktion wirksam zu lenken, nahmen sie diese Abmachungen an, und im Oktober begann die normale Arbeit. Giolitti hatte nichts Geringeres getan als zu beweisen, daß die bolschewistische Bedrohung ein Mythos sei, daß die proletarische Revolution in Italien nur die leere Phrase von Sozialisten sei, denen die Lehren von Marx und Lenin die Köpfe benebelt hätten. Wenn die Arbeiter mit Respekt behandelt würden, würden sie nicht den Versuch machen, die Macht an sich zu reißen oder Italien in Strömen bourgeoisen Blutes zu ertränken. Giolitti erklärte im Oktober, die Besetzung der Fabriken sei nicht mehr als die Folge der Unterbezahlung italienischer Arbeiter.155 Leider wurde Giolittis Triumph nicht als solcher anerkannt. Statt dessen tadelten einige eingeschüchterte Industrielle die Regierung wegen ihrer Weigerung, einzugreifen, und weil sie sie zwang, Zugeständnisse zu machen. Der verärgerte Mittelstand glaubte, die Schwäche des liberalen Staates habe den Sozialisten erlaubt, einen weiteren Sieg zu erringen. Statt also die besitzenden Klassen Italiens zu überreden, den Weg der Aufklärung und der Versöhnung zu beschreiten, schwächten die Vorsicht und die Gutwilligkeit Giolittis den fortschrittlichen Konservatismus und lieferten noch mehr Wasser auf die Mühlen der gewalttätigen Reaktion. In diesem Stadium der Entwicklung fanden die Faschisten und mit ihnen Mussolini ihre eigentliche Rolle: Sie bestand in der Ausnutzung der Befürchtungen der Besitzenden in Stadt und Land und basierte zudem auf der Beunruhigung des Mittelstandes über seinen, verglichen mit dem der organisierten Arbeiterschaft, sinkenden sozialen Status. Erst als man diese Kräfte sich dienstbar gemacht und sie dem bereits vorhandenen verschwommenen Nationalismus sowie dem unklaren Streben nach etwas Neuem, nach einer gewissen Erneuerung und sogar (ironischerweise) Läuterung des Lebens in Italien, wodurch die Bewegung eine matte und trügerische idealistische Färbung erhielt, hinzugefügt hatte, erst da wurde der Faschismus ein ernsthafter politischer Faktor. Der entscheidende Augenblick kam nach der Besetzung der Fabriken – die Mussolini gebilligt hatte – in der Phase, deren dramatischstes

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Ereignis der Ausbruch von Gewalttätigkeiten am 21. November 1920 in Bologna war. Die Jahre 1921 und 1922 sahen überall in Mittel- und Norditalien die Ausbreitung und Entfaltung faschistischer Methoden: der Einschüchterung, der Brandstiftung, der Schlägerei, der gewaltsamen Vertreibung örtlicher sozialistischer Verwaltungen und des Mordes. Ende 1920 gab es 88 Fasci mit 20615 Mitgliedern, Ende 1921 deren 834 mit 249036 Mitgliedern. Vom 1. Januar bis zum 14. Mai 1921 wurden bei faschistischen Überfällen allein 207 Menschen getötet und 819 verletzt.156 Die staatlichen Behörden unterdrückten diesen einseitigen Bürgerkrieg nicht nur nicht, sondern schienen ihn zu dulden und sogar zu ermutigen. Im Oktober 1922 drohten die Faschisten, ihren Bürgerkrieg gegen den Staat zu richten, wenn ihnen die Staatsmacht nicht übergeben würde. In schwächlicher Nachgiebigkeit ernannte der König Mussolini zum Ministerpräsidenten. Die bemerkenswerteste Tatsache dieser Jahre ist die außerordentlich passive Haltung derjenigen, die den liberalen Staat leiteten, gegenüber der organisierten Subversion. Die zentrale Frage, die wegen dieser Passivität zu stellen ist, ist folgende: Geschah es freiwillig oder war es unvermeidlich, konnten oder wollten die Liberalen und Demokraten den Faschimus nicht unterdrücken? Man hätte ein entschiedenes Vorgehen zur Überwindung der Gewalttätigkeit erwarten können, wie es am 21. Juli 1921 in Sarzana angewandt wurde. Dort waren fünfhundert Faschisten in die Stadt eingedrungen, um einige verhaftete Kameraden zu befreien. Sie wurden von elf Carabinieri auseinandergetrieben und in. die Flucht geschlagen.157 Im allgemeinen erlebte man solche Vorfälle nicht. Im Gegenteil, während die staatlichen Streitkräfte gegen die sozialistischen Gegenangriffe rigoros vorgingen, ließen sie den Faschisten freie Hand. Die ›Ordnungs‹-Streitkräfte nahmen sogar bei mehreren Gelegenheiten an faschistischen Überfällen selbst teil. Die Faschisten konnten Lastwagen benutzen, die der Armee oder den Carabinieri gehörten, und weitgehend wurden ihnen von Polizei und Militär Waffen geliefert.158 Es gibt Zeugnisse, die dafür sprechen, daß es liberalen Regierungen schwergefallen wäre, die Faschisten zu unterdrücken, selbst wenn sie es gewollt hätten. Schon im September 1920 zeigte sich die Haltung der Armee in einem Rundschreiben des Generalstabs an die Kommandeure. Darin wurde festgestellt, man könne die Fasci nunmehr als Streitkräfte ansehen, die in der Lage wären, gegen »antinationale und subversive Elemente« Widerstand zu leisten, und es sei nützlich, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Im Frühjahr 1921 wurde der Generalinspekteur der PS (Pubblica Sicurezza) vom Ministerium des Innern beauftragt, den Faschismus in der Toscana und der Emilia zu untersuchen. Er berichtete, die Ordnungsstreitkräfte seien der Meinung, die Faschisten hielten ihre (der Streitkräfte) eigenen Feinde beschäftigt. Kein Präfekt bestreite ihm gegenüber, daß Versuche zur unparteiischen Unterdrückung von Gewalttätigkeit ein Hindernis in der Geisteshaltung von Funktionären fänden,

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die die Umtriebe der Faschisten für eine Reaktion gegen die Subversion hielten. Im September 1921 wies der Ministerpräsident Bonomi selbst auf die Ohnmacht der Regierung angesichts der Sympathien der Polizei und der Carabinieri, der Armee und der Justiz hin. Im August 1922 teilte der Präfekt von Mailand dem Innenministerium mit, man könne im Krisenfalle nicht auf die Hilfe der Militärbehörden gegen die Faschisten zählen. Darüber hinaus gibt es Zeugnisse dafür, daß die Regierungen manchmal versuchten, die Gewalttätigkeiten der Faschisten zu zügeln. Im Oktober 1920 wurde das oben erwähnte Rundschreiben durch ein weiteres modifiziert, das General Badoglio auf Bitten Bonomis, der damals Kriegsminister war, erließ. Darin wurde die Verpflichtung der Armee, sich aus dem Kampf der Parteien herauszuhalten, betont. Im April 1921 erhielten mehrere Präfekten von dem Ministerpräsidenten Giolitti ein Rundschreiben, der sich darüber beklagte, daß die Polizei in mehreren Provinzen ihre Pflicht, gewalttätige Handlungen zu unterdrücken, nicht erfüllt habe, und forderte, daß die Präfekten ihm die Namen von Beamten mitteilten, die aus dem Dienst entfernt werden sollten. Im Dezember 1921 erging ein weiteres Rundschreiben an die Präfekten. Darin wurde die Nachsicht der örtlichen Behörden gegenüber dem Tragen von Waffen verurteilt und die Auflösung bewaffneter Organisationen sowie die strafrechtliche Verfolgung ihrer Mitglieder angeordnet.159 Bonomi war jedoch der letzte Ministerpräsident, der auch nur den Versuch machte, Widerstand gegen den Faschismus zu leisten. Graf Sforza berichtet, Bonomi habe eine Verordnung zur Auflösung faschistischer Verbände und notfalls die Erklärung der Illegalität der gesamten Partei erwogen, doch habe er nicht die »gewisse notwendige Unterstützung« gefunden, das heißt, einige Mitglieder seiner Regierung hätten Einwände gegen einen direkten Zusammenstoß mit den Faschisten erhoben. Beim Amtsantritt der Regierung Facta wurden Faschisten, die unter der Anklage von Verbrechen standen, von örtlichen Behörden einfach freigelassen oder, wenn dies nicht geschah, auf Anordnung von Rom aus »provisorisch auf freien Fuß« gesetzt.160 Die entscheidende Entwicklungsphase in der Haltung der italienischen liberalen Regierungen gegenüber dem Faschismus war die Zeit des Kabinetts Giolitti von 1920–1921. Wenn gegen den Faschismus Widerstand geleistet werden sollte, war das die beste Zeit dazu – als die Regierung stark zu werden begann –, und wenn solcher Widerstand einen Führer finden sollte, konnte die Wahl nur auf Giolitti fallen. Er war mit Abstand der bedeutendste und erfahrenste liberale Staatsmann – das Kabinett von 1920 war sein fünftes –, er war der erfolgreichste Vertreter der Kunst, Regierungsmehrheiten zustande zu bringen, und von ihm, wenn überhaupt von jemandem, konnte man erwarten, daß er am liberalen Konstitutionalismus festhielte. Er übernahm jedoch nicht die Führung im Kampf gegen den Faschismus und versuchte auch nicht, alle der Regierung zur Verfügung stehenden Mittel zu ergreifen, um die Zerstörung des Faschismus in die Wege zu leiten. Vielmehr bezog er den Faschismus in seine allgemeine Theorie der Absorption ein: daß nämlich am Ende alle politischen

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Kräfte in die liberale Verfassung eingebaut werden könnten und daß der Prozeß der Förderung dieses Einverständnisses mit dem Staat durch Versöhnlichkeit sowie Geschmeidigkeit und nicht durch gewaltsamen Widerstand voranzutreiben sei. Letzten Endes, so soll er behauptet haben, würden die Faschisten ebenso wie die Republikaner und die Sozialisten zur Mitarbeit unter der »gemeinsamen Herrschaft des liberalen Staates, der alles erträgt und alles überlebt«, übergehen.161 Zweifellos wurde Giolittis Überzeugung, daß die Faschisten nicht einfach als Feinde behandelt werden sollten, bestärkt durch seine Furcht vor den Massenparteien – den Sozialisten und der Volkspartei, deren parlamentarische Stärke die Bildung von Regierungsmehrheiten schwierig machte, da die Sozialisten die Mitarbeit verweigerten und die Volkspartei harte Bedingungen stellte. Dies und Giolittis Glaube an die Normalisierung des Faschismus erklären sein Verhalten bei den Wahlen im Juni 1921, die er selbst festgesetzt hatte. Zu dieser Zeit war der blutdürstig-reaktionäre Charakter des Faschismus ganz und gar offenkundig. Dennoch wurden die Faschisten in Giolittis nationalen Block aufgenommen, der den Wahlkampf gegen Sozialisten und Volkspartei führte. Das war eine klare Demonstration dafür, daß es nicht wahrscheinlich war, daß Giolitti und diejenigen, die wie er dachten (geschweige denn weiter rechts stehende ›Liberale‹), einen antifaschistischen Kampf unternehmen würden. Die Folgen waren verhägnisvoll: Mit einer geringfügigen Schwächung der Sozialisten bzw. Stärkung der Volkspartei ging die Wahl von 35 faschistischen Abgeordneten einher. Die Deputiertenkammer zählte nunmehr ungefähr 100 rechtsstehende Abgeordnete (einschließlich der Faschisten), ungefähr 200 ›Demokraten‹ verschiedener Gruppierungen, darunter die Reformsozialisten, über 100 Volksparteiler sowie 130 Sozialisten und Kommunisten. In den nächsten Monaten ergab sich folgendes Bild: Die Liberalen glaubten – wie Giolitti – weiterhin, der Faschismus sei fügsam; durch eine Koalition und eine passende Ämterverteilung, die die Führer zufriedenstelle, werde man der Gewalttätigkeit viel leichter ein Ende setzen als durch das Risiko eines blutigen Zusammenstoßes mit den faschistischen Verbänden. Diese Überzeugung beruhte auf einer fundamentalen Unterschätzung des Ausmaßes von Macht und Einfluß, das die faschistischen Führer befriedigen würde. Diejenigen Liberalen, die zum Widerstand gegen den Faschismus bereit waren, waren zu gering an Zahl, als daß sie eine Regierung ohne ein – nicht zu verwirklichendes – Zusammengehen mit der Volkspartei und den Sozialisten hätten bilden können. Die Tatsache jedoch, daß diejenigen Liberalen, die zum Kompromiß mit dem Faschismus bereit waren, ohne eine gewisse antifaschistische Unterstützung nicht regieren konnten, hatte Kabinette zur Folge, die mit dem Faschismus weder wirksam verhandeln noch sich zu seiner Niederwerfung zusammenschließen konnten. Die Wahlergebnisse veranlaßten die Faschisten zu der Schlußfolgerung, Gewalt sei ein wirksameres Mittel zur Machtergreifung als der Gewinn von Wählerstimmen, und das Tempo der Gewaltanwendung wurde beschleunigt,

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während die Faschisten gleichzeitig Illusionen der Liberalen nährten, indem sie von Regierungskoalitionen und parlamentarischer Zusammenarbeit sprachen. Dieser unsicheren Situation wurde ein Ende gesetzt, als die Faschisten – durch den ›Marsch auf Rom‹ – die Regierung vor die Alternative zwischen Kampf und Kapitulation stellten. Die Regierung kapitulierte, und der König berief Mussolini zum Präsidenten des Ministerrats. Drei Ereignisse verdienen Aufmerksamkeit: erstens der Versöhnungspakt und sein Fehlschlag, zweitens die wachsende Bereitschaft einiger Volksparteiler und Sozialisten, sich in einer antifaschistischen Regierung zusammenzuschließen, drittens das Verhalten des Kabinetts und des Königs zur Zeit des ›Marsches auf Rom‹. Der Versöhnungspakt war eine Vereinbarung zwischen faschistischen Parlamentariern und Sozialisten, die die Gewalttätigkeit beenden sollte. Er entsprang der Furcht Mussolinis, es könne zu einem tatkräftigen Vorgehen der Regierung Bonomi gegen den Faschismus kommen. Der Pakt blieb ergebnislos, weil die faschistischen Führer in den Provinzen sich weigerten, ihn zu akzeptieren, und dem unentschlossenen Mussolini durch bloßes Ignorieren des Paktes ihre eigene Überzeugung aufzwangen, daß von den Streitkräften des Staates nichts zu befürchten sei und daß die Ereignisse von Sarzana ein Unfall seien. Sarzana war jedoch der Beweis dafür, daß die einzige Hoffnung, dem Faschismus die Giftzähne auszubrechen, in Festigkeit und nicht in Versöhnlichkeit und Schwäche lag. Am 13. Juli 1922 demolierten die Faschisten von Cremona unter Führung Farinaccis die Häuser zweier Abgeordneter. Am 19. Juli wurde die Regierung Facta aufgrund eines Abstimmungsergebnisses, das energische Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung forderte, gestürzt. Am Abend erklärte das Direktorium der Volkspartei, es müsse eine Regierung zur Aufrechterhaltung von Recht und Frieden im Lande gebildet werden. Am 2. Juni hatte eine Mehrheit der Parlamentsfraktion der sozialistischen Partei ihre Bereitschaft bekundet, eine antifaschistische Regierung zu unterstützen, und selbst als der Nationalrat der Partei (der noch von unnachgiebigen Radikalen beherrscht wurde) diese Abstimmung verurteilte und sogar gegen eine Stimmenthaltung der Sozialisten Einwände erhob, hielten etwa 60 sozialistische Abgeordnete an ihrer Bereitschaft fest, eine antifaschistische bürgerliche Regierung zu unterstützen (dieser Beschluß führte im Oktober zu einem förmlichen Bruch in der Partei). Obwohl das Direktorium der Volkspartei sich bald einer Zusammenarbeit mit den Sozialisten widersetzte, war Sturzo, der politische Sekretär, dazu bereit. So schien eine Regierung möglich zu werden, die sich auf einen Teil der Volkspartei und der Sozialisten stützen könnte und eine Wiederherstellung der Ordnung erstreben würde. Bonomi war willens, den Versuch zu machen. Daß es ihm nicht gelang, unter diesen Umständen eine Regierung zu bilden, lag nicht an sozialistischer Unnachgiebigkeit, sondern an einer Weigerung der liberalen ›Konstitutionalisten‹, eine ausgesprochen antifaschistische, kämpferische Regierung zu akzeptieren. Am 20. Juli schrieb

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Giolitti selbst aus dem Ausland: »Was kann bei einem Bündnis Sturzo-Treves-Turati Gutes für das Land herauskommen?« (Turati war der bedeutendste unter den zur Mitarbeit bereiten Sozialisten.) Die Mehrzahl der Liberalen zog es eindeutig vor, den nutzlosen Versuch der Absorption des Faschismus in einer von Liberalen beherrschten Kombination fortzusetzen. Es ist daher falsch, zu behaupten, das Festhalten der Sozialisten am unerbittlichen Klassenkampf habe einen gemeinsamen Widerstand unmöglich gemacht. Diese Krise endete mit dem Wiedererscheinen des schwachen Facta – eine provisorische Maßnahme, während Verhandlungen mit den Faschisten über deren Eintritt in die Regierung weitergingen. Im Oktober teilte ein Abgesandter Giolittis Don Sturzo mit, es sei unwahrscheinlich, daß Giolitti eine Regierung ohne die Faschisten zu bilden versuchen werde, und es sei unmöglich, daß er es gegen sie versuchen werde. Inzwischen verhandelte Giolitti mit Mussolini.162 Der ›Marsch auf Rom‹ war das Mittel, die Verhandlungen über den Eintritt in die Regierung, die Mussolini nicht nur mit Giolitti, sondern auch mit Salandra (von der liberalen Rechten), Orlando und Facta führte, zur Entscheidung zu bringen. Der ›Marsch auf Rom‹ war nicht eine bewaffnete Machtergreifung, sondern die Beschleunigung eines Eintritts in die Regierung, der durch die Haltung der Liberalen schon unvermeidlich geworden war. In einem wichtigen Punkt jedoch bewirkte er etwas anderes, als die von Mussolini Geprellten erwartet hatten: Mussolini selbst bildete die neue Regierung, statt Mitglied einer von liberalen oder demokratischen Politikern gebildeten Regierung zu werden. Am 16. Oktober wurden in Mailand vier Männer – Balbo, de Vecchi, de Bono und Bianchi – mit der Ausführung eines bewaffneten Überfalls auf die Hauptstadt beauftragt. Am 24. verkündete Mussolini: »Entweder wird uns die Regierung übertragen, oder wir nehmen sie uns durch einen Angriff auf Rom: es ist jetzt eine Sache von Tagen und vielleicht von Stunden.« Am Abend des 27. Oktober gaben die vier Männer von ihrem Hauptquartier in Perugia aus die Eröffnung der Operationen bekannt. Drei Gruppen von Faschisten – insgesamt ungefähr 26000 Mann – wurden in bequemer Reichweite von Rom, in Monterotondo, Santa Marinella und Tivoli, versammelt. Würde die Regierung Widerstand leisten? Vom streng militärischen Standpunkt aus gesehen war ihr der Sieg sicher: Rom wurde von mehr als 28000 Soldaten unter General Pugliese geschützt, die besser ausgerüstet und disziplinierter als die Faschisten waren. Zunächst schien es, als ob die Regierung handeln würde. Ohne Zweifel widerstrebte es einer Mehrheit innerhalb des Kabinetts, von Verhandlungen mit Mussolini zu einer völligen Kapitulation vor seinen Drohungen überzugehen. Am Abend des 27. Oktober kehrte der König nach Rom zurück, und Facta, der Präsident des Ministerrates, vereinbarte mit ihm eine Notstandserklärung. Das Kabinett versammelte sich am 28. Oktober um 5 Uhr früh; General Pugliese erhielt den Befehl, Rom zu verteidigen; Telegramme, die den Notstand erklärten, wurden abgesandt, und die Minister unterzeichneten eine Proklamation, in der sie bekanntgaben, daß sie um jeden Preis die Ordnung aufrechterhalten würden.

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Um 8 Uhr bat Facta König Victor Emanuel III., das Dekret mit der Erklärung des Notstandes zu unterzeichnen. Der König weigerte sich.163 Das war der entscheidende Augenblick. Wenn der König den Widerstand gegen die Faschisten aus vollem Herzen unterstützt hätte, hätte dies der Regierung die Loyalität der Streitkräfte gebracht. Der große Vorteil der konstitutionellen Monarchie sollte genau darin liegen, daß der Monarch den Inbegriff der Loyalität gegenüber der Verfassung und des Widerstandes gegen ihren Umsturz darstellt. Unglücklicherweise enthüllte die Krise den schwachen Punkt der konstitutionellen Monarchie, daß nämlich ein Monarch normalerweise Männern der politischen Rechten nahesteht. Man kann sich daher gewöhnlich darauf verlassen, daß der Monarch gegen die Linke energisch vorgeht (wenn die Kommunisten einen Marsch auf Rom angedroht hätten, hätte sich Victor Emanuel zweifellos beeilt, eine kraftvolle Verteidigung anzuordnen), wohingegen man sich auf seinen Widerstand gegen einen Umsturz von rechts nicht verlassen kann. So, wie die Dinge lagen, überließ die Haltung des Königs Italien schutzlos der faschistischen Drohung. Warum versagte er? Ein Grund dafür lag in Befürchtungen wegen der Verhältnisse in seiner Dynastie. Es war bekannt, daß sein Vetter, der Herzog von Aosta, bereit war, die Führung eines faschistischen Staatsstreichs gegen den Monarchen selbst zu übernehmen, falls Victor Emanuel sich für den Widerstand entschiede. Ein weiterer Grund kam von den Ratgebern des Königs her – nicht von denen in der Regierung, sondern von denjenigen, die er in der entscheidenden Nacht vom 27. zum 28. Oktober befragte. Diese waren vermutlich General Diaz, Admiral Thaon di Revel, General Cittadini und der Nationalistenführer Federzoni. Wahrscheinlich hatten alle diese Männer dem König gesagt, ein Kompromiß mit dem Faschismus, gleichviel, zu welchen Bedingungen, sei besser als ein Konflikt. Auch spricht einiges dafür, daß Facta selbst bei seinem Ersuchen an den König, das Dekret zu unterzeichnen, keine Energie zeigte.164 Es blieben Illusionen, Mussolini könnte überredet werden, in ein Kabinett unter Führung eines Nichtfaschisten einzutreten: am 28. Oktober bat der König den Rechtsliberalen Salandra, ein Kabinett zu bilden. Mussolini lehnte es ab, nach Rom zu kommen, es sei denn, um selbst eine Regierung zu bilden, hatte doch die Kapitulation des Königs schon klar gemacht, daß gegen seine Forderungen kein Widerstand geleistet werde. Am 29. Oktober wurde Mussolini gebeten, eine Regierung zu bilden. Er stieg noch am selben Abend in einen Zug nach Rom und traf am nächsten Morgen ein. Für die faschistischen Banden, die am 30. und 31. Oktober mit Sonderzügen nach Rom gebracht wurden, brachte der ›Marsch auf Rom‹ in der Zwischenzeit lediglich Unbequemlichkeit mit sich.165 Während der nächsten Jahre gewann Mussolini genug Mitläufer und Mitarbeiter von liberaler und demokratischer Seite und von Anhängern der Volkspartei, um in stetiger Entwicklung einen diktatorischen Einparteienstaat schaffen zu können. Diejenigen, die sich zum Widerstand dagegen hätten zusammenschließen können, taten es nicht, weil eine ziemlich große Zahl von

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ihnen glaubte, die Ernennung Mussolinis zum Präsidenten des Ministerrates werde schließlich zu einer ›Normalisierung‹ führen, der Faschismus werde mit der Gewalttätigkeit aufhören und seine Zustimmung dazu geben, daß die liberale Verfassung wieder voll wirksam werde. Andere waren über die Aussicht auf die endgültige Niederlage des ›Bolschewismus‹ befriedigt. Der ersten Regierung Mussolinis gehörten außer Faschisten und Nationalisten Liberale und Volksparteiler an. Sie erhielt Giolittis Unterstützung: »Ein Kabinett unter Mussolini ist das einzige, das den Frieden der Gesellschaft wiederherstellen kann.« Die kapitalistische Gesellschaft verkündete laut ihre Unterstützung in einem Manifest der Confindustria. Als sich das Parlament im November versammelte, trat Mussolini mit einer charakteristischen Mischung aus Beleidigungen, Drohungen, Versprechungen und Schmeicheleien vor die Kammer. Der Faschismus werde ohne Rücksicht auf das Parlament regieren. Die Revolution sei allmächtig, jedoch werde die Regierung die Freiheit respektieren und das Recht schützen. Die Regierung erhielt daraufhin ein Vertrauensvotum von 306 gegen 116 Stimmen. Die Opposition kam fast ausschließlich von Sozialisten und Kommunisten. Inzwischen zeigte sich, daß die gesetzwidrige Gewalttätigkeit mit Mussolinis Machtübernahme nicht aufgehört hatte. In Turin zum Beispiel wurden im Dezember mindestens 11 Personen von den Faschisten als Vergeltung für die tödliche Verwundung von zwei ihrer Kameraden umgebracht. Solche Gewalttätigkeit wurde jetzt förmlich unter die Schirmherrschaft des Staates gestellt durch die Eingliederung der faschistischen Schwarzhemden in eine ›freiwillige Miliz‹, die unmittelbar Mussolini unterstellt wurde, der zu verstehen gab, daß er die faschistische Herrschaft ohne Rücksicht auf die Zustimmung des Parlaments für dauernd ansah. Zu diesem Zeitpunkt gab es Anzeichen, daß die Volkspartei gegen Mussolini opponieren könnte – ihre starke Position in der Kammer hätte diese Opposition noch immer eindrucksvoll machen können. Daß diese Möglichkeit dahinschwand, lag vor allem an der Haltung der Kirche gegenüber dem Faschismus. Auf dem im April 1923 abgehaltenen Kongreß von Turin war die Partei Don Sturzo gefolgt, als er die Zusammenarbeit mit Mussolinis Regierung durch scharfe Kritik am Verhalten der Faschisten einschränkte. Mussolini antwortete darauf, indem er die volksparteilichen Minister zwang, die Regierung zu verlassen, und indem er die Volkspartei und andere katholische Institutionen angriff. Der – wenn er energisch genug ausgeübt wurde-immer entscheidende Einfluß des Vatikan? wurde geltend gemacht, und am 10. Juli wurde Sturzo gezwungen, als politischer Sekretär der Volkspartei zurückzutreten. Die Haltung der päpstlichen Behörden bildete einen der Hauptgründe für Mussolinis erfolgreichen Vormarsch zur Diktatur. Für die katholische Hierarchie mußten natürlich Sozialisten und doktrinäre Liberale notwendigerweise Feinde sein, und ohne Zweifel zog sie als rivalisierendes Glaubensbekenntnis den geistlosen Unsinn, den der Faschismus vortrug, den gefährlich überzeugenden Argumenten des Marxismus und des liberalen Rationalismus vor. Andererseits

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ist die Kirche an weltlichen Dingen nur insoweit interessiert, wie sie für das Jenseits Bedeutung haben und die besseren Möglichkeiten, die Menschheit zur Befolgung der gesunden Lehre zu ermuntern, eher durch die Zusammenarbeit mit einer Regierung als durch Opposition gegen sie zu erlangen sind. An demselben Tage, als Sturzo zurücktrat, begann die Diskussion über ein neues Wahlgesetz. Seine Annahme war ein wichtiger Schritt auf Mussolinis Weg zur Diktatur. Sein Grundgedanke war der, daß diejenige Wahlliste, die die höchste Stimmenzahl erreichte – man setzte voraus, dies werde die faschistische Liste sein – zwei Drittel der Sitze in der Kammer erhalten solle. Wie üblich, stellten die Faschisten eine Mischung von Drohungen und Versöhnlichkeit zur Schau: die faschistische Presse erklärte, wenn der Gesetzentwurf zurückgewiesen werde, werde ein gewaltsamer Staatsstreich folgen, während Mussolini in der Maske eines virtuosen Parlamentariers vor der Kammer auftrat. Die Regierung erhielt ein Vertrauensvotum mit 303 gegen 140 Stimmen, wobei die Volkspartei die Regierung unterstützte. Das Kernstück des Wahlgesetzes, das Acerbo-Gesetz, wurde mit 235 gegen 139 Stimmen angenommen, bei Stimmenthaltung der meisten Abgeordneten der Volkspartei. (Die Illusionen, die sich sogar entschiedene und aufrichtige Demokraten machten, zeigten sich in der Stimmenthaltung Amendolas mit der Begründung, daß Mussolini Schritte in Richtung auf die erhoffte ›Normalisierung‹ hin unternehme.) Mussolini ließ gelten, daß die Mehrheitsliste nach dem neuen Gesetz ein Minimum an Stimmen erhalten müsse, bestand jedoch darauf, 25 Prozent der abgegebenen Stimmen seien ausreichend. Diese Bestimmung kam mit 178 gegen 157 Stimmen durch. Die Mehrzahl der Abgeordneten der Volkspartei übte wieder einmal Enthaltung.166 Wenn man sich daran erinnert, daß die Kammer nur dreißig erklärte Faschisten zählte, zeigt sich erst recht, welche Bedeutung die Nachgiebigkeit der Nichtfaschisten hatte. Die Hoffnungen auf eine Rückkehr zum uneingeschränkten Funktionieren der Verfassung erwiesen sich bald durch die Fortsetzung faschistischer Gewalttätigkeit als nichtig, namentlich durch zwei Zwischenfälle. Am 29. November 1923 wurde das Haus des früheren Ministerpräsidenten Nitti bei einem Einbruch demoliert, und am 26. Dezember wurde Amendola, der sich zum schärfsten nichtsozialistischen Gegner des Faschismus entwickelt hatte, von einer faschistischen Bande schwer mißhandelt.167 Am 6. April 1924 wurden Wahlen abgehalten. Obwohl es Beweise gab, daß die Gewaltakte der Faschisten nicht aufgehört hatten, nachdem ihre Partei Regierungspartei geworden war, enthielt die faschistische Liste (Listone) unter insgesamt 356 Namen auch 135 Liberale und Demokraten, darunter zwei ehemalige Ministerpräsidenten, Salandra und Orlando, während Giolitti eine kleine separate Liste vorlegte, die, wie er mit Nachdruck betonte, nicht als Versuch der Opposition anzusehen sei.168 Im übrigen führten die Parteien den Wahlkampf in aufgelösten Formationen, ohne Wahlbündnisse, und ungefähr 12 Listen suchten die Unterstützung der nichtfaschistischen Wähler. Die Liste der

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Regierung gewann 65 Prozent der Stimmen, wodurch sie nach dem Acerbo-Gesetz 374 von 535 Sitzen in der Kammer erhielt. Als die Kammer zusammentrat, verurteilten Amendola und Matteotti die Gewalttätigkeit der Faschisten bei den Wahlen und bestritten deren Gültigkeit. Matteotti war eines der bedeutendsten Mitglieder der PSU (Partito Socialista Unitario), der reformerischen sozialistischen Gruppe, die sich von dem radikalen PSI (Partito Socialista Italiano) 1922 abgespalten hatte. Matteotti war sich des Wagnisses, das er mit der umfassenden Verurteilung der faschistischen Gewalttätigkeit und Gesetzwidrigkeit auf sich nahm, voll bewußt. Er sprach am 30. Mai; am 10. Juni wurde er ermordet. Man nahm allgemein an, daß der Überfall auf Matteotti von hochgestellten Faschisten, vielleicht von Mussolini selbst, gebilligt worden sei. Die Regierung geriet in Verruf, und eine Zeitlang schien es, als werde sie nicht überleben. Viele Faschisten suchten sich von der Partei zu lösen. Die Hoffnung, der König werde seine Pflicht, das Recht zu verteidigen, erkennen und Mussolini entlassen, wuchs. Diese Hoffnung war hauptsächlich mit der sogenannten ›Aventin-Sezession‹ verbunden. Am 18. Juni erklärten ungefähr 150 Sozialisten, Abgeordnete der Volkspartei, Demokraten und Kommunisten ihren Austritt aus der Deputiertenkammer, bis die Herrschaft des Rechts wiederhergestellt werde. Giolitti machte sich über diese Sezession lustig, Orlando und Salandra lehnten eine Beteiligung ab. Trotz wiederholter Aufforderungen von Seiten der Aventin-Gruppe und der Vorlage von Beweisen für die Untaten der Regierung weigerte sich der König, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Auf diese Weise erwies er dem Faschismus ein zweites Mal einen großen Dienst, und Mussolini gewann seinen Mut wieder. Im Januar 1925, als Orlando und Giolitti eine vorsichtige und verspätete Opposition begonnen hatten, verkündete Mussolini: »Ich allein übernehme die politische, moralische und historische Verantwortung für alles, was geschehen ist [...] Wenn der Faschismus eine Vereinigung von Rechtsbrechern ist, bin ich der Chef dieser Vereinigung von Rechtsbrechern.«169 Daß der Faschismus seine ganze Kraft wiedergewonnen hatte, zeigte sich bei einem zweiten Überfall auf Amendola im Juli 1925 – er starb acht Monate später, wahrscheinlich infolge dieses Anschlags. In den Jahren 1925 und 1926 entwickelte sich der Faschismus zu einer uneingeschränkten und offenen Diktatur. Die Freiheit der Presse verschwand. Die Überbleibsel parlamentarischer Einflußmöglichkeit wurden aus der Welt geschafft, als die Abgeordneten der Aventin-Gruppe ihrer Sitze für verlustig erklärt und ›antinationalistische‹ Parteien unterdrückt wurden. Ein ›Sondergericht zum Schütze des Staates‹ nahm Anfang 1927 seine Tätigkeit auf, und die Vollmachten der Polizei wurden vergrößert. Das Sondergericht verhandelte über Fälle, die ihm vom Chef der Polizei zugewiesen wurden. Gegen seine Entscheidungen gab es keine Berufung. Seine Mitglieder wurden von Mussolini selbst ernannt. Jeder, der bei dem Sondergericht angezeigt war, wurde sofort festgenommen und eingesperrt. Mehr als 5000 Personen wurden von 1927

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bis 1943 vor dieses Gericht gestellt. Mit wenigen Ausnahmen wurden alle für schuldig befunden. Fast alle wurden ins Gefängnis geworfen. Die durchschnittliche Strafe betrug mehr als fünf Jahre. In sieben Fällen wurde auf lebenslange Haft und in 29 Fällen auf Todesstrafe erkannt. Die Polizei konnte die Bewegungsfreiheit, die freie Wahl des Wohnsitzes und der Beschäftigung eines jeden, der einer antifaschistischen Haltung verdächtig war, einschränken und bis zu fünf Jahren Confino über ihn verhängen, was Deportation auf Inseln oder in abgelegene Dörfer bedeutete. Nach und nach wurden ungefähr 10000 Personen auf diese Weise deportiert. Im Jahre 1927 wurde eine Geheimpolizei, die OVRA, gegründet.170 Mussolinis Regime war gewiß ein brutaler Polizeistaat, jedoch war es bei weitem nicht so blutdürstig wie die nationalsozialistische Regierung in Deutschland. Bis zu dem Zeitpunkt, als Mussolini unter deutschen Einfluß geriet, vermied der Faschismus den Rassenhaß – er schlug seine Gegner und nicht, wenigstens nicht vorsätzlich, harmlose Menschen, die nichts getan hatten. Im Jahre 1928 wurde jede Maske einer repräsentativen Regierungsform abgestreift. Ein Wahlsystem wurde eingeführt, wonach eine einzige Liste mit Namen, die die faschistischen Gewerkschaften und andere Organisationen vorzulegen hatten, vom faschistischen ›Großen Rat‹ aufgestellt werden sollte. Der Faschistische ›Große Rat‹, ein Parteigremium, sollte Minister und künftige Regierungschefs ernennen sowie sich zu Verfassungsfragen und, wenn er konsultiert würde, auch zu anderen Fragen gutachtlich äußern. Der ›Große Rat‹ war ein Gebilde ohne tatsächliche Macht. Er hatte keine Bedeutung, bis er 1943 Mussolini stürzte.171 Im Jahre 1929 wurde das Regime durch seinen größten Erfolg gefestigt: durch die Einigung mit der Kirche in den Lateranverträgen. Endlich wurde die seit 1870 offene Frage der territorialen Souveränität des Papstes erledigt und die Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Italien geregelt. Die Verträge machten der Kirche beträchtliche Zugeständnisse, besonders hinsichtlich des Religionsunterrichts in den Schulen, aber die Bereitschaft des Papsttums, sich mit Mussolinis Regierung zu verständigen, brachte dem faschistischen Regime unschätzbaren Gewinn. Sie trug bei zu der Haltung passiver Gefügigkeit, die die Mehrheit des italienischen Volkes in den dreißiger Jahren kennzeichnete. Nachdem so ein Kompromiß mit einer Organisation, die der Faschismus nicht zerschlagen konnte, getroffen war, konnte das Regime danach streben, die Italiener nach seiner gleichmacherischen Vorstellung zu fleißigen, disziplinierten, reglementierten Wesen zu bilden. Ein charakteristisches Werkzeug waren die Jugendorganisationen. Neben der Opera Nazionale Balilla, die eine Monopolstellung erhielt, wurden nur noch gewisse ausschließlich religiöse Vereinigungen zugelassen. Sie gebot über verschiedene halbmilitärische Kindergruppen: für die Acht- bis Vierzehnjährigen die Balilla, für die Vierzehn- bis Achtzehnjährigen die Avanguardisti. Die Kinder trugen Uniformen, marschierten in Reih und Glied und sollten Unterricht in Disziplin und Kultur (das heißt faschistischer Ideologie) sowie eine vormilitärische Ausbildung

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erhalten. Seit 1937 wurde die Organisation auf Jungen und Mädchen vom sechsten bis zwanzigsten Lebensjahr ausgedehnt. Sechsjährige Knaben wurden ›Söhne des Wolfes‹, mit elf Jahren erhielten sie hölzerne, mit fünfzehn Jahren richtige Gewehre. Ihr Wahlspruch war ein im faschistischen Italien bekanntes Schlagwort: »Glaube, gehorche, kämpfe.«172 Die Schulen wurden infiziert; der Unterrichtsminister gab bekannt: »Die Regierung [...] fordert, daß das ganze Schulwesen, auf allen seinen Stufen und in seinem gesamten Unterricht die italienische Jugend dazu erzieht, den Faschismus zu verstehen, sich im Faschismus zu adeln und in der historischen Atmosphäre zu leben, die die faschistische Revolution geschaffen hat.« Die Uniformen symbolisierten die Gleichförmigkeit unter der Herrschaft des Faschismus. Nach einer Zeit der Unschlüssigkeit in Kleidungsfragen, während der er sich auf Gehrock und Gamaschen verlegte, entschied Mussolini, die Uniform sei das geeignete Gewand für einen Diktator. Dümmliche Schlagwörter gaben der Aufforderung zur Anpassung Ausdruck. »Mussolini hat immer recht« war dabei dasjenige, das die Absurdität am offenkundigsten zeigte. Auf einem höheren Niveau der Sophisterei rechtfertigte im Laufe der Zeit faschistisches ›Denken‹ das Regime. Es bestand in der schrankenlosen Verherrlichung des Staates, womit die Behauptung einherging, Taten seien besser als Worte, nur das Handeln zähle, Gewalt sei der Ruhe überlegen. Im Jahre 1932 erschien eine von Mussolini, dem Duce, selbst unterzeichnete ideologische Erklärung: »Die faschistische Vorstellung vom Leben betont die Bedeutung des Staates und läßt das Individuum nur insoweit gelten, als seine Interessen mit denen des Staates übereinstimmen [...] der Faschismus bringt die Rechte des Staates als Ausdruck des wahren Wesens des Individuums wieder zur Geltung [...] der Faschismus glaubt, allgemein gesagt, nicht an die Möglichkeit oder Nützlichkeit ewigen Friedens [...] Allein der Krieg steigert sämtliche Energien des Menschen zu ihrer höchsten Anspannung und prägt denjenigen das Siegel des Adels auf, die den Mut haben, ihm ins Auge zu sehen.«173 All dies basierte weitgehend auf jener Richtung des europäischen politischen Denkens, die ganz ungerechtfertigte Schlußfolgerungen aus der recht vernünftigen Behauptung zog, daß Menschen, die als eine koordinierte Gruppe handeln, manchmal Dinge tun können, wozu dieselben Menschen nicht imstande wären, wenn sie als nichtorganisierte Individuen handelten. Die Auswirkungen des Faschismus auf das geistige Leben Italiens waren natürlich beklagenswert. Aber sie waren oberflächlicher und haben sich als leichter austilgbar erwiesen, als man gewöhnlich befürchtete. Die italienischen Schulen und Universitäten hielten, besonders auf Gebieten, die mit aktueller Politik nichts zu tun hatten, weiterhin an einem Niveau fest, das sich sehen lassen konnte, und die ideologische Beeinflussung der Jugend durch den Faschismus erwies sich als nicht tiefgehend und flüchtig. Das faschistische Regime nahm lauthals für sich in Anspruch, eine neue Gesellschaftsordnung und eine neue Organisationsform des Wirtschaftslebens im korporativen Staat entdeckt zu haben. Der Produktionsablauf brauche nicht

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den verderblichen Klassenkampf hervorzubringen; das faschistische Denken weise den Weg, um die konkurrierenden Forderungen des Kapitals und der Arbeiter in der Verfolgung nationaler Ziele in Einklang zu bringen. Mussolini behauptete, die Bestrebungen der Arbeiterklasse müßten entweder zur Abschaffung des Privateigentums oder zu einem Gebilde wie dem faschistischen korporativen Staat führen.174 Es ist sicher wahr, daß eine kapitalistische Gesellschaft über Mittel zur Lösung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verfügen muß. Die übliche Methode besteht darin, zwischen Vertretern der Arbeiter und der Arbeitgeber Vereinbarungen zu treffen, wobei die Arbeiter die Waffe des Streiks besitzen, um ihren Ansprüchen Nachdruck zu verleihen. Die Faschisten behaupteten, diese Methode sei verschwenderisch und unnötig. Ihr Regime suche eine andere Methode des Kompromisses und des Ausgleichs. Der korporative Staat, so wurde behauptet, bedeute die Abschaffung der Klassenkonflikte und die Beendigung des Kampfes zwischen Arbeiterschaft und Kapital. Vertreter der Arbeiter und Vertreter der Arbeitgeber sollten unter Mithilfe staatlicher Beamter im Interesse der Produktion und der sozialen Gerechtigkeit zusammenarbeiten. Das wesentliche Merkmal des korporativen Staates sei die Einrichtung eines kunstvollen Mechanismus zur Erreichung von Kompromiß und Zusammenarbeit unter allen in der Produktion Tätigen, seien es Lohnempfänger oder Eigentümer.

� Abb. 8: Vorbeimarsch junger Faschisten vor Mussolini (Oktober 1935) Trotz der faschistischen Prahlerei ist jedoch ein Mechanismus, der bezweckt, diese Ziele zu erreichen, eine bekannte Erscheinung in kapitalistischen

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Gesellschaften. Bedeutsam sind die besonderen Wesenszüge der korporativen Struktur, nicht das Vorhandensein eines solchen Mechanismus. Hinter der pompösen Fassade bestand jene Eigenart ganz einfach darin: Die echte Vertretung von Arbeitern durch mächtige autonome Organisationen wurde beseitigt. Streiks wurden gesetzlich verboten, und die Teilnahme an einem Streik wurde eine strafbare Handlung. Nur faschistische Gewerkschaften erhielten die Erlaubnis, die Arbeiter bei Verhandlungen zu vertreten, und alle Angehörigen eines Industriezweiges, der durch eine faschistische Gewerkschaft vertreten wurde, mußten an diese Gewerkschaft Beiträge zahlen. Die Wahl von Funktionären in den Gewerkschaften bedurfte der Zustimmung der Regierung, bevor sie gültig wurde. Denn die Verhandlungen über Lohne und Arbeitsbedingungen wurden praktisch Gegenstand eines Gespräches zwischen dem Staat und den Arbeitgebern. Dies war das Syndikatssystem von 1926, das zu der korporativen Struktur von 1934 weiterentwickelt wurde. Man hielt die Korporationen von 1934 mit Vertretern der Arbeitgeber und der faschistischen Syndikate eines jeden Industriezweigs sowie des Staates einzeln und in ihrer Gesamtheit für die Lenker des Wirtschaftslebens. Praktisch waren sie kaum mehr als beratende Gremien, deren Empfehlungen die Regierung nicht zum Handeln veranlassen konnten. Im Oktober 1924 erklärte Mussolini: »Das wirtschaftliche Ziel des faschistischen Regimes ist größere soziale Gerechtigkeit. Wenn die moderne Wissenschaft das Problem, den Wohlstand zu vervielfachen, gelöst hat, muß die Wissenschaft, angespornt vom Staat, jetzt das zweite große Problem lösen, das der Verteilung des Wohlstandes, so daß sich das unlogische, paradoxe und grausame Phänomen der Not inmitten des Überflusses nicht wiederholt. Auf dieses große Ziel müssen sich nunmehr all unsere Energien und all unsere Anstrengungen richten.« Dergleichen ist nicht allzu ernst zu nehmen; das faschistische Italien war in seiner Sozialpolitik nicht egalitär. Tatsächlich bestand eine von Mussolinis ersten Maßnahmen darin, die Einführung der Erbschaftssteuer zu verhindern. Darüber hinaus brachte die immer schwerere Steuerlast, die das Regime forderte, einen vergleichsweise stärkeren Rückgriff auf indirekte Besteuerung mit sich, die die ärmsten Verbraucher am härtesten trifft.175 Dennoch war das Regime nicht das einer krassen Reaktion – Mussolini war sich schließlich der Notwendigkeit wohl bewußt, eine kompromißlose Opposition von Seiten der Arbeiterklasse vermeiden zu müssen. Italien nahm teil an der allgemeinen Entwicklung in Westeuropa in Richtung auf Fürsorgeleistungen – Arbeitslosenversicherung, Altersversorgung und Krankenversicherung. Die Entwicklung des Mutterschutzes wurde energisch vorangetrieben, denn das Regime glaubte aus irrationalen militaristischen Gründen, daß die Bevölkerung Italiens vergrößert werden müsse. Arbeiter, die von Arbeitgebern ohne eigenes Verschulden entlassen wurden, erhielten einen Rechtsanspruch auf Entschädigungen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß es den ärmeren Italienern materiell unter irgendeinem andersgearteten Regime in

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den zwanziger und dreißiger Jahren viel besser gegangen wäre, denn ihr Wohlstand wurde in erster Linie von wirtschaftlichen Kräften bestimmt, auf welche die Regierung ganz ähnlich reagierte wie liberale Regierungen in anderen Ländern. Eine Ausnahme, die sich in Zeiten der Abschwächung des Absatzes wirtschaftlich günstig auswirkte, war die Vorliebe des Regimes für öffentliche Arbeiten, die weitgehend aus Prestigestreben unternommen wurden, ein Motiv, das zeitgenössische britische Regierungen beispielsweise nur wenig beeinflußte. Obwohl Mussolini die Wiedereinführung des Goldstandards für die italienische Währung als eine Prestigefrage behandelte, waren diese Politik und ihre Auswirkungen kaum anders als die ähnliche Politik, die in den zwanziger Jahren in England verfolgt wurde. Ende 1927 wurde die Lira stabilisiert, wobei ein Gegenwert von etwas mehr als 90 Lire für das Pfund Sterling zugrunde gelegt wurde. Dagegen hatte der Wert des Pfundes im Jahre 1925 fast 145 Lire betragen. Bis dahin war die Lage der italienischen Industrie ziemlich günstig gewesen, wobei die Produktion, die Gewinne und wahrscheinlich auch die Reallöhne stiegen. Die Deflation, die notwendig wurde, um die Lira aufzuwerten, führte zu sinkenden Löhnen sowie zunehmender Arbeitslosigkeit, und der überhöhte Wert der Lira hemmte das Wachstum der italienischen Ausfuhr. Das faschistische Syndikatssystem ermöglichte die Durchführung von Lohnkürzungen mit einem Minimum von Umständen, und wahrscheinlich blieben die sinkenden Einzelhandelspreise hinter den sinkenden Löhnen zurück, was bedeutet, daß die Reallöhne wenigstens zeitweilig gekürzt wurden. Die Arbeitslosigkeit stieg von 111000 im Jahre 1925 auf 324000 im Jahre 1928. Eine Entwicklung zum Besseren im Jahre 1929 wurde durch das Eintreten der Weltwirtschaftskrise in ihr Gegenteil verkehrt, und 1932 gab es über eine Million Arbeitslose. Die Auswirkungen der Depression zogen sich infolge der Beibehaltung (bis 1936) des 1927 festgesetzten Wechselkurses der Lira in die Länge. Die Folge waren überhöhte Preise für italienische Exporte in fremden Währungen, und das Ausfuhrvolumen blieb bis zum Jahre 1937 sogar unter dem Stand von 1931.176 Um den Wert der Lira auf diesem künstlich hohen Stand zu halten, wurden die Löhne weiter gesenkt, und während die Reallöhne nicht in demselben Ausmaße fielen (die Reallöhne der voll Beschäftigten sind möglicherweise gestiegen), wurden die durch sinkende Getreidepreise auf dem Weltmarkt möglichen Gewinne in Italien durch die von der Regierung verfolgte Politik landwirtschaftlicher Selbstversorgung gemindert. Diese Politik, deren Erfolg gewiß darin bestand, Italien in guten Jahren, was den Weizen betraf, nahezu autark zu machen, brachte es mit sich, daß billiges Getreide nicht eingeführt wurde, und tendierte dahin, die Lebensmittelpreise in Italien nicht so sehr sinken zu lassen, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Dies wirkte sich auf den Agrarsektor der Wirtschaft vorteilhaft aus, aber die Reallöhne von Landarbeitern fielen noch in den dreißiger Jahren, hauptsächlich wegen der ländlichen Übervölkerung, die sich aus der Abnahme der Auswanderung ergab – eine Erscheinung, die nach dem Kriege einsetzte und sich in den dreißiger

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Jahren ausgeprägter entwickelte. Auf diese Weise sank während der faschistischen Friedensjahre der Lebensstandard der arbeitenden Schichten in der Industrie wahrscheinlich und in der Landwirtschaft bestimmt. Man kann also nicht sagen, der Faschismus habe das italienische Volk vor der ringsum herrschenden wirtschaftlichen Not bewahrt.177 Die spezifische Wirtschaftspolitik des Faschismus ging einher mit einer Politik der militärischen Stärke und des Prestiges: Das Streben nach Autarkie in der Getreideversorgung war verbunden mit dem Streben nach einer höheren Bevölkerungszunahme und die Urbarmachung von Land mit öffentlichen Arbeiten großen Stils. Der in den zwanziger Jahren begonnene Versuch, die Produktion von Weizen zu steigern, war ein Erfolg: Die Erträge je Hektar stiegen in der Zeit von 1909 bis 1913 und 1930 bis 1934 in einem höheren Ausmaß als in jedem anderen Gebiet Westeuropas.178 Diese Politik brachte jedoch die Tendenz steigender Preise in Italien mit sich. Das Streben nach einer rascheren Zunahme der Bevölkerung, von dem viel Aufhebens gemacht wurde, war erfolglos. Die Ausgaben für öffentliche Arbeiten waren wirtschaftlich sicher von Nutzen, da sie die Arbeitslosigkeit minderten. Die auffallendste Leistung bestand in der Urbarmachung von Land, besonders durch Entwässerung und den Bau von Aquädukten. Sowohl der Straßenbau als auch die Errichtung öffentlicher Gebäude und die (künstlerisch umstrittene) bauliche Neugestaltung des Stadtzentrums von Rom machten Fortschritte. Im übrigen unterschied sich die Wirtschaftspolitik der faschistischen Regierung nicht von einer Politik, die liberale Regierungen hätten verfolgen können. Die italienische Wirtschaftspolitik (die Umwertung der Lira) war für die italienische Wirtschaft in den zwanziger Jahren beinahe ebenso schädlich wie die Politik der Londoner Regierung für England, und die Aufrechterhaltung des überhöhten Wechselkurses der Lira in den dreißiger Jahren schadete Italien ebenso, wie eine ähnliche Politik Frankreich schadete. Während die italienische Wirtschaft bis 1925 Fortschritte machte, waren spätere Jahre, besonders die dreißiger, sogar Jahre der Stagnation. Während die Produktion in England in den dreißiger Jahren nach dem Verlassen des Goldstandards einen raschen Aufschwung nahm, war dies in Italien nicht der Fall, da die Wirtschaft durch die zur Aufrechterhaltung des Wertes der Währung notwendige Deflation gehemmt wurde. So stieg die Fertigwarenproduktion in Italien nur im Jahre 1936 über den durchschnittlichen Stand der Zeit von 1925 bis 1929, während sie in England in diesem Jahr ungefähr 37 Prozent höher lag.179 Eingriffe des Staates in die Wirtschaft, besonders durch eine Politik der Schutzzölle und durch Hilfeleistung bei der Reorganisierung der Industrie, waren in den dreißiger Jahren allgemeine Erscheinungen und nicht auf Italien beschränkt. Sicherlich nahm der Staat unter der faschistischen Regierung mit der Finanzierung notleidender Industrien dennoch in einem weit größeren Ausmaß Eingriffe vor, als es in liberalen Ländern üblich war. Der Istituto Mobiliare Italiano, der Sofondit und der Istituto di Ricostruzione Industriale verfügten über Kredite der Regierung, um den Banken

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und der Industrie zu helfen. Andererseits waren die Hilfe der Regierung bei der Bildung von Consorzi oder Kartellen für die Festsetzung der Preise und die Verteilung der Marktquoten in anderen Bereichen üblich. Kurzum, man kann wohl behaupten, daß demokratische Regierungen die italienische Wirtschaft bestimmt mindestens ebenso schlecht wie die faschistische Regierung hätten lenken können, daß aber die Tätigkeit des faschistischen Regimes auf wirtschaftlichem Gebiet keinen angemessenen Ausgleich für die Unterdrückung der politischen Fehler und den von ihm verursachten Verfall des geistigen Lebens bildete. Die große Not und das nicht zu bestreitende Unheil, das der Faschismus über Italien hereinbrechen ließ, resultierte jedoch nicht aus seiner Wirtschaftspolitik, sondern aus seiner Außenpolitik. Die Folgen der Kapitulation der liberalen Demokratie im Jahre 1922 traten in ihrem ganzen Ausmaß erst bei der unnötigen und verhängnisvollen Teilnahme Italiens am Zweiten Weltkrieg zutage. 8. Frankreich 1919–1939 Die Darstellungen über diesen Abschnitt der französischen Geschichte sind beherrscht von der Niederlage im Jahre 1940. Diese wird oft als das Ergebnis der Arbeitsweise erklärt, welche für das demokratische System der Dritten Republik kennzeichnend war, die angeblich eine entkräftende politische Uneinigkeit und unentschlossene Regierungen von tödlicher Schwäche hervorgebracht habe. Rechtsstehende Kritiker haben hinzugefügt, die Dritte Republik habe es Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten erlaubt, geradezu die Macht Frankreichs zu untergraben, indem sie vor allem eine rechtzeitige Wiederaufrüstung verhindert hätten. In der Vergangenheit befangene Reaktionäre behaupteten, Landflucht habe Frankreich geschwächt, da sie das kraftvolle Bauerntum verringert habe. So sei Frankreich zur Niederlage verurteilt gewesen, bevor der Krieg begonnen habe. Diese Ansichten wurden natürlich von Militärs sowie von denjenigen geäußert, die darauf bedacht waren, das Prestige der Armee zu wahren und es für politische Zwecke zu gebrauchen. Marschall Pétain, der die Republik während ihres Untergangs im Juli 1940 gelenkt hatte, erklärte im Oktober: »Die Katastrophe spiegelt in Wirklichkeit nur die Schwächen und Fehler des früheren politischen Regimes auf militärischem Gebiet wider.« Der Krieg sei »praktisch im voraus verloren« gewesen.180 In diesem Kapitel wird der Versuch gemacht, diese Auffassung zu prüfen und zu erwägen, inwieweit die gegenteilige Ansicht akzeptiert werden kann, daß sich die Niederlage von 1940 aus dem Verlauf der Schlachten jenes Jahres und aus der strategischen und taktischen Führung des Feldzugs durch die französischen und deutschen Befehlshaber erklären läßt. Die Frage nach Ausmaß, Ursachen und Folgen der Uneinigkeit Frankreichs wird in diesem Kapitel untersucht, ebenso das Argument, die französische Armee habe einen Dolchstoß von hinten erlitten, bevor die Schlacht begonnen

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habe. Der Feldzug selbst wird an anderer Stelle analysiert werden. Man darf jedoch darauf hinweisen, daß viel für die Behauptung spricht, die General de Gaulle 1942 aufstellte: »Vor dem Kriege verweigerte das französische Volk kein Opfer, um kampfbereit zu sein. Aber all dieser gute Wille und all dieses Geld ging in einem veralteten militärischen System verloren.«181 Infolge der Niederlage von 1940 ist die Geschichte Frankreichs in der Zeit zwischen den Kriegen tatsächlich viel zu düster interpretiert worden. Es ist schwerlich vernünftig, eine Form politischer und sozialer Organisation danach zu beurteilen, ob sie geeignet war, einen Krieg vorzubereiten. Aber selbst gemessen an diesem Kriterium hat die Dritte Republik ihre Aufgabe ziemlich gut erfüllt. Politische Geschichte einerseits sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte andererseits sind nicht voneinander zu trennen. Wenigstens in der modernen Welt sind politische Veränderungen zugleich Ursachen und Folgen wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen. Die französische Politik in dieser Zeit ist nur zu verstehen, wenn man die Lebensbedingungen des französischen Volkes untersucht. Wirtschaftliche Schwankungen und ihre sozialen Begleiterscheinungen sind nicht zu erklären, wenn man nicht die vorgefaßten Meinungen politischer Führer in Erwägung zieht. Der genaue Mechanismus und zeitliche Ablauf dieser mannigfachen Wechselwirkungen sind nicht immer klar. Daß es sie gegeben hat, bedarf keines weiteren Beweises außer einer Aufzählung der Tatsachen. In den zwanziger Jahren ging es Frankreich wirtschaftlich gut. Da dieser Erfolg weitgehend als Ergebnis eines Vorgangs errungen wurde, den jedermann zu verhindern wünschte, nämlich des Niedergangs des Franc-Wertes, wurde sein volles Ausmaß kaum bemerkt. Die Wirtschaftsgeschichte Frankreichs vom Ende des Krieges bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise steht in einem ausgeprägten Gegensatz zu der Englands, wo es den Politikern gelang, ihre Absichten durchzusetzen. In England ging es den Leuten mit festen Einnahmen gut, während Arbeiter und Produzenten geschädigt wurden, als der Vorkriegs-Wechselkurs des Pfundes wiederhergestellt wurde und das Pfund mühsam auf diesem Stand stabilisiert wurde. In Frankreich wurden die Rentner und die Leute mit festen Einnahmen ruiniert oder schwer geschädigt, als die Inflation den Wert des Franc sinken ließ, bis er zu einem Fünftel des Vorkriegskurses stabilisiert wurde, während Arbeiter und Produzenten einen beträchtlichen Anstieg ihres Einkommens genossen. Während des Krieges hatte man den Franc künstlich auf dem Vorkriegskurs von 25:1 im Verhältnis zum Pfund Sterling gehalten. Im Juli 1926 war das Verhältnis ungefähr 200:1. Danach erholte sich der Franc auf etwa 124:1, und es gelang, ihn auf diesem Stand zu halten. Dieser Niedergang war verursacht durch die Inflation in Frankreich, die sich von Zeit zu Zeit durch Spekulation auf den Devisenmärkten beschleunigte und gelegentlich durch Eingriffe der Zentralbank in die Marktentwicklung gehemmt wurde. Die bedeutsamsten Auswirkungen hatte das Steigen der Preise innerhalb Frankreichs, das sich in den Wechselkursen spiegelte. Um 1928 waren die

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Einzelhandelspreise gegenüber der Vorkriegszeit auf ungefähr das Fünfeinhalbfache gestiegen. Wer vor dem oder im Krieg dem Staate Geld geliehen hatte, sah sich der Einnahmen, mit denen er gerechnet hatte, beraubt. Für die festen Franc-Beträge, die er vereinbarungsgemäß erhielt, konnte er immer weniger kaufen. Der durchschnittliche Anleger, der 1914 dem Staate 100 Franc geliehen hatte, besaß im Jahre 1928 in der Regel ungefähr den Gegenwert von 15 Franc, gemessen am Währungswert von 1914, und die Kaufkraft seines jährlichen Einkommens war auf weniger als ein Fünftel gefallen. Die Inhaber von festverzinslichen Wertpapieren wurden ferner geschädigt durch Säumigkeit in der Erfüllung von Zahlungsverpflichtungen oder durch deren Nichterfüllung seitens ausländischer Mächte. Wahrscheinlich war vor 1914 fast ebensoviel Geld im Ausland wie in der französischen Staatsschuld angelegt worden. Bis 1928 war nur rund ein Viertel des Wertes der Anlagen im Ausland übriggeblieben. Die Leute, die ihr Geld in ausländischen Papieren angelegt hatten, waren nicht solche, die zu kühnen Risiken neigten. Die großen Banken hatten sie in falscher Sicherheit gewiegt, und manchmal hatten französische Regierungen, bestrebt, Einfluß auf fremde Mächte zu gewinnen, sie ermutigt. Die Leidtragenden waren vor allem die Sparsamen, Vorsichtigen und Ehrenhaften, bezeichnenderweise nicht die wirklich Reichen, sondern Männer und Frauen in bescheidenen Verhältnissen, bei denen steigende Preise nach Jahrzehnten der Stabilität Not und Bestürzung hervorriefen. Es ist ja tatsächlich so, daß Inflation eine willkürliche Vermögensabgabe bewirkt. Die Eigentümer von Mietshäusern und Appartements sahen sich in einer ähnlichen Lage wie die Inhaber von festverzinslichen Wertpapieren. Bis 1929 waren die Mieten in Paris gegenüber der Vorkriegszeit nur um etwa das Dreifache gestiegen.182 Gut ging es einigen Kreisen der Bevölkerung, die von anderen Einnahmequellen lebten. Das nationale Einkommen lag 1929 pro Kopf der Bevölkerung um rund ein Drittel höher als 1913. Die Industrieproduktion hatte sich Ende 1929 gegenüber 1913 um mehr als 48 Prozent gesteigert. Den Gewinn trugen die wirtschaftlich Starken davon, das heißt diejenigen, die mit der Produktion in der Industrie zu tun hatten, sei es als Angehörige des Managements oder als Arbeiter, sowie in einem sehr viel begrenzteren Ausmaß passive Aktionäre von Industriekonzernen. Trotz der 1919 durchgesetzten allgemeinen Einführung des achtstündigen Arbeitstages stieg das Realeinkommen von Angehörigen der Arbeiterklasse zwischen 1913 und 1930 um etwa ein Viertel, wobei wachsender Wohlstand es vielen Arbeitern und Bauern ermöglichte, in den unteren Mittelstand aufzusteigen. Die Einkünfte von Managern und Unternehmern sind schwer zu bestimmen, es gibt aber allen Grund zu der Annahme, daß sie stiegen, während der Durchschnittsinhaber von Industrieaktien in der Zeit von 1913 bis 1929 kein Geld verlor – anders als die Inhaber festverzinslicher Wertpapiere. Eine Gruppe nichtwirtschaftender Personen, die der unteren Regierungsbeamten, hatte, wahrscheinlich wegen ihrer

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großen politischen Bedeutung, den höchsten Gewinn von allen. Die Arbeitslosigkeit war unbedeutend.183 Diese wirtschaftlichen Erfolge wurden erzielt durch Inkaufnehmen der Inflation und durch die, wenngleich widerwillige, Ablehnung der drastischen Maßnahmen, die erforderlich gewesen wären, um ›den Franc zu retten‹, in dem Sinne, wie in England das Pfund ›gerettet‹ wurde. Der Franc wurde im Gegensatz zum englischen Pfund in einer solchen Höhe stabilisiert, daß die französischen Preise auf dem Weltmarkt durchaus wettbewerbsfähig waren. Die Verwüstungen des Krieges wurden behoben. Nicht einmal die beunruhigende Bevölkerungsabnahme in Frankreich hemmte das wirtschaftliche Wachstum, denn der Verlust von Männern, die im Kriege getötet oder verwundet worden waren, und das infolge eines langfristig niedrigen Geburtenüberschusses steigende Durchschnittsalter wurden ausgeglichen durch Einwanderung nach Frankreich und durch ein stetiges Sinken der Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen.184 Dieser große Fortschritt des Wohlstandes und der Macht Frankreichs wurde durch einen Zufall erreicht. Die französischen Regierungen hätten ihn zum Stillstand gebracht, wenn sie gekonnt hätten, und zwar durch eine Nachahmung dessen, was nach Meinung der meisten Zeitgenossen der Triumph Englands war: die Wiederherstellung des Vorkriegswertes der Währung – durch die Einschränkung der Nachfrage, um so die Preise gewaltsam niedrig zu halten. Zum Glück für Frankreich war die Schuld der französischen Regierung so hoch, daß eine uneingeschränkte Rückkehr zum Vorkriegswert des Franc eine untragbare Last von Zinszahlungen nach sich gezogen hätte, die der Steuerzahler in der Nachkriegszeit hätte leisten müssen. Poincaré, der ›Retter des Franc‹, ließ sich allerdings nur schwer überreden, lediglich ein Fünftel davon zu ›retten‹, statt mehr zu versuchen, und zwar durch Druck von Seiten Industrieller und Gewerkschaftler, die eine Stockung der Produktion und Arbeitslosigkeit befürchteten.185 Nach 1930 verschlechterte sich die Wirtschaftslage. In erster Linie wurde Frankreich durch die 1929 beginnende weltweite Depression getroffen. Im Jahre 1930 sank die französische Ausfuhr um mehr als ein Viertel. Im Jahre 1931 beseitigte die Abwertung der britischen Währung auf einen Schlag die Hilfe, die die französische Industrie infolge der durch die Unterbewertung des Franc in den Jahren 1926 bis 1928 verursachten relativen Billigkeit ihrer Produkte auf den Weltmärkten erhielt. Die Abwertung des Dollar im Jahre 1933 verschlimmerte die Situation. Von 1929 bis 1933 ging die französische Fertigwarenausfuhr um 42 Prozent zurück. Der Zusammenbruch der Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt schädigte die französischen Lebensmittelproduzenten und ließ die Nachfrage nach Fertigwaren im Inland sinken. Die Politik der Regierung förderte die wirtschaftliche Stagnation: Bis 1936 wurde der Franc auf dem Stande der Poincaréschen Stabilisierung gehalten. Zu diesem Zweck wurden die üblichen Versuche gemacht, den Grundsatz des ausgeglichenen Haushalts zu wahren, Versuche, die von den Rechtsregierungen der Jahre 1934 bis 1936 energischer

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unternommen wurden als von ihren Vorgängern der Jahre 1932 bis 1934. Wegen der fast mystischen Vorliebe für eine stabile Währung kam eine Abwertung nicht in Frage, und als Alternative drängte sich immer mehr die Deflation auf. Paul Reynauds Feldzug für die Abwertung wurde als verantwortungslos exzentrisches Verhalten oder sogar als ein Musterbeispiel von Verrat angesehen.186 Flandins Versuch von 1935, die Wirtschaft durch Kreditspritzen anzuregen, verbunden mit planmäßiger Einschränkung der Produktion, löste eine umfangreiche Spekulation gegen den Franc aus. Diese führte unter Laval in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 zu einem drastischen Versuch deflationistischer Politik. Die wichtigste Maßnahme war eine allgemeine Kürzung sämtlicher Regierungsausgaben, sogar des Schuldendienstes, jedoch mit Ausnahme der Verteidigungsausgaben und der Sozialleistungen. Im Endergebnis wurde Frankreich von der Depression zwar später getroffen als England, die Vereinigten Staaten und Deutschland; als sie jedoch eintrat, war ihre Folge eine verlängerte Periode der Stagnation. Die Industrieproduktion sank: Produktionsindex der Industrie (1929 = 100) 1929100193381 193099193475 193186193573 193273193678 Die Arbeitslosigkeit erreichte nicht solche dramatischen Ausmaße wie in England und Deutschland. Das lag daran, daß von den Arbeitern, die in den zwanziger Jahren nach Frankreich eingewandert waren, viele das Land wieder verließen, und an einer allgemeinen Tendenz zur Verkürzung der Arbeitszeit. Die Zahlenangaben über die Arbeitslosigkeit in Frankreich sind unzuverlässig, doch waren vermutlich vier bis fünf Prozent der männlichen Arbeiter im Jahre 193 6 ohne Beschäftigung. Die Löhne fielen infolge von Kürzungen der ausbezahlten Geldbeträge und infolge einer Verringerung der Arbeitsstundenzahl. Das Sinken der Preise bedeutete jedoch eine tatsächliche Steigerung der Kaufkraft um etwa 10 Prozent in der Zeit von 1930 bis 1935.187 Dies war für die Leute, die keine Arbeit hatten, ein schwacher Trost. Wie Sauvy dargelegt hat, waren die Arbeiter obendrein mehr beeindruckt durch den sinkenden Geldbetrag ihres Lohnes als durch die Tatsache, daß sie dafür mehr kaufen konnten. Die steigende Kaufkraft des Franc war nicht groß genug, um das Gefühl der Arbeiter, ihnen geschehe Unrecht, zu verhindern. Diese Tatsache geht einher mit vielen anderen Zeugnissen aus der Zeit, die vermuten lassen, daß Deflation wegen ihrer psychologischen Auswirkungen mehr Unzufriedenheit erweckt als maßvolle Inflation. Die Streiks von 1936 zeigen, daß Arbeiter, die beschäftigt waren, nicht die Empfindung hatten, eine privilegierte Klasse zu sein.

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Die Industriearbeiter waren nicht die einzige Gesellschaftsschicht, die betroffen war. Die Einkommen derjenigen, die von der Landwirtschaft lebten, wurden drastisch gekürzt. Dem Geldwert nach waren sie um 1935 gegenüber dem Jahre 1929 auf die Hälfte gesunken. Im gleichen Zeitabschnitt fielen die Einkünfte aus Industrie und Handel um fast die Hälfte, wobei diejenigen Sparten, die keine Monopolstellung innehatten, schwer getroffen wurden. Die sinkenden Lebenshaltungskosten entschädigten die staatlichen Bediensteten teilweise für die Kürzungen ihres Einkommens, die Regierungen mit deflationistischer Politik durchgesetzt hatten, und zwar Kürzungen zwischen 13,6 und 17,6 Prozent in der Zeit von 1933 bis 1935. Der Wert von Staatspensionen stieg effektiv, und Eigentümer von Immobilien in den Städten behaupteten sich.188 Die Volksfrontregierung der Linken unter Léon Blum, die im Sommer 1936 an die Macht kam, gab die Deflationspolitik zugunsten einer für Industriearbeiter vorteilhaften Politik steigender Kaufkraft auf. Angetrieben durch den Ausbruch von Streiks, traf die Regierung sofort Maßnahmen zur Erhöhung der Löhne um rund 20 Prozent. Die Streiks und die Einführung bezahlten Urlaubs in demselben Sommer sowie eine durch Befürchtungen wegen der Politik der Regierung verursachte Kapitalflucht aus Frankreich erzwangen im September 1936 eine Abwertung. Die Regierung unterließ es, den Abfluß von Kapital durch Devisenkontrollen zu verhindern, da sie befürchtete, sich ihre vorsichtigeren Anhänger zu entfremden. Die anregende Wirkung, die die Abwertung auf die Produktion in Frankreich ausübte, wurde eingeschränkt durch die Einführung der 40-Stunden-Woche und ihre starre Durchführung, die Überstunden unmöglich machte, sowie durch den mangelnden Willen des Kapitals, sich auf produktive Investitionen einzulassen. Die strikte Einführung der 40-Stunden-Woche ist allerdings zu den schwerwiegendsten wirtschaftlichen Mißgriffen zu zählen, die eine Regierung je begangen hat. Sie sollte die Arbeitslosigkeit verringern, in Wirklichkeit erhöhte sie sie, Sie schuf einen Mangel an bestimmten Facharbeitern, die nie unter Arbeitslosigkeit gelitten hatten. Dieser Mangel führte zu Engpässen in entscheidenden Bereichen der Industrieproduktion und machte eine Expansion unmöglich. Die sofortige Folge der Abwertung war ein überraschender Anstieg der Industrieproduktion in den letzten Monaten des Jahres 1936 gewesen, gefolgt von einer Rückkehr zu dem Stand vom September 1936; da trat 1937 die 40-Stunden-Woche in Kraft.189 Die Preise in Frankreich stiegen rapide an und absorbierten den größten Teil der Gewinne, die die Arbeiterklasse im Sommer 1936 erzielt hatte, während die Industrieproduktion nach einem kurzen Zwischenspiel wieder in den Zustand der Stagnation zurückfiel. Im Juni 1937 trat Chautemps an die Stelle Blums, und eine der Politik der ersten Volksfrontregierung entgegengesetzte Entwicklung begann. Die Politik der Kaufkraftsteigerung wurde beendet. Anfangs wurde der neue Kurs nur zögernd verfolgt, da sich die Regierung weiter auf die Volksfrontmehrheit

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stützte. Der Druck auf den Franc setzte sich fort. Im Juli 1937 wurde die Golddeckung des Franc aufgegeben. Von da bis April 1938 fiel der Kurswert des Franc gegenüber dem des Pfundes von 110 auf 179. Unter der Regierung Daladier des Jahres 1938, der auch Männer der gemäßigten Rechten angehörten, wurde der neue Kurs energischer verfolgt. Im Frühjahr 1938 wurde der Franc stabilisiert. Im November wurde Paul Reynaud Finanzminister und unternahm einen Angriff auf die 40-Stunden-Woche, indem er die Fünftagewoche abschaffte und bezahlte Überstunden verminderte. Gleichzeitig suchte er das Vertrauen der Geschäftswelt durch eine Erhöhung der indirekten Steuern sowie durch eine Senkung der Zinssätze wiederherzustellen. Der Versuch eines Generalstreiks scheiterte nahezu völlig. Tatsächlich belebte sich das Vertrauen der Geschäftswelt wieder, Kapital kehrte nach Frankreich zurück, und im Jahre 1939 begann die Industrieproduktion zuzunehmen.190 Produktionsindex der Industrie (1929 = 100) 193573193876 1936781939 (7 Monate)86 193782 Die erste Regierung Blum versuchte mit der Krise in der französischen Landwirtschaft durch die Schaffung von Absatzorganisationen unter der Schirmherrschaft des Staates fertig zu werden. Das wichtigste Werkzeug war der Office du Blé, der für alle Getreidesorten Preise festsetzte. Dadurch wurden die schwächeren und kleineren Erzeuger geschützt, die durch kurzfristige Marktveränderungen am schlimmsten getroffen wurden. Auf diese Weise wurde die ›Landflucht‹, die schon durch die Arbeitslosigkeit in der Industrie gehemmt war, weiter gemindert. Eine große Anzahl von Bauern mit unrentabel kleinem Besitz erhielt Hilfe, so daß sie die französische Wirtschaft weiterhin belasteten. Die Steigerung des Einkommens, die die erste Regierung Blum für die Arbeiterklasse erreichte, war kurzlebig. Bis Mai 1938 war das Realeinkommen der Arbeiterklasse nur um ungefähr 5 Prozent gestiegen, und um die Zeit, als Reynaud seine Arbeit leistete, war es im Durchschnitt niedriger als im Jahre 1935. Der wirkliche Gewinn lag in der Freizeit, was, abgesehen von der Einführung bezahlten Urlaubs durch die Regierung Blum, weniger Geld für weniger Arbeit bedeutete. Die 40-Stunden-Woche erwies sich in einem gewissen Sinne als eine Maßnahme der Gleichmachung unter Angehörigen der Arbeiterklasse. Sie verminderte das Einkommen derjenigen, die in blühenden Industrien hätten länger arbeiten können. Reynauds Maßnahmen führten einen deutlichen Unterschied des Verdienstes von Arbeitern in aufsteigenden Industrien oder Rüstungsindustrien und solchen, die in Industrien arbeiteten, wo die Nachfrage träge war, wieder ein. Dennoch waren die Verdienstunterschiede in den verschiedenen Gruppen der Arbeiterklasse nicht so auffällig wie in

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England zwischen den ständig Arbeitslosen und den in sich ausdehnenden Industriezweigen Tätigen. Nach 1936 wurden die Leute mit festem Einkommen, besonders solche, die ihr Geld angelegt hatten, durch das Sinken des Geldwertes wie schon vor der Poincaréschen Stabilisierung der Jahre 1926 bis 1928 geschädigt. Im Mai 1938 betrug der Goldwert des Franc gegenüber 1928 weniger als die Hälfte, und Ende der dreißiger Jahre war seine Kaufkraft gegenüber 1935 auf weniger als zwei Drittel gesunken. Abermals bewirkte die Inflation eine teilweise Wertminderung wirtschaftlich schwacher Kapitalformen.191 Frankreich war 1929 wirtschaftlich viel stärker, als es 1913 gewesen war. Die Erholung von den Kriegsfolgen ging rasch vonstatten und war in materieller Hinsicht vollständig. Noch weitere Fortschritte hatte das Land in den späteren zwanziger Jahren gemacht und eine Position gesteigerter Industriemacht und ein Wachstum des Wohlstandes erreicht, an dem weite Kreise der Bevölkerung Anteil hatten, wenngleich es nicht umfassend war. Von 1922 bis 1929 betrug die jährliche wirtschaftliche Wachstumsrate in Frankreich 5,8 Prozent gegenüber 5,7 Prozent in Deutschland und 2,7 Prozent in Großbritannien. Im Gegensatz dazu fiel Frankreich in den dreißiger Jahren absolut und relativ zurück. Das Wachstum hörte auf, in der Zeit von 1929 bis 1937 trat sogar eine Abnahme von jährlich 2,1 Prozent ein, verglichen mit einem Wachstum von jährlich 2,8 Prozent in Deutschland und 2,3 Prozent in England. In der Automobilbranche, einer der größten Wachstumsindustrien in der Zeit zwischen den Kriegen, produzierte Frankreich 1937 weniger als 1929, während England fast zweimal und Deutschland mehr als zweimal soviel produzierte. Dasselbe ist von der Stahlproduktion zu berichten.192 Produktion von Rohstahl und Gußformstahl (in 1000 Tonnen) FrankreichGroßbrit.Deutschland (ohne das Saargebiet) 19299711979016210 193862211056420099 Je schlechter die wirtschaftliche Lage war, desto reger und unruhiger verlief das politische Leben in Frankreich. So waren in den dreißiger Jahren die politischen Konflikte intensiver und heftiger als in den zwanziger Jahren. In den dreißiger Jahren bewirkte die wirtschaftliche Entwicklung eine explosive Verbindung von materieller Verarmung und der Verletzung moralischer Empfindungen. Moralische Beunruhigung wurde, wenigstens im Mittelstand, durch ein Sinken des Währungswertes damals noch mehr als heute hervorgerufen. Inflation war etwas Böses, Deflation etwas Ehrenhaftes. Der Außenwert des Franc wurde infolgedessen ein sittlicher Maßstab, ein Gradmesser der geistigen Gesundheit Frankreichs. Deshalb erregte Reynauds

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Feldzug für die Abwertung bei vielen Leuten nicht so sehr Widerspruch wie Abscheu, predigte er doch offen die Unmoral. Wenn der Außenwert der Währung sank, war die einfachste Erklärung Nachlässigkeit und Faulheit oder Unfähigkeit oder Korruption – dies alles ging auf das Konto anderer. Von 1918 bis 1939 hatte sich der Wert eines britischen Pfundes gegenüber dem Franc um das Siebenfache gesteigert. Wenn zu dieser Quelle geistigen Unbehagens der unmittelbare Einfluß materieller Not hinzutrat, mochten die Leidtragenden wohl ein politisches Ventil für ihre Empörung suchen. Das Jahrzehnt nach Kriegsende war politisch gesehen eines der stabilsten in der neuesten französischen Geschichte. Der Krieg war von allen Klassen und Parteien in Frankreich gebilligt worden, und das republikanisch-demokratische Regime hatte bei dem Sieg die Herrschaft innegehabt. Die republikanische Demokratie saß nunmehr fest im Sattel. Auf der Rechten waren die alten monarchistischen oder bonapartistischen Parteien praktisch verschwunden. Der Konservatismus wirkte innerhalb des Regimes und nicht von außen dagegen. Die tatsächliche, hinter dem politischen Konservatismus stehende gesellschaftliche Kraft, nämlich der Wunsch der Reichen, ihren Wohlstand zu verteidigen, fand ihren vollen Ausdruck in Parteien, deren Führer aufgehört hatten, Demokratie und politische Freiheiten zu fürchten, auch wenn sie sie nicht lieben lernten. Männer wie Tardieu, Germain Martin, Flandin, die alle der Klasse der Besitzenden genehm waren, konnten innerhalb des Systems groß werden. Unter den Radikalen, den großen Verteidigern der republikanischen Demokratie, gab es Verbindungen zur Geschäftswelt. Die Union des Intérêts Economiques, die zur Wahlzeit Gelder vergab, förderte einige radikale Politiker, während einige Wirtschaftsgruppen, wie z.B. Versicherungsfirmen, Parteikassen der Radikalen unterstützten. Es ist wahr, daß besonders in den Jahren 1924 bis 1926, als eine Reihe von Regierungen unter radikaler Leitung ohnmächtig mit dem sinkenden Franc rang, eine Anzahl von Organisationen mit mehr oder weniger ausgeprägter faschistischer Färbung, die bereit zur Gewaltanwendung gegen die Linke waren, Bedeutung erlangte. Die Camelots du Roi, der gewalttätige Bund der monarchistischen Bewegung Action Française, erhoben laut ihre Stimme. Im Jahre 1924 gründete Pierre Taittinger die Jeunesses Patriotes, die Anfang 1925 im besten italienischen Stil der Zeit vor dem Marsch auf Rom Unruhen mit tödlichen Verlusten gegen die Kommunisten entfesselten. Es wäre unvernünftig, das faschistische Element in derartigen Umtrieben zu bestreiten, selbst wenn die Jeunesses sich nicht den falschen Anstrich des Antikapitalismus à la Mussolini gaben. Im Jahre 1925 erschien eine ausgesprochen faschistische Gruppe mit einer aus Italien eingeführten Doktrin: der Faisceau. Noch eine weitere Gruppe, die ehemalige Soldaten anlocken sollte, wurde 1927 gebildet, finanziert von dem Parfümfabrikanten Francois Coty, die Croix de Feu. Alle diese Bewegungen verloren in der Zeit der weiter rechts stehenden Regierungen, die von Poincaré 1926 eingeleitet wurde, an Bedeutung. Wenn die Rechte ihre Ziele mit parlamentarischen Mitteln erreichen konnte, war es nicht nötig, Zuflucht zur

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Gewalt zu nehmen. Obwohl die Stabilisierung des Franc durch Poincaré tatsächlich die voraufgegangene Abwertung im wesentlichen bestätigte, schien sie die Rückkehr zu einer ›vernünftigen‹ Regierungsform zu markieren.193 Poincarés Regierung stellte einen Kompromiß dar. Sie stabilisierte den Franc, aber nicht, wie es 1925 in England geschah, zu einem Werte, der Arbeitslosigkeit erzeugte und eine Lohnkürzung erzwang. Es gab keine Folgeerscheinung, die mit der Krise des Generalstreiks in England vergleichbar gewesen wäre. Die Sozialisten waren in ihrer Opposition gegen Poincaré maßvoll und gezügelt. Außenpolitisch erhielt Briands Tätigkeit faktisch einmütige Unterstützung – wenn auch nur wegen ihrer Doppeldeutigkeit. So waren die Reformsozialisten der SFIO, der Partei Blums, nicht geneigt, von demokratischen Verfahrensweisen abzugehen. Als Tardieu an der Spitze einer eindeutig konservativen Regierung im Jahre 1929 eine Politik des Wohlstandes einleitete und umfangreiche Regierungsausgaben, darunter auch Ausgaben für soziale Zwecke, vorschlug, konnte Blum nicht mehr tun, als sich darüber zu beklagen, dies seien sozialistische Vorschläge, die man als absurde Extravaganzen behandelt habe, als die Sozialisten sie vorgetragen hätten.194 Um 1929 war die Demokratie von der revolutionären Linken nicht bedroht. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte Frankreich wie andere europäische Industrieländer Streiks und Demonstrationen erlebt, die durch die Notwendigkeit verursacht waren, die Löhne in die Höhe zu treiben, um den steigenden Preisen zu begegnen, sowie durch das Beispiel der bolschewistischen Revolution in Rußland. Die Regierung reagierte mit einer Mischung von Zugeständnissen und Gewalt. Im März 1919 wurde ein gesetzlicher Rahmen für Kollektivvereinbarungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften geschaffen, und im April 1919 wurde der Achtstundentag Gesetz. Als jedoch eine große Demonstration für den 1. Mai 1919 angekündigt wurde, verbot die Regierung Clemenceau sie, und als die Demonstration trotzdem stattfand, brach in Paris ein ernster Aufruhr aus, bei dem ein Mann getötet wurde. Es folgten an vielen Orten Streiks, die wegen der Lebenshaltungskosten vom Zaun gebrochen wurden, jedoch offen politische Zwecke verfolgten – die französische Tradition, Streiks als Mittel zur Umwandlung der Gesellschaft zu benutzen, hatte durch die Ereignisse in Rußland neuen Auftrieb erhalten. Eine weitere Streikwelle mit noch eindeutigerer politischer Zielsetzung brach im Frühjahr 1920 aus. Die Streiks waren ein Fehlschlag, was den Einfluß der Reformisten im allgemeinen Arbeiterverband (CGT) verstärkte. Im Jahre 1921 spaltete sich das kommunistische Element von der CGT ab und bildete die CGTU. Infolgedessen wurde die CGT eine respektable, besonnene, fast mittelständische Institution, zumal Gewerkschaften von Staatsbeamten einen beträchtlichen Teil ihrer Mitgliederschaft ausmachten. Die CGTU andererseits nahm eine Haltung kompromißloser Unnachgiebigkeit an, dehnte Streiks nach Kräften aus und zog eine Niederlage, die das Klassenbewußtsein der Arbeiter erhöhen würde, einem

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Sieg, der es schwächen könnte, vor. Es war bezeichnend, daß die CGTU rasch Anhänger an die CGT verlor.195 Ende 1920 spaltete sich auf dem Kongreß von Tours die sozialistische Partei. Eine große Mehrheit, nahezu im Verhältnis 3:1, stimmte für einen Anschluß an die in Moskau gegründete Dritte Internationale und nahm die von dieser vorgeschriebenen Bedingungen an. Diese Mehrheit bildete die französische Sektion der Kommunistischen Internationale (SFIC), während die Minderheit austrat und die französische Sektion der Arbeiter- (oder Zweiten) Internationale (SFIO) wurde. Das Ergebnis der Abstimmung entsprang der Begeisterung für eine Revolution, die noch immer einer weltweiten Ausbreitung fähig schien. Als sich, und zwar sehr schnell, zeigte, daß die Revolution nicht mehr war als eine russische Revolution, änderte sich die Situation. Die neue französische Kommunistische Partei verlor rasch Anhänger, von denen die meisten zu den Sozialisten zurückkehrten, ein Vorgang, der sich durch die dogmatische Starrheit Moskaus beschleunigte. Um 1925 zählten die Sozialisten mehr Mitglieder als die Kommunistische Partei. Hinsichtlich der Wahlergebnisse blieben die Sozialisten erheblich stärker als die Kommunisten – im Jahre 1932 erhielten die Sozialisten mehr als doppelt soviel Stimmen wie die Kommunisten. Dennoch war die Wählerschaft der Kommunisten beträchtlich: 7,9 Prozent der abgegebenen Stimmen im Jahre 1924, 9,3 Prozent im Jahre 1928, 6,8 Prozent im Jahre 1932 und 12,6 Prozent im Jahre 1936, als die Partei sich mit der bürgerlichen Republik provisorisch einverstanden erklärt hatte. Es ist jedoch auffällig, daß die Zeit, als die Partei ideologisch am starrsten war, ihre Feindschaft gegen das Regime, gegen antikommunistische Parteien, besonders die Sozialisten, am meisten betonte und am entschiedensten auf ihren rein revolutionären Charakter pochte, mit dem Gewinn der wenigsten Wählerstimmen im Jahre 1932 zusammenfiel. Offensichtlich wählten viele, besonders Bauern, einfach deshalb kommunistisch, weil die Kommunistische Partei am weitesten links stand, so daß ihre Stimmen in Wirklichkeit eine Bekräftigung republikanischen Eifers und nicht Ausdruck des Wunsches nach Einführung der Diktatur des Proletariats waren. So wählten 1932, als die Wähler der Kommunistischen Partei die Direktive erhielten, im zweiten Wahlgang nicht für die nichtkommunistischen Kandidaten der Linken mit besseren Erfolgsaussichten zu stimmen, die meisten, entgegen dieser Direktive, tatsächlich sozialistisch oder radikal.196 Ende der zwanziger Jahre herrschte politische Ruhe. In den dreißiger Jahren schien Frankreich zeitweilig am Rande des Bürgerkrieges zu stehen. Zwei Ereignisse ragen heraus: die Unruhen vom 6. Februar 1934 in Paris, als, wie manche meinen, ein Versuch unternommen wurde, die demokratische Republik mit Gewalt zu zerschlagen, sowie der Sieg der Volksfront bei den Wahlen von 1936, der Befürchtungen vor einer roten Revolution auslöste. Die Wahlen von 1932 waren ein Sieg der Linken. Linksparteien gewannen 334 Sitze gegenüber 259 Sitzen der Rechtsparteien, während die Kommunisten 12 erhielten. Die wesentlichen Kräfte in der neuen Mehrheit waren die Radikalen

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mit 157 und die Sozialisten (SFIO) mit 129 Sitzen. Herriot, der Führer der Radikalen Partei, bildete im Juni eine Regierung; die Sozialisten unterstützten sie, ohne in das Kabinett einzutreten. Die Schwäche der neuen Regierung zeigte sich sofort. Die Wirtschaftskrise verursachte ein Sinken der Steuereinnahmen, wodurch ein Haushaltsdefizit drohte. Herriot war bestrebt, das Defizit zu tilgen, um eine Schwächung des Franc-Wertes zu verhindern. Daher suchte die Regierung die Steuern zu erhöhen und die Ausgaben zu kürzen. Die Sozialisten wollten die von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen nicht billigen, und die Regierung mußte ihre Vorschläge abschwächen. Die Linke war zwar politisch einig, aber in der Finanzpolitik gespalten. Herriot weigerte sich, wie er es auch 1925 getan hatte, als Regierungschef der Schwächung des Franc tatenlos zuzusehen, und erlitt in der Frage der Bezahlung der Kriegsschulden an die USA eine Abstimmungsniederlage. Herriots Nachfolger wurde Paul-Boncour, dessen Regierung es ablehnte, Modifizierungen ihrer finanzpolitischen Maßnahmen hinzunehmen, und von der Deputiertenkammer überstimmt wurde. Im Frühjahr 1933 erhielt die nächste Regierung (Daladier) die Zustimmung zu finanziellen Maßnahmen nur durch eine Herabsetzung ihrer ursprünglichen Forderungen. Als sie im Herbst einen neuen Anlauf machte, wurde sie gestürzt. Ein paar Wochen später wurde der Versuch der nachfolgenden Regierung Sarraut, die Besoldung der Staatsbediensteten zu kürzen, zurückgewiesen. Chautemps bildete ein neues Kabinett, das nur einen Teil der von ihm geforderten finanziellen Schritte durchsetzen konnte. So hatten zwischen den Wahlen von 1932 und Anfang 1934 fünf Regierungen versucht, die Vollmacht für Vorkehrungen zum Ausgleich des Haushaltes zu erlangen, und waren daran gescheitert. Das beunruhigte diejenigen, denen an der Stabilisierung des Franc gelegen war, und gab der Überzeugung, die parlamentarische Demokratie in Frankreich bringe nur fruchtloses Gerede, nutzlose Intrigen und untätige Schwäche hervor, neuen Auftrieb.197 Im Jahre 1933 regten sich daher die antiparlamentarischen Bünde von neuem. Abgesehen von der Action Française hatte man seit der Stabilisierung des Franc durch Poincaré von ihnen wenig gehört. Der Faisceau war verschwunden, aber die anderen Bünde lebten nunmehr auf und sammelten Kraft, während zugleich neue aufkamen. Die Solidarité Française, gestützt auf Cotys Geld, trat im Jahre 1932 in Erscheinung und stattete sich mit blauen Hemden aus; ihre Mitgliederzahl war klein. 1933 trat der Parti Franciste hervor. Seine Mitglieder waren ebenfalls blau gekleidet und riefen nach einer faschistischen Revolution. Die Zahl seiner Förderer war begrenzt. Die bemerkenswerteste Veränderung war das Anwachsen der Croix de Feu. 1933 begann sie außerhalb der Reihen ehemaliger Soldaten Mitglieder anzuwerben. Sie besaß Stoßtrupps, die in Divisionen gruppiert waren, und eine halbmilitärische Organisation von schneller Bewegungs- und Konzentrationsfähigkeit. Dies war eine Organisation, die sich offensichtlich auf einen Staatsstreich vorbereitete. Sie wurde geführt von Oberst de la Rocque, einer kraftvollen Persönlichkeit mit einem imponierenden

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öffentlichen Auftreten. Seine Äußerungen und die Lehren seiner Bewegung waren verschwommen. Feindschaft gegen Pazifismus und Kommunismus, die Sehnsucht nach ›Ordnung‹ und ›Autorität‹, der Wunsch nach einer Vereinigung ›guter Franzosen‹ waren die Grundelemente. Was de la Rocque zu tun beabsichtigte, bleibt dunkel. Es war die Rede von einer ›Stunde H‹, wenn es zum – wahrscheinlich gewalttätigen – Handeln kommen werde; zu welchem Zweck, wurde nie bekannt. Nach 1936 entwickelte sich die Croix de Feu zu einer regelrechten Rechtspartei, die sich auf den nächsten Wahlkampf vorbereitete. Bis dahin jedoch brachte de la Rocque eine unbestimmte Drohung in das politische Bild.198 Ende 1933 wurde etwas von den Machenschaften eines zweifelhaften Finanziers namens Stavisky bekannt. Stavisky hatte sich die Kontrolle über die Aufnahme von Anleihen für die Stadt Bayonne verschafft und einen großen Teil der Erlöse in die eigene Tasche gesteckt. Es war klar, daß er ohne die Hilfe einflußreicher Personen nicht die Stellung hätte gewinnen können, die es ihm ermöglichte, seine betrügerischen Manöver durchzuführen. Garat, der Bürgermeister von Bayonne, war Abgeordneter der Radikalen Partei. Einer von Staviskys Anwälten war der Bruder des Ministerpräsidenten Chautemps, eines Radikalen, und zwei andere radikale Abgeordnete hatten für Stavisky gearbeitet. Auf diese Weise gerieten Abgeordnete, besonders der Linken, noch mehr in Verruf. Chautemps suchte den Skandal zu bagatellisieren. Der Versuch mißlang, als man Stavisky tot auffand, angeblich nach einem Selbstmord.199 ›Selbstmorde‹ sind bei derartigen Affären in Frankreich häufig, und es herrscht die allgemeine Überzeugung – die schwer zu widerlegen wäre –, daß sie von einem Mächtigen arrangiert sind, um peinliche Enthüllungen zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt setzten die Bünde der Rechten, besonders die Stoßtrupps der Action Française, die Camelots du Roi, wiederholt Protestdemonstrationen in Paris in Szene. Als sich herausstellte, daß ein Mitglied der Regierung Chautemps, Raynaldy, mit den Transaktionen einer zweifelhaften Bank zu tun gehabt hatte, trat die Regierung unter schimpflichen Umständen zurück. Am 29. Januar 1934 bildete Daladier eine neue Regierung. Er kündigte an, er werde am 6. Februar um die Zustimmung der Deputiertenkammer nachsuchen. Die Gewalttätigkeit und die Ruhestörungen von Seiten der antiparlamentarischen Rechten erreichten jetzt ihren Höhepunkt. Weniger ausgeprägt politische Organisationen ehemaliger Soldaten, darunter auch die kommunistischen Veteranen, und verärgerter Steuerzahler schlossen sich den Bünden bei Demonstrationen zum Beweis ihrer Stärke an, wobei die verschiedenen Organisationen sich zwar einzeln gruppierten, alle jedoch gemeinsam demonstrierten. Wahrscheinlich kam es zwischen den Führern der Bünde und den anderen Gruppen vor dem 6. Februar zu Kontakten. Am Morgen des Tages riefen alle außer den Francistes ihre Anhänger auf, bei Demonstrationen des Abscheus über die Schandtaten der Deputiertenkammer mitzumachen. Gegen Abend brachen schwere Unruhen aus, besonders auf der

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Place de la Concorde, als die Polizei die Demonstranten daran zu hindern suchte, zur Deputiertenkammer zu gelangen. Nach mehrfachem Gebrauch des Gummiknüppels und Angriffen berittener Polizeikräfte mußte die Polizei Feuer geben. Inzwischen sprachen die Abgeordneten der Regierung Daladier mit einer beträchtlichen Mehrheit das Vertrauen aus und gingen so unauffällig wie möglich nach Hause. Die Polizei behauptete sich, und die Deputiertenkammer wurde vor dem Eindringen der Demonstranten bewahrt. Die Verluste, soweit sie bekannt wurden, waren hoch: unter den Demonstranten – und Zuschauern – 16 Tote und 665 Verletzte, bei der Polizei ein Toter und 1664 Verletzte. Es gibt keinen Beweis dafür, daß der Aufruhr das Ergebnis eines planmäßigen Versuchs, die Macht zu ergreifen und das Regime zu stürzen, gewesen wäre. Die Action Française, die die kämpferischsten Elemente unter den Aufrührern stellte, hatte an ihre Leute die Parole ausgegeben: »Nieder mit den Dieben« und sie aufgefordert, »dem Kabinett und seinen Anhängern im Parlament zu verstehen zu geben, daß sie genug von dem verderbten Regime hätten«. Die Jeunesses Patriotes sollten ihren ›Standpunkt‹ im Parlament laut verkünden. Die ausgedienten Soldaten sollten »ihre Entrüstung manifestieren«. Bezeichnenderweise hatte Oberst de la Rocque nicht zu erkennen gegeben, zu welchem Zweck die Croix de Feu auf die Straße gehen sollte, und hielt seine Kundgebungen von denen der anderen getrennt. Tatsächlich hätte die Croix de Feu in die Deputiertenkammer eindringen können. De la Rocque erklärte im Mai 1934, revolutionäre Veränderungen seien zwar unerläßlich, er wolle sie aber ohne Gewalt und ohne übertriebene Eile erreichen. Die Führer der kleinen faschistischen Gruppe der Francistes beklagten sich eben darüber, daß die Februar-Unruhen, an denen sie nicht teilnahmen, nicht mehr als ein Ausdruck des Abscheus und nicht etwa ein Angriff auf den Staat gewesen seien.200 Am Morgen nach dem Aufruhr trat Daladiers Regierung zurück, obwohl sie am Abend vorher eine Mehrheit erhalten hatte, wahrscheinlich, um weitere Unruhen, vielleicht mit bewaffneten Demonstranten, zu verhindern. Der Präsident der Republik appellierte an Doumergue, einen bejahrten und geachteten ehemaligen Präsidenten, eine Regierung zu bilden. Doumergue, ein alter Mann mit einer ehrenhaften linksrepublikanischen Vergangenheit, bildete ein Kabinett auf breiter Grundlage. Die Sozialisten wollten sich nicht beteiligen, aber alle Parteien rechts von den Sozialisten waren vertreten. Auf diese Weise wurde eine Regierung, die sich auf die Sozialisten und die Radikalen gestützt hatte, durch eine ersetzt, die sich auf den rechten Flügel des Parlaments und abermals auf die Mehrzahl der Radikalen stützte. Die Radikalen, die größtenteils in Zusammenarbeit mit den Sozialisten gewählt waren, gehörten also wie in der Zeit nach 1926 ein weiteres Mal einem Kabinett an, das gegen die Sozialisten regierte. Léon Blum und die Sozialistische Partei behaupteten, Daladiers rechtmäßige Regierung habe vor dem gesetzwidrigen Druck faschistischer Banden kapituliert, und verurteilten dies. Noch am Abend nach dem Aufruhr griff Blum die »verbrecherische Offensive der faschistischen Reaktion« an, die

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nach »der brutalen Plünderung der republikanischen Freiheiten« trachte, Freiheiten, »die die arbeitenden Klassen errungen haben [...] und die das Unterpfand ihrer endgültigen Emanzipation bleiben«.201 Die Furcht vor dem Faschismus wurde weiterhin lebendig erhalten durch den bemerkenswerten Zuwachs, den Oberst de la Rocques Gefolgschaft nach dem 6. Februar erhielt. Seine Croix de Feu legte weiterhin ein von unbestimmten Drohungen gekennzeichnetes Verhalten an den Tag: De la Rocque selbst fuhr in einem schweren Wagen umher, umgeben von einer Leibwache auf Motorrädern. Streitkräfte wurden mobilisiert und konzentriert, wobei nicht mehr herauskam als obskures Gerede, was jedoch den Eindruck erweckte, eine Nachahmung von Mussolinis ›Marsch auf Rom‹ stehe bevor. Diese Ereignisse und Drohungen riefen eine Abwehrreaktion der Linken auf den Plan. Sie gipfelte in der sogenannten Volksfront, einem Bündnis von Radikalen, Sozialisten und Kommunisten, die bei den Wahlen von 1936 zusammengingen. Es war nicht überraschend, daß die Sozialisten diese antifaschistische Haltung annahmen; was der Erklärung bedarf, ist das Verhalten der Kommunisten, die sich den Unruhen vom 6. Februar 1934 angeschlossen hatten, sowie der Radikalen, die sich an der Regierung Doumergue, die das unmittelbare Resultat der Unruhen war, beteiligt hatten. Das erste Zeichen möglicher Zusammenarbeit zwischen Sozialisten und Kommunisten kam am 12. Februar. Die sozialistische CGT beschloß für diesen Tag einen von Demonstrationen begleiteten Generalstreik. Die kommunistische CGTU folgte nach, und die beiden Demonstrationen vermengten sich. Die Parteiführung der Kommunisten gab jedoch ihre feindselige Haltung gegen die Sozialistische Partei nicht auf. Sie erstrebte noch immer die Aktionseinheit ›an der Basis‹, das heißt, sie suchte diejenige Gruppe des Proletariats zu sich herüberzuziehen, die durch sozialdemokratische Listen irregeführt sei. Der Kommunistenführer Thorez formulierte es 1932 so: »Wir wollen keine Einigung mit den sozialistischen Führern, wir wollen keine Verständigung mit sozialistischen Organisationen. Wir wollen die sozialistischen Arbeiter zum Kampf führen.« Am 10. März 1934 erklärte Thorez, die Kommunistische Partei werde »nie eine Politik der Verständigung an der Spitze, eine Politik des Rückzugs und der Abdankung vor dem Sozialfaschismus dulden« – die letzte Wendung bezog sich auf die sozialistischen Führer. Zu diesem Zeitpunkt scheint Moskau eingegriffen zu haben. In der Prawda erschien ein Artikel, der am 31. Mai in der Humanité, der Parteizeitung der französischen Kommunisten, wiedergegeben wurde. Der Artikel forderte eine gemeinsame Front mit den Sozialisten ohne Umgehung ihrer Führer. Am 5. Juni 1934 eröffnete das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Verhandlungen mit den Führern der Sozialistischen Partei, und am 27. Juli wurde ein Pakt unterzeichnet, der einen gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus, gegen die Regierung, für demokratische Freiheiten und gegen den Krieg vorsah. Diese auffallende Wandlung der kommunistischen Taktik war durch den Erfolg Hitlers und der NSDAP in Deutschland bestimmt. Dort hatte

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die Weigerung der Kommunisten, mit den ›bürgerlichen‹ Sozialisten zusammenzuarbeiten, Hitlers Aufstieg zur Macht gefördert. Bald zeigte sich, daß Hitler keine ephemere Erscheinung, nicht das letzte Sich-Aufbäumen der kapitalistischen Reaktion war, sondern eine gefährliche Bedrohung für das Vaterland des Sozialismus, die Sowjetunion selbst. Die Absichten der potentiellen Mitarbeiter Hitlers mußten durchkreuzt, die potentiellen Gegner des Faschismus im Inland und Ausland ermutigt werden. Thorez erkannte, daß man sich der Unterstützung des Mittelstandes bedienen mußte, um den Faschismus erfolgreich zu bekämpfen. Zunächst suchten die Kommunisten Hilfe, indem sie sich bemühten, die Macht der bürgerlichen Parteien, namentlich der Radikalen, zu untergraben. Damit scheiterten sie. Die Kommunisten gingen dann dazu über, an einzelne Führer der Radikalen, besonders Abgeordnete, unmittelbar heranzutreten. Im Juni 1935 konnte man erleben, daß Thorez seine Bewunderung für die Radikale Partei öffentlich äußerte. (1936 war Thorez so weit, daß er an Katholiken appellierte und sogar an Mitglieder der Croix de Feu.) In diesem Monat schlugen einige Radikale, besonders Daladier, zusammen mit Sozialisten und Kommunisten eine große Demonstration für den 14. Juli vor, und am 3. Juli billigte das Exekutivkomitee der Radikalen Partei diese Maßnahme. Auch diese Schritte wurden von Moskau gefördert. Eine Schwierigkeit, die der Zusammenarbeit von Radikalen und Kommunisten im Wege stand, war die ablehnende Haltung der letzteren gegenüber der nationalen Verteidigung. Am 15. Mai 1935 wurde nach der Unterzeichnung des französisch-sowjetischen Paktes bekanntgegeben: »Herr Stalin versteht und billigt uneingeschränkt die Politik der nationalen Verteidigung, die Frankreich durchführt, um seine Streitkräfte auf dem für seine Sicherheit erforderlichen Stande zu halten.« Am 14. Juli legten große Volksmassen einen Eid ab, »zur Verteidigung der Demokratie, zur Entwaffnung und Auflösung der aufrührerischen Bünde einig zu bleiben, um unsere Freiheiten aus der Reichweite des faschistischen Angriffs zu bringen«. Verhandlungen über eine Zusammenarbeit bei den Wahlen waren im Gange, und am 18. Januar 1936 wurde ein gemeinsames Programm entworfen. Es war auf kurzfristige Ziele beschränkt, und die einzelnen Partner konnten ihre eigene Doktrin darlegen. Das Programm forderte die Verteidigung der demokratischen Freiheiten und des Friedens sowie den Kampf gegen die wirtschaftliche Krise und gegen faschistische Organisationen. Es blieb die Anomalie, daß die Radikalen die Regierung Laval noch immer ebenso unterstützten wie die Opposition gegen diese. Die Radikalen standen jedoch Lavals Politik der Beschwichtigung Mussolinis mit wachsender Abneigung gegenüber und waren durch die Feindseligkeit beunruhigt, die seine wirtschaftlichen Maßnahmen erregten. Am 22. Januar 1936 traten die radikalen Minister aus der Regierung aus. Laval selbst wurde gezwungen, einem Kabinett der Mitte unter dem Radikalen Sarraut Platz zu machen, das während der Wahlen von 1936 regierte.202

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Die Radikale Partei war, was ihre Führer anging, eine Organisation zur Gewinnung von Wählerstimmen. Das französische Wahlsystem mit seiner Vielzahl von Parteien machte den Erfolg für eine Partei, die für sich allein vorging, unmöglich. Es war wesentlich, mit anderen Gruppen Vereinbarungen zu treffen, aufgrund derer die Wähler anderer Parteien in einem zweiten Wahlgang ihre Stimmen jeweils derjenigen verbündeten Partei geben konnten, die für den Sieg am besten placiert war. Das Scheitern der Regierung Flandin im Jahre 1935 hatte gezeigt, daß ein Bündnis mit Gruppierungen der rechten Mitte eine zu schmale Basis für einen Wahlerfolg darstellte. Die Radikalen konnten der Entscheidung zwischen rechts und links nicht ausweichen. Sie konnten an der Zusammenarbeit mit der Rechten, wie sie in der Unterstützung der Regierungen Doumergue und Laval zum Ausdruck kam, festhalten oder mit der Linken, mit den Sozialisten zusammengehen, was jetzt auch ein Zusammengehen mit den Kommunisten bedeutete. Die Zustimmung zur Volksfront markierte die Entscheidung für die Linke. Die Radikale Partei war historisch gesehen die große republikanische Partei. Sie war stark geworden durch ihr Eintreten für die Prinzipien der großen Revolution, für Demokratie, Freiheit, soziale – wenn nicht wirtschaftliche – Gleichheit, für Vernunft, für Fortschritts- und Aufstiegsmöglichkeiten. Sie stand dem Katholizismus, der Hochfinanz, dem Großgrundbesitz feindlich, dem Sozialismus jedoch mißtrauisch gegenüber. Sie vertrat die selbständigen Bauern und den unteren Mittelstand. Nach Pierre Cot war die Radikale Partei »die Partei der kleinen selbständigen Grundbesitzer, der Bauern, Ladeninhaber, Künstler, Beamten, Männer der freien Berufe – das heißt, all derer, die von ihrer Arbeit leben, aber von einer Arbeit, die sie bezeichnenderweise selbst leisten«. Sie war politisch fortschrittlich und wirtschaftlich konservativ oder sogar reaktionär. Es ist auffällig, daß die von den Radikalen vertretenen Klassen in Frankreich genau der Typ von Menschen waren, von denen die Nationalsozialisten in Deutschland massenhaft Zulauf erhielten. In Frankreich entschied sich dieselbe Kategorie für politische Freiheit und nicht dafür, der gewalttätigen Rechten nachzulaufen, um sich gegen den Kommunismus zu verteidigen. Dies ist der Hauptgrund, weshalb Frankreich Léon Blum bekam, während Deutschland Hitler bekam. Was man auch immer von einigen ihrer Führer sagen mag, die Wähler der Radikalen Partei nahmen ihre verschwommenen Grundsätze ernst. Die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit schienen im Jahre 1935 durch Gewalt von Seiten der Rechten bedroht. Die Radikalen reagierten darauf mit Anstrengungen zur Verteidigung der demokratischen Republik. Dies Verhalten war historisch bedingt. Sie hatten jahrzehntelang den Republikanismus gerühmt, und bis vor kurzem hatte die Republik stabile Verhältnisse gebracht. (In Deutschland war die republikanische Demokratie von Katastrophen und Unordnung begleitet.) Im Jahre 1935 hatten sie die Drohung der Gewalt und Unordnung durch die Action Française und vor allem durch die Croix de Feu vor Augen, deren Umtriebe, wenngleich bedeutungslos, doch in hohem Maße beunruhigend waren. Im

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Gegensatz zu Deutschland hatten sie es mit einer gezähmten, beinahe gutbürgerlichen kommunistischen Partei zu tun.203 Die Wahlen im April und Mai 1936 brachten einen Sieg der Volksfront: Sie wurde von verschiedenen Gruppen mit insgesamt 378 Abgeordneten gegen 220 Abgeordnete der Opposition unterstützt. Die Radikalen erlitten schwere Verluste – ungefähr 50 Sitze – die Kommunisten jedoch gewannen 60 und die Sozialisten (SFIO) 16 Sitze. Damit hatte die Kammer eine stärkere Linksmehrheit als die von 1932 (obwohl auch in der letzteren eine Volksfrontmehrheit hätte zusammengebracht werden können). Die Position der Radikalen blieb indessen entscheidend. Ein erheblicher Ruck der Radikalen nach rechts hätte einer Linksregierung ein Ende setzen können. Die Sozialisten wurden die stärkste Partei in der Kammer, und Léon Blum bildete eine Regierung mit Beteiligung der Radikalen und kommunistischer Unterstützung. Bevor die Regierung ihre Amtsgeschäfte übernahm, brach ein großer Streik in Gestalt einer ›Besetzung der Fabriken‹ oder eines Sitzstreiks aus. Die Arbeiter wollten sich offenbar vergewissern, daß ihre Forderungen von versierten Politikern nicht irgendwie umgangen würden. Man hatte ihnen ein neues Zeitalter versprochen, und nun rechneten sie damit. Die Erwartung traf ein. Zum erstenmal in der französischen Geschichte war eine Regierung an der Macht, deren Hauptsorge es war, das Los der Arbeiter zu verbessern. Sofort wurden Vertreter der französischen Arbeitgeber durch Intervention der Regierung bewogen, bedeutenden Lohnerhöhungen zuzustimmen. Der Gewerkschaftsführer Jouhaux sagte einen Tag später: »Zum erstenmal in der Weltgeschichte verbessern sich mit einem Schlag die Lebensbedingungen einer ganzen Gesellschaftsschicht [...], das ist von hoher moralischer Bedeutung. Es ist der klare Beweis, daß es nicht notwendig ist, einen totalitären und autoritären Staat zu schaffen, um die Arbeiterklasse zu ihrer Rolle als Mitarbeiter an der Volkswirtschaft emporzuheben, sondern daß das reguläre Funktionieren und die Intensivierung der Demokratie es ermöglichen.« Die Lohnerhöhung wurde bald durch steigende Preise entwertet; andere Maßnahmen der Regierung Blum, wie die 40-Stunden-Woche, waren sogar schädlich. Was zählte, war der Geist – Jouhaux hatte recht. Der französische Arbeiter konnte den demokratischen Staat nie wieder ein für allemal als Feind ansehen. Tatsächlich bot der größte Erfolg der Volksfrontregierung, die gesetzliche Einführung bezahlten Urlaubs, ein deutliches Beispiel für die sozialen Obertöne ihrer Arbeit: ihr Bemühen, dem Arbeiter die Möglichkeit zu geben, an den schöneren Dingen des Lebens teilzuhaben. Blum war sich voll dessen bewußt, was er tat: »Ich hatte das Gefühl, daß ich [...] eine Verschönerung, einen Lichtstrahl in schweres und düsteres Leben gebracht hätte. [...] Ein Blick in die Zukunft war ihnen [den Arbeitern] auf getan worden; sie konnten Hoffnung schöpfen.«204 Blums Regierung erregte leidenschaftliche Feindseligkeit auf Seiten der französischen Rechten. Die Streiks von 1936 verursachten Beunruhigung, und die spätere Abwertung des Franc belebte von neuem die Furcht des

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Mittelstandes um sein Einkommen. Zur gleichen Zeit öffnete der Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs eine tiefe Kluft in der öffentlichen Meinung Frankreichs. Viele von Blums Anhängern, wenn auch nicht alle, forderten Hilfe für die spanischen Republikaner gegen die Rebellenarmeen. Die Kommunisten und einige Sozialisten waren für Intervention, die meisten Radikalen dagegen. Auf der Rechten sympathisierten viele wegen ihrer reaktionären katholischen Neigungen mit den spanischen Nationalisten und behaupteten, Hilfeleistung an die spanische Regierung würde einen unnötigen Konflikt mit Italien zur Folge haben – sie glaubten, ein Bündnis mit Italien sei für Frankreich notwendig. Infolgedessen wurde die Volksfrontregierung in der französischen Presse mit noch nicht dagewesener Schärfe angegriffen. Blum fürchtete, eine Intervention Frankreichs in Spanien könnte zum Bürgerkrieg in Frankreich führen. Blums jüdische Herkunft provozierte zahlreiche Ausbrüche von Antisemitismus in der Presse. Die »hervorragendste« Leistung der Journalisten war ihr Feldzug gegen den Innenminister Salengro; am 17. November 1936 beging er Selbstmord.205 Im Frühjahr 1937 fand die Arbeit der Volksfrontregierung, fanden die Bestrebungen der Regierung Blum, die Produktion Frankreichs durch eine Erhöhung der Kaufkraft zu steigern und das Volkseinkommen zugunsten der Arbeiter neu zu verteilen, ein Ende. Die Regierung war weitgehend gescheitert. Die Radikalen geboten Halt. Sie waren durch die Inflation beunruhigt und durch die Kommunisten erschreckt. Am 16. März 1937 unternahmen Anhänger der Volksfront in Clichy eine Protestdemonstration gegen eine Versammlung des Parti Social Français (einer abgeänderten Form der Croix de Feu). Die Demonstranten stießen mit der Polizei zusammen, fünf Menschen wurden getötet und viele verletzt. Die Radikalen machten die Kommunisten dafür verantwortlich und beschuldigten sie der Unruhestiftung. Die Volksfrontmehrheit überlebte zwar Blums Rücktritt im Juni 1937 – wenn sich die Sozialisten geweigert hätten, eine Regierung unter radikaler Führung zu unterstützen, hätten sie nur die Radikalen zu uneingeschränkter Zusammenarbeit mit der Rechten getrieben –, doch sie überlebte nur scheinbar. Der offene Bruch in der Volksfront kam gegen Ende des Jahres 1938, als eine von dem Radikalen Daladier geführte Regierung, angeregt von Paul Reynaud, einen Teil der Gesetzgebung der Volksfront – namentlich die 40-Stunden- Woche – zu beseitigen suchte und Erfolg damit hatte. Sozialisten und Kommunisten traten nunmehr in die Opposition. So hatte die 1936 gewählte Deputiertenkammer zwei entgegengesetzte Regierungssysteme getragen – die Regierung des sozialen Fortschritts und der Reform von 1936 und die des sozialen Konservatismus und finanzpolitischer Orthodoxie von 1938. Wie 1926 und 1934 hatten die Radikalen, die größtenteils als Männer der Linken gewählt worden waren, später mit der Rechten zusammengearbeitet. Im Jahre 1938 wurde von der Regierung Daladier ein festerer Kurs gegen Streiks eingeschlagen, und mit dem Zusammenbruch des Generalstreiks im November 1938 hörten die Arbeitskämpfe auf, wozu die

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Wiederbelebung der Wirtschaft und das Ende der kommunistischen Agitation wegen des spanischen Bürgerkriegs beitrugen. Bis 1939 war ein großer Teil der inneren Streitigkeiten, die in den Jahren 1934 bis 1936 ihren Höhepunkt erreicht hatten, aus der Welt geschafft. Die Arbeiterklasse hatte eine Zeit durchlebt, in welcher der Staat auf ihrer Seite stand; die Rechte hatte eine Rückkehr zum Konservatismus in der Innenpolitik erlebt. Die Drohung des Faschismus schien vorbei zu sein. Im Juni 1936 hatte die Regierung die Auflösung der Croix de Feu, der Jeunesses Patriotes, der Solidarité Française und der Francistes angeordnet. Die Croix de Feu trat als Parti Social Français sofort wieder in Erscheinung. Sie war der bedeutendste dieser Bünde – nun behauptete sie, eine gewöhnliche politische Partei zu sein, wenn auch eine ›über‹ den anderen Parteien. Der Parti Social Français begann, sich praktisch wie eine reguläre parlamentarische Partei aufzuführen, und bereitete sich auf die nächsten Wahlen vor. Bezeichnenderweise gewann Oberst de la Rocques Bewegung nach dieser offenen Umwandlung einen enormen Zulauf. Nach 1936 erreichte sie die Zahl von zwei Millionen Anhängern. Die Unterstützung, die Oberst de la Rocque für eine neue verschwommene Spielart des Konservatismus fand, schwächte die gewalttätigen Bünde. Um 1938 waren die anderen Bünde zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Die Action Française setzte ihre Publizistik fort, ihr Einfluß war indessen erheblich geringer, als er es auf seinem Höhepunkt im Jahre 1934 gewesen war. Es wurden jedoch neue Organisationen, die auf Gewalttätigkeit eingeschworen waren, geschaffen. Im Jahre 1936 gründete Doriot, ein ehemaliger Kommunist, den Parti Populaire Français, eine ausgewachsene faschistische Partei. Diese, gefördert durch italienische Hilfsgelder, erhielt 1937 eine beträchtliche Anhängerschaft, verschwand jedoch 1938 fast ganz von der Bildfläche.206 Außerdem gab es die seltsame Gruppe MSAR oder Mouvement Secret d’Action Révolutionnaire, die als Cagoule bekannt wurde, mit ihrem leitenden Komittee CSAR, das sich dem Widerstand gegen den nicht vorhandenen Plan einer kommunistischen Machtergreifung in Frankreich widmete. Zu den Meinungsverschiedenheiten über die innere Ordnung Frankreichs trat in den späteren dreißiger Jahren komplizierend die tiefe Spaltung der Auffassungen hinsichtlich der Außenpolitik. Bis 1936 befürwortete die französische Rechte Festigkeit gegenüber Deutschland und deswegen die Erhaltung der militärischen Bündnisse und der militärischen Stärke Frankreichs. Die Linke trat bis 1935 für eine Politik des Ausgleichs und der Abrüstung sowie dafür ein, in der Frage der französischen Sicherheit auf den Völkerbund zu bauen – obwohl wenigstens die Radikalen dieses Eintreten nicht so weit trieben, daß sie eine einseitige Abrüstung akzeptiert hätten. Infolge der Äthiopien-Krise machte die Auffassung der Linken eine Wandlung durch: Wenn der Völkerbund lebensfähig sein sollte, mußte die italienische Aggression gezügelt werden. (Die mandschurische Krise hatte die französische öffentliche Meinung nicht ernstlich beeinflußt.) Die Linke widersetzte sich Lavals Bemühungen, Komplikationen mit

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einem aggressiven Italien zu vermeiden. Die Rechte schöpfte Verdacht, die Linke wolle aus ideologischen Gründen einen potentiellen Verbündeten Frankreichs vor den Kopf stoßen. Viel schwerwiegendere Komplikationen brachte der Spanische Bürgerkrieg. Im Grunde sympathisierte die gesamte französische Rechte mit der Revolte der spanischen Armee gegen die Volksfront in Spanien, während die französischen Kommunisten jedes Mittel, besonders Demonstrationen und Streiks, benutzten, um eine französische Intervention auf der Seite der spanischen republikanischen Regierung zu erzwingen. Eine Intervention in Spanien hätte einen Konflikt mit den Helfern der spanischen Rebellen wahrscheinlich gemacht. Die französische Rechte folgerte, die Kommunisten seien auf Anordnungen von Moskau hin darauf versessen, einen europäischen Krieg zu riskieren, um die Sache der roten Revolution in Spanien voranzutreiben. Der nächste Schritt in der Überlegung war entscheidend, obwohl er nur von einem Teil der französischen Rechten getan wurde: die Kommunisten wünschten einen europäischen Krieg, um der Kommunistischen Internationale bei der Ausbreitung ihrer Macht zu helfen. Wenn das der Fall war, dann waren diejenigen, die vorschlugen, gegen den Faschismus in Europa Widerstand zu leisten, und insbesondere Hitler-Deutschland, notfalls mit Gewalt, im Zaum zu halten, Kommunisten oder von den Kommunisten hinters Licht geführt und handelten bewußt oder unbewußt im Interesse Moskaus. Die französische Volksfront bewies die Gefahr des Kommunismus, und sie bewies, auf welche gefährliche Art und Weise Moskau Macht über die französische Politik gewinnen könnte. Hitler war Antikommunist, entschlossen, den Bolschewismus zu zerschmettern. Frankreich sollte sich daher keineswegs der Expansion Deutschlands widersetzen, sondern sie vielmehr gutheißen, einen Kompromiß mit Deutschland suchen und Deutschland die Vernichtung Rußlands überlassen. Frankreich konnte sich gegen eine direkte Bedrohung durch Deutschland schützen, falls es je dazu käme – zumal wenn ein Konflikt mit Italien vermieden würde. Das französisch-sowjetische Bündnis, ursprünglich das Werk französischer Rechtsregierungen der Jahre 1934 und 1935, sollte preisgegeben werden. Frankreich sollte sich sogar gänzlich desinteressiert an Osteuropa zeigen, um sich durch die Sorge um Tschechen oder Polen nicht in den Dienst der finsteren Absichten Moskaus stellen zu lassen. Nicht alle rechtsgerichteten Franzosen waren dieser Auffassung. Einige hielten an der altmodischen Ansicht fest, ein aggressives Deutschland müsse notwendigerweise Frankreich zu vernichten trachten, und man müsse daher gegen eine Hitlersche Aggression Widerstand leisten, und jeder, der dabei helfen könne, müsse ein Freund Frankreichs sein, selbst die Sowjetunion. In der rechten Mitte und unter den Radikalen taten sich ähnliche Meinungsverschiedenheiten auf. Alle hatten gehofft, die Nachkriegsordnung werde durch die Bestimmungen des Vertrages von Versailles und durch Frankreichs Bündnisse in Osteuropa oder durch die Hilfe des Völkerbundes den Frieden bewahren. 1936 hatte Deutschland unverhohlen mit der Wiederaufrüstung begonnen und das

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Rheinland remilitarisiert. Es war klar erwiesen, daß die Nachkriegsregelung zusammengebrochen war. Einige zogen daraus die Schlußfolgerung, man müsse dieses Scheitern anerkennen, und Frankreich müsse die bestmöglichen Vereinbarungen mit Deutschland treffen. Andere glaubten, wenn auch einige Gelegenheiten, Deutschland zu zügeln, verpaßt worden seien, müsse Deutschland in Zukunft dennoch im Zaum gehalten werden, wenn Frankreich selbst vor der nationalsozialistischen Herrschaft sicher sein solle. Die östlichen Bündnisse müßten neu belebt werden, Rußland müsse darin einbezogen und England ermuntert werden, sich dem Widerstand gegen ein künftiges Vordringen Deutschlands anzuschließen. Diese Meinungsverschiedenheiten wurden durch die Tatsache verdeckt, daß die Befürworter französischer Nachgiebigkeit bereit waren zu bluffen – nämlich davon zu reden, daß Frankreich seine Verpflichtungen erfülle, das Bündnis mit Rußland von 1935 aufrechtzuerhalten und um britische Hilfe nachzusuchen – in der Hoffnung, Hitler werde dadurch so eingeschüchtert, daß er nichts unternehme. Oberflächlich gesehen konnten daher die Anhänger beider Denkrichtungen auf dieselbe Weise handeln, bis es Zeit war, Farbe zu bekennen, und sich die Entscheidung zwischen dem Krieg einerseits und der Billigung der deutschen Forderungen andererseits stellte. Auch die Sozialisten waren geteilter Meinung. Der Spanische Bürgerkrieg sowie die Intervention Deutschlands und Italiens überzeugten die meisten Sozialisten davon, daß man dem Faschismus gewaltsamen Widerstand entgegensetzen müsse. Eine Minderheit nahm einen abweichenden Standpunkt ein. Einige waren schlechthin Pazifisten und hielten jeden Krieg für böse. Andere behaupteten, ein Krieg werde den Hoffnungen der Sozialisten ein Ende setzen; durch Verhandlungen über eine friedliche Revision der nach dem Kriege getroffenen vertraglichen Regelungen in Osteuropa und durch erneute Abrüstungsversuche könne ein Krieg vermieden werden. Den ersten Standpunkt vertrat Léon Blum, den zweiten Paul Faure. Im Dezember 1938 unterstützte ein Parteitag Blums Auffassung gegen die Faures mit 4332 gegen 2837 Stimmen bei 1014 Enthaltungen; 60 Delegierte stimmten für konsequenten Pazifismus.207 In der Kommunistischen Partei traten Meinungsverschiedenheiten erst nach Kriegsausbruch auf. Bis dahin, und zwar seit 1934, hatten die Kommunisten überall Widerstand gegen den Faschismus oder französische Hilfe für ausländische Kämpfer gegen den Faschismus – in Spanien, in Osteuropa und sogar in China – gefordert. Als der Krieg kam, stimmte die Partei für Kriegskredite, und Thorez begab sich zu seinem Regiment. Dann sprach Moskau und setzte die im nationalsozialistisch-sowjetischen Pakt vom 23. August 1939 eingeschlagene Linie durch: der Krieg gegen Hitler sei ein imperialistischer Krieg, dem sich die Kommunisten widersetzen müßten. Das war für die meisten Wähler und Freunde der Kommunistischen Partei zuviel, und die von einer widerstrebenden Führung aufgenommene Opposition gegen den Krieg hatte wenig Erfolg.208

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Es wäre unwahr, zu sagen, diese Meinungsverschiedenheiten über das Verhalten gegenüber Deutschland seien verschwunden, als der Krieg einmal begonnen hatte. Diejenigen, die um jeden Preis gegen den Krieg gewesen waren, neigten zu einem Kompromißfrieden. Es trifft nicht zu, daß diese Leute eine Niederlage Frankreichs gewünscht hätten. Ein Ereignis verstärkte diese verspätete Einigkeit: die gemeinsame Vernichtung Polens durch Sowjetrußland und Deutschland. Für die französische Rechte verdiente Hitler, der Verbündete Rußlands, es mehr, bekämpft zu werden, als Hitler, der Antibolschewist. Am 2. September 1939 erhielt Daladier die einstimmige Zustimmung für Kriegskredite – nur Bergery in der Kammer und Laval im Senat wagten ein Wort des Widerspruchs. Die französische Mobilmachung ging ruhig vonstatten. Wie in England und selbst in Deutschland gab es in Frankreich keinerlei Begeisterung für den Krieg wie im Jahre 1914, doch immerhin eine düstere Zustimmung. In der Innenpolitik hatten sich die Meinungsverschiedenheiten unter den Franzosen im Jahre 1939 vermindert, und die Wirtschaft machte rasche Fortschritte. Die republikanische Demokratie hatte überlebt, und Frankreich war ein Land der Freiheit geblieben. Auf außenpolitischem Gebiet verstummte die Uneinigkeit infolge des Kriegsausbruchs, wenn auch nur zeitweilig. Obgleich die Niederlage von 1940 eine militärische Niederlage war, bewirkte sie doch, daß die Zwistigkeiten der voraufgegangenen Jahre wieder aufbrachen. Die Folge war, daß viele Franzosen die Niederlage bereitwilliger hinnahmen, als es in einer einigeren Gesellschaft der Fall gewesen wäre, und daß manche Franzosen ein Regime unterstützten, das eine ›Regeneration‹ Frankreichs unter der Schirmherrschaft eines siegreichen Deutschland erstrebte. Pétain sprach im Januar 1941 über die Möglichkeit, daß Frankreich 1940 nach der Niederlage im Mutterland den Widerstand in Nordafrika hätte fortsetzen können, und sagte, der Preis dafür wäre »die Vertagung der gesamten materiellen und geistigen Wiederaufbauarbeit auf unbestimmte Zeit« gewesen.209 Der Geist der Fügsamkeit und der Kapitulation, der sich im Waffenstillstand und im Regime von Vichy zeigte, erklärt sich aus zurückliegenden Konflikten in Frankreich, selbst wenn die Niederlage als solche so nicht zu erklären ist. Es ist gesagt worden, die Regierungen der Dritten Republik seien übermäßig schwach gewesen. Das Hauptargument für diese Behauptung war das, daß Regierungen häufig durch Abstimmungen in der Deputiertenkammer gestürzt worden seien und daß daher Kabinette und Minister flüchtige Phantome gewesen seien, gehemmt in ihrer Bewegungsfreiheit und ohne die nötige Zeit, zusammenhängende Beschlüsse zu fassen, geschweige denn, sie durchzusetzen. Es gab in der Zeit zwischen den Kriegen in Frankreich 42 bzw. 33 Regierungen, wenn man Kabinettsumbildungen unter demselben Ministerpräsidenten nicht mitzählt. Die Auswirkungen dieser Tatsache waren weniger schädlich, als man hätte erwarten können. In verschiedenen Kabinetten blieben viele Gesichter dieselben. Einige Beispiele: Briand leitete das Außenministerium ununterbrochen von April 1925 bis Januar 1932 als Mitglied von 14 Regierungen. Chautemps

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hatte den Posten des Innenministers von Juni 1932 bis Januar 1934 in fünf Regierungen inne. Daladier war Kriegs- oder Verteidigungsminister in vier Kabinetten von Dezember 1932 bis Januar 1934 und in sechs Kabinetten von Juni 1936 bis Mai 1940. Es gab, grob gesprochen, zwei Arten von Situationen, in denen ein Regierungswechsel eintrat: die, daß sich die Mehrheit änderte, das heißt, daß eine Änderung in der Politik und der Haltung des Kabinetts erforderlich wurde, sowie den häufigeren Fall, daß die Arbeit der Regierung auf einem bestimmten Sektor auf Widerstand stieß, der die ganze Regierung zwang, zurückzutreten und sich – nicht mit grundsätzlichen Änderungen ihrer Politik oder ihrer personalen Zusammensetzung, sondern vielleicht nur mit einem entscheidenden neuen Minister – neu vorzustellen. Der erstgenannte Sachverhalt war keineswegs ein Schwächefaktor. Eine solche Änderung der Mehrheit und daher der Regierungspolitik trat 1926, 1934 und 1938 ein. Jedesmal wechselten die Radikalen von einer Unterstützung der Linken zur Unterstützung der Rechten über. Jedesmal – sogar 1934 – repräsentierte ihr Vorgehen einen echten Meinungswechsel bei den Leuten, die sie vertraten. So blieben ohne häufige Wahlen die Regierungen im Einklang mit der öffentlichen Meinung des ganzen Landes, während eine gewisse personale Kontinuität durch den Verbleib von Ministern, die aus den Reihen der Radikalen stammten oder für sie akzeptabel waren, erreicht wurde. Sarrauts Behauptung, die Radikale Partei sei eine »Garantie gegen einen Bürgerkrieg«, traf in etwa tatsächlich zu, nämlich eben deswegen, weil sie den Übergang von einer politischen Richtung zur anderen erleichterte.210 Schädlicher war diejenige Art unstabiler Regierungsverhältnisse, für welche die Jahre 1924 bis 1926 sowie 1932 bis 1934 Beispiele bieten. Damals lösten sich zahlreiche Regierungen von ähnlicher parteipolitischer Zusammensetzung, die auf derselben Mehrheit basierten, in rascher Folge ab. Eine nach der anderen wurde gestürzt, als sie unpopuläre finanzielle Maßnahmen vorschlug. Die Gründe hierfür sind komplex, liegen jedoch letzten Endes in der Situation in den Wahlkreisen. Viele Abgeordnete, besonders unter den Radikalen, waren wegen ihres sorgfältig gepflegten lokalen Einflusses im Parlament, nicht aber deshalb, weil ihre Anhänger sich über Erfolg oder Scheitern einer bestimmten Regierung Gedanken machten. Wenn solche Abgeordnete zwischen dem Fortbestand einer Regierung und der Verteidigung ihrer eigenen Position zu wählen hatten, entschieden sie sich für die letztere. Daher ließen sich Maßnahmen, die beim Wähler unpopulär waren, selbst dann nur schwer durchführen, wenn die Abgeordneten sie persönlich billigten. Man fand einen Ausweg, indem man die Exekutive davon befreite, die Abgeordneten über alle Einzelmaßnahmen zu befragen. Dies geschah durch die Einrichtung, der Regierung durch Abstimmung pleins pouvoirs zu erteilen, das heißt, gesetzgeberische Vollmachten an die Regierung zu delegieren. Dies war eine vernünftige Lösung – das Parlament konnte die allgemeine Politik der Regierung auf dem fraglichen Gebiet weiterhin kontrollieren, ohne daß die einzelnen Abgeordneten ihre

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Stimme abgeben mußten, um jede Einzelheit zu billigen. Es ist falsch, anzunehmen, die Gewährung derartiger pleins pouvoirs bedeute das Ende der Demokratie. Auf die These, wonach die Landflucht Frankreich der Tugenden beraubt habe, die einzig unter Landbewohnern zu finden seien, braucht man nur kurz einzugehen. Es ist wahr, daß es im 20. Jahrhundert in Frankreich eine Abnahme der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung gab. Wenn man nur die Zahlen für Männer nimmt, waren im Jahre 1906 5,5 Millionen, im Jahre 1931 4,1 Millionen und im Jahre 1936 4,1 Millionen in der Landwirtschaft tätig.211 Diese Entwicklung war unvermeidlich, wenn die französische Industrie überhaupt wachsen sollte. Tatsächlich könnte man mit viel mehr Berechtigung behaupten, der Schutz der französischen Landwirtschaft durch Zölle und durch die Maßnahmen der Volksfront habe Frankreich wirtschaftlich – und militärisch – geschwächt, weil dadurch zu viele Menschen auf dem Lande gehalten wurden, wo sie nicht produktiv genug waren. Der Gedanke, Bauern gäben bessere Soldaten ab als Industriearbeiter, ist ein Vorurteil, das bei modernen Armeen auch nicht durch den Hauch eines Beweises gestützt ist. Wir können uns jetzt der Frage der Kriegsvorbereitung zuwenden. Nach 1940 wurde behauptet, die französischen Regierungen und besonders die Regierung Blum hätten durch den von ihnen ausgehenden moralischen Verfall und durch die Behinderung der Aufrüstung die Niederlage im voraus zur Gewißheit gemacht. Man sagte, die 40-Stunden-Woche, der bezahlte Urlaub und schwächliches Verhalten der Regierung bei Streiks hätten Selbstsucht und Müßiggang zur Gewohnheit werden lassen, wodurch die für eine schlagkräftige Armee erforderliche Opferbereitschaft verdorben worden sei. Dieser Vorwurf wurde vor allem im Riom-Prozeß erhoben, als die nach dem Waffenstillstand gebildete Vichy-Regierung zu zeigen suchte, durch diese Maßnahmen sei die Niederlage unvermeidlich geworden. Blum erwiderte, es sei unmöglich gewesen, »die republikanischen Freiheiten in Frankreich zu verteidigen und gleichzeitig die arbeitenden Massen sowie diejenige Fraktion der Elite der Arbeiterklasse, die noch immer der kommunistischen Konzeption verhaftet war, von diesen Bemühungen auszuschließen«. Blum sagte weiter: »Und ich glaubte, es sei vor allem eine ungeheure Leistung und ein ungeheures Verdienst, diese Massen und diese Elite wieder zur Liebe zum Vaterland und zu dem Gefühl der Pflicht gegenüber dem Vaterland hingeführt zu haben.« Die Arbeiterklasse habe wieder gelernt, die Marseillaise zu singen. »Die einmütige Zustimmung, die sich im Augenblick der Mobilmachung in Frankreich fand, war zum Teil die Folge von all dem, und infolgedessen in etwa unser Werk.«212 Auch schlug sich der einfache französische Soldat im eigentlichen Feldzug gut. Im großen und ganzen setzten Disziplinlosigkeit und Demoralisierung erst nach der Niederlage und dem Durchbruch des Feindes ein. Es gab Ausnahmen, besonders unter Divisionen von geringerer Qualität, namentlich im kritischen Frontabschnitt von Sedan, aber sie waren nicht häufig.213

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Ebensowenig begründet wie die Auffassung, die Absicht der Volksfrontregierung sei es gewesen, die Wiederaufrüstung zu verzögern, ist die Behauptung, ernsthafte Bemühungen Frankreichs um eben diese Aufrüstung hätten erst begonnen, als diese Regierung an die Macht gekommen war. In den frühen dreißiger Jahren wurde ein großer Teil der französischen Geldmittel für den Festungsbau aufgewandt: von 1930 bis 1934 wurden für die Maginot-Linie hinter der deutsch-französischen Grenze ungefähr fünf Milliarden Franc ausgegeben. Ende 1934 wurde ein unter Leitung von Marschall Pétain ausgearbeitetes Programm in Kraft gesetzt. Es bildete keine Entsprechung zu den Plänen der Deutschen, und Mitte 1935 zog Laval die notwendigen Kredite zurück. Allerdings wurden sie Ende des Jahres erneut zur Verfügung gestellt. 1936 forderte Blums Kriegsminister Daladier den Generalstab auf, einen Plan für die Neuausrüstung der Armee vorzulegen. Der Generalstab schlug für die Zeit von 1937 bis 1940 Ausgaben in Höhe von neun Milliarden Franc vor. Daladier hielt dies für unzureichend und forderte mit voller Zustimmung Blums den Generalstab auf, Vorschläge für die Ausgabe von 14 Milliarden Franc auszuarbeiten. Vom Parlament wurden keine Schwierigkeiten gemacht, und die Kredite wurden später erhöht, um den steigenden Preisen zu begegnen. Tatsächlich hat das Parlament in den dreißiger Jahren niemals irgendwelche Vorschläge für Ausgaben, die ihm die Regierung für die nationale Verteidigung unterbreitete, abgelehnt oder modifiziert. Der Plan von 1936 war in vollem Umfange durchgeführt worden, als im Jahre 1940 die Operationen begannen. So wurden die 1936 dargelegten Förderungen des Generalstabs vollständig erfüllt. Das Verhältnis der 1940 der Armee verfügbaren verschiedenen Waffentypen zueinander war so, wie der Generalstab es festgelegt hatte, namentlich auch das Verhältnis von schweren und leichten Panzern und die Zahl der Panzerabwehrwaffen. Dieses Programm hätte nicht schneller durchgeführt werden können, noch konnten die zusätzlichen Aufträge von 1938, besonders die zur Lieferung von Luftabwehrwaffen, erfüllt werden. Hier zeigten sich die Mängel der Kapazität der französischen Industrie. Insoweit, als die Maßnahmen der Regierung die Produktionskapazität berührten, kann weder die Linke noch die Rechte dem Tadel entgehen. Rechtsregierungen schwächten die Industrie besonders in den Jahren 1934 und 1935 durch eine deflationistische Politik. Die starre Durchführung der 40-Stunden-Woche im Jahre 1937 verminderte die Kapazität mit Sicherheit (hauptsächlich durch die Einschränkung der Arbeitsleistung von Facharbeitern). Erst 1938 wurde die 40-Stunden- Woche für Arbeit zum Zwecke der nationalen Verteidigung wirksam abgeschwächt.214 Die Marine war in ausgezeichneter Verfassung und – das Bündnis mit England vorausgesetzt – durchaus in der Lage, allen Erfordernissen zu genügen. Mit der Luftwaffe verhielt es sich sehr viel anders. Die Maßnahmen zur Vorbereitung auf einen Krieg begannen im Jahre 1934 mit einem von General Denain entworfenen Plan, der 1000 Flugzeuge plus 200 Reservemaschinen vorsah. Die Ausführung dieses Planes begann 1935. Die Volksfrontregierung erweiterte ihn auf 1500 plus

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900 Flugzeuge. Unglücklicherweise traf der Luftfahrtminister der Regierung, Pierre Cot, zwei Maßnahmen, die sich später als Fehler herausstellten. Er stand vor zwei Alternativen: vor der Entscheidung, entweder die vorhandene Produktion fortzusetzen oder auf neue, moderner konstruierte Prototypen zu warten, und der Wahl, das Beste aus den bestehenden Produktionsmethoden der französischen Industrie zu machen oder zu warten, bis Methoden der Massenproduktion eingeführt werden könnten. Er entschied sich dafür, mit den vorhandenen Konstruktionen auf der Grundlage noch überwiegend manueller Fertigungsweise weiterzumachen. Das bedeutete, daß er im Jahre 1937 mehr Flugzeuge herstellen lassen konnte, als es sonst möglich gewesen wäre. Leider waren sie 1938 alle veraltet und nahezu wertlos. Als im Januar 1938 Guy La Chambre Luftfahrtminister wurde, fand dieser Prozeß der langsamen Herstellung von Flugzeugen, die veraltet waren, selbst wenn sie neu aus der Fabrik kamen, ein Ende. La Chambre unternahm den Versuch, die Massenproduktion von neuen Prototypen zu organisieren. Dies bedeutete, daß die tatsächliche Fertigung im Jahre 1938 teilweise unter den schon beunruhigend niedrigen Stand von 1937 mit rund 35 Flugzeugen monatlich sank (Deutschland 1937: 350 Flugzeuge monatlich; England: 120). 1939 jedoch begann die Massenproduktion Erfolge zu zeitigen. In diesem Jahr wurden monatlich rund 220 und in den ersten fünf Monaten des Jahres 1940 je 313 Flugzeuge hergestellt. Bis September 1939 waren etwa 1200 und bis Mai 1940 3300 moderne Flugzeuge produziert (in diesen Zahlen sind etwa 170 bzw. 340 in den USA gekaufte Maschinen enthalten). Diese Zahlen bedeuten natürlich nicht Flugzeuge des ›ersten Aufgebots‹, das heißt, nicht solche, die im Unterschied zur Reserve sofort einsatzbereit waren, mit voll ausgebildeten Besatzungen. Im Jahre 1938 war also die französische Luftwaffe fast nicht existent. General Vuillemin, der Chef des Luftwaffen-Generalstabs, erklärte im Januar 1938, bei einem jeden Konflikt in diesem Jahr würde die französische Luftwaffe in ein paar Tagen vernichtet werden. Diese Tatsache übte auf die französische Außenpolitik im Jahre 1938 einen gewissen Einfluß aus. Selbst im Jahre 1939 konnte die französische Luftwaffe nur dann damit rechnen, Deutschland in einem Krieg unter gleichen Bedingungen entgegenzutreten, wenn sie die gesamte britische Luftwaffe in die Waagschale warf. Es war aber unmöglich, daß die Royal Air Force Großbritannien ganz von der Luftabwehr entblößte. Darüber hinaus war als Folge der Auffassungen des Generalstabs die französische Luftwaffe nicht mit Bombenflugzeugen ausgerüstet, die für taktische Zusammenarbeit mit der Armee eingerichtet waren.215 So gab es tatsächlich schwache Punkte in den französischen Streitkräften, aber als 1939 der Krieg kam, konnte man mit gutem Recht annehmen, daß Frankreich in der Lage sei, sich zu behaupten. Wenn Frankreich im Endeffekt bei der Verteidigung Europas und seiner eigenen Verteidigung gegen das nationalsozialistische Deutschland versagte, so sollte das die Erfolge der Dritten Republik nicht verdunkeln. Frankreich blieb bis

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1940 ein Land, das ein intelligenter und freier Mensch wohl zum Aufenthalt wählen mochte. 9. Spanien 1918–1945 Das Hauptthema der spanischen Geschichte in diesen Jahren ist der in der Zeit der Republik unternommene, gescheiterte Versuch, ein vernünftiges und freies politisches System zu schaffen und einige der Ursachen der Rückständigkeit und Not eines großen Teils der Bevölkerung zu beheben. Im Jahre 1918 wurde Spanien theoretisch von einer demokratischen Monarchie regiert. Praktisch vertraten die Regierungen und das Parlament, die Cortes, nicht die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte Spaniens. Wahlen wurden noch immer von einer Oligarchie manipuliert, die der Mittel- und Oberschicht entstammte. Arbeiter, Bauern und in geringerem Maße die Armee standen außerhalb des Regimes. Arbeiter und Bauern gaben ihren Bestrebungen durch Sozialismus und Anarchismus sowie vor allem durch sozialistische und anarchistische Gewerkschaften Ausdruck. Die Armee mischte sich durch bewegliche verschwörerische Offiziersorganisationen in die Politik ein. Eine sozialistische Partei hatte es in Spanien seit 1879 gegeben. Sie billigte den Gedanken, politische Macht mit verfassungsmäßigen Mitteln zu erstreben. Da die Verfassung bis 1931 ein Scheingebilde war, erreichte die sozialistische Partei nicht sehr viel. Wesentlich bedeutender war die sozialistische Gewerkschaftsbewegung UGT (Unión General de Trabajadores), die 1888 gegründet worden war. Sie war eine reformerische Bewegung und glaubte an den Aufstieg der Arbeiterklasse durch friedliche Streiks. Um mit dieser maßvollen Zielsetzung Fortschritte zu machen, mußte man eine Organisation entwickeln und politisches Bewußtsein durch Bildung verbreiten – 1901 waren rund 63 Prozent der Bevölkerung Analphabeten.216 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts richteten die Sozialisten Casas del Pueblo ein, um so Versammlungs- und Diskussionsstätten sowie Leihbüchereien bereitzustellen. Nach dem Kriege standen die Sozialisten ebenso wie andere sozialistische Parteien in Europa vor der Entscheidung für oder wider die Moskauer Dritte Internationale. Die spanische Partei lehnte die von Moskau gestellten 21 Bedingungen mit knapper Mehrheit ab. Eine beträchtliche Anzahl sozialistischer Führer trat daraufhin aus und bildete die Spanische Kommunistische Partei. Das Parteifußvolk schloß sich nicht an, und die Kommunistische Partei blieb bis zum Bürgerkrieg bedeutungslos. Die UGT wurde eine mächtige Organisation: Um 1934 hatte sie mehr als 1,25 Millionen Mitglieder. Sie stützte sich hauptsächlich auf Angehörige der Arbeiterklasse in Asturien, in der Gegend von Bilbao, in Madrid und Valencia sowie in den städtischen Gebieten Westspaniens. Anarchistische Lehren fanden in Spanien breitere Zustimmung als irgendwo anders in Europa. Die Anarchisten strebten nach Freiheit und daher nach der Zerstörung jeglicher Autorität, die die Freiheit beschränkt, besonders der

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Autorität des Staates. Freie Menschen sollten mit anderen freien Menschen zusammen kleine Gesellschaften bilden, die freiwillige Verträge miteinander schließen würden. Die kapitalistische Organisation der Industrie sollte zerstört werden, Vereinigungen frei zusammenarbeitender Produzenten sollten sie ersetzen. In einer Gesellschaft freier Individuen würden die durch Subordination, Ausbeutung und Zerstörung der Menschenwürde erzeugten Mißstände allmählich verschwinden. Eine spontan von unten beginnende Revolution würde die bestehende Autorität vernichten und das goldene Zeitalter der Freiheit und der freiwilligen Zusammenarbeit einleiten. Im Oktober 1910 gründete eine Konferenz anarchistischer Gruppen eine Gewerkschaftsorganisation, die Confederación Nacional del Trabajo oder CNT. Diese syndikalistische Organisation sollte natürlich dezentralisiert sein und keine bezahlten Funktionäre haben. Sie erstrebte die moralische Emanzipation der Arbeiter. In Gewerkschaften, die unter marxistischem Einfluß geformt sind, ist Einigkeit für den politischen Kampf wesentlich und wird eine starke, autoritative Führung erstrebt. Das Ziel ist die Eroberung der Staatsmacht, nicht ihre Vernichtung. Die Anarcho- Syndikalisten der CNT trachteten nach Spontaneität, nicht nach Disziplin. Ihr Ziel war die Beseitigung der staatlichen Unterdrückung, die Atomisierung der Macht, nicht ihr Besitz. Der Gewalt von Seiten der Unterdrücker der Menschheit sollte mit Gewalt begegnet werden, bis der große Generalstreik die bestehende Autorität zerstören und den Einzug des Tausendjährigen Reiches ermöglichen würde. Im Jahre 1927 wurde die Federación Anarquista Iberica oder FAI gegründet. Sie umfaßte reine Anarchisten und wirkte als eine Kerntruppe, deren Ziel es war, zu verhindern, daß sich die CNT zu einer Organisation moskowitischen Typs entwickelte, die eine starke Diktatur des Proletariats erstreben würde. Sie war am meisten in Katalonien, besonders in Barcelona, verbreitet. Diese nach gesellschaftlichen Veränderungen strebenden Organisationen gewannen bei vielen Bauern und Landarbeitern Unterstützung. Deren Ausmaß war sehr unterschiedlich, und zwar wegen der geographischen und wirtschaftlichen Unterschiede in den einzelnen Gegenden Spaniens. Im Süden, besonders in Andalusien, war der Anarchismus stark. Dies war ein Gebiet mit großen Landgütern. Sie wurden von einem ländlichen Proletariat besitzloser Arbeiter bebaut. Arbeitskräfte gab es im Überfluß – die industrielle Entwicklung reichte nicht aus, um den Bevölkerungsüberschuß ländlicher Gegenden zu absorbieren – und miserable Löhne waren die Regel. Selbst diese Löhne waren nur für einen Teil des Jahres (oft weniger als die Hälfte) verfügbar. Das Land war arm und trocken und konnte nicht intensiv bebaut werden. Ausgedehnte Flächen wurden oft gar nicht kultiviert. Die Landarbeiter lebten daher in Verhältnissen am Rande des Hungers. In den ziemlich ähnlichen Gegenden von La Mancha und Estremadura faßte die UGT festeren Fuß. In Kastilien, wo auf kleinen Höfen kurzfristige Pachten von Grundherren gewährt wurden, die keinerlei wirtschaftliche Funktionen erfüllten, hatte die UGT einen gewissen

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Einfluß, aber in vielen Bezirken behielt die Kirche die Macht: In dieser Gegend leisteten katholische landwirtschaftliche Vereine den Bauern Beistand. In Galicien mit seinen bäuerlichen Kleinstbetrieben, die an auswärts lebende Grundbesitzer Pacht zahlten, war eine ähnliche Rivalität (zwischen Kirche und UGT) vorherrschend. In den ländlichen Gebieten Asturiens, den baskischen Provinzen und in Navarra gab es ein verhältnismäßig wohlhabendes, aus kleinen Grundeigentümern und Pächtern – im allgemeinen solchen, die den Pachtzins mit einem Teil der Ernte entrichteten – bestehendes Bauerntum. Hier, besonders im Baskenland und in Navarra, behielt die Kirche ihren vollen Einfluß. In Navarra bildete eine Gesellschaft wohlhabender Landbesitzer sogar die Basis der konservativsten Bewegung in Spanien, des Karlismus. In Aragon waren die Verhältnisse im Bergland ähnlich wie in Navarra, während ein Gebiet mit großen Landgütern von der CNT stark beeinflußt war. Im ländlichen Katalonien hatten die Pächter von Weinbergen darunter zu leiden, daß die Pachtzeit nicht länger währte als die kurze Lebensdauer der Reben. Hier überschnitt sich Anhänglichkeit an die CNT oder UGT mit katalanischem Separatismus.217 Die Armee war eine ungewöhnliche Institution. Gegen eine moderne Streitmacht war sie nutzlos. Sie zeigte sich unfähig, Spanisch-Marokko ohne französische Hilfe niederzuhalten. Das Offizierskorps war aufgebläht; im Jahre 1931 gab es etwa 21000 Offiziere. Sie wurden nicht gut bezahlt, aber die Söhne des Mittelstandes, die das Offizierskorps bildeten, fanden in der Armee Sicherheit, soziales Ansehen und das Gefühl, einer Elite anzugehören. Für einen Krieg mit einer fremden Macht war sie wertlos. Andererseits konnte sie in die Innenpolitik ausschlaggebend eingreifen. Die Offiziere hatten kaum etwas Ernsthaftes zu tun – außer in Marokko – und viel Zeit, über die Schlechtigkeit der zivilen Politiker zu grübeln, wobei ihre Gemüter sich manchmal an ihrer eigenen Armut erhitzten, manchmal an den Sorgen und Ängsten der Klasse, der sie entstammten. Es gab im 19. Jahrhundert eine Tradition der Einmischung der Armee in das politische Leben zur Wiederherstellung der ›Ordnung‹, zur Ausrottung von Korruption, zur Verkörperung des ›Willens der Nation‹. In der hier zu behandelnden Periode lebte diese Tradition wieder auf.218 Die obere Gruppe des spanischen Mittelstandes war sozial und wirtschaftlich eng mit dem Landadel verflochten. Die Entwicklung der Industrie in der Gegend von Bilbao, in Asturien und um Barcelona hatte eine Klasse reicher Industrieller hervorgebracht (obwohl die Nutznießer des so geschaffenen Wohlstandes zu einem sehr großen Teil auswärtige Kapitalanleger waren). Diese Männer kontrollierten zusammen mit der Oligarchie der Grundbesitzer die Geldinstitute Spaniens, wobei reiche Grundeigentümer ihr Geld in der Industrie anlegten. So waren Konflikte zwischen einer liberalen industriellen Schicht und einer ländlichen konservativen Schicht unwahrscheinlich, denn auf der höchsten Ebene bildeten Grundeigentümer und Industrielle eine geschlossene Gruppe der Besitzenden. Es gab keinen Grund, weshalb diese Gruppe zu einer leistungsfähigen und sogar demokratischen Regierung hätte in Opposition

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stehen sollen, vorausgesetzt, eine solche Regierungsform führte nicht zu Angriffen auf Eigentumsrechte. Unter Ingenieuren, Anwälten, Ärzten, Journalisten, Universitätsangehörigen und Lehrern fanden sich die stärksten Befürworter der parlamentarischen, auf der Grundlage von Diskussion und Kompromiß arbeitenden Regierungsform. Im Vertrauen auf ihre Tüchtigkeit und ihre Fähigkeiten fürchtete diese Gruppe Veränderungen weniger als die meisten anderen. Doch konnten aus diesem Personenkreis viele durch Furcht vor dem Chaos der Revolution zur Reaktion getrieben werden. Solche Befürchtungen waren bei den kleineren Leuten unter den Besitzenden viel tiefer eingewurzelt als bei den anderen Angehörigen dieser Schicht: kleine Geschäftsleute, Ladenbesitzer sowie kleine Grundherren waren durch Drohungen gegen ihr Vermögen, besonders von Seiten der Anarchisten, schnell beunruhigt und bereit, Beschützer zu suchen, mochten diese geistig auch noch so tief stehen. Die Entwicklung der spanischen Republik war weitgehend bestimmt durch das Schwanken zwischen Hoffnungen auf Reformen und Erneuerung auf der einen sowie der Furcht vor dem Umsturz, die diese Gruppe des Mittelstandes empfand, auf der anderen Seite. Die spanische Kirche war ein großes, reiches und mächtiges Gebilde. Es gab 80000 Priester, Mönche und Nonnen. Niemand weiß genau, wieviel städtisches und ländliches Grundeigentum sowie industriellen Besitz die Kirche hatte. Vom Jesuitenorden nahm man an, er besitze weit ausgedehnte Kapitalanlagen. Die Kirche beherrschte das Bildungswesen. In manchen ländlichen Gegenden wurde sie nach wie vor von allen Bevölkerungsschichten verehrt. Die Frauen des Mittelstandes und der Oberschicht waren im allgemeinen tief religiös. Unter den Männern hielt sich ein gewisses Gefühl für Religion. Zahlreicher waren jedoch diejenigen, die die Kirche als ein Bollwerk der Ordnung unterstützten, was sie ohne Zweifel vorbehaltlos war. Sei es wegen ihres Reichtums – an dem die Pfarrgeistlichkeit keinen Anteil hatte –, sei es wegen der Bedrohung durch den atheistischen Anarchismus, die kirchliche Hierarchie war von Grund auf konservativ.219 Die Zweite Republik wurde anfangs von den wichtigsten Elementen der spanischen Gesellschaft unterstützt oder doch wenigstens gebilligt. Die Geschichte der Jahre 1931 bis 1936 ist die des Zusammenbruchs dieser insoweit bestehenden Übereinstimmung. Dieser Zusammenbruch ist das entscheidende Ereignis in der jüngsten spanischen Geschichte. Mit dem Abtreten des Königs im Frühjahr 1931 fiel die Macht in die Hände einer provisorischen Regierung aus gemäßigten Republikanern und Sozialisten unter Alcalá Zamora, einem katholischen Republikaner. Azaña, ein fähiger, radikaler Intellektueller aus dem Mittelstand, wurde Kriegsminister und Largo Caballero, der Führer der sozialistischen UGT, Arbeitsminister. Sofort begann die Regierung, die großen Probleme anzupacken: Großgrundbesitz, Kirche, Armee. Largo Caballero ergriff Maßnahmen zum Schutz der Kleinbauern gegen die Verfallserklärung von Pachtrechten, ermächtigte Gemeindeverwaltungen,

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die Grundbesitzer zur Bebauung ihrer Güter zu verpflichten, und dehnte die Unfallgesetzgebung auf Landarbeiter aus. Es wurde verboten, wandernde Arbeitskräfte einzustellen, um Lohnstreiks zu brechen. Die Regierung verkündete völlige religiöse Freiheit, versprach die Einführung der Ehescheidung und legte Pläne zur Entwicklung eines staatlich geleiteten, nichtkirchlichen Schulsystems vor. Gleichzeitig gab sie die Absicht bekannt, die Zahl der religiösen Orden zu vermindern. Azaña arbeitete Pläne für eine kleinere, schlagkräftigere Armee aus. Zu diesem Zweck sollte die Zahl der Offiziere um mehr als die Hälfte herabgesetzt werden. Da er sich der Gefahren bewußt war, die entstanden, wenn er sich mit der Armee einließ, versuchte er etwaige Unzufriedenheit mit Geld abzuwenden, indem er denjenigen Offizieren, die zum Verlassen der Armee bereit waren, überraschend großzügige Bedingungen anbot: Weiterzahlung des vollen Gehalts und Gehaltserhöhung um die Beträge und zu den Zeiten, die bei normaler Beförderung für einen dienenden Offizier vorgesehen gewesen wären. Diese Bedingungen lassen das Ausmaß der voll und ganz berechtigten Furcht der Regierung vor der Feindschaft der Armee erkennen.220 Ende Juni 1931 wurden Wahlen – freie Wahlen – zu einer Nationalversammlung abgehalten, die eine Verfassung ausarbeiten sollte. Das Ergebnis war ein Sieg für die Koalition von Linksrepublikanern und Sozialisten. Es wurden ungefähr 120 Sozialisten gewählt, ferner etwa 80 Mitglieder der mittelständischen republikanischen Gruppen der gemäßigten Linken, etwa 30 katalanische und etwa 20 galicische Sozialisten. Die Mitte zählte rund 100 Radikale. Diese Gruppe wurde von Lerroux geführt, einem parteipolitischen Gegner der Sozialisten in Wirtschaftsfragen, der jedoch einen Antiklerikalismus zeigte, der mit argwöhnischer Feindschaft gegenüber den Angehörigen der reichen katholischen Oligarchie verbunden war, einer Feindschaft, wie sie Anhänger der Radikalen aus dem Mittelstand empfanden. Auf der Rechten standen etwa 80 Abgeordnete, darunter etwa 30 konservative Republikaner, 25 Agrarier, die hauptsächlich aus den kirchentreuen Gebieten Kastiliens stammten, 10 Mitglieder der konservativen katalanischen Partei und 14 – katholische – Basken. Die Linke schnitt zum Teil deshalb gut ab, weil sich bei dem angewandten Wahlsystem Koalitionen bezahlt machten. Innerhalb der Linken waren jedoch die gemäßigten Anhänger Azañas sowie Leute mit ähnlicher Tendenz, die eigentlichen Verfechter der demokratischen Republik, überstark vertreten, weil anscheinend Anhänger der CNT ihnen ihre Stimme gegeben hatten, statt sich zu enthalten oder für die konkurrierenden, der UGT angeschlossenen Sozialisten zu stimmen. Anarchistische Kandidaten gab es natürlich nicht. Die Cortes stimmten für eine moderne, fortschrittliche, demokratische Verfassung. Deren umstrittenster Teil war Artikel 26, der vorschrieb, daß der Staat aufhören sollte, Zuschüsse zu den Priestergehältern zu zahlen, daß religiöse Orden nur das zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendige Eigentum

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haben sollten, daß alle Orden, die den Staat gefährdeten, aufgelöst werden sollten – damit waren praktisch die Jesuiten gemeint – und daß die Orden nicht mehr im Unterricht tätig sein sollten. All dies zog dem neuen Regime die entschiedene Feindschaft der Kirche zu, nicht nur des Vatikans und der spanischen Hierarchie, sondern auch einfacher Pfarrgeistlicher. Der katholische Ministerpräsident Alcalá Zamora trat zurück – er wurde bald darauf zum Präsidenten der Republik gewählt – und Azaña wurde sein Nachfolger. Die Regierung machte entschiedene Anstrengungen, die Ordensschulen durch staatliche zu ersetzen und für diejenigen, die überhaupt keine Bildung erhielten, Schulen zu gründen. Bis etwa 1933 waren nahezu 10000 neue Grundschulen unter der republikanischen Regierung eingerichtet worden. Die Politik der Diktatur gegenüber den Randprovinzen wurde radikal geändert: Katalonien erhielt eine autonome Regierung, und den Basken wurde eine ähnliche Behandlung versprochen. Gesetze zur Agrarreform wurden im September 1932 erlassen. Dadurch wurde die Enteignung von Millionen von Morgen Land, das zu großen Gütern gehörte, und seine Neuverteilung, entweder über Genossenschaften oder in Form von Einzelpacht, grundsätzlich zulässig. In der Praxis beschränkten Knappheit an Geld zur Zahlung von Entschädigungen sowie Schwierigkeiten bei der gesetzlichen Prozedur das Ausmaß der Reform: Ungefähr 10000 arme Familien erhielten Parzellen. Largo Caballero erließ als Arbeitsminister Verordnungen über Krankengeld, bezahlten Urlaub, über den Achtstundentag und Mindestlöhne. Die Gesetze aus der Zeit der Diktatur Primo de Riveras (Ministerpräsident 1923–1930) zur Regelung von Streitigkeiten über Arbeitsfragen wurden erweitert. Die Vertretung der Arbeiter in den gemischten Ausschüssen wurde verstärkt, und diese arbeiteten unter der Aufsicht von Delegierten, die das Ministerium ernannte (gewöhnlich waren es Sozialisten). Azaña versuchte, eine Armee, auf die sich das Volk verlassen konnte, zu schaffen, ohne sich die Feindschaft der vorhandenen Offiziere zuzuziehen. Dies war eine fast unlösbare Aufgabe, und Azañas Bemühungen um republikanische Offiziere und seine angebliche Manipulation von Beförderungen erregten Mißtrauen. Azaña leitete das beste Kabinett, das Spanien in neuerer Zeit gehabt hat. Es litt unter einer gravierenden Schwäche, die sich als Untergang der Republik erweisen sollte: seiner Unfähigkeit, Unruhen zu verhindern. Schon im Mai 1931 gaben die Anarchisten ihren Gefühlen mit dem Anzünden von Kirchen und Klöstern Ausdruck, besonders in Madrid und Andalusien. Im Juli und August 1931 entfesselte die CNT eine Reihe gewalttätiger Streiks. Die schwerwiegendsten fanden in Barcelona und Sevilla statt, wo die Regierung gegen einen Generalstreik Artillerie einsetzte. 30 Menschen wurden getötet. Diese Streiks waren ebensosehr politisch wie wirtschaftlich motiviert und bezweckten die Bewahrung des revolutionären Bewußtseins anarchistisch beeinflußter Arbeiter und Bauern. Ende 1931 wurden die Zivilgardisten in dem Landstädtchen Castilblanco verstümmelt und getötet. Im Januar 1932

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bemächtigten sich die Anarchisten des Llobregat-Tales in der Nähe von Barcelona. Im August machte eine Abteilung der Armee den ersten Versuch zu intervenieren, nicht um die Monarchie wiederherzustellen, sondern um »die antiklerikale Diktatur Azañas« zu stürzen. General Sanjurjo, der des Kommandos über die Zivilgarde enthoben worden war, verlieh einer Militärrevolte in Sevilla größere Bedeutung. Das Komplott war kümmerlich organisiert, die Regierung wurde vorher gewarnt, und die meisten Offiziere glaubten, ihre Zeit sei noch nicht gekommen. Der Aufstand wurde ohne Schwierigkeiten niedergeschlagen, Sanjurjo zum Tode und dann zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Trotz dieser Warnung, daß die bewaffnete Reaktion lebendig sei, ließen die Anarchisten in ihrer Feindseligkeit gegen die Regierung nicht nach. Im Januar 1933 versuchten einige streitsüchtige Anarchisten einen Aufstand in Barcelona. Die dortige Zivilgarde wurde belagert, bevor sie von einer Abteilung von Asaltos – die Guardia del Asalto war eine republikanische Gendarmerietruppe – befreit wurde. Die Anarchisten wurden ihrerseits belagert, Truppen rückten vor, während Flugzeuge den Schauplatz überflogen. Die Anarchisten wurden überwältigt und ungefähr 25 von ihnen getötet, darunter 14, die von den Asaltos kaltblütig niedergeschossen wurden. Diese Ereignisse diskreditierten die Republik bei Konservativen und Katholiken, während sie bei Arbeitern und Bauern Groll erregten. Die Republikaner befanden sich auf einer Gratwanderung zwischen Gewalt von rechts und von links.221 Im Sommer 1933 trat Azaña angesichts wachsender Obstruktion von Seiten der Radikalen Lerroux’ zurück. Im November wurden Wahlen abgehalten. Sie ergaben einen klaren Ruck nach rechts. Eine neue Gruppierung der Rechten unter Führung von Gil Robles, die CEDA (Confederación Española de Derechas Autónomas), erhielt 110 Sitze, die karlistischen Traditionalisten und die Monarchisten erhielten 40 Sitze, während in der Mitte die Lerrouxschen Radikalen 100 Sitze errangen. Die linken Republikaner erlitten mit etwa 37 gegenüber vorher mehr als 130 Sitzen einen schweren Rückschlag, während die Sozialisten fast die Hälfte ihrer Sitze verloren und auf 59 Sitze fielen. Die CEDA war eine Partei, die sich weitgehend auf gläubige Katholiken stützte, die, von einem aufwendigen Wahlfeldzug angespornt, in großer Zahl zur Wahlurne gegangen waren. Der Erfolg dieser Partei wurde durch ihr Wahlbündnis mit den Monarchisten und den Karlisten gefördert. Die Radikalen machten Gewinne infolge der Befürchtungen des nichtkatholischen Mittelstandes, Befürchtungen, die durch die Entwicklung der Regierung Azaña inspiriert waren. Auf der Linken erlitten die hinter Azaña stehenden Parteien Verluste infolge der Weigerung der Sozialisten, ein Wahlabkommen abzuschließen – die Sozialisten waren darauf bedacht, die Unbeliebtheit loszuwerden, die die Zusammenarbeit mit den mittelständischen Republikanern bei Arbeitern und Bauern mit sich brachte. Die Folge war, daß auch sie Sitze verloren. Die Anarchisten gaben

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Anweisung, Wahlenthaltung zu üben, ein Schritt, der die Parteien im Umkreis Azañas gegenüber 1931 schwächte. Die CEDA bot ein unklares Bild. Viele ihrer Anhänger und die meisten der reichen Leute, von denen ihre Geldmittel stammten, mißtrauten der republikanischen Demokratie, und alle standen sie dem Antiklerikalismus und den Unruhen in den ersten Jahren der Republik feindselig gegenüber. Es ist jedoch möglich, zu behaupten, Gil Robles habe die Rechte für die Unterstützung der Republik gewinnen wollen und die CEDA sei dementsprechend eine stabilisierende Kraft gewesen, die nach guter liberaler Art die Republik durch das Streben nach parlamentarischen Siegen habe stärken wollen, während sie Wahlniederlagen friedlich hingenommen hätte, ohne zu den Waffen zu eilen. Sicherlich akzeptierte Gil Robles den Parlamentarismus wenigstens insoweit, als er versuchte, innerhalb des Systems die Macht zu erlangen. Es ist behauptet worden, weiter sei sein Einverständnis mit dem Parlamentarismus nicht gegangen, Gil Robles und die CEDA hätten Spanien auf dem Weg über den Wahlerfolg für den Konservatismus gewinnen wollen; wenn das jedoch nicht gelungen wäre, hätten sie die Rechte zur Revolte ermuntert. Die Erörterung darüber ist auf jeden Fall akademisch, denn als die Zeit kam, waren es nicht Gil Robles oder die Anhänger der CEDA, die für oder gegen die Revolte entschieden. Alles in allem ist es wohl wahrscheinlich, daß Gil Robles, dessen Erfolg von einer friedlichen Politik herrührte, es vorgezogen hätte, die Rolle weiterzuspielen, deren er Meister war, und nicht den Versuch gemacht hätte, sich an dem rauheren Spiel eines bewaffneten Aufstandes zu beteiligen, bei welchem seine besonderen Fähigkeiten nicht länger erforderlich waren.222 Mit den Wahlen von 1933 fand die fortschrittliche Regierungsform ein Ende. Die spanischen Radikalen waren noch weniger radikal als ihre französischen Kollegen und wollten nicht mit den Sozialisten zusammengehen. Die Regierung konnte sich nur auf die Stimmen der CEDA und der Radikalen stützen. Unter der Regierung dieser Koalition wurden die in den Jahren 1931 bis 1933 eingeführten Neuerungen rasch beseitigt. Die Gesetze und Verordnungen dieser Jahre wurden aufgehoben, außer Kraft gesetzt oder ignoriert. Die religiösen Orden konnten mit ihrer Arbeit wie vor 1931 fortfahren und erhielten das Eigentum zurück, das ihnen genommen worden war. Der Neubau von Schulen hörte auf, und die kirchlichen Schulen arbeiteten ungestört. Zwei Drittel der Gehälter der Weltpriester wurden wieder vom Staate übernommen. Die gemischten Schiedsgerichte zur Festsetzung der Löhne wurden in Werkzeuge zur Lohnkürzung umgewandelt. Die Löhne der Landarbeiter sanken um etwa die Hälfte. Der neue Kurs kam Grundherren und Arbeitgebern voll zugute. Gil Robles meinte später, die Entwicklung sei zu weit gegangen. Im Jahre 1936 sagte er: »Als die Rechte an die Macht kam, gab es viele, die einen selbstmörderischen Egoismus an den Tag legten, indem sie die Löhne kürzten, den Pachtzins erhöhten, sich ungerechterweise wieder in den Besitz verpachteten Landes zu

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bringen suchten und die unglücklichen Erfahrungen der Jahre 1931 bis 1933 vergaßen.«223 Die Anarchisten fuhren fort zu handeln wie vorher; die Regierung Lerroux – Gil Robles verdiente nicht weniger, gestürzt zu werden, als das Kabinett Azaña. Im Dezember 1933 brach in Aragon ein Aufstand aus, der schnell von Truppen unterdrückt wurde. Dabei wurden 67 Mitglieder der CNT getötet. Im März 1934 gab es in Saragossa einen vier Wochen dauernden Generalstreik. Inzwischen vollzog sich in der UGT und unter den Sozialisten eine bemerkenswerte Entwicklung. Unter Führung Largo Caballeros wurden sie revolutionär. Die UGT versuchte, ein Bündnis der Arbeiter zu organisieren, doch die CNT weigerte sich mitzumachen. Gleichwohl nahmen an den Landarbeiterstreiks in Südspanien im Juni 1934 sowohl die UGT als auch die CNT teil. Die Sozialisten beschlossen, der tatsächliche Eintritt der CEDA – die, so nahmen sie an, die endgültige Beseitigung der 1931 bis 1933 erzielten Fortschritte beabsichtige – in die Regierung solle das Signal zum Aufstand sein. Die Regierung von Katalonien hatte ihre eigenen Streitigkeiten mit der Regierung in Madrid, weil diese den Versuch einer Agrarreform in Katalonien zunichte machte. Am 4. Oktober bildete Lerroux eine neue Regierung, der drei Mitglieder der CEDA angehörten. In Barcelona, Madrid und in Asturien brach der Aufstand aus. Companys, der Führer der linksrepublikanischen Esquerra, erklärte die Unabhängigkeit Kataloniens innerhalb einer spanischen Föderation. Er handelte ohne Unterstützung von Seiten der CNT und hatte infolgedessen keinen Rückhalt bei der Masse der Bevölkerung. Die Revolte wurde von der örtlichen Armeegarnison niedergeschlagen, und die Anführer wurden eingesperrt –, mit ihnen Azaña, der versucht hatte, den Ausbruch der Revolte zu verhindern. In Madrid war der Aufstand ein völliges Fiasko. In Asturien dagegen brach ein regelrechter Klassenkrieg aus. Asturien war ein Gebiet von Bergleuten und Eisenhüttenarbeitern. Deren Gewerkschaften waren seit langem hoch organisiert, und es bestanden Verbindungen sowohl zur UGT als auch zur CNT. Auch gab es einige 1931 gegründete kommunistische Syndikate. Die Mitglieder der CNT waren hier von dem starren Purismus der FAI (s.o.S. 195) weniger beeinflußt als die in Barcelona, während die Kommunisten jetzt von Moskau die neue Anweisung erhalten hatten, eine Einheitsfront zu erstreben. So wurde in Asturien eine gemeinsame Aktion der Linksgruppen möglich. Zwei Wochen lang wurde das Bergbaurevier von Asturien von einem Arbeiterkomitee regiert, und eine ›Rote Armee‹ wurde aufgestellt. Um den Aufstand zu bewältigen, rückten die Generale Franco und Goded, die mit der Niederwerfung der Rebellion beauftragt waren, mit Truppen aus Marokko heran – der Fremdenlegion (Tercio) und einigen regulären maurischen Truppen (Regulares). Ein regelrechter Feldzug wurde geführt. Bei den Kämpfen wurden nur wenige Gefangene gemacht. Nach dem Feldzug erschossen die Zivilgarden und die Legionäre diejenigen, die der Teilnahme an der Revolte verdächtigt wurden. Ein Trupp, der sich der Folterung bediente, suchte nach

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verborgenen Waffen. Die Zahl derjenigen, die in Asturien ihr Leben verloren, wird nie bekannt werden; es waren etwa ein- bis fünftausend. Ungefähr 40000 Menschen wurden eingesperrt. Unter den reichen Leuten erfuhr das Prestige der Generäle und der Armee eine hohe Steigerung: Sie hatten die Gesellschaft vor einem schrecklichen Los bewahrt, ihr Bild wurde mit Wohlgefallen in den düsteren – und fast immer erfundenen – Geschichten über die Grausamkeiten der Roten gezeichnet. Als die Wahrheit über die Methoden der ›Streitkräfte der Ordnung‹ langsam durchsickerte, gewann die Einigungsbewegung unter den Gegnern brutaler und wahlloser Unterdrückung an Stärke. Der Aufstand in Asturien bildete eine Vorübung für den Bürgerkrieg.224 Im Jahre 1935 erregte plötzlich ein Vorfall im Stil französischer Politik in dem von Gewalttätigkeit geprägten Leben in Spanien Aufsehen – bezeichnenderweise durch die sogenannten Radikalen verursacht. Es stellte sich heraus, daß ein Mann, der Spielbanken betrieb, mehrere Freunde des radikalen Ministerpräsidenten Lerroux bestochen hatte. Dadurch wurde die weitere Führung der Regierung durch die Radikalen unmöglich. Nun mußte, so schien es, Gil Robles in den vollen Besitz der Macht kommen – er hatte sich den Weg in das Kriegsministerium erzwungen, wo er sich der Aufgabe widmete, Azañas Versuche, die Armee republikanisch umzugestalten, rückgängig zu machen. Ein Hindernis bildete die hartnäckige Überzeugung des Präsidenten Alcalá Zamora, die Übernahme der Regierung durch Gil Robles sei mit der Erhaltung der Republik unvereinbar. Statt Gil Robles zu akzeptieren, zog der Präsident es vor, die Cortes aufzulösen und für Februar 1936 Neuwahlen auszuschreiben, offensichtlich in der Hoffnung, eine neue Mittelpartei werde aufsteigen, um die diskreditierten Radikalen zu ersetzen. Der Wahlkampf wurde hauptsächlich zwischen zwei großen Koalitionen ausgetragen. Auf der Rechten erzielten Gil Robles und die CEDA Wahlabsprachen mit den Monarchisten, Karlisten und Agrariern (der Grundbesitzer-Partei); die Linke war zur Wahl in der Volksfront zusammengeschlossen. Dieser gehörten die Sozialisten an, die bürgerlichen Demokraten von der republikanischen Linken Azañas, eine Gruppe unter Martinez Barrio, die sich von Lerroux’ Radikalen getrennt hatte, als Lerroux jeden Anspruch auf echten Radikalismus preisgab, ferner die linken katalanischen Separatisten und die Kommunisten – die letzteren waren nunmehr eifrige Befürworter der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie. So konnte die Linke infolge des Wahlsystems gegenüber 1933 nur Sitze gewinnen. Obwohl die FAI und die CNT, die Anarchisten und die Anarcho-Syndikalisten nicht in der Volksfront waren, stimmten anscheinend die meisten Mitglieder der CNT für die Volksfront, weil sie aus dem Aufstand in Asturien gelernt hatten und weil die Volksfront eine Amnestie für die zahlreichen noch inhaftierten Kämpfer der CNT versprach. Die Volksfront erzielte mit 278 Abgeordneten gegenüber 134 der Rechten einen klaren Sieg hinsichtlich der Wählerstimmen und eine entscheidende Mehrheit von Sitzen. Die Mitte ging auf 55 Sitze zurück, wobei die Radikalen Lerroux’ von der Bildfläche getilgt wurden. Azañas Gruppe erhielt 87

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Sitze, seine Verbündeten von der gemäßigten Linken 75, die Sozialisten 99 und die Kommunisten 17 Sitze.225 Azaña wurde Ministerpräsident, und als er im Mai Präsident der Republik wurde, trat sein Freund Casares Quiroga an seine Stelle. Die Regierungen Azañas und Quirogas waren in ihrer Zusammensetzung rein mittelständisch, liberal und demokratisch. Die Sozialisten lehnten die Teilnahme ab, doch konnte sich die Regierung in den Cortes auf sie stützen. Diese Situation war ein Symptom der Spaltung unter den Sozialisten. Nach dem Aufstand in Asturien war Indalecio Prieto zu einer gemäßigten Reformpolitik zurückgekehrt, während Largo Caballero, der Führer der UGT, offen eine Revolution der geeinten Arbeiterklasse forderte. Largo Caballero erklärte, das Regime Azañas sei nur ein einstweiliger Vorläufer einer Diktatur des Proletariats, die durch Revolution zu schaffen sei. Es gibt keinen Beleg dafür, daß er eine klare Vorstellung gehabt hätte, wie diese Revolution kommen sollte, und hoch weniger, wie sie durchgeführt werden sollte. Tatsächlich war, wie das Jahr 1934 gezeigt hatte, eine Revolution kaum möglich, solange die Regierung die Armee und die Zivilgarde einsetzen konnte. Doch trugen Caballeros Äußerungen und Drohungen zur Beunruhigung der konservativen Schichten bei, einer Beunruhigung, die diese schon nach den Wahlen empfunden hatten, und ließen es glaubhaft erscheinen, daß Azañas Regime, das für die Besitzenden an sich erschreckend genug war, für den Vorläufer von etwas Schlimmeren zu halten sei. Es gab noch andere Gründe zu Befürchtungen. In Südwestspanien nahmen Bauern unbebaute Flächen von Land in Besitz, das zu größeren Gütern gehörte, während die Regierung den der Ordnung mehr entsprechenden Prozeß der Ansiedlung von Bauernfamilien auf enteignetem Land wieder in Gang setzte. Bei den oberen Schichten verbreitete sich die Überzeugung, die Regierung sei nicht imstande, Ordnung und Eigentum zu verteidigen.226 Im Juni 1936 verurteilte Gil Robles die Unruhen, die seit den Wahlen im Februar ausgebrochen waren, und behauptete, in vier Monaten seien 160 Kirchen verbrannt worden, 269 politische Morde geschehen und 1287 Menschen bei politischen Auseinandersetzungen verletzt worden. 69 politische Zentren seien demoliert worden, es habe 113 Generalstreiks sowie 228 Teilstreiks gegeben, und auf 10 Zeitungsredaktionen seien Überfälle verübt worden. Gegen diese Erklärung sind einige Vorbehalte geltend zu machen. Eine derartige statistische Genauigkeit war nicht möglich, obwohl die Zahlen vielleicht korrekt waren. ›Generalstreiks‹ waren in der Regel kurz und immer geographisch begrenzt. Gewalttätigkeiten wurden ebenso von der Rechten wie von der Linken verübt. ›Kirchenverbrennungen‹ bedeuteten oft nicht mehr als kleine brandstifterische Handlungen, die keinen Schaden anrichteten. Tatsächlich war es möglich, durch weite Gebiete Spaniens zu reisen, ohne das Vorhandensein der von der Rechten verurteilten Anarchie zu bemerken.227 Was zählte, war das durchaus echte Entsetzen, das vermögende Leute empfanden. Die Angst, Spanien versinke in ein unkontrolliertes sozialistisches Chaos, war sehr wohl real.

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Die Befürchtungen der Rechten bewirkten eine Hinwendung zur Gewalttätigkeit. Die unklare, abwartende Politik Gil Robles’ war nicht länger attraktiv, und die eindeutig antirepublikanische Richtung, die Calvo Sotelo, ein fähiger Monarchist, verkörperte, gewann Anhänger. Ebenso die Falange, die faschistische Organisation, die von José Antonio Primo de Rivera, dem Sohn des Diktators, geführt wurde. Ihre Ideen waren verschwommen, wie es bei solchen Bewegungen gewöhnlich der Fall ist. Ständestaatliche Vorstellungen gehörten dazu, ferner der Gedanke der Zusammenarbeit der Klassen an Stelle des Klassenkampfes und die Betonung der Einheit Spaniens. Die Falange war natürlich stark antiliberal, antiparlamentarisch und autoritär. Die Sozialpolitik à la Mussolini wurde von José Antonio selbst durchaus ernst genommen. Er war ein Mann von großem Charme und besaß viele gute Eigenschaften, darunter die der Redlichkeit. Von Zeit zu Zeit legte er auf eine für viele seiner Helfer beunruhigende Art und Weise eine gewisse Sympathie für den gemäßigten Sozialismus, wie ihn Prieto exemplifizierte, an den Tag. Seine Abneigung gegen die konservative Rechte zeigte sich sogar nach den Wahlen: Unmittelbar danach gab er den örtlichen Falange-Führern die Anweisung, dafür zu »sorgen, daß niemand eine Haltung der Feindschaft gegenüber der neuen Regierung oder der Solidarität mit den besiegten Kräften der Rechten annimmt. [...] Unsere Milizsoldaten werden alle schmeichlerischen Verlockungen zur Teilnahme an Verschwörungen, Staatsstreichplänen, Bündnissen mit Streitkräften der ›Ordnung‹ und anderen ähnlich gearteten Dingen entschieden ablehnen.« Dieser Standpunkt wurde weder von denen geteilt, die die Falange finanziell unterstützten – die Unterstützung nahm nach den Wahlen zu – noch von den enttäuschten Mitgliedern der CEDA-Jugendbewegung, die unter ihrem Führer Ramón Serrano Suñer massenhaft zu den Falangisten übergingen. Diese glaubten an Gewalt und Gegenterror, und José Antonio konnte nicht verhindern, daß sich die Miliz der Falange zum Stoßtrupp des reaktionären Mittelstandes entwickelte. Im März wurde die Falange für illegal erklärt, und ihre Führer wurden verhaftet. Nunmehr stimmte José Antonio dem Gedanken zu, daß ein Aufstand notwendig sei, und hoffte, von militärischer Engstirnigkeit oder blinder Reaktion abzulenken. Aber nach seiner Verhaftung im März verließ er das Gefängnis nicht mehr, und die Loyalisten richteten ihn im November 1936 hin. Die Karlisten und die Monarchisten waren weitere zivile Gruppen, die wahrscheinlich irgendwann einen Aufstand gegen die Republik unternehmen würden. Entscheidend war jedoch die Armee.228 Azaña hatte bei seiner erneuten Regierungsübernahme die von der Armee drohende Gefahr erkannt und diejenigen zerstreut, die der Bereitschaft, eine Rebellion anzuführen, verdächtigt wurden: Franco und Goded, die Sieger von Asturien, wurden nach den Kanarischen Inseln und den Balearen versetzt; General Mola, den man für loyal hielt, wurde von Marokko nach Pamplona, einer Garnison in Navarra, zurückgeholt. Sanjurjo, der auf Grund der Amnestie der Regierung Lerroux für die an der Revolte von 1932 Beteiligten aus dem

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Gefängnis entlassen worden war, hielt sich in Portugal auf. Obwohl er unbestreitbar der Hauptverschwörer war, überließ Sanjurjo die Planung von Einzelheiten anderen, besonders Mola. Die Verschwörer stießen auf Schwierigkeiten, da die Regierung häufig Offiziere versetzte, denen vorher bei der Revolte Aufgaben zugewiesen worden waren, die dann geändert werden mußten, und die neuen Männer vielleicht erst für die Verschwörung gewonnen werden mußten. Verzögerungen entstanden aus der Notwendigkeit, die Karlisten zu überreden, nicht auf einer Festlegung der Revolte auf die Monarchie zu bestehen. Mehrere Male mußte der Aufstand aufgeschoben werden, doch gegen Ende Juni 1936 waren die definitiven Vorbereitungen getroffen und die Kommandeure der Revolte für alle Militärbezirke und Garnisonstädte bestimmt. Am 11. Juli verließ ein Privatflugzeug, das für einen unbekannten Zweck gechartert war, England – es sollte Franco nach Marokko fliegen. Die Monarchisten und die Falangisten wurden in großen Zügen informiert, und ihre Mitwirkung wurde sichergestellt. Am 13. Juli erreichten die Unruhen, die nunmehr die Hauptrechtfertigung für die militärischen Rebellen waren, einen Höhepunkt: Calvo Sotelo, jetzt faktisch der Oppositionsführer in den Cortes, wurde von Offizieren der Asaltos (s.o.S. 200) erschossen, die offensichtlich aus Empörung über die Ermordung eines Asalto-Offiziers durch Falangisten dazu angestiftet waren, einen Prominenten der Rechten zu ermorden. Ungefähr um diese Zeit gab Mola die endgültigen Anweisungen für die Revolte aus: diese sollte am Freitag, dem 17. Juli, um 5 Uhr nachmittags in Marokko beginnen. Die Revolte in Spanien selbst sollte binnen 24 Stunden folgen.229 Der Aufstand begann am Nachmittag des 17. Juli in Marokko. Innerhalb von 12 Stunden waren Schlüsselpunkte in der Hand der Rebellen. Am 18. und 19. Juli teilte sich Spanien in zwei Lager, als der militärische Aufruhr in zahlreichen Städten ausbrach. Im allgemeinen erhielten die militärischen Verschwörer die Hilfe der Armeeoffiziere. In einigen Gebieten führte deren Zögern zum Scheitern des Aufstandes. In Madrid blieben viele Offiziere gegenüber der Regierung loyal, entweder aus Überzeugung oder aus Furcht vor dem Fehlschlagen des Aufstandes – die Bemühungen der republikanischen Regierung, republikanische Offiziere für höhere Posten zu finden, hatten hier einigen Erfolg gehabt. Der Aufstand wurde von der Zivilgarde allgemein unterstützt, während die Asaltos sich ihm widersetzten. Überall leisteten die organisierten Arbeiter Widerstand. Vor allem in Madrid und Barcelona scheiterte die Revolte. Die Regierung unternahm verzweifelte Versuche, den Bürgerkrieg zu vermeiden. Am Abend des 17. Juli weigerte sich der Ministerpräsident Casares Quiroga, Waffen an die Arbeiter verteilen zu lassen, und am 18. Juli verhielten die meisten Zivilgouverneure sich ähnlich – eine Tatsache, die an vielen Orten den Erfolg der Revolte sicherstellte. Nach den Ereignissen des 18. Juli trat Casares Quiroga zurück, und Martinez Barrio wurde zu seinem Nachfolger ernannt, um einen letzten Versuch zu machen, den Ausbruch des Krieges zu verhindern. Seine Telefongespräche mit den Rebellen – das wichtigste davon war

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eine Verbindung mit General Mola – konnten den Kampf nicht aufhalten. Am 19. Juli trat auch Martinez Barrio zurück und wurde durch eine Regierung des Widerstandes unter José Giral ersetzt. An demselben Tag wurden Waffen an die Bevölkerung verteilt und der Bürgerkrieg begann. Bis zum 21. Juli waren die unmittelbaren Ergebnisse der Revolte klar. Die Rebellen hatten ungefähr ein Drittel Spaniens in der Hand. Grob gesprochen das Gebiet nördlich einer Linie, die sich von der portugiesischen Grenze südlich des Tajo zu den Bergen nördlich von Madrid, von da nach Südosten bis Teruel und dann nach Nordosten bis zu einem Punkt etwa auf der Mitte der französischen Grenze hinzog. Südlich von diesem Gebiet besaßen die Rebellen Sevilla und Cordoba und die Gegend um Cadiz. Im Norden hielten die Loyalisten die baskischen Provinzen, Santander und Asturien. Doch waren diese Gebiete vom übrigen in der Hand der Regierung befindlichen Spanien abgeschnitten. Die Eroberung Spaniens durch die Rebellen nahm fast drei Jahre in Anspruch. Der Krieg ging in den letzten Märztagen des Jahres 1939 zu Ende. Dieser Sieg vollzog sich in vier Hauptphasen. Phase 1: Bis Oktober 1936, als die Rebellenheere aus Marokko (die Fremdenlegion und die Mauren) Südwestspanien, nämlich das an die südliche Hälfte der portugiesischen Grenze stoßende Gebiet, eroberten und über Toledo gegen Madrid vorrückten und die Stadt in den folgenden Monaten nicht erobern konnten. Phase 2: Von April bis Oktober 1937, als die nördlichen republikanischen Gebiete, die baskischen Provinzen, Santander und Asturien genommen wurden. Phase 3: Von März bis April 1938, als die Rebellen zur Mittelmeerküste südlich des Ebro vordrangen, wobei sie Katalonien von den von der Regierung behaupteten zentralen und nördlichen Provinzen abschnitten. Phase 4: Dezember 1938 bis März 1939 mit der Eroberung Kataloniens und dem Zusammenbruch des Widerstandes in Mittelspanien. – Der Krieg verlief nicht als ein ununterbrochener Siegeszug der Rebellen. Die erfolgreiche Verteidigung Madrids durch die Republikaner von November 1936 bis März 1937 gipfelte in der Vertreibung der Italiener bei Guadalajara im März. Im Juli und Dezember 1937 gewannen die Loyalisten Schlachten bei Brunete und Teruel sowie im Juli 1938 am Ebro. Doch waren ihre Siege entweder in Defensivschlachten errungen oder taktische Offensiverfolge, die wegen der Unfähigkeit ihrer Truppen, einen Durchbruch auszunutzen, keine strategische Bedeutung hatten. Die Armeen der Rebellen waren zahlenmäßig kleiner als die auf der Regierungsseite aufgestellten. Aber sie waren besser ausgerüstet und hatten weit mehr Berufsoffiziere zu ihrer Organisation und Führung. Ausländische Hilfe war für Francos Erfolg entscheidend. Auf dem Höhepunkt des Einsatzes waren 60000 bis 70000 italienische Soldaten in Spanien, während die deutsche ›Legion Condor‹ Spezialeinheiten mit modernen Flugzeugen, Panzern und Panzerabwehrwaffen zur Verfügung stellte. Die Regierungstruppen erhielten Unterstützung durch Freiwillige aus dem Ausland, mit denen Einheiten von einer maximalen Stärke von 15000 Mann gebildet wurden, dazu Material und

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Militärberater aus Rußland. Es ist nicht schwer, die Ziele der Rebellen zu erklären. Sie sollten die Privilegien der Armee, der Grundherren und der Kirche verteidigen. Dieser einfache Zweck wurde nicht durch ideologische Aushängeschilder kompliziert. Der Grund dafür war der Aufstieg General Francos zum unbestrittenen Herrn Nationalspaniens. Das war Zufall – General Sanjurjo wurde getötet, als er unterwegs war, um Staatschef der Rebellen zu werden, Mola war unbeliebt, die fähigsten zivilen Politiker der Rechten, Calvo Sotelo und José Antonio Primo de Rivera, waren nicht mehr am Leben. Am 29. September 1936 wählte die Militärjunta Franco zum ›Regierungschef‹, und seit dem 1. Oktober bezeichnete er sich selbst als ›Staatsoberhaupt‹. Franco war ein äußerst schlauer und vorsichtiger Politiker mit einem von Idealen oder Leidenschaften nicht beeinträchtigten Ehrgeiz. Er erkannte die Notwendigkeit an, eine Partei mit bunten Hemden und Paraden sowie verworrenen sozialpolitischen Lehren zu haben – wenn auch nur, um zu zeigen, daß Spanien ein Teil des modernen Europa Hitlers oder Mussolinis sei. (Viel von diesen Dingen verschwand, als es notwendig wurde, zu zeigen, daß Franco dem Europa der NATO und der EWG angehören könne.) Er brachte es fertig, die Falangisten lärmen zu lassen, ohne sie allzu ernst zu nehmen. José Antonio Primo de Rivera hatte der Falange eine gewisse Beachtung verschafft. Franco drängte die Falange beiläufig zur Vereinigung mit den theoretisch ganz andersartigen Karlisten, unterstellte dieses Mischprodukt sich selbst und warf die damaligen Führer der Falange ins Gefängnis.230 So wurde die siegreiche Rebellion noch deutlicher als zu Anfang von einem engstirnigen Konservatismus ohne ideologische Verbrämung inspiriert, nachdem Franco die Macht über sie gewonnen hatte. Zur Verteidigung der privilegierten Schichten sollte ein Regime der ›Ordnung‹, das heißt, der Unterdrückung der Freiheiten all derer, die nicht zu jenen Schichten gehörten, eingesetzt werden. Es wurde kaum der Versuch gemacht, den Rebellen die Unterstützung durch das Volk zu gewinnen. Statt dessen wurde der Terror benutzt, um das Volk fügsam zu machen. Die ›Arbeitscharta‹ vom März 1938 war die einzige Ausnahme. Sie versprach eine Einrichtung zur Festsetzung der Löhne in der Industrie und schützte den Pachtbesitz von Pächtern.

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� Abb. 9: Spanischer Bürgerkrieg. Soldaten der nationalistischen Rebellenarmee führen republikanische Gefangene ab Sie erstreckte sich nicht auf Arbeiter auf großen Gütern. Die im April 1938 erlassenen Bestimmungen für eine Bodenreform gaben in erster Linie den ursprünglichen Eigentümern Land zurück, auf dem sich in oder vor dem Krieg Bauern angesiedelt hatten.231 Bei der republikanischen Regierung war die Situation komplexer. Die Anhänger Francos sprachen von ihrem Unternehmen als einem ›Kreuzzug gegen die Roten‹. Es ist natürlich unmöglich, die Regierungen Azaña und Casares Quiroga, gegen die die Revolte unternommen wurde, als ›rot‹ zu bezeichnen. Sie waren ein gemäßigt fortschrittliches, liberales Regime. Sicherlich drohte diesem die soziale Revolution von Seiten der Anarchisten und der linken Sozialisten, die der Führung Largo Caballeros folgten. Die Revolte der Armee entfesselte diese drohende soziale Revolution. Als die Regierung der Armee und eines großen Teils der Polizei beraubt wurde, konnte die Revolution nicht länger gebändigt werden. Es wäre infolgedessen richtiger, zu sagen, die Revolte habe eine soziale Revolution verursacht, als sie eine Revolte gegen soziale Revolution zu nennen. In den ersten Monaten des Krieges verschwand die Autorität der Zentralregierung praktisch im loyalistischen Spanien. Mit Ausnahme der baskischen Provinzen wurden die Funktionen der Regierung von Ausschüssen übernommen, in denen die Syndikalisten die beherrschende Kraft waren. Die ordentlichen Gerichte stellten ihre Tätigkeit ein und wurden durch alle möglichen improvisierten Gerichte ersetzt. Gerichtsakten wurden manchmal vernichtet, Gefangene oft befreit. Einige Justizbeamte wurden eingesperrt, andere hingerichtet. Hunderte von Kirchen und Klöstern wurden verbrannt oder zu weltlichen Zwecken benutzt. Mehrere tausend Geistliche, Mönche und Nonnen sowie Angehörige der reicheren Schichten wurden getötet. Die

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Revolutionskomitees kontrollierten die öffentlichen Versorgungs- und Dienstleistungsbetriebe und schufen Milizeinheiten zum Kampf gegen den Feind. In den Städten, besonders in Barcelona, wurden Industriebetriebe und Kaufhäuser, auch kleine, in Besitz genommen. Auf dem Lande wurden Gutshöfe beschlagnahmt und entweder kollektiv bewirtschaftet oder unter den Bauern aufgeteilt. In den drei auf die Rebellion folgenden Monaten fand in Spanien die umfangreichste und erfolgreichste spontane Revolution ›von unten‹ statt, die es je gegeben hat. Sie trug viele bewundernswerte Züge: Mancherorts gab es die seltene Verbindung von Sorge um Menschenwürde und Freiheit mit Bemühungen um materielle Gleichheit. Sie brachte auch Unheil mit sich, vor allem Blutvergießen und Gewalttätigkeit – denn es gab natürlich in dem Teil Spaniens, der zur Regierung hielt, viele Anhänger der Revolte. In diesen Gewaltakten drückte sich manchmal das Anliegen der Anarchisten aus, die Gesellschaft von unreinen Elementen zu säubern, manchmal waren sie auch nur das Werk von Rowdies und Kriminellen. Hierin lag sicherlich ein Triumph der ›Roten‹.232 Die Revolution in dem zur Regierung haltenden Teil Spaniens wurde allmählich in die Schranken gewiesen, nachdem Largo Caballero im September 1936 Ministerpräsident geworden war. Er verdankte diese Position dem Vertrauen, das er sich bei der Arbeiterklasse – teilweise durch seine Befürwortung der Revolution – erworben hatte, und er benutzte seine Popularität, um die Revolution unter Kontrolle zu bringen. Er stellte bald fest, daß man ohne Disziplin in der republikanischen Armee und hinter den Linien unmöglich Krieg gegen eine immer besser ausgerüstete und ausgebildete Streitmacht führen konnte. Das bedeutete, die Regierung mußte tatsächlich regieren können. Zu dieser Schlußfolgerung kamen auch andere: Im November 1936 traten vier CNT-Anarchisten in die Regierung ein – eine überraschende Preisgabe ihrer früheren Lehren. Am meisten setzte sich die Kommunistische Partei für die Zügelung der Unordnung und sogar für die Rückgängigmachung der Revolution des Sommers 1936 ein. Die Kommunisten mit ihrer traditionellen straffen Disziplin sahen die Notwendigkeit ein, sich für die Dauer des Krieges Beschränkungen aufzuerlegen. Die damalige Komintern-Doktrin empfahl die Bildung breiter antifaschistischer Fronten – eine Empfehlung, die zu den spanischen Verhältnissen paßte und einen Ausgleich mit der demokratischen Bourgeoisie erforderte. Die Außenpolitik der Sowjetunion sollte die Hilfe der westlichen Demokratien gegen den Faschismus zu erreichen suchen und die proletarische Revolution in jenen Ländern verschieben. Die meisten Menschen in England und Frankreich, deren Hilfe das republikanische Spanien dringend brauchte, wären vor den Kopf gestoßen worden, wenn die Unruhen von 1936 angehalten hätten. Die Kommunisten gewannen an Stärke und Einfluß in Spanien, einesteils, weil sie tüchtig waren, aber noch mehr, weil sie in Verbindung mit denjenigen standen, die für Hilfe aus dem Ausland sorgten. In den letzten Monaten des Jahres 1936 wurde eine Polizeitruppe aufgestellt, und die Verbände der

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Arbeiterorganisationen wurden in die Streitkräfte der Regierung eingegliedert. Unter energischem kommunistischem Druck wandte sich die Regierung dem Schutz der kleinen und mittleren Grundbesitzer sowie der kleineren Geschäftsleute zu. So entstand die eigenartige Situation, daß die Kommunisten die Führung bei der Rückkehr zu einer praktisch liberalen Regierung übernahmen, die stärker wurde als die Regierungen vor dem Kriege, weil sie sich auf einen fester begründeten Anhang im Volke stützen konnte. Es ist behauptet worden, diese liberale Regierung sei ein Täuschungsmanöver gewesen, ein Aushängeschild, hinter welchem die Kommunisten die volle Vorherrschaft erlangt hätten – eine Behauptung, die am nachdrücklichsten für die Regierung unter Juan Negrin aufgestellt wurde. Dieser wurde im Frühjahr 1937 Largo Caballeros Nachfolger und blieb bis zum Zusammenbruch der spanischen Republik. Es ist wahr, daß die Regierung die Tätigkeit der Kommunisten selbst nicht ganz kontrollierte. Diese bauten ihren eigenen Terrorapparat auf und setzten ihn energisch gegen ihre speziellen Feinde ein, das heißt, gegen abtrünnige Kommunisten. Der Feldzug gegen die POUM-Miliz im Jahre 1937 in Barcelona war nicht so sehr von der Regierung wie von den Kommunisten organisiert. Die russischen Berater griffen ein, um Pläne der Regierung durchzuführen, wenn diese von den spanischen Kommunisten nicht gebilligt wurden. Es wäre dennoch eine Übertreibung, zu sagen, Juan Negrin sei nur eine Marionette der Kommunistischen Partei gewesen. Jedenfalls beruhte der Einfluß der Kommunisten nicht auf der Billigung irgendwelcher langfristiger kommunistischer Ziele, sondern darauf, daß nur Sowjetrußland wirksame Hilfe leistete. Die meisten, die die Kommunisten unterstützten, taten es nur für die Dauer des Krieges, das kommunistische Übergewicht war nur vorübergehend. Niemand kann sagen, was geschehen wäre, wenn das republikanische Spanien gesiegt hätte. Gleichwohl scheint es möglich, die Ansicht zu äußern, daß dessen Sache nicht die Sache blutdürstiger ›Roter‹ war, sondern die der Demokratie, der Freiheit und des geordneten Fortschritts. Der Krieg kostete viele Menschen das Leben. Der mörderische Terror auf beiden Seiten forderte mehr Opfer als die Kämpfe. Alle Zahlen, die sich auf den spanischen Krieg beziehen, sind Annäherungswerte. Prof. Jackson hat eine Gesamtsumme von 580000 Toten angenommen. In dieser Zahl sind nur 160000 Todesopfer enthalten, die auf das Konto des eigentlichen Krieges zu setzen sind. Die übrigen 420000 werden politischen Maßnahmen – Hinrichtungen oder tödlichen Erkrankungen infolge von Inhaftierung – zugeschrieben. Prof. Jackson macht die Republikaner für nur 20000 dieser Todesfälle oder Exekutionen verantwortlich und weist die Verantwortung für nicht weniger als 400000 den Handlungen von nationalistischer Seite vor oder nach dem Kriege zu. Thomas plädiert für eine Gesamtsumme von nicht ganz 600000, von denen der weitaus größere Teil in der Schlacht gefallen und ein viel kleinerer durch Exekutionen auf Seiten der Rebellen – höchstens 40000 während des Krieges – ums Leben

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gekommen sei.233 Sicher ist nur, daß es viele Exekutionen auf beiden Seiten gab. Auf Seiten der Regierung waren die meisten die Folge des Ausbruchs der Revolution im Sommer 1936. Bei den Rebellen rührte ein großer Teil von den Massakern während und nach der Eroberung Südwestspaniens im Jahre 1936 her. Franco hatte nur wenige Truppen, und er hatte eine große und unzuverlässige Bevölkerung zu kontrollieren. Die einfachste Methode schien die zu sein, jeden potentiellen Anführer des Widerstandes zu töten. Dieselbe Methode wurde später während des Krieges in dem von den Nationalisten beherrschten Gebiet fortgesetzt, nach dem Krieg im übrigen Spanien. So hatten die Exekutionen und Massaker auf Seiten Francos eine andere Bedeutung als die meisten der auf seiten der Regierung verübten. Im ersteren Falle war es ein Massentöten, das von den eingesetzten Machtträgern organisiert oder wenigstens gebilligt wurde; im anderen Falle waren Massaker die Folge revolutionärer Unruhen, denen sich die Regierung widersetzte und die sie schließlich eindämmte, wenn auch nie ganz beseitigte. Auf beiden Seiten resultierten diese Tötungen ganz und gar daraus, daß der Krieg die Bevölkerung nach Klasse und Glauben und nicht etwa geographisch teilte, so daß es überall Menschen gab, die für die jeweils herrschende Gruppe potentielle ›Verräter‹ waren.234 Der spanische Bürgerkrieg wird noch häufig als das erste Stadium des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Das kann zweierlei bedeuten: daß der Zweite Weltkrieg ein Krieg der Ideologien gewesen sei und daß diese Ideologien zuerst in Spanien Macht erlangt hätten, oder daß Francos Feindschaft gegen die Alliierten den Verlauf des Kampfes der Alliierten gegen Deutschland und seine Satelliten ernstlich beeinflußt habe. Der Gedanke, der Krieg sei ein Teil des weltweiten Kampfes zwischen Recht und Unrecht, übte auf Intellektuelle und viele idealistische Demokraten eine große Anziehungskraft aus. Er erklärt weitgehend die Hinwendung zum Kommunismus bei solchen Kreisen in England und den Vereinigten Staaten, die den Eindruck hatten, daß nur Kommunisten sich ernsthaft um Widerstand gegen den Faschismus, wie er zeitweilig von Franco verkörpert wurde, bemühten. Die Schwäche dieser Argumentation liegt darin, daß man einen Unterschied zwischen deutschen ›Faschisten‹ und spanischen ›Faschisten‹ machen konnte und daß die Art von Gesellschaft, die England und die USA zu verteidigen suchten, von derjenigen des republikanischen Spanien während des Bürgerkriegs deutlich verschieden war. Was die zweite Feststellung angeht, so bereitete Francos Spanien den Alliierten zwar viele Unannehmlichkeiten, aber da er neutral blieb, fügte Franco ihnen nicht so viel Schaden zu, daß sie es für der Mühe wert gehalten hätten, seine Position in Spanien zu bedrohen. Franco war so schlau, daß er sich nicht überreden ließ, für England und die Vereinigten Staaten mehr als ein Ärgernis zu sein. So überlebte seine Herrschaft den Zweiten Weltkrieg. 10. Deutschland 1918–1939

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Die große Frage dieser Jahre ist: wie gewann Hitler die Herrschaft über Deutschland? Deutschland war das einzige hochentwickelte Land – hochentwickelt nach Lebensstandard und Bildung –, das einer irrationalen Diktatur in die Hände fiel. Der einleuchtendste Grund dafür liegt in den wirtschaftlichen Schwankungen in der Zeit von 1918 bis 1933 und ihren sozialen sowie politischen Auswirkungen. Zweifellos stieg und fiel die Opposition gegen die Demokratie in Übereinstimmung mit der Entwicklung des Wohlstandes. In diesen Jahren brachen zwei wirtschaftliche Katastrophen über Deutschland herein: die galoppierende Inflation von 1923 und die Depression von 1930 bis 1933. Die Ursachen der großen Inflation sind an anderer Stelle erörtert worden. Bis 1923 war sie von einer gewissen Blüte der Wirtschaft begleitet. Das in Umlauf befindliche Geld bewirkte eine große Nachfrage, und die Besitzer von Geld waren, als sich der rasche Fortgang der Inflation zeigte, mehr und mehr bestrebt, es schnell in Sachwerte umzusetzen. Dadurch wurden Investionen und Verbrauch weiter angeregt. Die Industrieproduktion wuchs rasch, und die Arbeitslosigkeit verschwand. Im Jahre 1922 betrug die Zahl der erfaßten Arbeitslosen nur 77000. Die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebietes im Jahre 1923, die teilweise selbst eine Folge der Inflation war, und der darauf folgende passive Widerstand führten zur wirtschaftlichen Isolierung des Reviers. Die Finanzierung des passiven Widerstandes brachte den endgültigen Zusammenbruch der Mark mit sich. Als sich zeigte, daß der Umtausch von Gütern in Geld fast mit Sicherheit dem Verkäufer Verlust brachte, da der Wert des empfangenen Geldes dahinschwand, wurden normale Geschäfte schwierig oder unmöglich. Daher sank die Produktion im Jahre 1923, und die Arbeitslosigkeit nahm rapide zu. Die Zeit bis Ende 1922 brachte also Deutschland als Ganzem Gewinn, das Jahr 1923 mit Sicherheit nicht. Eine Inflation führt zur Neuverteilung des Wohlstandes. Je ungezügelter eine Inflation ist, desto krasser ist die Neuverteilung und das Gefühl, Unrecht erlitten zu haben, bei denjenigen, deren Erwartungen zunichte gemacht werden. Die Inflation von 1923 nützte den Produzenten und vor allem den unmittelbaren Eigentümern von Produktionsmitteln und brachte den Eigentümern von Vermögen mit festem Geldwert sowie denen, die von festen Gehältern lebten, Verlust. Lohnempfänger kamen verhältnismäßig gut zurecht, obwohl ihr Realeinkommen schweren Schwankungen unterlag, in dem Maße, wie sich die Inflation beschleunigte. Häufige Streiks kennzeichneten jedoch ihre Bemühungen, ihre Reallöhne zu halten: Von 1919 bis 1922 gingen im Durchschnitt jährlich 23 Millionen Arbeitstage durch Streiks verloren. Allerdings gab es Zeiten, in denen die Löhne erheblich hinter den Preisen zurückblieben – das waren Phasen, die den Arbeitgebern besondere Gewinne brachten –, und mit Ausnahme eines kurzen Zeitraumes im Jahre 1921 blieben die Reallöhne unter dem Stande von 1913. Gehaltsempfänger wurden viel schlimmer getroffen. Die Gehälter höherer Staatsbeamter beispielsweise beliefen sich im Jahre 1923 auf

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nicht viel mehr als ein Drittel des Wertes von 1913. Pensionäre erlitten während der Inflation Einbußen, die sie in äußerste Not brachten. Ganz besonders wurden diejenigen, die Geld zu festen Zinssätzen verliehen hatten, ruiniert. Die von ihnen gegebenen Anleihen konnten mit wertlosem Geld zurückgezahlt werden. Statt über ein verläßliches Einkommen verfügten sie über wertloses Papier. Die Aufwertungsgesetze von 1924 und 1925 erstatteten nicht mehr als höchstens ein Viertel des ursprünglichen Wertes derartiger Anleihen. Leute, die Geld verliehen hatten, wurden zugrunde gerichtet, solche, die Geld geliehen hatten, machten Gewinne. Jeder, der vor oder während der Inflation einen festen Geldbetrag leihen und in soliden Vermögenswerten anlegen konnte, vereinnahmte den Reichtum seiner Gläubiger. Die Banken fuhren fast bis zum Ende der Inflation fort, Geschäftsleuten Geld zu Bedingungen zu leihen, die den Auswirkungen der Inflation nicht in vollem Umfang Rechnung trugen. Daher führte die Inflation zu einem Aufschwung der Investitionen, die die Anleger manchmal fast nichts kosteten. Fabrikanten, die im Exportgeschäft tätig waren, erzielten große Gewinne, da der Außenwert der Mark schneller sank, als die Preise in Deutschland stiegen. Außer den Exporteuren erwarben reine Spekulanten große Vermögen, besonders durch Spekulationen auf dem Devisenmarkt. Allerdings zeigte sich nach der Inflation, daß ein Teil dieser Vermögen nicht dauerhaft war. Die produktiven Investionen der Inflationszeit waren nicht wettbewerbsfähig, als wieder normale Verhältnisse einkehrten, und es gab viele Bankrotte. Dennoch hatte die Inflation alles in allem zur Folge, daß Besitz von den sparsamen, bedächtigen, vorsichtigen Kreisen des unteren Mittelstandes auf Industrielle und Geschäftsleute sowie auf Spekulanten und Abenteurer überging.235 Ende 1923 wurde die Inflation durch die Schaffung einer neuen Mark beendet. Eine bis 1926 dauernde schwierige Übergangszeit schloß sich an. Die Stabilisierung setzte der unbegrenzten Nachfrage der Inflationszeit nach Sachwerten schlagartig ein Ende. Die wirtschaftliche Tätigkeit erfuhr alsbald einen Rückschlag, und die Arbeitslosigkeit nahm zu. Ende 1923 waren über ein Viertel der Arbeiter ohne Beschäftigung. Nachdem jedoch Mitte 1924 der Dawes-Plan in Kraft getreten war, kehrte das Vertrauen des Auslandes zur Mark zurück, und ausländische Anleihen begannen nach Deutschland zu fließen, wobei hohe Zinssätze als Anreiz dienten. Als indessen der durch die Inflation und ihre Auswirkungen auf den Devisenmarkt bedingte Schutz vor der Konkurrenz des Auslandes entfiel, stand die deutsche Industrie vor zwei Problemen. Das eine war die Anpassung der Schwerpunkte der Industrieproduktion an die Nachkriegsentwicklung der Nachfrage auf dem Weltmarkt und im Inland. Dieses Problem war in Deutschland weniger dringlich als in England, spielte jedoch in Industriezweigen wie dem Schiffbau und der Kohleförderung eine große Rolle. Das zweite ergab sich daraus, daß ein großer Teil der in der Inflationszeit vorgenommenen Investitionen unter normalen Wettbewerbsbedingungen nicht rentabel war. Daher waren die mittleren zwanziger Jahre eine Zeit der ›Rationalisierung‹, die große Arbeitslosigkeit mit

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sich brachte, deren Gipfel 1926 erreicht wurde. Nach 1926 stieg jedoch die Industrieproduktion, übertraf 1927 den Vorkriegsstand und nahm bis Anfang 1929 unausgesetzt zu. Die Löhne der Arbeiter erhöhten sich von 1925 bis 1929 um fast ein Drittel. Im Jahre 1929 begann die Depression. Das wirtschaftliche Wachstum in der Mitte der zwanziger Jahre beruhte auf Anleihen aus dem Ausland, besonders aus den Vereinigten Staaten. Die Hausse an der New Yorker Börse ließ die Gelder im Jahre 1929 spärlicher fließen. Der Grund dafür war, daß die Hausse günstige Möglichkeiten für kurzfristige Anleihen an Spekulanten eröffnete. Beim Fortschreiten der Krise kam es dann sogar zu einem Rückfluß. In den Jahren 1930 und 1931 wurde daher Geld aus Deutschland abgezogen. Infolgedessen gingen die Investitionen in Deutschland zurück und bahnte sich eine ernste Krise der Zahlungsbilanz an. Die Mark geriet unter Druck. Die Regierung reagierte darauf mit energischen deflationistischen Maßnahmen, um die Preise in Deutschland niedrig zu halten und den Außenwert der Währung zu erhalten. Eine Abwertung wurde nicht in Betracht gezogen, und Maßnahmen zur Gewinnung eines Haushaltsüberschusses wurden in Kraft gesetzt, da man fürchtete, eine Abwertung könnte erneut zur Inflation führen. Von der 1930 bis 1932 amtierenden Regierung Brüning wurden die Beamtengehälter um ein Fünftel und die Löhne um zehn bis fünfzehn Prozent gekürzt. Die Steuern wurden erhöht, und die Arbeitslosenunterstützung wurde herabgesetzt. Die Nachfrage nach Industrieprodukten ging also infolge des Kapitalabflusses, infolge des aus der Weltwirtschaftskrise resultierenden Sinkens der Nachfrage nach Exportgütern sowie infolge einer bewußten Politik der Regierung zurück. Die Produktion der Industrie sank auf etwa 58 Prozent des Standes von 1928/29. Die Arbeitslosigkeit erreichte eine Höhe von über sechs Millionen. Im Juli 1932 war ungefähr die Hälfte aller Gewerkschaftsmitglieder ohne Arbeit. Die deutsche Landwirtschaft stand nahe vor dem Zusammenbruch. Trotz Schutzzöllen waren die Preise für einheimische landwirtschaftliche Erzeugnisse niedrig. Sie lagen 1930 etwa dreizehn Prozent über denen von 1913, während Konsumgüter sechzig Prozent teurer waren. Die Landwirte waren trotz der Tilgung alter Schulden in der Inflation erneut hoch verschuldet und wegen der Einziehung der Anleihen in Geldverlegenheit. Im Jahre 1932 erzielte die deutsche Landwirtschaft 65 Prozent der Erträge von 1928. Diese heftigen Schwankungen und die Not, die sie mit sich brachten, hätten die Fähigkeit einer jeden lange bestehenden und geachteten Regierungsform zum Überleben auf die Probe gestellt. Die demokratische Republik von Weimar war neu und wurde nicht geachtet. Sie machte eine düstere Zeit durch, die man zu ihrem Nachteil mit den Jahren des Vertrauens und des Fortschritts vor dem Kriege vergleichen konnte. Doch trug noch anderes zu ihrer Schwäche bei. Entscheidend war die Niederlage Deutschlands im Jahre 1918. Die demokratische Republik war die Folge einer Revolution, die das Wilhelminische Deutschland zerstört und den Kaiser zur Abdankung gezwungen hatte. Die

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Revolution war das Ergebnis der Niederlage. Die Niederlage kam überraschend. Bis in die letzten Monate des Krieges hinein hatten die Organisatoren des Krieges hinsichtlich seines Ausgangs absolute Zuversicht an den Tag gelegt. Im Jahre 1918 war Rußland ein siegreicher Friede aufgezwungen und in Frankreich eine, oberflächlich gesehen, erfolgreiche Offensive geführt worden. Als die Niederlage kam, erschien sie als etwas, das nicht mit rechten Dingen vor sich gegangen war. Dieses Etwas trug für die deutsche Linke einen anderen Aspekt als für die deutsche Rechte. Die Linke hatte den Eindruck, das deutsche Volk sei von verantwortungslosen Soldaten und ihren Verbündeten in der Oberschicht irregeführt und betrogen worden. Die Rechte meinte, die deutsche Armee sei überhaupt nicht richtig besiegt worden, die Revolution habe die Niederlage verursacht und nicht umgekehrt. Die Linke war der Ansicht, dem deutschen Volk seien Leiden und Verluste an Menschenleben in einem Krieg zugemutet worden, der von skrupellosen Lügnern fortgesetzt worden sei. Wenn daher an der Revolution von 1918/19 etwas nicht stimme, so der Umstand, daß sie nicht gründlich genug gewesen sei. Die Macht der alten herrschenden Klasse der Gutsbesitzer, Kapitalisten und Berufsoffiziere sei nicht ausgerottet worden. Die Gründer der Republik hätten mit dieser Klasse einen Kompromiß geschlossen, statt sie zu beseitigen. Diese Auffassung erklärt die Stärke der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Zeit der Weimarer Republik. Sie wurde durch die Überzeugung bekräftigt, daß die Republik von Kapitalisten für Kapitalisten geleitet werde und daß das die Erklärung für das wirtschaftliche Elend sei. Die Rechte legte sich eine ganz andere Deutung zurecht. Für sie war die Not Deutschlands durch das Ausland, durch die Ungerechtigkeit des Vertrags von Versailles und vor allem durch die Reparationen verursacht. (Diese Ansicht war in etwa berechtigt, besonders, was das Jahr 1923 anging.) Daher waren diejenigen, die diesen Vertrag unterzeichnet hatten und bereit waren, ihn auszuführen oder nach der Freundschaft der siegreichen Westmächte zu streben, Verräter, deren einflußreiche Stellung die Folge der demokratischen Revolution war. Alle guten Deutschen mußten Nationalisten sein, die für die Wiederherstellung der Macht Deutschlands eintraten, nicht schwächliche Kompromißler und Internationalisten. Die Niederlage hatte Deutschland in Not gebracht; die Folgen der Niederlage durften nicht untätig hingenommen werden. Mehr noch, die eigentliche Niederlage wurde in Frage gestellt. War die deutsche Armee überhaupt wirklich besiegt worden? Die Antwort war: Nein, Demokraten, Sozialisten und Pazifisten, die Förderer der demokratischen Republik, hatten ihr einen Dolchstoß in den Rücken versetzt. Der Zusammenbruch von 1918 war ein Zusammenbruch in der Etappe; die Armeen hatten erfolgreich gekämpft, bis die Subversion der Zivilisten sie geschwächt hatte. Dies war eine Erklärung für alles. Die ›Novemberverbrecher‹ waren für die Niederlage Deutschlands und für die Folgen der Niederlage verantwortlich sowie dafür, daß ausländische Feinde Deutschland endlose Not auferlegten. Diese Auffassung war keineswegs Hitlers Erfindung, obwohl er sie am lautesten

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verkündete. Sie war bei der deutschen Rechten seit dem Anfang der Weimarer Republik weit verbreitet. Es ist nicht verwunderlich, daß sich die Weimarer Republik sowohl von der Rechten wie von der äußersten Linken bedroht sah; tatsächlich waren – neben einer Handvoll bürgerlicher Intellektueller, die die Deutsche Demokratische Partei bildeten – die einzigen aufrichtigen Freunde dieses demokratischen Staates die Sozialdemokraten (SPD). Vom rechten Fügel ging der Kapp-Putsch des Jahres 1920 und Hitlers Münchner Putsch des Jahres 1923 aus. Der eine scheiterte an der wirksamen Gegenwehr der Gewerkschaften, die damals auf der Höhe ihrer Macht standen, der andere an der Uneinigkeit der bayerischen Rechten und der unklaren Einstellung der Armee. Die Linke war 1919 blockiert durch ein Bündnis der Armee mit den gemäßigten Sozialdemokraten. Später verhinderte die Bereitwilligkeit der Armee, gegen alle linksgerichteten Unruhen vorzugehen, jede echte Herausforderung der Weimarer Republik, die von dieser Seite hätte ausgehen können, und nur wenige deutsche Arbeiter waren bereit, eine gewaltsame Revolution zu unterstützen, wie die kommunistischen Aufstände der Jahre 1921 und 1923 bewiesen haben. In der Mitte der zwanziger Jahre schien sich die Republik also zu festigen. Der erste Rückschlag kam von der DNVP. Aus den Verlusten dieser Partei bei den Wahlen von 1928 zogen einige ihrer Führer die Schlußfolgerung, nicht Zusammenarbeit mit dem ›System‹, sondern heftige Opposition sei notwendig. Diese Auffassung wurde in erster Linie von Hugenberg vertreten. Im Oktober 1928 wurde er zum Vorsitzenden der Partei gewählt. Er war ehrgeizig und reich – er hatte von der Inflation profitiert. Er kontrollierte eine Reihe von Zeitungen und den UFA-Filmkonzern. Die Schwierigkeit, vor die sich Hugenberg gestellt sah, bestand darin, daß er und seine Partei allzu deutlich der Geldaristokratie und den oberen Zehntausend zuzuordnen waren, als daß sie über machtvollen Anhang bei den breiten Massen hätten verfügen können. Sie brauchten einen Demagogen. Ein geschickter Demagoge, der finanzielle Unterstützung brauchte, war verfügbar. Hitler und Hugenberg trafen sich und unternahmen im September 1929 einen gemeinsamen Angriff gegen den Young-Plan über die Reparationszahlungen. Sie entwarfen für ein Volksbegehren ein »Gesetz gegen die Versklavung des deutschen Volkes«. Die Schuld Deutschlands am Kriege wurde darin bestritten, das Ende der Reparationen und die Bestrafung der Reichsregierung als ›Verräter‹ für den Fall gefordert, daß sie den Young- Plan annähme. Dieser Schritt war kein großer Erfolg, und das ›Freiheitsgesetz‹ kam nicht durch. Zwölf Abgeordnete der DNVP traten aus Protest gegen Hugenbergs Manöver aus, und Graf Westarp legte den Vorsitz der Reichstagsfraktion nieder. Hugenberg gewann wenig, Hitler viel. Die finanziellen und publizistischen Mittel, die Hugenberg zur Verfügung standen, ermöglichten es Hitler, als nationale Gestalt in ›ehrbarer‹ Gesellschaft aufzutreten. Seit Oktober 1929 erzielten die Nationalsozialisten bei Länderwahlen Gewinne.236

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Dies war das Vorspiel zu den großen Wahlsiegen der Nationalsozialisten in der Zeit von 1930 bis 1932, durch die diese zum Hauptproblem der deutschen Politik wurden. Im September 1930 wurde die NSDAP die zweitstärkste Partei im Reichstag und im Juli 1932 die stärkste. Wie kam es dazu? Es handelte sich um sehr große Zahlen; im Juli 1932 stimmten von rund 37 Millionen Wählern über 13 Millionen für die NSDAP. Die Stimmen für die NSDAP stammten in der Hauptsache von zwei Gruppen her: den ehemaligen Wählern nichtsozialistischer Parteien und Neuwählern. Verglichen mit den Wahlen von 1928 verloren im Juli 1932 die Parteien außer SPD und KPD sowie den katholischen Parteien Zentrum und Bayerische Volkspartei über acht Millionen Stimmen. Sechs Millionen hatten vorher nicht gewählt; die Hälfte von ihnen waren Wähler, die sich 1928 nicht die Mühe gemacht hatten, zur Urne zu gehen, die andere Hälfte waren solche, die erstmalig wahlberechtigt waren. Die Linksparteien behielten ihre Wählerstärke, obwohl die SPD eine erhebliche Zahl von Stimmen an die KPD verlor. (Auch gab es bei den zahlreichen Wahlen des Jahres 1932 Fluktuationen von Wählern, die bald für die KPD, bald für die NSDAP, die beiden großen Sammelbecken für die Unzufriedenen, stimmten.) Die Position der katholischen Parteien war nicht zu erschüttern. Die Parteien, die Stimmen an die Nationalsozialisten verloren, waren diejenigen, deren Wähler – obwohl nicht notwendigerweise ihre Führer – Angehörige des städtischen Mittelstandes und mittelständische Bauern und Pächter auf dem Lande waren. Der Anhang der NSDAP auf dem Lande war bedeutend: in den sechs Wahlkreisen – von 35 –, die im Juli 1932 den höchsten Prozentsatz von NSDAP- Wählern stellten, lebte eine überdurchschnittlich hohe Einwohnerzahl von der Landwirtschaft.237 Der einzige Wahlkreis, der vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler der NSDAP eine Mehrheit brachte, war Schleswig-Holstein. Aus den Wahlergebnissen und der sozialen Struktur dieses Gebietes sind interessante Schlußfolgerungen gezogen worden. Den stärksten Zulauf fanden die Nationalsozialisten hier in Gegenden, wo kleine Grundbesitzer und Bauern überwogen und wo es eine Trennung nach Klassen zwischen wohlhabenden Grundbesitzern und Bauern auf der einen und Landarbeitern auf der anderen Seite kaum gab. Wo derartige Verhältnisse vorlagen, neigten die Reicheren dazu, bei den älteren konservativen Parteien zu bleiben, während die Arbeiter für die ›marxistischen‹ Parteien stimmten. Die Nationalsozialisten waren anscheinend imstande, vor allem an diejenigen zu appellieren, die den Schutz des Privateigentums innerhalb einer klassenlosen, sozial einigen Gemeinschaft wünschten. Besonders der kleine Bauer oder Pächter stand vor dem Ruin, als Ende der zwanziger Jahre, zu einer Zeit, als die Kredite knapp wurden, die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse plötzlich stürzten. Die von Gläubigern oder Finanzämtern erzwungenen Versteigerungen von Vieh oder kleinen Höfen waren nach 1928 eine verbreitete Erscheinung. Die Nationalsozialisten äußerten Feindschaft gegen die Großbanken und das ›internationale jüdische Finanzkapital‹ das einen nicht näher bestimmten, aber bequemen Sündenbock

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für alle Übel abgab. Die Nationalsozialisten versprachen leichteren Kredit, niedrigere Zinssätze, höhere Zölle, niedrigere Steuern und behaupteten, im Dritten Reich würden die Landwirte eine privilegierte Klasse bilden.238 Zweifellos war die wirtschaftliche Depression von entscheidender Bedeutung. In den Städten traf sie am meisten die Masse der zur Arbeiterklasse gehörenden Erwerbslosen. Der deutsche Mittelstand litt ebenfalls. Die Arbeitslosigkeit beschränkte sich nicht auf Industriearbeiter, sondern ergriff auch solche Angestellte, die es ablehnten, sich mit dem Proletariat und der SPD zu identifizieren. Die abnehmende Nachfrage traf Ladenbesitzer, Handwerker und kleine Geschäftsleute. Ihre Position war außergewöhnlich gefährdet, da die große Inflation ihre Ersparnisse vernichtet hatte. Die deflationistische Politik der Regierung führte zu einer Kreditknappheit, die kleine Geschäftsleute noch anfälliger machte. Solche Leute sahen nicht nur ihr Wohlbefinden, sondern auch ihren Status bedroht. Sie fürchteten ein Absinken auf den Rang der Arbeiterklasse. Gleichzeitig verabscheuten sie die Sozialisten und hatten Angst vor den Kommunisten. Ein unklares Denken machte den Sozialismus für die hohe Besteuerung und für die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verantwortlich, die kleine Arbeitgeber zu zahlen hatten, ohne daß sich ihnen die Aussicht eröffnet hätte, selbst etwas davon zu haben. Die Bemühungen der Gewerkschaften, das Lohnniveau zu verteidigen, stießen auf ungewöhnlichen Haß, wenn der Druck auf die Gewinne am stärksten war. Die zunehmenden Wählerstimmen der KPD wurden mit Bestürzung vermerkt. Man glaubte, die Kommunisten würden den Mittelstand mit Sicherheit noch wirksamer proletarisieren, als die Depression es tat. Der verschwommene Antikapitalismus, zu dem sich die Nationalsozialisten bekannten, eröffnete glücklichere Aussichten. Die ›Zinsknechtschaft‹, verkündeten sie, werde gebrochen werden, und Kredite würden irgendwie freier verfügbar sein. Mit den großen Kaufhäusern, dem Schrecken des kleinen Ladeninhabers, würde man fertig werden. Die lästigen Aspekte des Wettbewerbs würden ohne eine (nach Art der Sozialisten) allgegenwärtige staatliche Kontrolle beseitigt werden. Die Nationalsozialisten sprachen von der Entwicklung einer berufsständischen Ordnung und betonten die Schönheit und die Bedeutung der Handarbeit, ein Gedanke, der den kleinen Handwerker ansprach. Die Drohung, die die ›Marxisten‹ bildeten, würden die Nationalsozialisten – so erklärten sie – beseitigen. Doch brauchte ein zartfühlender Bürger nicht zu befürchten, daß ein Angriff auf Sozialisten und Kommunisten ein Angriff auf die Arbeiter sein werde. Im Gegenteil, die Nationalsozialisten erklärten ihre Entschlossenheit, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen und die Wohlfahrt des Arbeiters in einer von ›marxistischem‹ Trug befreiten Gesellschaft zu sichern. Das idealistische Element in der Anhängerschaft der Nationalsozialisten ist nicht gering zu schätzen. Gegen Klassenkampf und Selbstsucht des einzelnen verkündeten sie eine Gesellschaft der Zusammenarbeit und der Harmonie. Das Angebot materiellen Wohlergehens wurde mit dem Appell zum persönlichen

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Opfer und zur Pflichterfüllung verbunden. Deutschland würde irgendwie an Leib und Seele genesen. In dem Anruf der Nationalsozialisten lag ein starkes, der Jugendbewegung verwandtes Element. Das kleinliche Gezänk von Parteipolitikern sollte in einem größeren Ganzen überwunden werden. Vor allem boten die Nationalsozialisten Energie und Tatkraft. Sie würden etwas tun, und zwar etwas Neues. Ihre ununterbrochenen und energischen politischen Feldzüge dienten dem Zweck, diesen Eindruck zu erwecken. Einem solchen Anruf konnte die Regierung Brüning nichts entgegensetzen. Brüning selbst war kühl und übte keine Anziehungskraft auf die Massen aus. Die politischen Verhältnisse machten ihn praktisch von der Zustimmung der SPD abhängig und machten es ihm gleichzeitig unmöglich, dies bekanntzugeben oder zusammen mit der SPD ein Aktionsprogramm auszuarbeiten. Die übrigen Parteien bekämpften die Nationalsozialisten in aufgelöster Ordnung. Keine von ihnen konnte hoffen, allein zur Bildung einer parlamentarischen Regierung in der Lage zu sein, und diese Tatsache ließ ihre Vorschläge bedeutungslos erscheinen. Die SPD wurde zu einer defensiven und in hohem Maße konservativen Haltung gezwungen, doch anders als die Labour Party in England, mit der sie viel Ähnlichkeit hatte, hielt sie mit ihrer Doktrin am theoretischen revolutionären Marxismus fest. Sodann ist der Nationalismus der NSDAP zu erwähnen, der in wirksamer Weise mit einer Verurteilung des ›Systems‹ verbunden war. Das Volksbegehren von 1929 über den Young-Plan hatte es Hitler ermöglicht, die Behauptung zu verbreiten, der Young- Plan werde Not über Deutschland bringen, die vom Ausland heraufbeschworen sei. Tatsächlich war die Not gekommen. Hitler behauptete, die Annahme des Planes durch die Regierung sei eine würdelose Billigung eines ausländischen Diktates. Diese Auffassung wurde in der Zeit der Depression von vielen geteilt. Im Jahre 1931 wurde der erstaunliche Gedanke laut, die Abwertung in England sei eine bewußte Maßnahme zur Ruinierung Deutschlands, und im Jahre 1932 mußte die Regierung öffentlich dementieren, daß das SA-Verbot von Frankreich diktiert worden sei. Die Tatsache, daß sich Brüning auf die Außenpolitik konzentrierte, stärkte die Überzeugung, daß die Not Deutschlands vom Ausland heraufbeschworen sei, und die Obstruktion Frankreichs in den Fragen der Zollunion Deutschlands mit Österreich, des Hoover- Moratoriums und der Konferenz von Lausanne bestätigte sie. Deutschland mußte erwachen, seine Fesseln abstreifen und um seine Freiheit kämpfen. Die Wahlerfolge der Nationalsozialisten sind also erklärlich. Doch sind die Erklärungen nicht voll und ganz überzeugend. Viele, wahrscheinlich die meisten Wähler der NSDAP waren vernünftige, anständige Leute. Die NSDAP war weder vernünftig noch anständig, und diese Tatsache lag 1932 auf der Hand. Ein Antisemitismus, der an Heftigkeit weit über das Maß hinausging, zu dem eine antikapitalistische Haltung hätte Anlaß geben können, wurde offen proklamiert, obwohl die Ausrottung der Juden nicht vorgeschlagen wurde. Brutalität und

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Gewalttätigkeit wurden unverhohlen gerühmt und praktiziert. Bei dem Prozeß gegen drei mit den Nationalsozialisten sympathisierende Offiziere der Reichswehr im SeptemberOktober 1930 rief Hitler aus: »Wenn unsere Bewegung siegt, dann wird ein neuer Staatsgerichtshof zusammentreten, und vor diesem wird das Novemberverbrechen von 1918 seine Sühne finden. Dann allerdings werden Köpfe in den Sand rollen.« Edmund Heines, ein Mörder, trat auf nationalsozialistischen Rednertribünen auf.239 In der SA befanden sich offensichtlich übel beleumdete Elemente. Sie provozierten Ausbrüche von Straßenkämpfen. Allein in Preußen gab es im Juni und Juli 1932 461 politische Zusammenstöße, bei denen 82 Personen getötet und rund 400 ernstlich verletzt wurden.240 Der massenhafte Zulauf, den die NSDAP fand, ist nur zu begreifen als deprimierendes Symptom dafür, daß sich verängstigte Menschen böse verhalten können. Ein wesentlicher Beitrag zu diesem bösen Verhalten findet sich im Benehmen der ehrbaren konservativen deutschen Rechten gegenüber der Republik, besonders derjenigen Kreise der DNVP, die unter den Einfluß Hugenbergs gerieten, und vor allem in den heftigen Ausfällen, die wiederholt in der Hugenberg-Presse erschienen. Der Gedanke, Gewalt sei eine legitime Waffe gegen die Demokratie, war auf diese Weise jahrelang von vielen berufenen Lenkern der deutschen öffentlichen Meinung vertreten worden. Die Regierungen hatten sich in der Zeit von 1930 bis 1933 nicht nur mit Millionen von NSDAP-Wählern und einer Phalanx von nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten auseinanderzusetzen. Die Nationalsozialisten erklärten sich für revolutionär. Obwohl Hitler und die Führung der NSDAP nachdrücklich behaupteten, sie wollten die Macht nur auf legalem Wege gewinnen, gab es Grund zu der Annahme, daß die Nationalsozialisten die Macht gewaltsam an sich zu reißen versuchen würden, wenn sie es ohne Gewalt nicht könnten. Mit der SA hatten sie eine Waffe in der Hand. Sie scheint in diesen Jahren ungefähr 400000 Mann stark gewesen zu sein. Sie war eine nach militärischen Grundsätzen organisierte Streitmacht mit einer Uniform aus braunen Hemden, doch diente sie hauptsächlich dem Zweck, Straßenkämpfe und politische Streitigkeiten auszutragen. Außer in bestimmten östlichen Grenzgebieten hatte sie keine gründliche militärische Ausbildung und war nur leicht bewaffnet. Dennoch war sie eine Streitmacht, mit der die Regierungen zu rechnen hatten. Es gab zwei Methoden, mit den Nationalsozialisten umzugehen: man konnte den Versuch machen, sie für eine gewisse Beteiligung an der Regierung zu gewinnen, oder man mußte sie ganz aus der Regierung heraushalten und jedem Versuch der Nationalsozialisten entgegentreten, diese Ausschließung von der Macht in Frage zu stellen. Die letzte Regierung, die den zweiten Weg mit einiger Folgerichtigkeit ging, war die von Brüning geführte. Brüning war von 1930 bis 1932 Reichskanzler. Seine Ernennung war eine der ersten Konsequenzen der großen Depression. Von 1928 bis Frühjahr 1930 wurde Deutschland von einem Kabinett unter dem Sozialdemokraten Müller regiert. Es stützte sich auf eine Mehrheit der sogenannten ›Großen Koalition‹, der Sozialdemokraten,

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Demokraten (DDP), Zentrum, Bayerische Volkspartei und Deutsche Volkspartei angehörten. Die Regierung Müller kam zu Fall, weil DVP und SPD sich über die richtige Methode, wie der wachsenden Arbeitslosigkeit zu begegnen sei, nicht einig waren. Grob gesagt, wollte die DVP die Sätze der Arbeitslosenunterstützung kürzen und die in jedem Fall zu zahlenden wachsenden Beträge durch Steuern oder Beiträge finanzieren, die die reicheren Steuerzahler und Arbeitgeber nicht schädigen sollten. Die Sozialdemokraten, besonders ihre gewerkschaftlichen Kräfte, waren darauf bedacht, zu verhindern, daß den Arbeitslosen noch größere Not aufgebürdet oder den ärmeren Bevölkerungsschichten eine unverhältnismäßig schwere Besteuerung auferlegt werde. Kompromisse erwiesen sich für beide Seiten als unbefriedigend, und im März 1930 trat die Regierung Müller zurück. Brüning wurde von General von Schleicher vorgeschlagen. Dieser war ein intelligenter, beweglicher, ziemlich labiler Soldat, der einen hochentwickelten politischen Sinn besaß. Sein Einfluß beruhte auf seiner Position als Leiter des Ministeramtes im Reichswehrministerium. Sein alter Freund und Vorgesetzter, General Groener, hatte dieses Amt für ihn geschaffen. Groener war auf Grund der Tatsache, daß er während des Krieges mit Hindenburg in Verbindung gestanden hatte – er hatte unter ihm als Generalquartiermeister gedient –, im Jahre 1928 Reichswehrminister geworden. Hinsichtlich politischen Rates und politischer Kontakte verließ er sich auf Schleicher. Schleicher hatte gewisse Vorstellungen von der Beschaffenheit und den Zielen der Regierung Brüning. Sie sollte keine Regierung der Parteien sein. Das bedeutete praktisch, daß sie sich weniger auf den Reichstag und mehr auf den Reichspräsidenten stützen sollte als die Regierungen vor ihr. Über ihre Zusammensetzung sollte nicht durch Verhandlungen der Parteien untereinander entschieden werden. Die Sozialdemokraten sollten nicht beteiligt werden. Dadurch sollte eine festere Haltung gegenüber der Regierung in Preußen ermöglicht werden, die gewisse Einwände gegen die – illegalen – von der Reichswehr begünstigten Maßnahmen zur Stärkung der Grenzverteidigung erhoben hatte. Diese Regierung sollte das Vertrauen der Deutschnationalen zum Reichspräsidenten wiedergewinnen und der uneingeschränkten Opposition Hugenbergs gegen das derzeitige System ein Ende setzen. Der Stahlhelm, ein nationalistischer paramilitärischer Verband, den die Reichswehr als wichtig für den Schutz der Grenze ansah, sollte wieder zu einer zur Mitarbeit bereiten Einstellung hingeführt werden. Wenn notwendig, sollte der Reichspräsident den neuen Reichskanzler ermächtigen, die Notstandsvollmachten nach Artikel 48 der Reichsverfassung dazu zu benutzen, mit Hilfe von Verordnungen zu regieren, und ihm das Recht zur Auflösung des Reichstags geben. Die Regierung Brüning geriet bald in dieselben Schwierigkeiten, die die Regierung Müller zu Fall gebracht hatten. Im Juli 1930 schlug sie eine Reihe von Maßnahmen zur Vermehrung der Einnahmen und zur Kürzung der Ausgaben der Reichsregierung und der Länderregierungen einschließlich gewisser

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Beschränkungen der Arbeitslosenunterstützung vor. Als der Reichstag einen Teil dieser Maßnahmen ablehnte, setzte die Regierung die gesamten Vorschläge durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten in Kraft. Der Reichstag hatte jedoch das verfassungsmäßige Recht, solche Notverordnungen zu annullieren, was er auch prompt mit der knappen Mehrheit von vierzehn Stimmen tat. Zu der gegen Brüning stimmenden Mehrheit gehörten die Sozialdemokraten, die zum Schutz der Interessen ihrer Anhänger stimmten, die Kommunisten, die gegen die kapitalistische Demokratie stimmten, sowie 32 Deutschnationale, die sich Hugenberg anschlossen, gegenüber 25, die die Regierung unterstützten. Der letztgenannte Faktor war bedeutsam. Trotz der Unterstützung durch Hindenburg und der Ausschließung der Sozialdemokraten war es Brüning nicht gelungen, die Hilfe der gesamten DNVP zu gewinnen. Hugenberg behielt die Partei trotz einiger Austritte in der Hand und setzte die Opposition gegen das ›System‹ teils aus Überzeugung, teils aus Furcht, Anhänger an die Nationalsozialisten zu verlieren, fort. Der Reichstag wurde sofort aufgelöst, und Neuwahlen wurden auf den spätestmöglichen Termin, den 14. September 1930, festgesetzt. Man rechnete damit, daß die Nationalsozialisten ihre Position bei den Wahlen stärken würden. Das Ausmaß ihres Erfolges sah man nicht voraus: über sechs Millionen Stimmen machten sie zur zweitstärksten Partei im Reichstag. Trotz dieses bösen Vorzeichens konnte Brüning einen Regierungsmechanismus herstellen, der gewisse Aussichten auf Stabilität hatte – die Wahlen von 1930 hatten wenigstens zur Folge, daß die nächstfälligen Reichstagswahlen bis 1934 hinausgeschoben werden konnten, und bis zu diesem Zeitpunkt würde eine wirtschaftliche Erholung die Unterstützung, die die Nationalsozialisten fanden, untergraben, obwohl zu erwarten war, daß sie in der Zwischenzeit noch mehr Zulauf fänden. Der Schlüssel zu der neuen politischen Lage war die revidierte Haltung der Sozialdemokraten. Die Führung der SPD hatte nunmehr begriffen, daß eine Alternative zu Brüning nur das Ende der Demokratie, wahrscheinlich eine Regierung Hitler-Hugenberg, sein konnte. Selbst die Regierung Brüning mit ihren ungerechten deflationistischen Maßnahmen war dem vorzuziehen. Daher ging die SPD dazu über, Brüning zu tolerieren. Die direkte Verantwortung für Brünings wirtschaftspolitische Maßnahmen konnte sie umgehen, vorausgesetzt, sie wurden mit Hilfe von Verordnungen des Präsidenten durchgeführt. Gleichzeitig konnte die SPD sich bemühen, den Sturz Brünings zu verhindern, indem sie Versuche der späteren Annullierung von Notverordnungen ablehnte. Auf diese Weise gewann Brüning freie Hand zur Durchführung seiner deflationistischen Politik und für seine Bemühungen um außenpolitische Erfolge durch eine Beendigung der Reparationsleistungen – um die öffentliche Meinung zufriedenzustellen – und durch eine gewisse Wiederaufrüstung – um die Reichswehr zufriedenzustellen. Dieses System hatte eine Schwäche: es hing von der Unterstützung des Reichspräsidenten ab. Solange das Bündnis zwischen Brüning, Groener, Schleicher und Hindenburg funktionierte, konnte alles gut

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gehen; wenn es aber zerfiel, mußte Brünings System zusammenbrechen. Im Jahre 1932, als die wirtschaftliche Lage am schlimmsten war, kam es zum Bruch. Im Frühjahr errang Brüning einen letzten Sieg – es war keiner, wie sich bald herausstellte. Hindenburgs Amtszeit als Reichspräsident lief im Jahre 1932 ab, und nur sein Verbleiben im Amt konnte die Wahl eines nationalsozialistischen Kandidaten, wahrscheinlich Hitlers selbst, verhindern. Brüning versuchte zunächst, die Parteien zur Zustimmung zu einer Verlängerung von Hindenburgs Amtszeit ohne Neuwahl zu überreden. Diese Maßnahme erforderte eine Zweidrittelmehrheit im Reichstag. Die Deutschnationalen und die Nationalsozialisten lehnten ab, und Hindenburg ließ sich ohne Schwierigkeit bewegen, sich einem Wahlkampf zu stellen. Es war eine paradoxe Situation. Der bejahrte monarchistische Reaktionär wurde der Kandidat derjenigen, die die Demokratie verteidigten, namentlich der SPD, der Staatspartei (der ehemaligen Demokratischen Partei) und des Zentrums. Auch die Bayerische Volkspartei unterstützte ihn, obwohl sie zu Brünings Regierung in Opposition getreten war. Nach langer Unentschlossenheit stellte sich Hitler zur Wahl, während die DNVP, die Wert darauf legte, ihre Anhänger von denen Hitlers getrennt zu halten, Duesterberg, den zweiten Bundesführer des Stahlhelm, aufstellte. Als Kandidat für die Kommunisten trat Thälmann auf. Es gelang Hindenburg nicht, im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit zu erlangen, so daß für seine Wahl ein zweiter notwendig wurde. Im ersten Wahlgang erhielten Hindenburg etwa 18,5 Millionen Stimmen, Hitler fast 11,5 Millionen. Im zweiten Wahlgang gewann Hindenburg rund 19,5 Millionen, Hitler 13,5 Millionen Stimmen. Die ganze Angelegenheit mißfiel Hindenburg. Er hielt sich inzwischen selbst für das Symbol der Einheit Deutschlands, und für jemanden, der diesen Rang innehat, ist es irritierend, im ersten Wahlgang die Hälfte der Wählerstimmen gegen sich zu haben. Außerdem war Hindenburg darüber bestürzt, nahezu alle ›nationalen‹ Kräfte gegen sich versammelt zu sehen, besonders den Stahlhelm, dessen Ehrenmitglied er war. Er fühlte sich in keiner Weise an den Auftrag seiner Wahl, Brüning an der Macht zu halten, gebunden. Bald kam es zu Differenzen. Die Länderregierungen, namentlich die preußische Regierung, hatten seit einiger Zeit auf Maßnahmen gegen die SA gedrängt. Die Entdeckung von Plänen der SA für eine Machtergreifung mit Waffengewalt beschleunigte die Dinge. Die Regierungen von Preußen, Bayern und Württemberg erklärten, wenn das Reich keine Maßnahmen gegen die SA ergriffe, würden sie es selbst tun. General Groener, der Reichswehr- und Reichsinnenminister, bewog daher Schleicher, Brüning und Hindenburg zu einem Verbot der SA. Am 13. April 1932 wurde eine entsprechende Verordnung erlassen. Darin lag eine Änderung von Groeners Politik gegenüber den Nationalsozialisten. Er hatte sich bisher der Auffassung des Reichswehrministeriums angeschlossen, wonach die SA als »freiwillige patriotische Bewegung« als Hilfstruppe der Reichswehr im Falle eines polnischen Angriffs und als Rekrutenreservoir für die Reichswehr selbst behandelt werden sollte – »die Besten würden natürlich den Weg zu den

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nationalsozialistischen Organisatoren finden«241. Die Unterstützung, die Hindenburg und Schleicher dieser Meinungsänderung gewährten, erwies sich als sehr kurzfristig. Hindenburg erlebte Proteste von Seiten seiner deutschnationalen Freunde, Schleicher begegnete Zweifeln und Fragen von Reichswehroffizieren im ganzen Lande. Die Folge war der Rücktritt Groeners als Reichswehrminister. Am 30. Mai trat auch die Regierung Brüning zurück. Schleicher wollte zu der Politik der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten zurückkehren, und als Schwierigkeiten auftraten, zog er es vor, größere Zugeständnisse zu machen, statt einen Bürgerkrieg zu riskieren. Er kam zu der Auffassung, die Regierung Brüning-Groener sei das Haupthindernis gegen einen Kompromiß mit den Nationalsozialisten. Ein weiterer Faktor spielte eine Rolle. Brünings Arbeitsminister hatte einen Plan für die Ansiedlung von Arbeitslosen ausgearbeitet: das Land dazu sollte durch die Enteignung von bankrotten Grundbesitzern östlich der Elbe gewonnen werden. Die Grundbesitzer dagegen waren der Meinung, der Staat solle größere Anstrengungen machen, um sie vor dem Ruin zu bewahren. Ihre Proteste gegen den ›Agrarbolschewismus‹ fanden bei Hindenburg ein freundliches Gehör. Außerdem forderten Industrielle eine festere Haltung gegenüber Sozialisten und Gewerkschaftern, als sie die Regierung Brüning zeigte. Auf diese Weise verlor Brüning den für sein politisches Überleben notwendigen Rückhalt beim Reichspräsidenten. Der Sturz Brünings war das entscheidende Ereignis in der Geschichte dieser Jahre. Nachdem eine Regierung, die sich auf die Bereitschaft der Reichswehr zur Niederschlagung eines etwaigen, von den Nationalsozialisten unternommenen Aufstandes stützen konnte, durch die Politik des Reichswehrministeriums und durch die Sympathien mancher Offiziere für die Nationalsozialisten ausgeschlossen worden war, blieb keine andere Alternative zu dem System Brünings als der Versuch, sich mit den Nationalsozialisten zu verständigen. Schleicher stand im April und Mai 1932 mit Hitler in Verbindung. Von dem neuen Reichskanzler von Papen, einem Zentrumsabgeordneten im preußischen Landtag, wußte man, daß er bestrebt war, der Beteiligung der SPD an der preußischen Regierung ein Ende zu setzen. Er hatte eine versöhnliche Politik gegenüber den Nationalsozialisten befürwortet. Für das Amt des Reichskanzlers war er von Schleicher vorgeschlagen worden. Anfang Juni einigte sich Schleicher mit Hitler. Die Auflösung der SA sollte rückgängig gemacht werden – das geschah am 16. Juni – und der Reichstag aufgelöst werden. Nach den Wahlen sollten die Nationalsozialisten in die Regierung aufgenommen werden. Bei den Ende Juli abgehaltenen Wahlen erhielten die Nationalsozialisten 37% der Stimmen. Angesichts der Zahl der kommunistischen Mandate im Reichstag und der Gleichgültigkeit dieser Partei gegenüber der Republik wurde ein Regieren mit dem Reichstag ohne die Unterstützung der Nationalsozialisten unmöglich. Inzwischen hatte Papen am 20. Juli die preußische Regierung des Amtes enthoben und sich selbst zum Reichskommissar für Preußen ernannt. So wurde

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das Bollwerk der Demokratie in Deutschland ohne Widerstand oder Aufruhr gestürzt. Die Wahlen vom 31. Juli waren ein schwerer Rückschlag für Schleicher und Papen. Hitler forderte als Preis für die Mitarbeit der Nationalsozialisten an der Regierung für sich selbst die Kanzlerschaft, ohne die die Nationalsozialisten in Opposition zu Papen treten würden. Papen war nicht übermäßig beunruhigt; er war durchaus bereit, sich über gegnerische Mehrheiten hinwegzusetzen. Schleicher hoffte jedoch noch, die Nationalsozialisten für die Regierung zu gewinnen. Die schnelle Auflösung des neuen Reichstags am 12. September verzögerte die politische Krise bis zu den Wahlen vom 6. November. Diese brachten eine gewisse Ermutigung für Papen – die Deutschnationalen, nunmehr die einzigen, die ihn unterstützten, gewannen Stimmen, während die Nationalsozialisten, die 33% der Stimmen erhielten, Verluste erlitten. Im Grunde blieb aber die Situation unverändert. Papen konnte letzten Endes nur auf der Grundlage von Gewalt regieren – das Zentrum wollte nicht mit ihm zusammenarbeiten, die Sozialdemokraten hielten ihn für die Verkörperung bürgerlicher Reaktion, die Nationalsozialisten wollten seine Bedingungen nicht annehmen. Papen war bereit, Gewalt anzuwenden, Schleicher war es nicht. Er erwog die Gefahr, daß die Reichswehr gezwungen wäre, eine Regierung mit Waffengewalt am Leben zu erhalten, die sich auf eine denkbar schmale Basis stützte, und zog es vor, das Risiko nicht einzugehen. Im November wurde im Reichswehrministerium ein sorgfältiges Planspiel durchgeführt, das davon ausging, daß die Reichswehr einem gleichzeitigen Aufstand der Nationalsozialisten und der Kommunisten, einem Generalstreik sowie einer polnischen Invasion gegenüberstünde. Es war klar, daß unter diesen sehr unwahrscheinlichen Voraussetzungen die Reichswehr überwältigt würde.242 Mit solchen Ergebnissen versehen, unternahm Schleicher einen weiteren Versuch, die Unterstützung der Nationalsozialisten und möglicherweise anderer Kräfte für die Regierung zu gewinnen. Dem angeblichen Risiko des Bürgerkriegs zog Hindenburg widerwillig die Entlassung Papens vor. Am 2. Dezember 1932 trat Schleicher selbst an die Stelle Papens. Schleicher beabsichtigte, seine größere Beweglichkeit für eine Verbreiterung der Grundlage, auf die die Regierung sich stützte, zu benutzen. Er gab die eindeutig rechtsgerichtete Innenpolitik Papens auf und versuchte so, die Linke, besonders die Gewerkschaften, für sich zu gewinnen. Er glaubte, bei Hitler Unterstützung zu Bedingungen, die er, Schleicher, stellte, finden oder aber die NSDAP spalten zu können. Zu diesem Zweck bediente er sich seiner Kontakte zu Gregor Strasser, dem Führer des radikalen, antikapitalistischen Flügels der NSDAP, und nutzte die moralische Schwächung der Partei durch den in den Novemberwahlen erlittenen Rückschlag und durch die finanziellen Schwierigkeiten, in die sie infolge der wiederholten Wahlen im Jahre 1932 geraten war. Schleicher hoffte, entweder werde Strasser Hitler zur Zustimmung zu Schleichers Regierung bewegen oder aber Hitlers Führungsposition in der

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Partei mit Erfolg in Frage stellen oder eine eigene konkurrierende Bewegung gründen. Strasser versagte in jeder Beziehung. Auch gelang es Schleicher in der Rolle des ›sozialen Generals‹, der Sympathie für die Arbeiterklasse empfinde, nicht, die Hilfe der SPD zu erhalten. Obwohl die Führer sozialistischer Gewerkschaften zur Zusammenarbeit mit ihm bereit waren, lehnte die politische Führung den Gedanken, einen ›reaktionären‹ General zu unterstützen, kategorisch ab. Dies war ein schwerer Fehler. Gleichwohl hätte Schleicher politisch überleben können und den Nationalsozialisten keine andere Wahl als die Annahme einer untergeordneten Position in der Regierung zu lassen brauchen, wenn er die Unterstützung des Reichspräsidenten gehabt hätte. Er hätte den Reichstag auflösen, Neuwahlen verzögern und, gestützt auf Gewalt, im Amte bleiben können. Schleicher hatte beim Zentrum und den katholischen Gewerkschaften Rückhalt gewonnen, die freien Gewerkschaften empfanden Sympathie für ihn, der Chef der Heeresleitung der Reichswehr, General von Hammerstein, war ein zuverlässiger Bundesgenosse. Die entscheidende Voraussetzung aber fehlte: Schleicher konnte sich nicht auf Hindenburg verlassen.

� Abb. 10: General Kurt von Schleicher Diejenigen, die Hindenburg am meisten beeinflussen konnten, kehrten sich gegen Schleicher. Durch die Wiederaufnahme von Gesprächen über die

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Landbesiedlung hatte er der Furcht vor dem ›Agrarbolschewismus‹ neue Nahrung gegeben, und die Gefahr einer Untersuchung darüber, wie die Mittel zur Unterstützung ostelbischer Grundbesitzer verwendet worden waren, hatte diese davon überzeugt, daß eine freundliche Regierung notwendig sei. Durch seine Angebote an die Gewerkschaften hatte Schleicher die Industrie vor den Kopf gestoßen; er hatte sich die Feindschaft Hugenbergs und seiner Anhänger dadurch zugezogen, daß er Hugenberg nicht in die Regierung aufnahm. Am schwersten wog, daß Papen, dem der Reichspräsident vertraute, eine Alternativlösung zu der Schleichers entwickelte. Anfang 1933 wurden zwischen Papen und Hitler wieder Kontakte aufgenommen. Am 22. Januar war es so weit, daß Papen Hitlers Forderung nach dem Posten des Reichskanzlers akzeptierte. Auch war die Zustimmung des Sohnes des Reichspräsidenten, Oskar von Hindenburgs, gewonnen. Hitler forderte nur zwei weitere Ministersessel für die Nationalsozialisten: für Göring, der zugleich preußischer Innenminister werden sollte, und für Frick als Reichsinnenminister. Nun mußte man nur noch den widerstrebenden Präsidenten zur Zustimmung überreden. Die Unterstützung von Papens Plänen durch die Deutschnationalen war dabei ein Mittel. Obwohl Hugenberg Hitler mißtraute, stimmte er dem Gedanken einer ›nationalen Front‹ zu, und auch Seldte, der erste Bundesführer des Stahlhelm, machte mit. Das zweite Mittel, den Präsidenten zu überreden, war das Auftauchen eines Generals, der Hindenburgs Vertrauen genoß und bereit war, das Reichswehrministerium an Schleichers Stelle zu übernehmen, wodurch es in anscheinend sichere Hände geriet: es war General von Blomberg. Am 23. Januar lehnte Hindenburg das Ersuchen Schleichers um die Auflösung des Reichstags und um Vollmachten zur Erklärung des Ausnahmezustandes ab. Am 28. Januar trat Schleicher zurück. Am 30. Januar wurde Hitler als Reichskanzler vereidigt. Papen, Seldte und Hugenberg nahmen an, sie hätten durch Hitler die Unterstützung einer von ihnen selbst kontrollierten konservativen Regierung durch weite Bevölkerungskreise sichergestellt. In Wirklichkeit hatte Hitler den Anschein der Ehrbarkeit gewonnen, der geeignet war, den betagten Präsidenten und die Armee zu täuschen, so daß sie Maßnahmen, die eine nationalsozialistische Diktatur einleiteten, billigten. Rasch stimmte die Regierung einer neuen Notverordnung zu, die die Überwachung politischer Versammlungen und der Presse vorsah. Einspruch gegen deren Durchführung konnte bei den Gerichten nur erhoben werden, wenn die Polizei (die in Preußen von Göring schnell mit Nationalsozialisten durchsetzt wurde) oder das Reichsinnenministerium (das von Frick geleitet wurde) es zuließen. Der Reichstagsbrand vom 27. Februar lieferte den bequemen Vorwand für eine am Tag danach erlassene ›Verordnung zum Schutz von Volk und Staat‹, die alle verfassungsmäßigen Rechte suspendierte und die Reichsregierung ermächtigte, die Befugnisse der Länder zu übernehmen. Die im März abgehaltenen Neuwahlen zum Reichstag brachten trotz des Terrors, den die Nationalsozialisten allenthalben anwandten, der NSDAP nicht die absolute

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Mehrheit; sie gewann 44% der Stimmen. Da die kommunistischen Abgeordneten ausgeschaltet und einige sozialdemokratische Abgeordnete verhaftet worden waren, fehlten Hitler und seinen deutschnationalen Partnern an einer Zweidrittelmehrheit für die Durchbringung eines Ermächtigungsgesetzes, das die Regierung mit gesetzgebender Vollmacht ausstattete, nur noch wenige Stimmen. Da auch das Zentrum dem Ermächtigungsgesetz zustimmte, wurde es mit 441 gegen 94 Stimmen angenommen; nur die sozialdemokratischen Abgeordneten lehnten das Gesetz ab. Der nächste Schritt war der, die Länder durch die Ernennung von Reichsstatthaltern unter die direkte Kontrolle der Reichsregierung zu bringen. Dann wurden Hitlers Bundesgenossen von der Rechten auf ihre Plätze verwiesen. Der Stahlhelm wurde mit der SA vereinigt und damit Hitler unterstellt, Versammlungen der Deutschnationalen von der SA angegriffen und gesprengt. Ende Juni wurden viele Büros der DNVP besetzt, und sie löste sich selbst auf. Die SPD wurde verboten, und im Juni und Juli fügten sich die übrigen Parteien in die unvermeidliche Auflösung. Am 14. Juli erklärte ein Gesetz die NSDAP für die einzige politische Partei. Die Kräfte, um die allein sich Hitler noch zu kümmern hatte, waren Hindenburg, die Armee und seine eigenen Anhänger. Die Machtergreifung, die Hitlers Ernennung zum Reichskanzler folgte, beruhte auf dem allenthalben von der SA verbreiteten Terror. Ihre Gewalttätigkeit wurde nicht ganz von oben kontrolliert, manches war spontaner Ausdruck eigener Ziele. In der NSDAP und besonders in der SA gab es Bestrebungen nach einer ›zweiten Revolution‹ die echte soziale Neuerungen bringen sollte. Die selbständige Stellung der Armee sollte beseitigt und die Armee mit der SA vereinigt werden, das Beamtentum gesäubert und unter nationalsozialistische Kontrolle gebracht werden. Den Führern in der Wirtschaft und der Industrie sollte die Macht, die ihre wirtschaftliche Position ihnen gab, genommen werden. Wenn dies alles geschah, dann konnte der fieberhafte Ehrgeiz der mißvergnügten und unzufriedenen Leute, die die SA beherrschten, gestillt werden. Diese Pläne paßten nicht in Hitlers Konzept. Sie mußten die Feindschaft starker Kräfte in Deutschland erwecken, vor allem der Armee. Die Leute, deren Position die SA in Frage stellen wollte, waren diejenigen, deren Erfahrungen und Fähigkeiten für den Wiederaufbau der Macht Deutschlands am meisten gebraucht wurden, und dies spielte für Hitler eine weitaus größere Rolle als soziale Veränderungen. Außerdem blieb die Armee gefährlich. Wenn man Hindenburg aus der fügsamen Apathie aufwecken konnte, in die ihn sein Alter, Hitlers Schmeicheleien und die Erleichterung, die daher rührte, daß ihm seine Macht genommen worden war, versetzt hatten – und das Ressentiment der Armee war vielleicht dazu imstande –, dann war es noch immer möglich, Hitler die Macht zu entreißen. Im Jahre 1933 nahm die SA enorm zu – sie zählte jetzt Millionen von Mitgliedern. Hitler beobachtete die Situation unentschlossen. Einige Monate lang versuchte er, die Führung der SA, besonders den Stabschef Röhm, mit Konzilianz und Überredung im Zaum zu halten. Im Sommer 1934

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wurde er zum Handeln gezwungen. Am 17. Juni verurteilte Papen in einer in Marburg gehaltenen Rede die Befürworter der ›zweiten Revolution‹ und gebrauchte dabei Formulierungen, die teilweise das nationalsozialistische Regime herabsetzten. Auch drohte Papen, die Konservativen würden sich von der Regierung zurückziehen, wenn die Radikalen nicht in die Schranken gewiesen würden. Schlimmeres folgte. Am 21. Juni sagte Blomberg zu Hitler, der Reichspräsident bestehe darauf, daß der Zustand der Spannung sofort beendet werde; wenn dies nicht geschehe, werde er das Kriegsrecht erklären und der Reichswehr die Macht übertragen. Am 30. Juni 1934 schlug Hitler zu. Mit Hilfe der SS, einem Elitekorps ausgewählter Männer, das organisatorisch noch zur SA gehörte, leitete Hitler die Ermordung der SA-Führer in die Wege. Andere, wie Schleicher, der bayrische Politiker Kahr und Gregor Strasser, wurden gleichzeitig beseitigt. Die Folge des 30. Juni war die Stabilisierung von Hitlers Regime. Die Armee und die konservative Rechte nahmen die Herrschaft Hitlers seitdem hin und schlossen die Augen vor den Maßnahmen der Nationalsozialisten, so blutig sie auch sein mochten. Hitler verbot die soziale Revolution und ließ der Armee eine gewisse Selbständigkeit innerhalb ihres Tätigkeitsbereiches. Diese Partnerschaft dauerte wenigstens bis zum 20. Juli 1944 und für viele der Betroffenen bis zum Ende, wenn sie auch manchmal von der Armee in Zweifel gezogen wurde, die Konservativen gelegentlich zögerten und die Partei sich hin und wieder störend einmischte. So kämpfte die Armee und machte Eroberungen und ließ der SS freie Hand, während sie sich zurückhielt. Männer wie Papen, Neurath und Schwerin-Krosigk dienten Hitler bis in die letzten Tage des nationalsozialistischen Deutschland. Die Unterstützung, die Hitlers Herrschaft bei der Masse der Bevölkerung fand, wurde mit verschiedenen Mitteln erhalten und erweitert. Die Jahre nach 1933 waren eine Zeit wirtschaftlicher Erholung und Expansion. Vor allem verschwand die Arbeitslosigkeit. Die Zahl der erfaßten Arbeitslosen betrug im Jahre 1932 durchschnittlich 5,5 Millionen, während es 1938 weniger als eine halbe Million waren. Dies wurde in erster Linie durch eine Intensivierung der erstmals von Papen und Schleicher angewandten Politik erreicht, nämlich dadurch, daß man an die Wirtschaft, besonders an solche Industrielle, die bereit waren, zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen, Kredite in Form von Steuerermäßigungszertifikaten vergab. Die Nationalsozialisten vermehrten die Ausgaben des Staates für ausgedehnte öffentliche Arbeiten, besonders für Autobahnen. Außerdem gab die Regierung, besonders seit 1936 und noch mehr seit Ende 1937, große Geldbeträge für die Wiederaufrüstung aus. Die Folge war ein ständiges wirtschaftliches Wachstum, das zunächst den Stand der Zeit vor der Depression wieder erreichte und ihn dann übertraf. Der Verbrauch auf dem zivilen Sektor wurde durch die Beibehaltung der hohen Steuersätze der Depressionszeit eingeschränkt. Die Preise wurden kontrolliert, während die Löhne, die durch von der Regierung ernannte ›Treuhänder der Arbeit‹ und nicht mehr durch Vereinbarungen

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zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern festgesetzt wurden, niedrig gehalten wurden. Die Vollbeschäftigung und das verhältnismäßig hohe Preisniveau (die Mark wurde nicht abgewertet, um zu vermeiden, daß die panische Furcht vor einer Wiederkehr der Inflation ausbrach) drückten die Ausfuhr und regten die Einfuhr an. Diese Entwicklung wurde durch sorgfältige Devisenkontrollmaßnahmen und Einfuhrbeschränkungen gehemmt. Hand in Hand mit der Devisenkontrolle gingen Maßnahmen zur Entwicklung bilateraler Handelsbeziehungen. Diese Maßnahmen waren in Südosteuropa und gegenüber manchen Ländern Lateinamerikas besonders erfolgreich. Indem Deutschland höhere als die Weltmarktpreise für Lebensmittel und Rohstoffe anbot und mit Sperrmark bezahlte, die nur für Käufe in Deutschland benutzt werden konnte, wurde auf friedlichem Wege eine wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands in Südosteuropa errichtet. Bis Anfang 1939 ging mehr als die Hälfte der Ausfuhr Bulgariens, Jugoslawiens und Ungarns nach Großdeutschland, und mehr als ein Drittel der Ausfuhr Griechenlands, der Türkei und Rumäniens nahm den gleichen Weg. Im Rahmen dieses Systems erreichte der Lebensstandard der deutschen Bevölkerung das Niveau des Wohlstandsjahres 1928. Dabei konnte die Regierung die Ausgaben für die Wiederaufrüstung von vier Milliarden Mark in der Zeit von 1933 bis 1935 auf acht Milliarden Mark in der Zeit von April 1937 bis April 1938 steigern. Auf diese Weise waren mit der Aufrüstung ein hoher Lebensstandard und die Sicherheit der Vollbeschäftigung für das deutsche Volk verbunden. Ohne Zweifel hätte der Lebensstandard noch höher sein können, wenn der Staat einen kleineren Teil der Produktionsmittel der Nation für sich in Anspruch genommen hätte, doch wie die Dinge lagen, waren die meisten Deutschen recht zufrieden. Im Jahre 1938 wurde die wirtschaftliche Lage gespannt. Die Ausgaben für die Aufrüstung stiegen auf 18 Milliarden Mark. Es entstand eine inflationistische Situation, die teilweise durch Preis- und Lohnkontrollen zurückgedrängt wurde, sich aber klar in der Knappheit von Arbeitskräften sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie zeigte. Wenn auch die hohen staatlichen Ausgaben und die Kontrollmaßnahmen im Inland es verhinderten, daß sich die 1937 einsetzende weltweite Depression in Deutschland unmittelbar auswirkte, so hatte sie doch ein Sinken der Preise für die deutschen Exporte zur Folge. Dieser Vorgang wurde gefördert durch die Aufwärtsentwicklung der Preise und Löhne in Deutschland, die die Regierung nicht ganz unter Kontrolle bringen konnte. Auf diese Weise geriet die deutsche Zahlungsbilanz aus dem Gleichgewicht. Das war gefährlich. Deutschland konnte sich mit Lebensmitteln nicht ganz selbst versorgen, und schlechte Ernten konnten zusätzliche Schwierigkeiten verursachen. Die Aufrüstung machte die Einfuhr von wichtigen Mineralien notwendig. Die Knappheit an Arbeitskräften wurde durch Einwanderung zum Teil gemildert, doch schickten ausländische Arbeiter Geld nach Hause, was Devisen erforderte. In den Jahren 1938 und 1939 stand die Reichsregierung vor dringenden Entscheidungen. Sie konnte die Aufrüstung verlangsamen, was für

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Hitler jedoch völlig unannehmbar war, solange seine außenpolitischen Ziele nicht erreicht waren. Sie konnte den Verbrauch auf dem zivilen Sektor beschneiden und ihre Zuflucht zu einer echten Kriegswirtschaft nehmen, indem sie eine strenge Rationierung und noch höhere Steuern einführte. Auch gegen diesen Weg gab es politische Einwendungen: die nationalsozialistischen Gauleiter und die Polizei waren sich durchaus darüber im klaren, daß die Popularität des Regimes von der Erhaltung eines hohen Lebensstandards abhing. Es blieb die Entscheidung für den Krieg. Rasche militärische Erfolge würden vielleicht zur Herrschaft Deutschlands in Europa führen, bevor die wirtschaftliche Entwicklung es unmöglich machte, die Kriegsmaschine weiter laufen zu lassen. Militärische Eroberungen würden vielleicht die Grundlagen der militärischen Macht stärken – Rohstoffe, Lebensmittel und Arbeitskräfte würden verfügbar, ohne daß man Devisen zu ihrer Beschaffung brauchte. Außerdem konnte ein Krieg die Rechtfertigung für die Einführung der Kriegswirtschaft bilden, wenn diese notwendig werden sollte. Anscheinend erkannte Hitler, daß diese Faktoren zum Kriege drängten. Am 22. August 1939 sagte er zu den militärischen Oberbefehlshabern: »Unsere wirtschaftliche Lage ist infolge unserer Einschränkungen so, daß wir nur noch wenige Jahre durchhalten können. Göring [der Beauftragte für den Vierjahresplan] kann das bestätigen. Uns bleibt nichts anderes übrig, wir müssen handeln.«243 Das nationalsozialistische Regime überschüttete Deutschland mit Propaganda und geistlosem Unsinn. Sein Hauptziel war die psychologische Vorbereitung auf den Krieg. Es gibt keinen zwingenden Beweis dafür, daß es damit Erfolg gehabt hätte. Abgesehen von einer beträchtlichen Anzahl begeisterter Nationalsozialisten bestand in der deutschen Bevölkerung anscheinend kein großes Verlangen nach einem Angriffskrieg. Auch gibt es keinen klaren Beweis dafür, daß die vor dem Kriege eingeführten judenfeindlichen Maßnahmen – die bis dahin noch nicht bis zum Mord gegangen waren – mehr als passive Billigung gefunden hätten, denn die wirtschaftliche Erholung beseitigte zum größten Teil den Widerhall, den der Antisemitismus bei weiten Bevölkerungskreisen gefunden hatte. Hitler fand Unterstützung trotz, nicht wegen der Politik, die ihm am meisten am Herzen lag: Angriffskrieg und Vernichtung der Juden. Dennoch ist nicht zu bestreiten, daß Hitlers Regime bis 1939 das deutsche Volk weitgehend hinter sich hatte, und zwar in erster Linie deswegen, weil es von einem anscheinend stabilen Wohlstand begleitet wurde. 11. Das Ende des Friedens 1929–1933 Im Herbst 1929 schien der Friede in der Welt gesichert; im Herbst 1933 hatte sich alles geändert. Eine große Hoffnung war vergangen, eine große Illusion zerstört. Die Vorstellung von einem friedlichen, besonnenen, gemäßigten Deutschland war verschwunden. Der Gedanke, der Völkerbund könne allein durch moralische Autorität den Frieden gebieten, war zunichte gemacht worden. Die

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Kräfte in Deutschland und Japan, die den Frieden in Frage stellten, waren nicht neu; militaristischer Nationalismus war in den meisten Ländern eine recht vertraute Erscheinung. Neu in diesen Jahren war der Zusammenbruch der Weltwirschaft, der sowohl in Deutschland als auch in Japan die Nationalisten zur Herrschaft brachte. Im Jahre 1929 errang die Politik der Verständigung und des Kompromisses der Ära Briand-Stresemann in Deutschland einen Sieg. Die nationalistische Opposition veranstaltete ein Volksbegehren gegen die Annahme des Young-Planes. Trotz aller Anstrengungen der Deutschnationalen Volkspartei und der Nationalsozialisten wurde das Volksbegehren nur von wenig mehr als zehn Prozent der deutschen Wählerschaft unterstützt (in Form von Eintragungen in eine Liste). Obwohl dies darauf schließen ließ, daß der Widerstand gegen Kompromisse mit dem Ausland in Deutschland noch lebendig war, zeigte das Referendum, daß eine vorsichtige Politik von der überwältigenden Mehrheit des Volkes unterstützt wurde. Im Jahre 1930 änderte sich die Situation. Bei den Reichstagswahlen im September erhielten die Nationalsozialisten mit achtzehn Prozent der abgegebenen Stimmen 107 Sitze – 1928 hatten sie mit 2,5 Prozent 12 Sitze gewonnen. In einer Hinsicht war der Standpunkt der Nationalsozialisten in außenpolitischen Fragen ganz klar: die Unterdrückung durch das Ausland war für die Leiden Deutschlands verantwortlich, und je eher die Macht Deutschlands wiederhergestellt würde und die Absichten der Ausländer durchkreuzt würden, desto eher würden diese Leiden enden. Die Wahlen von 1930 ließen es zur Gewißheit werden, daß nicht- nationalsozialistische deutsche Regierungen nach diplomatischen Siegen trachten würden, um ihre Geschicklichkeit im Umgang mit Ausländern zu zeigen und um sich gegen die Beschuldigung der Schwäche und Verräterei durch die Nationalsozialisten zu schützen. Natürlich wäre es noch besser für deutsche Regierungen und für jedermann sonst gewesen, die sehr realen Leiden eines großen Teils des deutschen Volkes zu erleichtern; doch volkswirtschaftliche Orthodoxie versagte ihnen das. So wurden die deutschen Forderungen immer lauter. Besonders in Frankreich standen die Regierungen vor einem großen Dilemma. Sollten sie die Hoffnungen der Ära Stresemann-Briand überhaupt preisgeben und sich jeglichem Aufstieg der Macht Deutschlands widersetzen? Oder sollten sie sich an die schwindenden Hoffnungen auf eine französisch-deutsche Aussöhnung klammern? Brüning trat glaubwürdig für die letztgenannte Politik ein; was seine Regierung auch immer fordere, die Nationalsozialisten würden, wenn sie an die Macht kämen, mehr fordern. Die Franzosen sollten daher großzügig sein und Brüning helfen, die Nationalsozialisten von der Macht fernzuhalten. Er ließ sich nicht von dem Gegenargument Briands überzeugen, nämlich daß Briand seinen Einfluß in Frankreich für eine maßvolle Politik geltend mache und daß die Dinge für Deutschland noch schlimmer würden, wenn er mit seiner Politik in Frankreich durch eine lautstarke deutsche Agitation diskreditiert würde. Brüning und noch mehr Papen, dessen Regierung die unbeliebteste war, seit es ein geeintes

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Deutschland gab, mußten sich um Triumphe im Ausland bemühen, um ihre Position in Deutschland zu verteidigen. Die Franzosen konnten der Entscheidung: Versöhnung oder Festigkeit nicht entrinnen. Der Einsatz war hoch und stieg noch höher. Die falsche Antwort konnte für Frankreich gefährlich werden. Das Ergebnis war wie üblich: man ließ sich auf einen Kompromiß ein, der ein wenig von beidem enthielt. In der Rückschau ist klar, daß diese Politik den Untergang Frankreichs zur Gewißheit machte. Frankreich versäumte es in diesen Jahren, bevor Hitler Reichskanzler wurde, gegen die deutschen Forderungen wirksam Widerstand zu leisten. Ebenso unterließ es Frankreich, den Befürwortern einer maßvollen deutschen Politik die Chance zu geben, zu beweisen, daß eine solche Politik sich auszahlen könne. Die großen Themen der europäischen Diplomatie in diesen Jahren waren die Wirtschaftskrise und die Abrüstung. In beiden Fällen ging es mehr und mehr um deutsche Forderungen; sie galten der Beendigung der Reparationen und der Wiederbewaffnung Deutschlands. Die Bemühungen, die sichtbare Stabilität und den Frieden der späten zwanziger Jahre zu sichern und dauerhaft zu machen, gingen im Jahre 1930 weiter. Im Jahre 1932 forderte Deutschland offen das Recht zur Wiederaufrüstung, stellte die Reparationszahlungen ein, und die Nationalsozialisten wurden die größte deutsche Partei. Pläne für die Erhaltung des Status quo der Nachkriegszeit bei allmählichen Modifizierungen wurden mehr und mehr von den Forderungen der Deutschen nach seiner völligen Beseitigung übertönt. So versickerte Briands Vorschlag von 1930, mit dem er empfohlen hatte, »auf irgendeine Weise eine Föderation« zwischen den Staaten Europas zu schaffen. Der Grund lag vor allem darin, daß Deutschland alles ablehnte, was irgendwie einer Anerkennung des Status quo gleichkam. Brüning kämpfte 1931 weiterhin mit den durch die weltweite Depression geschaffenen Problemen: über vier Millionen Arbeitslose, ein wachsender Zulauf zu extremistischen Politikern, Zusammenbruch einer zuverlässigen Regierungsmehrheit im Reichstag. Er setzte eine drastische deflationistische Politik energisch fort, wodurch er die Probleme noch vergrößerte. Er suchte im Ausland Erfolge zu erringen, um sein Prestige in Deutschland zu erhöhen. Die Engländer hatten einen Plan, den ihr Botschafter in Berlin angeregt hatte. Dieser schrieb: »Ein Besuch in England würde, glaube ich, ihm [Brüning] ein internationales Ansehen verleihen, das ihm in Deutschland selbst eine Hilfe wäre. Ich kann mir nichts vorstellen, was die Deutschen mehr beeindrucken und ihnen mehr gefallen würde als zum Beispiel ein Wochenende, das er in Chequers verbrächte.«244 Brüning hatte etwas Gewichtigeres im Sinn, einen Gedanken, der von seinem Außenminister Curtius stammte. Im März wurde der Plan einer österreichisch-deutschen Zollunion bekanntgegeben. Der Vorschlag wurde ohne vorherige Konsultation mit Frankreich vorgelegt. Dessen Argwohn war sofort geweckt. Der Plan sah aus wie eine Vorstufe des Anschlusses und wie der Anfang eines weiteren Angriffs auf die Bestimmungen von Versailles. Eine

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diplomatische Vorbereitung hatte es nicht gegeben, und nur die Sowjetunion war vorher unterrichtet worden. Die Unruhe, die der Vorschlag erregte, wurde hierdurch vergrößert. Die Franzosen bestanden darauf, der Plan sei unvereinbar mit der Unabhängigkeit, zu deren Erhaltung Österreich verpflichtet war. Die Engländer beklagten das Auftauchen einer Streitfrage, die geeignet war, den Erfolg der Abrüstungsgespräche zu gefährden. Brüning seinerseits verkündete die leidenschaftliche Entschlossenheit, die Zollunion ohne Rücksicht auf alle Einwände durchzusetzen. Die Position der französischen Diplomatie beim Widerstand gegen den Plan wurde durch die finanzielle Schwäche Österreichs und durch die Tatsache, daß die finanzielle Lage Frankreichs sich 1931 stetig besserte, erheblich verstärkt. Im Mai mußte die größte österreichische Bank, die Creditanstalt, von der österreichischen Regierung gestützt werden. Die Regierung selbst war gezwungen, finanzielle Hilfe im Ausland zu suchen. Da die Franzosen den Verzicht auf die Zollunion forderten, griff die Bank von England mit einem Kredit an Österreich ein. Allerdings gab der österreichische Außenminister Dr. Schober an dem Tag, als der englische Kredit gegeben wurde, inoffiziell zu, daß der Plan erledigt sei. Es handelte sich um eine kurzfristige Anleihe, mehr konnte die Bank von England nicht tun. Nur von Frankreich konnte langfristige Hilfe kommen. Das bedeutete die Preisgabe der Union. Anfang September wurde der Verzicht förmlich verkündet.245 Curtius mußte zurücktreten. In Deutschland verstärkte sich der Eindruck, daß die Alliierten, besonders die Franzosen, vernünftigen Hoffnungen der Deutschen den Weg versperrten, und die Behauptung, Brüning und das ›System‹ seien zu schwach, um deutsche Ansprüche durchzusetzen, wurde für die Deutschen noch überzeugender. Das Verhalten Frankreichs hinsichtlich des Hoover-Moratoriums bekräftigte diese Auffassung. Im Juni 1931 nahmen die Gold- und Devisenverluste der Reichsbank plötzlich rasch zu. Das Ausmaß der kurzfristigen Verschuldung Deutschlands war allgemein bekannt, und die ungünstige Lage der österreichischen Creditanstalt ließ es vielen Inhabern deutscher Obligationen geraten erscheinen, ihr Geld abzurufen. Wie immer in solchen Fällen bestätigte diese Auffassung sich selbst, und Mitte des Monats schien es möglich, daß die Reichsbank gezwungen würde, ihre Zahlungen einzustellen. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch in Mitteleuropa schien bevorzustehen, als der Präsident der USA, Herbert Hoover, mit dem Vorschlag intervenierte, die Zahlungen für alle Schulden der Regierungen untereinander, auch die der Reparationen, auszusetzen. Die Agitation gegen die Fortsetzung der Reparationen hatte in Deutschland an Umfang zugenommen. Es gab eine allgemeine Tendenz, die Reparationen für die Schwierigkeiten Deutschlands verantwortlich zu machen, und sogar die Sozialdemokraten waren bereit, ihre Abneigung gegen Brünings deflationistische Maßnahmen zu zügeln, wenn er wirksam gegen die Reparationen vorginge. Mit Recht wurde angenommen, Brüning werde seinen Besuch in England im Juni benutzen, um die Reparationsfrage zur Sprache zu bringen. Der Vorschlag des Präsidenten machte sich einen Gedanken der

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deutschen Regierung zunutze. In Frankreich glaubte man, der Präsident gebe zu viel preis. Man machte geltend, wenn die Deutschen die Reparationszahlungen einmal eingestellt hätten, würden sie nie wieder damit anfangen, und es äußerte sich Unwille darüber, daß die Deutschen darauf bestanden, weiterhin Geld für Waffen auszugeben. »Wir zahlen für die ›Deutschland‹ [den kleinen Panzerkreuzer]«, erklärte Herriot.246 Die Franzosen forderten mit Nachdruck, die Deutschen sollten veranlaßt werden, wenigstens die Jahresraten zu zahlen, die der Young-Plan für unter allen Umständen zahlbar erklärt habe, im Gegensatz zu denjenigen, deren Zahlung ausgesetzt werden könnte, falls der normale Ablauf des deutschen Wirtschaftslebens unterbrochen werde. Nachdem sie das Wirksamwerden des Hoover-Moratoriums um eine Woche verzögert hatten, errangen die französischen Unterhändler einen Sieg, der allerdings nur auf dem Papier stand, einen Sieg von der Art, wie sie die französische Diplomatie mehr und mehr zu akzeptieren genötigt war. Die uneingeschränkten Reparationszahlungen sollten fortgesetzt werden, aber das gezahlte Geld sollte gleichzeitig der Deutschen Reichsbahn geliehen werden, so daß das Geld Deutschland nie verlassen würde. Im Juli 1931 beschloß eine Konferenz in London, die Gläubiger Deutschlands sollten gebeten werden, ihre Gelder nicht zurückzuziehen, und eine Untersuchung sollte angestellt werden, um Deutschlands Kreditbedarf zu prüfen. Im August berichtete ein Komitee, langfristige Anleihen an Deutschland seien unmöglich, es sei denn, »die internationalen von Deutschland zu leistenden Zahlungen« wären »nicht derartig, daß sie die Aufrechterhaltung seiner finanziellen Leistungsfähigkeit gefährdeten«. So wurden die Reparationen in Frage gestellt. Die deutsche Regierung forderte die Einberufung des beratenden Sonderausschusses, den der Young-Plan vorsah, um zu prüfen, ob das wirtschaftliche Leben Deutschlands durch die Zahlung der Jahresraten nach dem Young- Plan gefährdet werde oder nicht. Der Ausschuß erstattete im Dezember Bericht. Dieser bedeutete, daß der Young-Plan nie wieder zum Leben erweckt werden würde. Die Krise war größer als die »verhältnismäßig kurze Depression«, die der Young-Plan in Rechnung stellte. Der Ausschuß forderte Maßnahmen der Regierungen und folgerte: »die Aussetzung aller Schulden der Regierungen untereinander (Reparationen und andere Kriegsschulden) [...] ist der einzige dauernd wirksame Schritt zur Wiederherstellung des Vertrauens.« Die französische Regierung betrachtete mit Bestürzung das Scheitern ihres Versuches, den Young- Plan, wenn auch nur theoretisch, in Gang zu halten, und griff zu Maßnahmen, die darauf abzielten, den Schlag für die französische Deputiertenkammer und die Wählerschaft zu mildern. Es war klar, daß die Reparationen erledigt waren. Eine Entschädigung hätte darin liegen können, daß sich die USA damit einverstanden erklärten, ihre Forderungen nach Rückzahlung von Kriegsschulden fallenzulassen. Dies wurde abgelehnt. Deutschland, England und Italien stimmten darin überein, daß zunächst die Reparationen gestrichen werden müßten und daß man hernach die Amerikaner

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auffordern müsse, ihre Meinung zu ändern. Der französische Ministerpräsident Laval mußte sich damit begnügen, einen Aufschub der endgültigen Aufhebung der Reparationen bis nach den Wahlen im Frühjahr zu erreichen. Auf der Konferenz von Lausanne (die vom 16. Juni bis 9. Juli 1932 stattfand) beabsichtigten die Franzosen, wie Laval es im Januar formulierte, »die Erregung zu beschwichtigen, die weitgehend durch die Haltung Deutschlands entstanden ist, welche die Überzeugung sehr bekräftigt hat, daß Deutschland entschlossen ist, alle Verträge und Verpflichtungen zu zerreißen«. Reparationen waren von Deutschland nicht mehr zu erwarten – Berthelot, der ständige Staatssekretär im französischen Außenministerium, sagte im Februar 1932 zu dem britischen Botschafter, er habe »niemals daran gezweifelt, daß die Reparationen erledigt gewesen seien, nachdem einmal die Zahlungen im letzten Juli ausgesetzt worden seien«. Die französische Regierung suchte diese Tatsache jedoch zu verheimlichen, gleichviel, ob Laval, Tardieu oder Herriot an der Macht war. Im Juni sagte der französische Finanzminister Germain Martin zu dem britischen Premierminister, »er zweifle, ob irgendeine französische Regierung, die in Lausanne eine völlige und endgültige Streichung [der Reparationen] akzeptieren würde, sich halten könnte«247. Die Franzosen suchten in Lausanne die Tatsache zu verheimlichen, daß die Reparationen beendet waren, während der damalige deutsche Reichskanzler von Papen einen diplomatischen Sieg zu erringen suchte, indem er absolut klarmachte, daß sie es waren. Die Verhandlungen waren daher schwierig, und das Ergebnis war eine Fiktion. Deutschland sollte eine abschließende Zahlung von drei Milliarden Goldmark leisten, und zwar in Gestalt von Obligationen, auf die das Reich erst nach Ablauf von drei Jahren Zinsen und Amortisation zahlen sollte. Bis zum Inkrafttreten der Vereinbarungen von Lausanne sollten diese und alle von Deutschland gemäß früheren Vereinbarungen zu leistenden Zahlungen ausgesetzt werden. Das sogenannte gentlemen’s agreement zwischen England, Frankreich, Italien und Belgien vom 8. Juli 1932 schrieb vor, daß sie die Abmachungen von Lausanne nicht ratifizieren sollten, bis »eine befriedigende Regelung zwischen ihnen und ihren Gläubigern erreicht ist« – das bedeutete praktisch, bis die USA sich damit einverstanden erklärt hätten, ihre Ansprüche auf die Kriegsschulden der früheren Alliierten aufzugeben.248 Das geschah jedoch nicht. Tatsächlich traf die französische Regierung im Dezember 1932 Vorbereitungen, um die dann fällige Rate an die Vereinigten Staaten zu entrichten. Da griff die Deputiertenkammer ein. Die Rechte und ein Teil der Mitte sowie die Sozialisten widersetzten sich dieser Zahlung, und die Regierung wurde überstimmt. Diese Entscheidung bedeutete das Ende der Zahlungen durch Frankreich und die Anerkennung des endgültigen Schlußstrichs unter alle Hoffnungen auf deutsche Zahlungen an Frankreich. Die Vereinbarungen von Lausanne konnten nicht in Kraft gesetzt werden, bevor Verhandlungen mit den USA stattgefunden hatten. Sie konnten nicht verworfen werden, bevor diese gescheitert waren. Tatsächlich blieben die Verhandlungen unentschieden, so daß das gesamte

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System von Reparationen und Kriegsschulden zusammenbrach. Im Dezember 1932 zahlte England eine Rate seiner Schulden an die USA. Im Juni 1933 wurde nur eine symbolische Zahlung »als Anerkennung der Schuld in Erwartung einer endgültigen Regelung« geleistet. Im Juni 1934 stellte England die Zahlungen gänzlich ein, und danach zahlte nur Finnland noch etwas. So war schließlich der Zustand erreicht, den England immer gefordert hatte: Kriegsschulden und Reparationen waren annulliert. Im Jahre 1921 war die Gesamtsumme der deutschen Verpflichtungen auf 132 Milliarden Goldmark festgesetzt worden. Deutschland zahlte tatsächlich etwas weniger als 23 Milliarden. Davon erhielt Frankreich 9,5 Milliarden, eine Summe, die bei weitem nicht ausreichte, auch nur die Ausgaben in den während des Krieges verwüsteten Gebieten zu decken. Die Opfer und Zugeständnisse Frankreichs fanden keinen Dank. Von Deutschland war kein Dank zu erwarten, aber es kam auch keiner von den früheren Verbündeten oder von den USA. Weill-Raynal schließt sein großartiges Werk Les Réparations Allemandes et la France mit einer plausiblen Erklärung dafür: die französischen Regierungen verheimlichten ihren Landsleuten die Zugeständnisse, die sie machten, deckten sie mit einem energischen Wortschwall zu, täuschten Widerstand vor und bestritten, überhaupt Konzessionen gemacht zu haben. Auf diese Weise gewann Frankreich keine moralische Anerkennung und verlor Reparationen, ohne Hilfe gegen das sich wieder erhebende Deutschland zu gewinnen.249 Die meisten Pläne und Entwürfe zur Abrüstung in diesem kurzen Zeitabschnitt zwischen den beiden größten Kriegen, die je geführt worden sind, verdienen kaum mehr als antiquarisches Interesse. Die Abrüstung zu Wasser, oder jedenfalls die Beschränkung der Marinestreitkräfte, wurde erfolgreicher betrieben als die Abrüstung zu Lande oder in der Luft. Das lag daran, daß nur wenige Mächte davon betroffen waren – England, die USA, Frankreich, Italien und Japan – und daß man die betroffenen Waffen ziemlich leicht miteinander vergleichen konnte, ferner daran, daß alle diese Mächte daran interessiert waren, ein kostspieliges Marine-Wettrüsten zu verhindern. Eine weiterreichende Abrüstung, darunter die Verkleinerung von Armeen, wurde lang und breit diskutiert, doch kam bei all den Gesprächen nichts heraus. In die Diskussionen drängte sich das zentrale Problem der Epoche: das Deutschland-Problem. Die Aussichten auf eine Abrüstung schienen nach Locarno, in der Ära Stresemann, real. Sie schwanden in der Zeit Hitlers. Um es noch einmal zu sagen: Die Jahre von 1929 bis 1933 sind die Zeit des Übergangs zwischen der Liquidation eines Krieges und der Vorbereitung des nächsten. 1925, im Jahr des Locarnopaktes, setzte der Völkerbund eine ›vorbereitende Kommission für die Abrüstungskonferenz‹ ein. Deutschland, die Vereinigten Staaten und die UdSSR wurden eingeladen, sich an der Arbeit der Kommission zu beteiligen. Sie arbeitete langsam, schlug sich mit endlosen technischen Einzelheiten herum, und die Abrüstungskonferenz trat erst im Februar 1932 zusammen. Bald nach Eröffnung der Konferenz brachte der Reichskanzler

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Brüning die zentrale Frage zur Sprache. Er beanspruchte für Deutschland die Gleichberechtigung mit allen anderen Mitgliedern des Völkerbundes. Diese Gleichberechtigung müsse auch für die Rüstung gelten. Im Sommer 1932 wurde von Deutschland eine Krise ausgelöst: als sich im Juli die Konferenz vertagte, kündete der Vertreter Deutschlands an, Deutschland werde an zukünftigen Sitzungen nicht mehr teilnehmen, wenn nicht vorher der deutsche Anspruch auf Gleichberechtigung gebilligt werde. Der britische Standpunkt war wie immer der, daß man Deutschland beschwichtigen solle. Im Oktober 1932 schrieb MacDonald an Herriot: »Zweifellos ist Europa in jüngster Zeit in die Hände von Militaristen geglitten, und der Antrieb dazu rührt sicherlich zu einem großen Teil von der psychologischen Rückwirkung der wirtschaftlichen und politischen Lage Deutschlands auf die Geisteshaltung der Deutschen her. Ich glaube, man hätte dies vor einigen Jahren vorhersehen sollen, so daß man verhindert hätte, daß sich Ressentiment anstaute [...] Ich glaube nicht, daß irgend jemand von uns sich der deutschen Forderung, der Vertrag von Versailles müsse in mancher Hinsicht überprüft werden, starr widersetzen könnte.« Die Respektierung der Verträge solle durch die Preisgabe von Verträgen, die Deutschland nicht respektieren würde, und durch die Schaffung solcher, die es respektieren würde, gewahrt werden. Je beunruhigender sich Deutschland verhielt, desto stärker wurden die Argumente für seine Beschwichtigung. In Washington äußerte der Außenminister Stimson Unwillen über die deutschen Ansprüche und forderte Widerstand dagegen, doch Präsident Hoover schlug wie gewöhnlich eine viel weniger kämpferische Linie ein. Im September erklärte Hoover: »Wir legen Wert darauf, daß Deutschland weiterhin an der Rüstungskonferenz teilnimmt, die jetzt so viel Fortschritt für die ganze Welt verspricht, und daß Deutschland diesem großen Zweck seine Hilfe leiht.«250 Herriot stand vor einer schwierigen Situation. Wieder einmal weigerte sich die übrige Welt, das Wesen der Bedrohung durch Deutschland zu verstehen. Für die Franzosen war die Diskussion der ›Abrüstung‹, die, wie sich herausstellte, nur eine Vergrößerung der relativen Stärke Deutschlands bedeutete, ein sinnloses Unterfangen, wenn Europa es mit einem unbeständigen Deutschland, wo der extreme Nationalismus im Vormarsch war, zu tun hatte. Frankreich konnte es ablehnen, den Vertrag von Versailles zu modifizieren, aber die Deutschen würden gleichwohl aufrüsten. Frankreich konnte den Vertrag von Versailles durchzusetzen suchen, doch dies Verfahren war in Locarno aufgegeben worden. Frankreich konnte eine versöhnliche politische Haltung einnehmen, nicht aus irgendeiner Hoffnung, damit Erfolg zu haben, sondern damit es die Freundschaft und die Hilfe der Vereinigten Staaten gewönne, um sie in einer Ungewissen Zukunft, wenn die Illusionen über Deutschland in diesen Ländern verschwunden sein würden, zu nutzen. Herriot entschied sich für das letztgenannte Vorgehen.

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Im Januar 1932 waren in Paris Pläne entwickelt worden, um die Abrüstungsfrage zu regeln. Sie erschienen in Gestalt von Vorschlägen, die Sicherheit dadurch zu vergrößern, daß man die ständigen nationalen Streitkräfte eines jeden Landes teilweise oder ganz dem Völkerbund unterstellte und gleichzeitig regionale gegenseitige Beistandspakte gegen potentielle Aggressoren schüfe. Im Februar 1932 hatte der damalige französische Ministerpräsident Tardieu der Abrüstungskonferenz den ›Minimalplan‹, bestimmte Luftstreitkräfte und schwere Artillerie sowie bestimmte Kampfschiffe dem Völkerbund zu unterstellen, vorgelegt. Jetzt griff Herriot den ›Maximalplan‹ auf, der vorsah, praktisch alle ständigen nationalen Streitkräfte unter den Befehl des Völkerbundes zu stellen und den einzelnen Staaten nur Milizen zur freien Verfügung zu belassen. Herriot nahm den Plan nicht sehr ernst, noch fühlte er Sympathie dafür – der Plan war zu dem Zweck ersonnen, für Frankreich Wohlwollen zu gewinnen. Herriot erklärte im Oktober den französischen militärischen Chefs seine Ansichten: »Ich habe keine Illusionen. Ich bin überzeugt, daß Deutschland wieder aufrüsten will [...] Wir stehen an einem Wendepunkt der Geschichte. Bisher hat Deutschland eine Politik der Unterordnung geübt, gewiß nicht des Verzichts, sondern eine negative Politik. Jetzt beginnt es eine positive Politik. Morgen wird es eine Politik territorialer Forderungen treiben, mit einem gewaltigen Mittel der Einschüchterung: seiner Armee [...] Die instinktive Reaktion darauf ist die Feststellung, daß wir nicht einen Mann, nicht eine Kanone abschaffen werden.« Düster fuhr er fort: Wenn Frankreich so reagiere, riskiere es »sich der in jedem Fall so unsicheren Hilfe, auf die es hoffen kann, beraubt zu sehen«. Marschall Pétain stellte eine vernünftige Frage: Welche Garantien würden England und die USA als Gegenleistung für den ›Maximalplan‹ geben? Herriot antwortete ausweichend. General Weygand beklagte die Aussicht der Zerstörung der französischen Armee und ihrer Verteidigungskraft. Herriot erwiderte: »Die Verteidigung eines Landes beruht nicht allein auf seinen Soldaten und Kanonen, sie beruht auf der Qualität seiner rechtlichen Position.« Die Franzosen, unfähig sich auf ihre eigene Stärke zu verlassen, konnten die Aushöhlung der künstlichen Sicherheitsgarantien des Vertrags von Versailles nur mit düsteren Befürchtungen entgegensehen und versuchen, es so einzurichten, daß irgend jemand Frankreich irgendwie helfen würde, den Folgen zu begegnen, wenn sie sich einstellten. Dies war Herriots Argumentation.251 Im November wurde der französische Plan bekanntgegeben. Wenn jemand ihn ernst genommen hätte, hätte er einen echten Schritt in Richtung auf eine Weltregierung bedeutet, die ein mit militärischen Mitteln zur Durchsetzung seiner Wünsche ausgerüsteter Völkerbund ausgeübt hätte. Der Plan sah für Deutschland Gleichberechtigung vor, doch die deutsche Regierung bestand weiterhin darauf, daß diese Gleichberechtigung förmlich anerkannt werde, bevor Deutschland an der Abrüstungskonferenz teilnähme. Herriot gab seinen wichtigsten Trumpf nur ungern vorher preis, doch da er sich darauf festgelegt

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hatte, zu beweisen, daß Frankreich keine Obstruktionspolitik übe, war er gezwungen, einem Dokument zuzustimmen, das Deutschland die Gleichberechtigung versprach. Auch Maßnahmen zur Gewährung von Sicherheit wurden in Aussicht gestellt, doch war dies ein wesentlich unbestimmterer Gedanke. Tatsächlich waren besonders in England und in den USA viele bereit, zu argumentieren, die Gewährung der Gleichberechtigung für Deutschland werde selbst Sicherheit bringen. Als Gegenleistung versprach Deutschland, seinen Platz auf der Abrüstungskonferenz wieder einzunehmen. Im Dezember vertagte sich die Konferenz bis zum 31. Januar 1933. Ihr Vorsitzender Henderson erklärte, dann werde die Zeit des Wartens vorüber sein und die Periode definitiver Entscheidungen beginnen. Als die Konferenz wieder zusammentrat, war Hitler Reichskanzler geworden. Mittlerweile bedeutete die japanische Eroberung der Mandschurei, 1931–1932, eine direkte Herausforderung des Völkerbundes. Sie hatte keine anderen Folgen als den Austritt Japans aus der Organisation. England war das einzige Völkerbundsmitglied, das in der Lage gewesen wäre, Japan in seine Schranken zu weisen, aber die britische Regierung war der Ansicht, daß ein solcher Versuch ohne die volle Unterstützung der USA selbstmörderisch sei. Die Vereinigten Staaten beschränkten sich jedoch auf moralische Proteste. Es ist behauptet worden, das Versäumnis, Japan Einhalt zu gebieten, habe den Zweiten Weltkrieg unvermeidlich gemacht, da es Hitler ermutigt habe zu glauben, Aggression sei mit keinem Risiko verbunden. Das Fehlen einer festen Haltung Japan gegenüber war an sich jedoch kein deutliches Zeichen dafür, daß England, Frankreich und die Vereinigten Staaten gegen eine Aggression in Europa keinen Widerstand leisten könnten oder wollten, noch machte dies Verhalten es unmöglich, die Maschinerie des Völkerbundes zu benutzen. Es gibt keinen überzeugenden Beweis, daß Hitler durch den Ausgang der fernöstlichen Krise von 1931 bis 1933 ermutigt worden wäre. Es ist natürlich wahr, daß die Bedrohung durch Japan die Macht zu vermindern imstande war, die England und die Vereinigten Staaten in Europa geltend machen konnten. Doch hätte ein Widerstand Englands und der Vereinigten Staaten gegen Japan diese Mächte mehr geschwächt als die Kapitulation. Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, daß die Krise im Fernen Osten den Hoffnungen auf eine sorglos in Frieden und Ordnung lebende Welt ein Ende setzte. 12. Vorgeschichte und Ausbruch des Krieges I. Die Anfänge von Hitlers Herrschaft und die europäischen Mächte – Abrüstungsbemühungen – Neue Bündnisse Am 30. Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler. Was waren seine Ziele? Bis 1942 hatte er den größten Teil Europas unterworfen. Beabsichtigte er dies von Anfang an? Oder gelangte er durch eine Reihe von Reaktionen auf äußere Ereignisse und

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Umstände dahin? Wollte er nur eine ähnliche Politik verfolgen wie Seeckt und Stresemann, nämlich das Werk von Versailles zerstören und die 1918 verlorengegangene Vormachtstellung Deutschlands wiedergewinnen, und sah er sich dann zu größeren Unternehmungen veranlaßt?252 Die wichtigste Quelle ist nach wie vor Hitlers Buch Mein Kampf. Aus dessen verworrenen Zeilen steigen die Umrisse einer Außenpolitik undeutlich auf: Die Eroberung von Land in Osteuropa, das von Deutschen, den Trägern des »höchsten Menschentums auf dieser Erde«, zu besiedeln sei. Deutschland, so heißt es, müsse eine Weltmacht sein, und um eine Weltmacht zu sein, brauche ein Staat ein großes Territorium. Die Grenzen des Deutschen Reiches von 1914 seien völlig unzureichend gewesen, umfaßten sie doch nicht einmal alle Angehörigen der deutschen Nation. Vielmehr müsse Land erobert und von Deutschen besiedelt werden: »Der Grund und Boden, auf dem dereinst deutsche Bauerngeschlechter kraftvolle Söhne zeugen können, wird die Billigung des Einsatzes der Söhne von heute zulassen, die verantwortlichen Staatsmänner aber, wenn auch von der Gegenwart verfolgt, dereinst freisprechen von Blutschuld und Volksopferung.« Der Erwerb von überseeischen Kolonien sei unnütz, weil die Siedler Teil einer politischen und geographischen Einheit bleiben müßten. »Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm Untertanen Randstaaten denken.« Mein Kampf wurde nach Hitlers Machtübernahme niemals in Abrede gestellt oder verheimlicht. Ganz im Gegenteil: Das Buch erreichte insgesamt eine Auflage von 9,84 Millionen. Gleich nach der Machtübernahme fanden diese Ideen neuen Ausdruck. Am 3. Februar 1933 sprach Hitler zu höheren Offizieren der Reichswehr. Nach der Aufzeichnung General Liebmanns – die durch andere Quellen bestätigt ist – sagte er folgendes: »Aufbau der Wehrmacht wichtigste Voraussetzung für Erreichung des Ziels: Wiedererringung der pol. Macht [...] Wie soll pol. Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Mögl., vielleicht – und wohl besser – Eroberung neuen Lebensraums im Osten u. dessen rücksichtslose Germanisierung. Sicher, daß erst mit pol. Macht u. Kampf jetzige wirtsch. Zustände geändert werden können. Alles, was jetzt geschehen kann – Siedlung – Aushilfsmittel [...] Gefährlichste Zeit ist die des Aufbaus der Wehrmacht. Da wird sich zeigen, ob Frankreich] Staatsmänner hat; wenn ja, wird es uns Zeit nicht lassen, sondern über uns herfallen (vermutlich mit Ost-Trabanten).« Bei einer anderen Gelegenheit tauchte ein Jahr später, am 28. Februar 1934, das Thema wieder auf, als Hitler zu einer Versammlung höherer SA-, SS- und Reichswehroffiziere sprach – es waren wohl etwa dreißig höhere Offiziere anwesend. Nach General von Weichs sagte Hitler, in ungefähr acht Jahren werde möglicherweise das Problem der Arbeitslosigkeit wiederkehren. Das einzige Heilmittel dagegen sei die Schaffung von Lebensraum für den Bevölkerungsüberschuß – Hitlers

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Verständnis für Wirtschaft blieb anscheinend sehr begrenzt. Doch würden die Westmächte dies zu verhindern suchen, so daß kurze, entscheidende Schläge gegen den Westen und dann gegen den Osten notwendig werden könnten. Die neue Wehrmacht müsse in fünf Jahren zu einem Verteidigungs- und in acht Jahren zu einem Angriffskrieg bereit sein. Im Jahre 1936 tauchten dieselben Gedanken wieder auf. Im Sommer dieses Jahres verfaßte Hitler eine lange Denkschrift – was er nach seinen eigenen Worten nur »zu ganz grundsätzlichen Fragen« zu tun pflegte. Die Denkschrift befaßte sich mit der deutschen Wirtschaft. Hitler schrieb, es sei sinnlos, immer nur davon zu reden, daß Deutschland nicht genug Nahrungsmittel und Rohstoffe habe, es müsse vielmehr etwas getan werden. Hitler schrieb: »Es ist entscheidend, jene Maßnahmen zu treffen, die für die Zukunft eine endgültige Lösung [...] bringen können. Die endgültige Lösung liegt in der Erweiterung des Lebensraums bzw. der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes. Es ist die Aufgabe der politischen Führung, diese Frage dereinst zu lösen.« Die Denkschrift schließt mit den Worten: »Die deutsche Armee muß in vier Jahren einsatzfähig sein. Die deutsche Wirtschaft muß in vier Jahren kriegsfähig sein.«253 Dies alles ist sicherlich sehr vage. Es gibt keinen Beleg dafür, daß Hitler einen Plan im Sinne eines genauen zeitlichen Ablaufs der Eroberung oder auch nur eine klare Vorstellung davon gehabt hätte, wie die Eroberung vonstatten gehen sollte. Man mußte drohen und wahrscheinlich die Wehrmacht einsetzen. Die Entwicklung würde etwa 1940 in Gang kommen. Im übrigen würden die Umstände den Ablauf der Ereignisse diktieren.

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� Abb. 11: Adolf Hitler begrüßt den Reichspräsidenten von Hindenburg Wenn es auch wahr ist, daß Hitler den Krieg so, wie er dann tatsächlich kam, besonders in der Gestalt, die er nach 1941 annahm, nicht erwartete und noch weniger beabsichtigte, so ist es doch wichtig, darauf hinzuweisen, daß die deutsche Wiederaufrüstung klar beweist, daß Hitler in voller Absicht Vorbereitungen traf, um Kriege zu führen oder wenigstens sie riskieren zu können. Von 1933 bis 1938 gab Deutschland etwa dreimal soviel Geld für militärische Zwecke aus wie England oder Frankreich, eineinhalbmal soviel wie die Sowjetunion und mehr als England, Frankreich und die USA zusammen. Im Jahre 1938 setzte Deutschland einen größeren Teil seiner gesamten Produktionsmittel für militärische Zwecke ein als alle anderen Großmächte – außer Japan.254 Der erste Schritt bestand darin, Deutschland materiell und psychologisch zu militarisieren. Diese Aufgabe wurde natürlich nicht von Hitler allein ausgeführt. Tatsächlich wurde die Notwendigkeit, für den bevorstehenden Kampf stark zu sein, mehr von Hitlers nationalsozialistischen Freunden und Untergebenen gepredigt als von Hitler selbst, und auch die Festigung des germanischen Selbstbewußtseins war mehr ihr Werk als seins, da die internationale Lage in den dreißiger Jahren Hitler nötigte, eine friedfertige Haltung anzunehmen, um Störungen der deutschen Wiederaufrüstung zu verhüten. So sagte Goebbels im Juni 1933 auf einer großen Versammlung, seine Zuhörer sollten acht Jahre

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Geduld haben. Er versprach, in dieser Zeit werde Deutschland in einen Glutofen patriotischen Nationalgefühls, wie es die Welt noch nicht erlebt habe, verwandelt werden, und dann werde die außenpolitische Aktivität des Hitler-Regimes beginnen.255 So kam es, daß Hitler im Ausland eigenartigerweise manchmal für ›maßvoll‹ gehalten wurde, daß man glaubte, er übe einen zähmenden Einfluß auf die ›wilden Männer‹ in der Partei aus – eine diplomatische Trumpfkarte von großem Wert. Dennoch war für ausländische Beobachter durchaus klar, daß Hitlers Aufstieg zur Macht in Deutschland etwas Neues mit sich brachte, mindestens eine schärfere Betonung bekannter Forderungen und im äußersten Falle die klare Aussicht auf eine Bewerbung Deutschlands um die Herrschaft in Europa. Die Geschichte der internationalen Beziehungen in Europa von 1933 bis 1945 ist die Geschichte der Reaktionen der übrigen Mächte auf dieses Phänomen. Viele Reaktionen waren möglich, an erster Stelle die Entfesselung eines Präventivkrieges – eine Invasion Deutschlands, die Inbesitznahme territorialer Pfänder für Deutschlands Wohlverhalten in der Hoffnung, die Ablehnung Hitlers durch die Deutschen werde die Folge sein; zweitens bestand für bedrohte Länder die Möglichkeit, sich in einem Defensivbündnis zusammenzuschließen, um Deutschland mit Gewalt im Zaum zu halten; drittens konnte man Hitler beschwichtigen, um ihn zu überreden, Europa nicht zu belästigen. Andere Länder konnten sich untätig verhalten und hoffen, in Ruhe gelassen zu werden, oder sich mit Deutschland zusammentun, um aus den Veränderungen in Europa selbst Vorteile zu ziehen. Tatsächlich war im Jahre 1933 die Rede von einem Präventivkrieg. Es gab Gerüchte, wonach Marschall Pilsudski Frankreich aufgefordert hätte, sich Polen in einem solchen Krieg anzuschließen, und eine ablehnende Antwort erhalten hätte. Es ist nicht möglich, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was an diesen Berichten zutreffend ist. Hinreichende Belege dafür, daß Polen Frankreich ein solches Angebot gemacht hätte, gibt es nicht. Wahrscheinlicher ist wohl, daß sich Pilsudski darüber im klaren war, daß Frankreich einen derartigen Vorschlag nicht annehmen würde, und daß die Gerüchte Teil eines Planes waren, der bezweckte, Hitler durch Einschüchterung zur Einwilligung in ein Abkommen mit Polen zu bewegen. Vielleicht ließ jedoch Pilsudski inoffiziell in Paris sondieren, um seine Freunde in Polen davon zu überzeugen, daß seine Politik richtig sei. Jedenfalls war es nicht nötig, Paris zu befragen – das Verhalten der französischen Diplomatie im Jahre 1933 zeigte, daß eine negative Antwort sicher gewesen wäre. Was am entschiedensten gegen eine solche Aufforderung Polens spricht, ist die Tatsache, daß sie von den damals verantwortlichen Soldaten und Politikern in Frankreich – Weygand, Gamelin, Daladier, Paul-Boncour – und von dem damaligen französischen Botschafter in Polen übereinstimmend bestritten wird.256 Die diplomatischen Bemühungen Englands und Frankreichs richteten sich 1933 und Anfang 1934 auf ein erstaunliches Ziel, das zu erreichen wenig Wahrscheinlichkeit bestand: ein Abkommen über die Abrüstung. Der Impuls zur

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Abrüstung kam von England. Hier wurde allgemein die Ansicht vertreten – selbst von vielen Konservativen –, daß das bloße Vorhandensein von Armeen und Waffen eine Kriegsursache sei. Je kleiner die Armeen würden und je weniger Waffen sie hätten, desto unwahrscheinlicher sei ein weiterer Krieg. Das Streben nach einem Abkommen zur Verhinderung eines ›erneuten Wettrüstens‹ war für die britische Regierung eine politische Notwendigkeit, und das Wiederaufleben des deutschen Nationalismus schien diese Aufgabe noch dringender zu machen. Das Foreign Office war aus anderen Gründen für ein solches Abkommen. Das Kernstück einer Abrüstungsvereinbarung sollte eine Beschränkung der deutschen Wiederbewaffnung sein. Wenn Hitler sich daran hielt, war alles in Ordnung; wenn er das Abkommen brach, war wenigstens klar, wo die Schuld für ein neues Wettrüsten lag. Sir Eric Phipps, der britische Botschafter in Deutschland, drückte den ersten Gedanken so aus: »Wir können ihn [Hitler] nicht nur als den Verfasser von Mein Kampf ansehen, denn dann müßten wir logischerweise die Politik des ›Präventivkrieges‹ anwenden [...] Auch können wir es uns nicht leisten, ihn zu ignorieren. Wäre es daher nicht ratsam, diesen höllisch dynamischen Mann bald zu binden? Nämlich ihn zu binden durch ein Abkommen, das seine frei und stolz gegebene Unterschrift trägt? Durch eine seltsame Laune seiner geistigen Beschaffenheit könnte er sich sogar bewogen fühlen, sie zu honorieren. [...] Außerdem würde seine Unterschrift ganz Deutschland binden wie die keines Deutschen in der ganzen deutschen Geschichte. Dann könnten Jahre vergehen, und selbst Hitler würde alt werden, und die eine Seite würde zur Vernunft gelangen und die andere ihre Furcht verlieren.« Sir Robert Vansittart, der ständige Unterstaatssekretär im Foreign Office, vertrat die zweite Auffassung, indem er die Franzosen aufforderte, mit der Ablehnung der jüngsten britischen Vorschläge nicht den Anfang zu machen: »Es ist wichtig, die Deutschen unmißverständlich ihr wahres Gesicht zeigen zu lassen, so daß die Öffentlichkeit in unserem Lande, die sich in einem Zustand der Verwirrung und Bestürzung befindet, klar sehen kann, wo das Problem in Wirklichkeit liegt. Die Deutschen sind eine Gefahr für die Zukunft und nicht die Franzosen. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Öffentlichkeit die falsche Seite in der Rolle dessen sähe, der eine Obstruktionspolitik treibt und den Frieden stört.«257 Für die Franzosen hatte die ›Abrüstung‹ offensichtlich gewisse Nachteile. Es war sowohl vor wie nach Hitlers Machtübernahme durchaus klar, daß der in Versailles festgelegte Stand der Rüstung gegenüber Deutschland nicht länger durchgesetzt werden konnte, es sei denn mit Gewalt, die Frankreich ohne die – nicht verfügbare – Hilfe Englands und Italiens nicht anwenden konnte. Deutschland war im Begriff aufzurüsten, und ein Abkommen über die Abrüstung konnte tatsächlich nur die Legalisierung der deutschen Wiederaufrüstung bedeuten. Das allein hätte vielleicht nichts ausgemacht. Die Schwierigkeit war, daß von Frankreich erwartet wurde, es werde einen Preis zahlen, um ein Abkommen möglich zu machen. Die deutschen Forderungen

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gingen von der ›Gleichberechtigung‹ aus. Das bedeutete die Abrüstung der sogenannten hochgerüsteten Mächte, also praktisch Frankreichs, oder wenigstens die Verweigerung zusätzlicher militärischer Stärke für Frankreich und die Wiederaufrüstung Deutschlands – letztere innerhalb gewisser auf dem Papier stehender Grenzen, die Deutschland mißachten würde, wenn die Zeit dafür käme. Der dringende Wunsch Englands nach einem Abkommen mit deutscher Unterschrift hatte zur Folge, daß Frankreich gedrängt wurde, Zusagen für eine künftige Abrüstung anzubieten oder gar sofort abzurüsten. Dies schien den Franzosen unzweckmäßig. Außerdem konnte die Teilnahme Frankreichs an Abrüstungsgesprächen unter dessen europäischen Verbündeten, besonders in Polen, Befürchtungen erwecken, Frankreich sei schwach und bereit, den Forderungen Deutschlands nachzugeben, so daß die Verbündeten möglicherweise andere Wege zur Sicherheit als die Zusammenarbeit mit Frankreich suchen würden. Andererseits liefen die Franzosen Gefahr, England vor den Kopf zu stoßen, wenn sie sich weigerten, die Abrüstung zu diskutieren. Indessen konnte Frankreich vielleicht eine feste Verpflichtung Englands, den Status quo in Europa zu erhalten, als Gegenleistung für eine Unterstützung von Abrüstungsplänen erreichen – tatsächlich lehnten die Engländer zusätzliche Garantien zu den in Locarno gegebenen entschieden ab. So zogen sich die Verhandlungen auch nach Deutschlands Austritt aus der Abrüstungskonferenz – und aus dem Völkerbund – im Oktober 1933 hin. Die Engländer bestanden sogar noch hartnäckiger darauf, es sei notwendig, daß Frankreich Konzessionen mache. Die Auseinandersetzung endete damit, daß die französische Regierung unter Doumergue im April 1934 die vorliegenden englischen Vorschläge nachdrücklich ablehnte, nachdem Deutschland einen Monat vorher eine große Steigerung seiner Rüstungsausgaben angekündigt hatte. Die Weltabrüstungskonferenz verschwand im Juni 1934 schließlich von der Bildfläche.258 Mussolini waren Meinungsverschiedenheiten zwischen England, Frankreich und Deutschland willkommen. Er brachte es nicht fertig, ein konservativer Staatsmann zu sein, er war in Wirklichkeit ein vorsichtiger Abenteurer. Er trachtete nach ›Größe‹ für sich und Italien, ihm lag daran, bedeutend zu sein, konsultiert, hofiert und, wenn möglich, gefürchtet zu werden. Seine Mittel im Streben nach Größe waren flexibel, er besaß nichts von Hitlers Prinzipientreue. Anscheinend dachte er daran, durch eine Verbindung mit Österreich und Ungarn einen beherrschenden Einfluß in Südosteuropa zu gewinnen, dachte an eine Hegemoniestellung im Mittelmeer, an eine Expansion des italienischen Imperiums in Afrika. Leider fehlte Italien die für den Status der Größe erforderliche Machtgrundlage. Im Jahre 1929 betrug Italiens Anteil an der Weltproduktion von Fertigwaren 3,3 Prozent gegenüber einem Anteil Frankreichs von 6,6 Prozent, Englands von 9,4 Prozent und Deutschlands von 11,1 Prozent. Die Stahlproduktion Italiens lag in demselben Jahr etwa so hoch wie die der Tschechoslowakei, niedriger als die des Saargebietes. Sie betrug

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ungefähr halb so viel wie die Belgiens, weniger als ein Viertel der französischen oder englischen und etwa ein Achtel der deutschen.259 Mussolini konnte keine Risiken eingehen und tat es mit Überlegung auch niemals – in den Zweiten Weltkrieg wurde er schlechthin aufgrund eines verhängnisvollen Fehlers verwickelt. Größe ohne Macht, Prestige ohne einen großen Krieg, das waren die Ziele von Mussolinis Bemühungen. Offensichtlich ließen solche Ziele sich am besten erreichen, wenn Europa gespalten war, wenn die anderen Mächte im Streit miteinander lagen und bereit waren, um die Hilfe Italiens nachzusuchen. So erhöhten das Aufleben des deutschen Nationalismus und die völlige Preisgabe der versöhnlichen Haltung Stresemanns Mussolinis Bedeutung, ohne irgendwelche Anstrengungen seinerseits erforderlich zu machen. Verständlicherweise begrüßte Mussolini die Forderung Deutschlands nach ›Gleichberechtigung‹ in der Rüstung und war hocherfreut über die Bemühungen Englands und Frankreichs, seine Unterstützung für ihren Standpunkt gegenüber dieser Forderung zu gewinnen. Im Jahre 1933 suchte Mussolini diese Situation zu institutionalisieren und publik zu machen. Im März kamen Ramsay MacDonald, der britische Premierminister, und der Außenminister Sir John Simon nach Rom, um die Unterstützung Mussolinis für ihren Abrüstungsplan zu erlangen. Sofort wurde ihnen der Entwurf eines Viermächtepaktes vorgelegt. Der Viermächtepakt sollte, wie Mussolini darlegte, eine »wirksame Zusammenarbeit« zwischen Frankreich, Deutschland, England und Italien herstellen. Die vier Mächte sollten gemeinsam vorgehen, um andere Länder zu einer »Friedenspolitik« zu bewegen. Die »Abrüstung« sollte von ihnen ausgearbeitet werden. Der Pakt »bekräftigte [...] den Grundsatz der Revision von Friedensverträgen angesichts solcher Umstände, die zu einem Konflikt zwischen Nationen führen könnten«. Dies bedeutete die Einsetzung eines europäischen Direktoriums der vier Mächte, unter deren Leitung internationale Streitigkeiten gelöst werden sollten und die Änderungen des Status quo im Wege der Vereinbarung herbeiführen sollten. Der große Vorteil für Mussolini würde beim Abschluß eines solchen Paktes in der Anerkennung Italiens als Großmacht liegen sowie in den Möglichkeiten einer nutzbringenden Vermittlung zwischen Deutschland und den anderen Mächten, die ein solcher Mechanismus bieten würde. Italien würde an allem beteiligt werden. Es ist möglich, daß Mussolini aufrichtig bestrebt war, einen großen europäischen Krieg weniger wahrscheinlich zu machen. In einem großen Krieg würde Italien entweder neutral bleiben, was für Mussolini demütigend sein würde, oder sich in der Rolle des zweitrangigen Verbündeten auf einer der beiden Seiten befinden. Mussolini liebte die Drohung eines allgemeinen Krieges, nicht seine Realität. Möglicherweise wollte Mussolini auch Hitlers Aufmerksamkeit von Österreich auf die polnisch-deutsche Grenze ablenken, indem er Deutschland Aussichten auf eine künftige reibungslose Revision dieser Grenze eröffnete. Für die Engländer bedeutete die Annahme des Paktes die Möglichkeit, die Hilfe Italiens zur Mäßigung von Hitlers Forderungen hinsichtlich der Abrüstung zu gewinnen

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und Italien anzuregen, auf die Erhaltung der Unabhängigkeit Österreichs hinzuarbeiten. Für Deutschland bedeutete der Pakt genau das Umgekehrte: ein Mittel zur Erlangung der Hilfe Italiens bei der Wiedergewinnung der Macht Deutschlands.260 England drängte die Franzosen aus den genannten Gründen zur Annahme des Viermächtepaktes und suchte ihnen mit Nachdruck klarzumachen, daß es notwendig sei, die Gunst Italiens zu gewinnen. Einen übermäßigen Schrecken jagte der Pakt Frankreichs Verbündeten, Polen und der kleinen Entente, ein, da ihr Beschützer die Zustimmung zu einem Dokument erwog, das von der Revision der Verträge, auf denen ihr territorialer Besitz beruhte, sprach. Die Mitglieder der kleinen Entente – die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien – protestierten öffentlich, die Polen waren wütend. Die französische Regierung ging einen Kompromiß ein. Sie nahm den Pakt an und schwächte ihn gleichzeitig durch Änderungen ab. Diese stellten klar, daß Gebietsrevisionen durch den Völkerbund bestätigt werden müßten. Außerdem versicherte Frankreich seinen Verbündeten, es werde nicht zulassen, daß diese Bestätigung ohne ihre Zustimmung gegeben werde. Der Pakt wurde im Juli 1933 unterzeichnet; ratifiziert wurde er nie. Polen ließ sich weder besänftigen noch beruhigen.261 Die Auswirkungen des Viermächtepaktes bestanden in der Hauptsache darin, daß zwischen Frankreich und seinen östlichen Verbündeten eine Kluft entstand. Wahrscheinlich irgendwann im Jahre 1933 sagte Marschall Sosnkowski: »Wir verlangen von Frankreich nichts anderes, als daß es ein echtes Frankreich sei, wie wir es uns vorstellen, und daß es seine Interessen energisch und kompromißlos gegen Deutschland und andere verteidige. Was zur Zeit in Frankreich geschieht, kann uns leider nicht begeistern, vor allem nicht dieses ständige Schwanken und diese Unentschlossenheit.« Bei diesem Hin und Her in der Haltung seines Verbündeten suchte Polen sich durch andere Mittel als das, sich auf Frankreich zu verlassen, Sicherheit zu verschaffen. Schon früh gab es Zeichen, daß Hitlers Aufstieg zur Macht Polen nicht ganz mißfiel. Hitler konnte schwerlich polenfeindlicher als Papen oder Schleicher sein und versprach, wesentlich rußlandfeindlicher zu sein als sie. Der deutsche Gesandte in Warschau, von Moltke, berichtete Anfang März 1933, daß die Polen mit einer Verschlechterung der sowjetisch-deutschen Beziehungen rechneten. Dennoch erlebte Hitlers Regierung in den ersten Monaten offene Handlungen polnischer Aggressivität und vernahm Gerüchte, daß sich noch Schlimmeres ereignen werde. Am 6. März wurde die polnische Garnison auf der Westerplatte in Danzig – rechtswidrig – mehr als verdoppelt. Es war, wie wir gesehen haben, die Rede von polnischen Vorbereitungen für einen Angriff auf Deutschland. Die Gerüchte davon kamen aus vielen Quellen nach Berlin. Im Februar sprach der polnische Gesandte in der Reichshauptstadt tatsächlich davon, daß Deutschland und Polen am Vorabend eines Krieges stünden. Bezeichnenderweise berichtete Moltke jedoch aus Warschau, er glaube nicht, daß wirklich Vorbereitungen für einen Krieg

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getroffen würden. Schon im April stellte Moltke Anzeichen dafür fest, daß Oberst Beck, der polnische Außenminister, sich um eine Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland bemühte. Der Wendepunkt kam am 2. Mai, als Hitler selbst den polnischen Gesandten in Berlin empfing. Hitler sprach in versöhnlichen Worten und bestritt gewaltsame Absichten auf polnisches Gebiet. Von diesem Zeitpunkt an bewegten Polen und Deutschland sich mit Gesten gegenseitiger Versöhnlichkeit auf einen Ausgleich zu. Im September sagte Beck zu dem deutschen Außenminister von Neurath, »die polnische Regierung habe es satt, sich immer wieder gegen Deutschland ausspielen zu lassen«. Anscheinend sollten die polnischen Demonstrationen in den ersten Monaten des Jahres Hitler durch Einschüchterung zu einem Abkommen mit Polen veranlassen. Das war wahrscheinlich nicht nötig – Hitler war sicherlich bereit, Verträge mit einzelnen Nachbarn abzuschließen, um etwaige gegen ihn gerichtete Kombinationen zu trennen. Im Januar 1934 gipfelten die Verhandlungen in einem auf wenigstens zehn Jahre abgeschlossenen Nichtangriffspakt. Die Polen verlangten energisch eine ausdrückliche Erklärung, daß bestehende internationale Verpflichtungen durch den Pakt nicht berührt würden. Offensichtlich wollten die Polen das französisch-polnische Bündnis nicht gänzlich preisgeben.262 Man kann unmöglich mit Sicherheit sagen, was die polnische Regierung im Sinn hatte. Es kann sein, daß die Polen, wie sie später behaupteten, angesichts der Unentschlossenheit der Franzosen nur das Beste aus der Situation machten und nur Drohungen von Seiten Deutschlands abzuwehren beabsichtigten, bis Frankreich sich wieder gefangen hätte. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, daß die Polen den Pakt ernst nahmen und sich einbildeten, sie hätten ihrem Land Sicherheit gegeben. Im September 1933 schrieb Beck: »Hitler ist eher ein Österreicher, auf jeden Fall kein Preuße« – das sollte heißen, daß er vielleicht die für die Oberschicht in Preußen charakteristischen antipolnischen Empfindungen nicht teilte. Im November erklärte Pilsudski: »Ich würde ihn [Hitler] gern so lange wie möglich an der Macht sehen.«263 Was Hitler auf kurze Sicht zu gewinnen hoffte, ist leicht einzusehen: eine Schwächung des französischen Bündnissystems und eine auffällige Zurschaustellung seiner Friedfertigkeit, der Friedfertigkeit eines Mannes, den man mit seinen harmlosen Absichten gewähren lassen sollte. Schwieriger zu bestimmen ist, was Hitlers Gedanken auf lange Sicht waren. Sehr wahrscheinlich erwog er nur die unmittelbaren Vorteile, möglicherweise hielt er Polen für den zukünftigen Juniorpartner eines Bündnisses gegen Rußland – die von Deutschland 1938/39 unternommenen Versuche der Annäherung an Polen deuten sicher auf das letztere hin. Gleichviel, was der Vertrag formal aussagte, das französisch-polnische Bündnis machte er offensichtlich fragwürdig. In Frankreich erhielt der Gedanke an andere Bündnisse oder an ein neues Bündnissystem Auftrieb, gelegentlich auch die Vorstellung von der Notwendigkeit, die Bemühungen um eine französisch-deutsche Zusammenarbeit zu intensivieren.

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Hitlers Aufstieg führte zu einem noch bedeutsameren Wandel in Osteuropa: Die deutsch-sowjetische Partnerschaft, die seit 1922 entwickelt worden war, wurde aufgelöst. Die Einzelheiten der Auflösung sind dunkel, denn es ist noch immer nahezu unmöglich, die russische Politik dokumentarisch zu belegen, während die deutschen Zeugnisse von den Diplomaten und aus dem Auswärtigen Amt stammen, wo man hinsichtlich Rußlands sicher nicht dieselben Vorstellungen hatte wie Hitler. Trotz Hitlers Redseligkeit gibt es tatsächlich noch immer wenig wirklich zuverlässige Belege dafür, wie Hitlers Vorstellungen sich entwickelten. Mit dem Außenminister oder dessen Beamten stand er nicht auf vertrautem Fuße, noch ließ er sich oft zu den alltäglichen Geschäften der Diplomatie herab. Dennoch ist ziemlich sicher, daß die Verantwortung für den Zusammenbruch der deutsch-sowjetischen Freundschaft bei Hitler lag. Der Bruch zwischen Deutschland und der Sowjetunion war unvermeidlich. Hitler trat ja in der Rolle des Retters der Gesellschaft vor der bolschewistischen Gefahr auf. Daher mußte er eine entschiedenere antibolschewistische Haltung annehmen als die deutschen Regierungen vor ihm. Andererseits verlor die Zusammenarbeit mit Rußland ihren Sinn, da Hitler beabsichtigte, die Rüstungsbestimmungen des Vertrags von Versailles zu ignorieren. Die russische Politik war die Reaktion auf Hitlers Verhalten sowie auf die Bedrohung durch Japan. Die Bemerkungen Radeks, des »außenpolitischen Vertrauensmannes des Zentralkomitees« der sowjetischen Kommunistischen Partei, vom 1. Januar 1934, waren anscheinend aufrichtig: »Wenn aber die Sowjetunion in einem schweren Kampfe mit Japan stände, sei die Wahrscheinlichkeit groß, daß Deutschland die Gelegenheit benutzen werde, um über Polen herzufallen, und wenn es Polen geschlagen habe, den polnischen Nationalstolz dadurch beruhigen werde, daß es Polen anbiete, sich an der Ukraine für den Korridor schadlos zu halten. [Dieselbe Wirkung konnte sich natürlich aus einem polnisch-deutschen Bündnis ergeben.] Dagegen müsse die Sowjetunion Vorkehrungen treffen.« Daher die russischen Bemühungen, in Frankreich ein Gegengewicht zu erhalten. Es war die zweitbeste Lösung, offensichtlich war die Freundschaft mit Deutschland die zuverlässigste Garantie der sowjetischen Sicherheit. Das Ende der militärischen Zusammenarbeit war von wohlformulierten Ausdrücken des Bedauerns auf sowjetischer Seite begleitet, die besonders von Offizieren der Roten Armee herrührten, unter ihnen Woroschilow, der enge Beziehungen zu Stalin hatte. Wie berichtet wurde, hätten »Woroschilow und andere maßgebende Militärpersonen [...] die Hoffnung durchblicken lassen, daß die Politik es erlauben würde, die militärischen Beziehungen demnächst wieder enger zu gestalten«264. Selbst in der Blütezeit des russisch-französischen Verhältnisses taten hohe sowjetische Persönlichkeiten gelegentlich deutsch- freundliche Äußerungen.265 Die Russen versuchten, sich so weit wie möglich die Hände frei zu halten. Wenn die Verhältnisse sich änderten, wenn Stalin sich der Herrschaft über die Sowjetunion sicher fühlen, wenn Deutschland zu einer Übereinkunft bereit sein würde, dann

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könnte die Sowjetunion sich vom Westen abwenden und sich auf ihre eigene Stärke verlassen. Die französisch-russischen Bande waren schon vor Hitlers Machtergreifung entstanden. Das Wiederaufleben des deutschen Nationalismus zu Anfang der dreißiger Jahre, besonders Papens Auftreten im Jahre 1932, beunruhigte beide Länder. In Frankreich beobachtete Herriot die deutschen Forderungen nach Aufrüstung mit Bestürzung, während die russische Regierung durch Nachrichten über ein von Papen gemachtes Angebot für eine deutsch-französische Verständigung, das, so vermutete sie, sich gegen die Sowjetunion richtete, erschreckt wurde. Daher wurde der Entwurf eines französisch-russischen Nichtangriffspaktes, der 1931 paraphiert worden war, im Herbst 1932 wieder aufgegriffen und Ende November unterzeichnet. Die Entwicklung ging im Jahre 1933 weiter, Militärattachés wurden zwischen Frankreich und der Sowjetunion ausgetauscht, Herriot und der französische Luftfahrtminister besuchten Rußland und wurden betont herzlich empfangen, und in der zweiten Hälfte des Jahres 1933 trat Litwinow mit Vorschlägen für ein russisch-französisches Bündnis hervor. Die Sache kam zunächst nicht sehr gut voran. Die französische Politik hatte 1933 noch immer keine klare Linie. Eine Verbesserung der Beziehungen zu Italien, Solidarität mit England und sogar Bemühungen um eine direkte Verständigung mit Deutschland, alle diese Ziele wurden verfolgt. Ein Bündnis mit der Sowjetunion würde ihnen allen zuwiderlaufen. Wenn auch Daladier, der zur fraglichen Zeit französischer Ministerpräsident war, sicher eifrig bestrebt war, die Position Frankreichs zu stärken, hielt er doch einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland anscheinend nicht für unvermeidlich, selbst nicht mit Hitler als Machthaber Deutschlands.266 Die Frage wurde ernsthaft erst in Erwägung gezogen, als die Regierung Daladier im Oktober gestürzt wurde. Der Außenminister griff die Bündnisfrage bald danach wieder auf. Zwei Bedingungen mußten erfüllt werden: Ein jeder Pakt sollte auf Europa beschränkt bleiben, und er sollte innerhalb des Völkerbundes, dem Rußland beitreten müßte, abgeschlossen werden. Ohne die letzte Bedingung wäre jedwedes Bündnis mit den gesamten bestehenden Sicherheitsverträgen Frankreichs unvereinbar. Die Verhandlungen wurden geheimgehalten, und nicht einmal heute ist über ihre Einzelheiten viel bekannt. Auf jeden Fall vermengten sie sich nach der französischen Regierungskrise im Februar mit der Erörterung weiterreichender Pläne, die von Louis Barthou, dem Außenminister in der Regierung Doumergue, entwickelt wurden. Das Kabinett Doumergue leitete eine klarere und konsequentere französische Außenpolitik ein. Sie ging davon aus, daß Hitler gefährlich sei, und lehnte den Gedanken ab, man könne ihn dazu bewegen, Zurückhaltung zu üben, und sie suchte Frankreich gegen die zukünftige Macht Deutschlands zu sichern. Das Mittel dazu sollte ein großes Bündnis bedrohter Staaten sein, die sich zur Verteidigung eines jeden etwa angegriffenen Bündnispartners zusammenschließen sollten. Dies war eine Entscheidung für die Defensive. Ein

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Präventivkrieg ließe sich nicht durchführen, da die öffentliche Meinung Frankreichs niemals eine Regierung dulden würde, die aus eigenem Willensentschluß einen Krieg entfesselte. Selbst wenn man einen Präventivkrieg führte, wäre er nutzlos. Man müßte Deutschland, wie groß der Sieg auch wäre, gleichwohl weiter unterdrücken. Die zwanziger Jahre hatten gezeigt, wie schwierig das war. Der einzig mögliche Weg war, Deutschland im Zaum zu halten, und zwar dadurch, daß man eine defensive Mächtegruppe schuf, um die Risiken der Aggression so groß zu machen, daß Deutschland sie vernünftigerweise nicht auf sich nehmen könnte. Es war leichter, die Notwendigkeit einer solchen Gruppierung einzusehen, als sie zu erreichen. Die Tatsache, daß Frankreich am 17. April 1934 Abrüstungsgespräche ablehnte, ehe nicht die Bedingungen für die Sicherheit Frankreichs geschaffen seien, markierte den neuen Kurs der französischen Außenpolitik. Eine eindeutige Ablehnung wurde Barthou vom französischen Kabinett aufgezwungen, er hätte England gern taktvoller behandelt. Die Ablehnung machte jedoch den Weg frei für Barthous Bemühungen um die Sicherheit Frankreichs. Es gab zwei Gesichtspunkte: der erste war die Neubelebung der bestehenden Bündnisse Frankreichs, die durch den Viermächtepakt und den deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag erschüttert waren, der zweite die Schaffung eines umfassenderen Systems zum gegenseitigen Schutz. Im März besuchte Barthou Belgien, im April Polen und die Tschechoslowakei, im Juni Rumänien und Jugoslawien. Barthou war zweiundsiebzig Jahre alt, ein Veteran der französischen Politik, gebildet, geistreich, ehrlich und offen, die Verkörperung der besten Eigenschaften der Dritten Republik. Seine Besuche waren zwar sicherlich für seine Gastgeber tröstlich, aber für ihn selbst waren sie nicht völlig beruhigend. In Belgien fand er ein Bestreben, sich aus einem künftigen Konflikt herauszuhalten, in Warschau die Entschlossenheit, daß Polen an seiner Unabhängigkeit von französischer Vormundschaft festhalten wolle, in Rumänien unter auffälligen Beteuerungen der Sympathie für Frankreich eine Unterströmung von Feindschaft auf seiten der faschistischen Rechten, in Jugoslawien herzliche Bekundungen der Freundschaft, die eine wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland nicht völlig verbergen konnten. Nur in der Tschechoslowakei fand Barthou volle und bedingungslose Unterstützung. Dennoch demonstrierten diese Besuche eine echte, wenngleich nur teilweise Neubelebung des französischen Bündnissystems, und die Länder der kleinen Entente billigten gemeinsam Barthous weiterreichende Vorschläge. Diese Pläne wurden anscheinend in Gesprächen zwischen Barthou und dem sowjetischen Außenminister Litwinow im April und Mai entwickelt. Die beiden Staatsmänner arbeiteten Pläne für eine Reihe gegenseitiger Garantiepakte aus: für Osteuropa, für das Mittelmeer und sogar für den Stillen Ozean. (Dieser dritte Plan, ohne Zweifel Litwinows Anregung, wurde nie ernst genommen.) Der Hauptplan sah einen Pakt zwischen Rußland, Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei, Litauen, Lettland, Estland und Finnland vor; der Mittelmeer-

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Sicherheitspakt sollte Rußland, Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Griechenland, Jugoslawien, Italien, Frankreich und möglicherweise England umfassen. Nach dem osteuropäischen Pakt sollte ein jedes Land sich verpflichten, einem jeden anderen, das von einer der Signatarmächte angegriffen würde, zu Hilfe zu kommen. Frankreich sollte sich verpflichten, Rußland zu Hilfe zu kommen, wenn es angegriffen würde, und Rußland sollte, nach den Bedingungen des Locarnovertrags von 1925, Frankreich beistehen. Das Ganze sollte sorgfältig auf den Locarnovertrag und die Satzung des Völkerbundes abgestimmt werden. Den Mittelmeerpakt hielt Barthou für einen zweiten Schritt, der, so hoffte er, eine Verständigung zwischen Frankreich und Italien sowie zwischen Italien und Jugoslawien fördern würde.267 Der französisch-russische Plan stieß natürlich auf die Feindschaft Berlins, und von Neurath, der deutsche Außenminister, erneuerte bald die herkömmliche Gegnerschaft gegen jegliche ›Mächteblöcke‹. Durch die feindselige Haltung Polens gegenüber den Vorschlägen wurden den Deutschen Schwierigkeiten erspart. Bei diesem Stand der Dinge kam es zu einem Ausbruch von Gewalt. Die Nationalsozialisten versuchten in Österreich am 25. Juli 1934 durch einen Staatsstreich die Macht zu ergreifen. Die auffälligste Reaktion kam von Mussolini. Am Tage nach dem Putsch gab er eine Erklärung ab: »Auf die erste Nachricht von der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß hin [...] erhielten Land- und Luftstreitkräfte den Befehl, nach den Grenzbezirken am Brenner und in Kärnten vorzurücken.« Tatsächlich handelte es sich um italienische Truppen, die in der Nähe der österreichischen Grenze Übungen abhielten, und einige von ihnen wurden augenscheinlich zur Grenze in Marsch gesetzt. Diese militärische Operation erregte großes Aufsehen, obwohl sie mit großer Wahrscheinlichkeit in der Hauptsache nur eine nicht ernst gemeinte Demonstration darstellte. (Der britischen Botschaft wurde noch am selben Abend mitgeteilt, »aus politischen Gründen seien geringfügige Änderungen von primär zu Ausbildungszwecken vorgenommenen Truppenbewegungen in dem Kommuniqué besonders hervorgehoben worden«.) Mussolini schien sich an die Spitze des Widerstandes gegen Hitler stellen zu wollen.268 Der Putsch in Österreich wirkte sich für Barthous Pläne zur Ausweitung der französischen Bündnisse günstig aus. Die Bemühungen um ein Ost-Locarno verliefen jedoch bald im Sande. Eine Ablehnung von deutscher Seite war zu erwarten. Sie kam am 8. September in einem Memorandum, das eine bemerkenswerte Menge frommen Schwindels enthielt. Die Deutschen bedienten sich des abgenutzten Tricks, Einwände gegen einen Sicherheitspakt zu erheben, der die Abrüstung nicht weiterbringe und Deutschlands Gleichberechtigung nicht anerkenne. Sie traten ein für zweiseitige Nichtangriffspakte oder wenigstens für einen allgemeinen Nichtangriffspakt und argumentierten, »die beste Friedenssicherung« werde »stets die sein [...], nicht den Krieg gegen den Krieg vorzubereiten, sondern die Mittel zu erweitern und zu verstärken, die

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dazu dienen, die Möglichkeit eines Kriegsausbruchs überhaupt zu verhüten«. Die Deutschen wußten schon sicher, daß Polen den Pakt auf jeden Fall ablehnen werde. Das war von größerer Bedeutung, denn eine Zusammenarbeit zwischen Polen, der Tschechoslowakei und Rußland hätte eine echte Schranke für Deutschland aufrichten können, wie es die separaten Verträge Frankreichs mit den drei Ländern nicht konnten. Polen wollte sich nicht zur Verteidigung der Tschechoslowakei verpflichten, der es wegen Teschens noch grollte. Vor allem aber lehnten Pilsudski und Beck den Einmarsch russischer Truppen in polnisches Gebiet, gleich, zu welchem Zweck, selbst zur Verteidigung Polens gegen Deutschland, ab. Die Hilfe Rußlands schien ihnen ebenso gefährlich wie die Feindschaft Rußlands – wenn russische Truppen in Polen einrückten, würden sie es je wieder verlassen? Die Polen glaubten anscheinend, der deutschen Gefahr werde durch das französisch-polnische Bündnis sowie durch den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt hinreichend begegnet. Die Sowjetunion, so nahmen sie an, habe keine Angriffsabsichten. Daher könne Polen auf eigenen Füßen stehen und mit Genuß die Rolle einer Großmacht spielen.269 Barthou blieb nichts anderes übrig, als sich um ein direktes französisch-sowjetisches Bündnis zu bemühen. Der erste Schritt dazu wurde am 18. September 1934 getan, als die Sowjetunion Mitglied des Völkerbundes wurde. Litwinow machte die Bedeutung dieses Schrittes sichtbar: »Die Exponenten des Kriegsgedankens, diejenigen, die die Neugestaltung der Landkarte in Europa und Asien mit dem Schwerte offen verkünden, sind mit papierenen Hindernissen nicht einzuschüchtern. Wir sind jetzt vor die Aufgabe gestellt, den Krieg mit wirksameren Mitteln abzuwenden.« Zur gleichen Zeit suchte Barthou mit Nachdruck eine Verbindung mit Italien herzustellen. Die Aussichten schienen gut. Mussolinis Bemühen, die Unabhängigkeit Österreichs zu bewahren, hatten schon zu Bekundungen der Solidarität mit England und Frankreich geführt. Die drei Regierungen erklärten zum Beispiel im Februar 1934: »Sie vertreten dieselbe Auffassung hinsichtlich der Notwendigkeit, die Unabhängigkeit und Unversehrtheit Österreichs in Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Verträgen zu erhalten.« Der Wiener Putsch im Juli festigte dieses Band. Ein schwieriges Problem für Barthou war Jugoslawien. Das Land protestierte energisch gegen die Ermunterung derjenigen Jugoslawen – hauptsächlich Kroaten – durch Mussolini, die sich der serbischen Vorherrschaft in Jugoslawien widersetzten. Die Regierung des Landes verdächtigte Mussolini, er schmiede Komplotte mit Ungarn zur Auflösung Jugoslawiens. Die Demonstrationen Mussolinis zur Zeit des Putsches im Juli verschlimmerten die Situation. Die jugoslawische Regierung erklärte ihre Entschlossenheit, Truppen nach Österreich zu entsenden, falls Italien es täte, um eine Landbrücke zwischen Italien und Ungarn zu verhindern. Die Einladung Barthous an König Alexander zu einem Besuch in Frankreich erfolgte wahrscheinlich, um Jugoslawien zu bewegen, sich um eine Verständigung mit Italien zu bemühen.270

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Der König landete am 9. Oktober 1934 in Marseille. Kurz danach wurde er von Agenten der kroatischen Terrororganisation Ustascha erschossen. Barthou, der in demselben Wagen saß, wurde ebenfalls getötet. Dies war ein Wendepunkt. An die Stelle Barthous, der eine klare Politik beharrlich und energisch verfolgt hatte, trat als Außenminister ein ganz anderer Mann, Pierre Laval. Laval war von bäuerlicher Abstammung, er war schlau und gewandt, fähig und ehrgeizig, unprätentiös und glaubte nicht an die Prätentionen anderer. Er begann sein politisches Leben als linker Sozialist und entwickelte sich in den Jahren zwischen den Kriegen zu einem Mann der Rechten, hielt aber Kontakte zur Linken aufrecht, darunter auch die, die aus seiner Tätigkeit als Bürgermeister von Aubervilliers stammten. Er verstand zu bezaubern und wußte, wann er zu drohen hatte. Er war ein geschickter und einfühlsamer Unterhändler. In vieler Beziehung ähnelte er Lloyd George und litt wie dieser unter dem Mißtrauen, das er letzten Endes erweckte. Die Ernennung Lavals zum Außenminister wurde von den Deutschen begrüßt. Der ehemalige Botschafter in Paris, von Hoesch, hielt sie »für eine Verbesserung gegenüber dem bisherigen Regime Barthou«, während ein Deutscher, der vor Barthous Tod mit Laval gesprochen hatte, feststellte, »daß er mit der Außenpolitik Barthous nicht einverstanden sei und eine direkte deutsch-französische Verständigung für notwendig halte«.271 Es besteht wohl kein Zweifel, daß dies zutraf, obwohl Laval ein zu berechnender Politiker war, um diese Auffassung öffentlich uneingeschränkt zu äußern. Tatsächlich wird die Deutung der französischen Außenpolitik in den Jahren vor 1939 erschwert durch das Vorhandensein einer offiziellen, korrekten, öffentlich geäußerten Politik, die von Politikern, die nach Macht strebten, nicht in Frage gestellt werden konnte – eine Politik der Erfüllung der Bündnisverpflichtungen Frankreichs, des Eintretens für kollektive Sicherheit und den Völkerbund, der Bereitschaft, das Völkerrecht zu verteidigen und sich offener Aggression zu widersetzen. Selbst Laval mußte dieser amtlichen Politik verbalen Tribut zollen und manchmal in Übereinstimmung mit ihr handeln. Seine persönlichen Neigungen enthüllte er mehr inoffiziell. Der Plan des französisch-russischen Bündnisses, den Laval von Barthou erbte, wurde unter seinen Händen ein politischer Trick, ein Mittel, um eine Gruppe der französischen Rechten, die noch immer von der Notwendigkeit des Widerstandes gegen Deutschland überzeugt war, zu täuschen. Auch gegenüber der Linken war er von Nutzen. Wie der deutsche Botschafter in Paris berichtete, konnte Laval den Senatssitz für das Departement Seine nur erhalten, wenn die Kommunisten – durch Moskau – von entschiedener Opposition zurückgehalten wurden. Auch erklärte laut Neurath der französische Botschafter in Paris, François-Poncet, nach Abschluß des französisch-russischen Bündnisses, Laval habe dieses nur unterzeichnet, »um der starken parlamentarischen Gruppe in Paris, die sich zusammensetzt aus Kommunisten, Marxisten, Freimaurern und Juden, den Wind aus den Segeln zu nehmen«. Es scheint tatsächlich, als habe Laval versucht, das Bündnis mit Rußland gänzlich zu umgehen. Zu diesem

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Zweck griff er den Gedanken eines Ostpaktes wieder auf. Barthous Vorschläge hatten sich gegenüber dem Einspruch Deutschlands und Polens nicht durchsetzen können. Laval suchte einen solchen Pakt auszuhandeln, den Deutschland vielleicht annehmen würde, einen Pakt ohne die Bestimmung gegenseitigen Beistandes gegen einen Angriff. François-Poncet versicherte in Berlin, Laval hoffe, die französisch-sowjetische Annäherung innerhalb eines allgemeinen Paktes »abzumildern«, und selbst nach der Unterzeichnung des französisch-russischen Bündnisvertrages behauptete er, ein Ostpakt würde ihn ungültig machen. Das französisch-russische Bündnis kam nur deshalb zustande, weil Hitler zu einer neuen Provokation Anstalten machte, wodurch es Laval unmöglich wurde, sich den Befürwortern des Bündnisses zu widersetzen. Ende 1934 beglückwünschte sich Hitler zu der mit Laval erzielten Abmachung über die an der Saar abzuhaltende Volksabstimmung, die über deren Rückkehr zu Deutschland im Jahre 1935 entschied. Hitler erklärte die versöhnliche Haltung Lavals als die Folge des Wiederaufstiegs Deutschlands zur Großmacht und sagte, »die Franzosen hätten die Gelegenheit zu einem Präventivkrieg endgültig verpaßt«. Die Wiederaufrüstung konnte in größerem Maßstab fortgesetzt werden. Am 10. März 1935 gab Göring die Existenz der deutschen Luftwaffe bekannt, und am 16. März befahl Hitler die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Beide Schritte waren natürlich flagrante Brüche des Vertrages von Versailles. Laval geriet unter starken Druck von Seiten des französischen Kabinetts und der öffentlichen Meinung. Die Verhandlungen zwischen Frankreich und Rußland wurden beschleunigt. Am 2. Mai 1935 wurde das französisch-sowjetische Bündnis abgeschlossen. Gemäß den Bestimmungen der Völkerbundssatzung sah der Pakt gegenseitigen Beistand gegen einen Angriff vor. Wenige Tage später schloß die tschechoslowakische Regierung einen ähnlichen Vertrag mit der Sowjetunion ab. Dieser sollte jedoch erst wirksam werden, wenn vorher der Bündnisfall nach dem französisch-tschechoslowakischen Pakt eingetreten wäre. Laval reiste nach Moskau, und am 15. Mai genehmigte Stalin die Bekanntmachung, daß er mit der Stärke der französischen Streitkräfte einverstanden sei – eine Erklärung, die die französische Kommunistische Partei zum Anwalt des Widerstandes gegen Deutschland machte und die Volksfront in Frankreich ermöglichte. Dieser Erfolg der Linken ließ die Rechte bald daran zweifeln, ob es vernünftig sei, mit den Russen zusammenzuarbeiten.272 Laval war mit dem Herzen nicht dabei. Er verhinderte Gespräche zwischen den Generalstäben beider Länder über die militärischen Konsequenzen des Paktes. Im Juli erinnerte er den deutschen Botschafter in Paris daran, daß das Bündnis nur für fünf Jahre gelte, und erklärte, wenn Deutschland verspräche, Rußland nicht anzugreifen, werde Frankreich »sein Papier an Rußland zurückgeben«. Im November sagte er zu einem deutschen Journalisten, er teile Hitlers Empfindungen gegenüber der Sowjetunion. Er rühmte sich, »weder [die] Sowjetunion noch [die] französische[n] Anhänger [des] französisch-sowjetischen

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Zusammengehens trauten ihm mehr über den Weg«, und deutete an, er erwarte für die Zukunft einen Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion-»schließlich habt Ihr ja doch vor, den Bolschewiken einmal einen schönen Streich zu spielen«. Im Dezember sagte er zu dem deutschen Botschafter, »daß die französische öffentliche Meinung sich immer mehr zu der Erkenntnis durchringe, daß der Einsatz des französischen Heeres nur zur Verteidigung des eigenen Bodens in Frage kommen könne, unter keinen Umständen aber über dessen Grenzen hinaus«.273 Laval war tatsächlich der Ansicht, man könne zulassen, daß Deutschlands stark werde, sich im Osten ausdehne, und er meinte, daß Frankreich sich auch mit einem mächtigen Deutschland verständigen könne. Für Laval bedeutete das französisch-sowjetische Bündnis im besten Falle ein Tauschpfand für Verhandlungen über eine deutsch-französische Verständigung; im schlimmsten Falle, so war seine Auffassung, würde es Frankreich in einen Krieg mit Deutschland hineinziehen, den er zu vermeiden beabsichtigte. Ein besseres und sicheres Unterpfand war nach Ansicht Lavals ein Bündnis mit Italien. Laval glaubte, dadurch werde es leichter, mit Deutschland fertig zu werden. Dieses Bündnis würde zu einer Wiederbelebung des Viermächtepaktes als Rahmen der deutsch- französischen Zusammenarbeit führen. Natürlich wollte auch Laval Deutschland so weit wie möglich zügeln, ohne einen Krieg zu riskieren. Er erkannte, daß ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Frankreich und Italien nicht in der Weise ein Hindernis für die Verständigung mit Deutschland sein müsse, wie dies sicher bei einem echten Einvernehmen zwischen Frankreich und der Sowjetunion der Fall wäre. Daher suchte Laval voll Schwung und Energie den zweiten Aspekt der Politik Barthous zu realisieren: ein Bündnis mit Italien. Im Januar 1935 fuhr Laval nach Rom und wurde von Mussolini herzlich aufgenommen. Rasch wurden Vereinbarungen zur Beilegung der Differenzen zwischen Frankreich und Italien erzielt. Mussolini verzichtete auf jede Aussicht, die Herrschaft über Tunesien von den Franzosen zu erhalten, ein paar unbedeutende Territorien in Afrika wurden an Italien abgetreten, und einige Aktien der französischen Eisenbahn von Djibouti nach Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens, wurden übergeben. Dies alles bedeutete tatsächlich wenig gegenüber der Preisgabe der italienischen Kompensationsansprüche nach dem Londoner Vertrag von 1915 und der Ansprüche in Tunesien durch Mussolini. Die Erklärung dafür wird unten gegeben werden. Man kam überein, daß Italien und Frankreich einander über Maßnahmen konsultieren sollten, die im Falle einer Bedrohung der Unabhängigkeit Österreichs zu ergreifen wären. Darüber hinaus leitete Mussolini alsbald militärische Gespräche mit dem französischen Generalstab in die Wege. Deren Ergebnis war die Übereinkunft, daß Frankreich ein oder zwei Divisionen zur Verstärkung der italienischen Streitkräfte entsenden würde, falls diese einer Bedrohung Österreichs durch Deutschland gegenüberstünden, und daß Italien mehrere Flugzeuggeschwader entsenden würde, falls Deutschland drohe, das Rheinland zu remilitarisieren, sowie zwei Divisionen nach Belfort im Falle gemeinsamen Vorgehens zur

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Verteidigung Österreichs. Im Juli 1935 besuchte der Chef des französischen Generalstabs, Gamelin, seinen italienischen Kollegen Badoglio. Der Besuch wurde im September erwidert.274 Die französisch-italienische Verständigung wurde im April 1935 durch die Teilnahme der Engländer an der Konferenz von Stresa erweitert. Die Konferenz trat nach der Bekanntgabe der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Schaffung einer Luftwaffe durch Deutschland zusammen. Sie sollte die eigenartige Maßnahme der britischen Regierung kompensieren, die darin bestand, den Außenminister nach der deutschen Erklärung nach Berlin reisen zu lassen. Die drei Mächte verkündeten in Stresa, die Erhaltung der Unabhängigkeit Österreichs »werde weiterhin eine Triebfeder ihrer gemeinsamen Politik sein«, sie bedauerten »die Methode einseitiger Ablehnung«, die Deutschland in der Rüstungsfrage angewandt habe, und England und Italien versicherten erneut, sie würden ihre Verpflichtungen gemäß dem Locarno-Pakt erfüllen. In einer abschließenden Erklärung hieß es: »Die drei Mächte [...] befinden sich in völliger Übereinstimmung darin, mit allen geeigneten Mitteln jeder einseitigen Nichtanerkennung von Verträgen, die den Frieden in Europa gefährden kann, entgegenzutreten.« Dieses Werben um Italien war in jedem Falle Zeitverschwendung. Italien würde nie in einen Krieg eintreten, den es wahrscheinlich verlieren würde, und war kaum stark genug, einer unterliegenden Koalition gegen Deutschland doch noch zum Siege zu verhelfen. Mussolini würde die Gelegenheit, sich einem siegreichen Deutschland anzuschließen, nicht versäumen, gleichviel, welche Verträge und Pakte er unterzeichnete. Dennoch ist nicht daran zu zweifeln, daß die meisten Franzosen und Engländer es für der Mühe wert hielten, Verträge mit Mussolini abzuschließen, ebenso wie später Hitler. Zusammen mit dem französisch-russischen Pakt hatte die ›Stresa-Front‹ anscheinend die Isolierung Deutschlands vollständig gemacht und diente, so schien es, als Vorkehrung zum wirksamen Widerstand gegen Hitler. Nunmehr war ein Netz von Verträgen gegen Deutschland über Europa gebreitet: Verträge zwischen Frankreich, Rußland und der Tschechoslowakei, zwischen Frankreich, Italien und England und außerdem die älteren Bündnisse zwischen Frankreich und Polen sowie zwischen der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien. Wenn dieses System jemals funktionieren sollte, war ein zusätzliches Bündnis zwischen Frankreich, England, Italien und Rußland von entscheidender Bedeutung. Einschränkende Bemerkungen hinsichtlich der Festigkeit der Bande zwischen Rußland und Frankreich sind bereits gemacht worden. Die Bande Frankreichs mit Italien sollten bald von Mussolini strapaziert werden, und es war nicht so, daß England sich auf einmal zu einem hartnäckigen und zuverlässigen Befürworter kollektiver Sicherheit und der Zügelung der Ambitionen Deutschlands mit Gewalt oder Androhung von Gewalt gewandelt hätte.

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Die Politik Englands gegenüber Deutschland war im Jahre 1935 zaudernd und schwankend. Die Regierung begann in England klarzumachen, die deutsche Wiederaufrüstung bedeute eine Drohung, der man mit einer Steigerung der britischen Rüstung begegnen müsse, und fuhr gleichzeitig fort, ein Abrüstungsabkommen mit Deutschland zu fordern. Im Februar 1935 schlugen der britische und der französische Außenminister gemeinsam eine allgemeine Regelung vor, nämlich einen Ostpakt, einen Pakt für Mitteleuropa, einen Rüstungspakt und einen Luftwaffenpakt. Dies alles hielt die Diplomaten für den Rest des Jahres vollauf beschäftigt, ohne daß bei ihren Bemühungen etwas herausgekommen wäre. Hitler hatte eine sehr glückliche Hand, sich an den Bemühungen um einen Pakt, den er unterzeichnen könnte, zu beteiligen. Der Luftwaffenpakt war für ihn besonders attraktiv – er sollte von den Locarnomächten allein abgeschlossen werden und die Signatarmächte verpflichten, ihre Luftstreitkräfte einzusetzen, um jeder Signatarmacht beizustehen, die von einer der anderen angegriffen würde. Dies implizierte vom deutschen Standpunkt aus gesehen den wünschenswerten Gedanken, Osteuropa sei für England, Frankreich und Italien von geringerer Bedeutung als der Westen. Laval konnte jedoch nicht gut einem öffentlichen Vertrag zustimmen, dem dieser Gedanke zugrunde lag, und bestand darauf, er dürfe nur zusammen mit dem Aushängeschild eines Ostpaktes abgeschlossen werden, der, wie wir gesehen haben, ihm helfen sollte, das französisch-russische Bündnis zu entkräften. Deutschland hatte indessen allmählich begriffen, daß das französisch-russische Bündnis einen nützlichen Vorwand bildete, verärgert zu sein, und daß es das Beste sei, sich diesen Vorwand nicht durch den Beitritt der Sowjetunion zu einem allgemeinen Nichtangriffspakt nehmen zu lassen. Für den Rest des Jahres kreisten die Gespräche über den Luftwaffenpakt um diese Fragen. Noch am 6. März 1936 sagte Eden zum deutschen Botschafter in London, England wünsche den Fortgang der Verhandlungen über den Luftpakt. Die auffälligste Phase der Gespräche des Jahres 1935 war der Besuch des britischen Außenministers, der von Eden, damals Minister ohne Kabinettsrang, begleitet wurde, in Berlin zu Gesprächen mit Hitler. Dem Besuch war die eigenartige Anfrage vorauf gegangen, ob er den Deutschen willkommen sei, nachdem Deutschland die allgemeine Wehrpflicht verkündet habe und obwohl die Engländer daraufhin protestiert hätten – diese Anfrage nahm dem Protest alle Glaubwürdigkeit. Immerhin erbrachte der Besuch Klarheit darüber, daß die Abrüstung der Landstreitkräfte nunmehr aussichtslos sei. Hitler bestand nachdrücklich auf einer Friedensstärke des Heeres von 36 Divisionen oder mehr als einer halben Million Soldaten. Er gab jedoch zu verstehen, daß er einer Beschränkung der deutschen Flottenstärke auf 35 Prozent der Stärke der britischen Kriegsmarine zustimmen würde.275 Dies war ein Fall von ›Abrüstung‹, an dem die Engländer interessiert waren. Bald nach Rückkehr der britischen Minister aus Stresa wurden die Deutschen zu Flottengesprächen eingeladen. Die Deutschen hatten vor, an den 35 Prozent

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festzuhalten – das war so viel, wie sie in jedem Falle bauen wollten. Die Verhandlungen begannen am 4. Juni 1935. Ribbentrop, der als Fachmann der Nationalsozialisten für außenpolitische Fragen galt, leitete die deutsche Delegation. Er versicherte den Briten, die Verhandlungen, die praktisch auf eine Annahme der deutschen Forderungen hinausliefen, seien von »weltgeschichtlicher Bedeutung«, eine Redewendung, die er und Hitler oft im Munde führten. Am 18. Juni wurde ein Abkommen unterzeichnet, wonach die Stärke der deutschen Flotte 35 Prozent der Flottenstärke des gesamten britischen Commonwealth betragen sollte, während für Unterseeboote den Deutschen das Recht auf 100 Prozent zugestanden wurde, wenn man auch erklärte, daß in naher Zukunft nur 45 Prozent gebaut würden. Das Abkommen war ein bemerkenswertes Ereignis. Das Vorgehen der Engländer rief in Frankreich und Italien große Verärgerung hervor. Die Einwände dieser Staaten gegen den Anspruch der Engländer, sich im Alleingang von Teilen des Vertrages von Versailles zu dispensieren, wenngleich diese Teile zugegebenermaßen nur noch toter Buchstabe waren, wurden nicht beachtet. Eine Gegenleistung der Deutschen lag in keiner Weise vor. In Berlin nahm man zur Kenntnis, daß günstigere Größenverhältnisse als die in dem Abkommen festgelegten in den nächsten zehn Jahren sowieso nicht zu erreichen seien, und stellte fest: »Durch das Abkommen ist von dem mächtigsten ehemaligen Kriegsgegner und Unterzeichner des Versailler Vertrages ein wesentlicher Teil dieses Vertrages in aller Form außer Kraft gesetzt, die Gleichberechtigung Deutschlands formell anerkannt worden. Die Gefahr einer Isolierung Deutschlands, die im März und April des Jahres noch stark drohte, ist gebannt worden. Eine politische Verständigung mit Großbritannien ist durch die Flottenregelung eingeleitet. Die gegen uns kurz vorher geschlossene Front der Stresamächte ist durch das Abkommen erheblich gelockert worden.«276 II. Die Machtentfaltung des Faschismus – Italienisch-äthiopischer Krieg; Remilitarisierung des Rheinlands; Spanischer Bürgerkrieg Die Front der Stresamächte sollte bald viel ernster geschwächt werden. Am 5. Dezember 1934 waren Kämpfe bei Wal Wal ausgebrochen. Äthiopische und italienische Truppen hatten einander den Besitz einer Oase streitig gemacht, die sowohl von Äthiopien als auch von Italienisch-Somaliland beansprucht wurde. Der Zwischenfall war an sich nicht bedeutend. Was jedoch eine Rolle spielte, war, daß er Mussolini anscheinend zu der Entscheidung veranlaßte, in Äthiopien ein koloniales Unternehmen durchzuführen, das er seit einiger Zeit erwogen hatte. Der eigentliche Grund hierfür lag in der Natur der faschistischen Herrschaft. Mussolini wollte ein großer Diktator sein, der Schöpfer und Exponent einer erneuerten ›männlichen Stärke‹ Italiens. Als Ersatz für den Verlust der Freiheit wurde der italienischen Bevölkerung die Erneuerung der nationalen Energien geboten. In den zwanziger Jahren konnte sich die Äußerung

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der Größe der Nation auf Worte beschränken. Mit dem Auftreten eines Nebenbuhlers, eines zweiten großen Diktators, der auch ein Mann der Tat und der Gewalt war, mußte etwas Handfesteres geschehen. Das römische Imperium mußte wieder ins Leben gerufen werden. Problematisch hieran war, daß der größte Teil des ehemaligen römischen Weltreiches sich in der Hand von Mächten befand, die gefährlich stark waren. Also mußte ein Ersatzreich gefunden werden. Äthiopien war – mit Ausnahme Liberias, das praktisch den Schutz der USA genoß – der einzige Teil Afrikas, der nicht unter europäische Herrschaft geraten war. Es war ein Gebiet, wo die kolonialen Ambitionen Italiens in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen ernsten Rückschlag erlitten hatten, als solche Bestrebungen noch zeitgemäßer als in der Folgezeit waren. Mussolini meinte, es wäre sicher unvernünftig von den Mächten, die den größten Teil Afrikas beherrschten, gegen das Vorgehen Italiens in einem Gebiet außerhalb ihrer Interessensphäre Einspruch zu erheben. Wohlweislich tat Mussolini Schritte, um sich zu vergewissern, daß die Mächte, die etwas dagegen einzuwenden haben könnten, England und Frankreich, ihn an der Ausführung seines Planes nicht hinderten. Beiden lag sehr daran, daß Italien in Europa ein Gegengewicht gegen Deutschland bilden sollte. Würden sie dafür den Preis zahlen, die Eroberung in Afrika zu ignorieren? Anscheinend ja. Zunächst wurde die Zustimmung Frankreichs erlangt. Die Verhandlungen, die während des Besuches Lavals in Rom stattfanden, sind zum Teil noch nicht geklärt und werden vielleicht auch nie geklärt werden. Laval bestritt später, daß er Mussolini Blankovollmacht gegeben habe, und behauptete nachdrücklich, er habe Mussolini lediglich das Recht zugestanden, wirtschaftliche Konzessionen in Äthiopien zu erhalten und sie friedlich auszubeuten. Es mag sein, daß Laval im Januar 1935 gegenüber Mussolini dies angedeutet zu haben meinte. Doch selbst wenn das zutrifft, vermittelte er mit Sicherheit Mussolini den Eindruck, er mache viel größere Zugeständnisse. Die Situation war weniger klar, was England anging. Im Februar 1935 warnte Vansittart Grandi, den italienischen Botschafter in London, die öffentliche Meinung in England werde gegen jeden Eroberungsversuch Italiens sein und ein solcher werde daher die italienisch-britische Zusammenarbeit gefährden. Andererseits, und das mußte für Mussolini wichtig sein, sagten der britische Premierminister und der Außenminister nichts über Äthiopien, als sie Mussolini in Stresa trafen – obwohl die militärischen Vorbereitungen Italiens offen vorangetrieben wurden –, und stimmten ohne Widerspruch der abschließenden Erklärung zu, die von der übereinstimmenden Meinung der Konferenzteilnehmer sprach, »jeder einseitigen Nichtanerkennung von Verträgen, die den Frieden in Europa gefährden kann, entgegenzutreten«.277 Daher glaubte sich Mussolini imstande, die militärischen Vorbereitungen für einen Feldzug in Ostafrika zu intensivieren. Schon im Februar 1935 waren Einheiten faschistischer Miliz und Armeesoldaten von Italien nach Eritrea und Somaliland gebracht worden. Bis zum Beginn des Krieges im Oktober standen

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acht italienische Divisonen für die Invasion bereit. Es waren ungefähr 250000 Mann, darunter etwa 50000, die in Afrika ausgehoben waren. Diese Tatsache brachte die britische wie auch die französische Regierung in große Verlegenheit. Für sich allein hätten beide nichts dagegen gehabt, Mussolini in Äthiopien tun zu lassen, was er wollte – im Juli 1935 kam ein britischer interministerieller Ausschuß zu der Schlußfolgerung, es gebe »in Abessinien oder den anliegenden Ländern keine Lebensinteressen Englands, die den Widerstand Englands gegen eine Eroberung Abessiniens durch Italien notwendig« machten. Die Schwierigkeit bestand darin, daß, wenn Mussolini einen Angriff gegen Äthiopien unternahm, er damit die Satzung des Völkerbundes brach. Eine italienische Invasion wäre ein wesentlich eindeutigerer Verstoß gegen die Völkerbundssatzung als das Vorgehen der Japaner in der Mandschurei, denn dort hatte sich die Lage durch das Vorhandensein wohlbegründeter Rechte der Japaner kompliziert. Der öffentlichen Meinung in England war der Völkerbund nicht gleichgültig. Er hatte seit dem Kriege die große Hoffnung auf eine friedliche und geordnete Zukunft gebildet. Für britische Minister war es einfacher gewesen, zu erklären, daß auch sie dies glaubten; es schadete nichts, das zu sagen, obgleich es wegen der Mandschurei zu einigen Schwierigkeiten geführt hatte. Außerdem mußten diejenigen Engländer, die wegen der deutschen Gefahr besorgt waren, daran interessiert sein, den Völkerbund zu stärken. Vansittart erklärte Grandi im April 1935, der Völkerbund sei das beste Mittel, um die öffentliche Meinung in England zur Billigung von Verpflichtungen in Europa zu bewegen.278 Unglücklicherweise konnte die Furcht vor Deutschland sich auch in einer anderen Richtung auswirken, deswegen wurde es wichtig, Mussolini nicht vor den Kopf zu stoßen. Daher suchte die britische Regierung verzweifelt einen Konflikt zwischen Italien und dem Völkerbund zu vermeiden und gegebenenfalls gegenüber der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als unterstütze sie den Völkerbund, während sie inoffiziell versuchte, einen Kompromiß mit Mussolini zu finden. Dabei gab es auf britischer Seite Unterschiede in der Akzentuierung. Vansittart und die Außenminister, erst Simon und dann Sir Samuel Hoare, neigten zu dem Versuch, die Freundschaft Mussolinis aufrechtzuerhalten. Eden, der Minister für Völkerbundsfragen war, strebte mehr danach, den Völkerbund funktionsfähig zu machen, und meinte anscheinend, man solle Mussolini ziemlich energisch behandeln, um ihn zur Annahme eines Kompromisses zu zwingen. Auf ganz andere Weise brachte Mussolinis Verhalten Laval in Frankreich in Verlegenheit. Sein großer Triumph war die Anfang 1935 erzielte Entente mit Italien, die er zu erhalten beabsichtigte. Was ihn betraf, so mochte die Völkerbundssatzung als Trumpf gegenüber Deutschland nützlich sein. Wenn sie der Freundschaft mit Mussolini im Wege stand, sollte sie ignoriert werden. Die Schwierigkeit lag in der Bewahrung des Bündnisses mit England. Laval war genötigt, nach außen hin England und daher den Völkerbund zu unterstützen und dabei auf gutem Fuß mit Italien zu bleiben. Auch Laval mußte sich um die

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öffentliche Meinung seines Landes kümmern. Obwohl sie sich weniger emphatisch für den Völkerbund aussprach als in England, glaubte die französische Linke, darunter auch einige Radikale, die Völkerbundssatzung müßte als Schranke gegen künftige Schritte Deutschlands aufrechterhalten werden. Sowohl Frankreich als auch England wünschten also, die Probleme irgendwie im Rahmen der Grundsätze des Völkerbundes zu regeln. Sie hatten einen erheblichen Vorteil – sie konnten es unter sich ausmachen, die Tätigkeit des Völkerbundes zu lenken. Die große Schwierigkeit war: Mussolini wünschte einen Triumph; es genügte ihm nicht, sich die Herrschaft über Äthiopien heimlich erschlichen zu haben. Dadurch wurde der Ablauf der Verhandlungen bestimmt: Vorschläge für die faktische italienische Herrschaft über Äthiopien und ihre Ablehnung durch Mussolini, weil sie nicht zu seinen bombastischen Reden paßten. Nachdem die Invasion begonnen hatte und Mussolinis Bedürfnis nach Gewaltanwendung befriedigt war, waren weitere anglo- französische Vorschläge aussichtslos, da die Entrüstung über den Verrat am Opfer einer Aggression vor allem in England weit verbreitet war. So waren die Regierungen von England und Frankreich gezwungen, sich dem Völkerbund zu unterwerfen und die Wirtschaftssanktionen gegen Italien anzuerkennen. Durch Verzögerungen und Ausflüchte verhinderten sie aber die Verhängung eines Ölembargos, das den Krieg hätte aufhalten können. Die Sanktionen, die angewandt wurden, reichten nicht aus, um den Sieg Italiens in einem kurzen Krieg aufzuhalten, verursachten aber große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Wenn der Krieg nicht so überraschend schnell beendet worden wäre, hätte Mussolini wahrscheinlich einen Kompromiß annehmen müssen. Zweifellos beschloß Mussolini die Annexion von ganz Äthiopien erst, als der militärische Sieg nahezu vollständig war. Im Januar 1936 sank die italienische Ausfuhr um etwa die Hälfte und die Einfuhr um erheblich mehr als ein Drittel, verglichen mit Januar 1935. Die folgenden Zahlen für den Umsatz des englischen und des französischen Handels mi Italien verstehen sich in je 1000 Golddollar:279 Die Sanktionen wurden noch eine gewisse Zeit nach der Vollendung der italienischen Eroberung fortgesetzt. Der Völkerbund brauchte ein paar Wochen, um sein völliges Versagen zu begreifen. Erst im Juli wurden die Sanktionen förmlich aufgehoben. Deutschland hielt sich in dieser Zeit zurück. Hitler war anscheinend unentschlossen, was er tun sollte. Es war wünschenswert, Mussolini von der Front der Stresamächte abzuziehen, aber auf der anderen Seite waren die guten Beziehungen zu Großbritannien, die in dem Flottenabkommen Gestalt angenommen hatten, noch wichtiger. Die einfachste Lösung war, strikt neutral zu bleiben. Sobald der Konflikt ausgebrochen war, wurde die Ausfuhr von

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Waffen an die beiden kämpfenden Parteien verboten. Im November wurde bekanntgegeben, daß die Regierung jede Steigerung der Ausfuhr von Rohstoffen oder Lebensmitteln, die die deutsche Wirtschaft gefährden könnte, verhindern wolle. Deutschlands Handel mit Italien nahm tatsächlich in den Monaten, als die Völkerbundssanktionen durchgeführt wurden, nicht erheblich zu. Die Haltung Deutschlands war sehr erfolgreich. Ohne die öffentliche Meinung in England irgendwie zu erregen, konnte Deutschland von Mussolinis Groll über das zweideutige Verhalten seiner Partner von Stresa profitieren. Offensichtlich waren sie nicht bereit, den Preis für die Mitarbeit Italiens gegen Deutschland zu zahlen. Im Jahre 1935 war das französisch-italienische Bündnis geschaffen worden, das vor allem die Selbständigkeit Österreichs schützen sollte. Im Jahre 1936 wurde die Achse Rom-Berlin geboren. Am 7. Januar 1936 berichtete der deutsche Botschafter beim Quirinal, Mussolini habe ihm gesagt, es sei jetzt möglich, den einzigen Streitpunkt zwischen Deutschland und Italien zu regeln. Dabei »sei der einfachste Weg der, daß Berlin und Wien ihr Verhältnis auf [der] Basis österreichischer Unabhängigkeit selbst in Ordnung bringen [...] Wenn Österreich so als formell unbedingt selbständiger Staat praktisch ein Satellit Deutschlands würde, so hätte er dagegen nichts einzuwenden.« Inzwischen versicherte Mussolini den Franzosen, er beabsichtige seiner in Stresa eingeschlagenen Politik treu zu bleiben. Diese Erklärung war anscheinend nur ein Mittel der Bestechung, um die Franzosen zur Fortsetzung der Sabotage der Sanktionen zu veranlassen.280 Im Februar 1936 wurden die französischen Botschafter in Berlin und Rom durch die Feststellung beunruhigt, daß der deutsche Botschafter in Rom, von Hassell, eine ungewöhnliche Aktivität entfaltete. Sie konnten nicht herausfinden, was diese zu bedeuten habe. Tatsächlich suchte Hassell Mussolinis Zustimmung zu einem Bruch des Locarnopaktes durch Deutschland zu erlangen. Am 14. Februar hatte Hassell in München eine Besprechung mit Hitler. Der Führer entfaltete seine Gedanken. Die Franzosen seien im Begriff, das französisch-russische Bündnis endlich zu ratifizieren. »Es handle sich darum, ob Deutschland die Pariser Ratifizierung des Russenpakts [...] zum Anlaß nehmen solle, Locarno zu kündigen und die entmilitarisierte Zone wieder mit Truppen zu belegen« – die Bestimmungen des Vertrags von Versailles, die in Locarno mit besonderen Garantien versehen worden waren, daß nämlich Deutschland keine Truppen und kein Militärmaterial westlich einer Linie haben durfte, die fünfzig Kilometer östlich des Rheins verlief, waren noch immer in Kraft. Hitler schlug vor, Hassell solle Mussolini überreden, Locarno als erster zu kündigen. Hassell kehrte daraufhin nach Rom zurück. Am 18. Februar reiste er wieder ab, diesmal nach Berlin. Am Tage darauf sah er Hitler zweimal. Jetzt stellte sich heraus, daß Hitler den Entschluß gefaßt hatte, Truppen in die entmilitarisierte Zone einrücken zu lassen. Hassell erklärte, er glaube, daß Italien sich nicht an irgendwelchen Maßnahmen Englands und Frankreichs gegen eine deutsche Remilitarisierung des Rheinlandes beteiligen werde. Hitler beauftragte Hassell,

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bei Mussolini mit großer Vorsicht Sondierungen vorzunehmen. Am 22. Februar traf Hassell Mussolini in Rom. Geschickt und geduldig kam er allmählich auf den Punkt zu sprechen, auf den es ankam. Schließlich stellte er folgende Hypothese auf: »Es [d.h. Italien] würde im Falle einer, wie immer gearteten deutschen Reaktion auf die Ratifikation des französisch-russischen Bündnispaktes mit Frankreich und England nicht zusammenwirken, sofern diese behaupteten, als Locarno-Mächte in Aktion treten zu müssen. Diese meine Auffassung bestätigte Mussolini zweimal als richtig.« Mussolini war offensichtlich nicht klar, was bevorstand. Hassell mußte die Aufzeichnung über diese Unterredung, die der italienische Unterstaatssekretär Suvich nach Mussolinis Anweisungen gemacht hatte, ändern und sicherstellen, daß eine Wendung, die besagte, das Vorgehen Deutschlands werde sich innerhalb rechtlicher Verpflichtungen halten, getilgt wurde. Dies geschah ohne Schwierigkeit. So gab Mussolini eine Blankovollmacht.281 Am 7. März 1936 rückten deutsche Truppen in die entmilitarisierte Zone ein. Die Vorbereitungen dazu geben ein gutes Beispiel dafür, wie sich Hitlers Entschlüsse entwickelten. Das Auswärtige Amt hatte für einen Vorwand für die Mißachtung des Locarno-Paktes gesorgt – im Jahre 1935 verbreiteten deutsche Diplomaten die Behauptung, der Pakt zwischen Frankreich und Rußland sei unvereinbar mit Locarno. Augenscheinlich glaubten sie, dies werde sich eines Tages als nützlich erweisen. Als Hitler Anfang Februar 1936 in Bayern war, griff er anscheinend den Gedanken auf, die Ratifizierung (der französisch-russische Pakt gelangte am 12. Februar vor die Deputiertenkammer) als Rechtfertigung für die Remilitarisierung des Rheinlandes zu benutzen. Am 12. Februar fuhr er eilig nach Berlin und sprach mit dem Chef der Heeresleitung, von Fritsch, über die Rheinlandfrage. Fritsch bestand darauf, daß das Risiko eines Krieges nicht eingegangen werden solle. Am Tage darauf wurde der Reichswehrminister Generalfeldmarschall von Blomberg unterrichtet. Abermals einen Tag später erläuterte Hitler seine Motive von Hassell, dem er sagte, er habe bisher die Frage nur mit Neurath, Blomberg, Fritsch, Ribbentrop und Göring besprochen. Bei Hassells nächster Begegnung mit Hitler rieten er und der Außenminister Neurath zum Aufschub. Neurath fürchtete, das geplante Vorgehen könnte eine feindliche Koalition ins Leben treten lassen, obwohl er nicht mit sofortigen militärischen Maßnahmen rechnete. Hitler machte geltend, es bestünde die Gefahr, daß die entmilitarisierte Zone eine unverletzliche Einrichtung werde. Auch »sei Passivität auf die Dauer keine Politik [...] Der Angriff sei auch in diesem Falle die bessere Strategie (lebhafte Zustimmung Ribbentrops)«. Er werde ein Tarnmanöver von Paktangeboten durchführen, um den Anschein zu erwecken, daß er nicht aggressiv handele. Am 28. und 29. Februar fand eine Besprechung hoher Offiziere in Berlin statt. Am 2. März erließ Blomberg die Operationsbefehle und ordnete am 5. März deren Ausführung für den 7. des Monats an. Bei diesem Stand der Dinge fragte Hitler an, ob das ganze Unternehmen noch abgeblasen werden könne, sagte es aber nicht ab. Dies ist ein

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Musterbeispiel für eine allgemeine Verfahrensweise, deren Ausführung und Zeitplan durch äußere Umstände diktiert wurden. Auch hier finden sich das Zögern in letzter Minute und die Befürchtungen, die oft Hitlers Geist ergriffen. War die Entscheidung jedoch einmal unwiderruflich geworden, wurde sie auch durchgesetzt. Ein paar Tage später forderte Blomberg, der sich vor einem möglichen Eingreifen Frankreichs fürchtete, die Zurückziehung der nunmehr westlich des Rheines stationierten geringen Streitkräfte. Hitler ignorierte ihn und nahm daher den Erfolg der Operation, den er seinen schwächeren Untergebenen aufgezwungen hatte, für sich selbst in Anspruch.282 Man hatte erwartet, daß Hitler Locarno und die entmilitarisierte Zone in Frage stellen würde, doch nicht zu dieser Zeit. Wiederholt waren Warnungen vor einer bevorstehenden Remilitarisierung nach Paris gelangt.283 Obwohl sie zum Zeitpunkt ihres Eintretens nicht erwartet wurde, hatte die französische Regierung reichlich Zeit zu überlegen, was sie tun solle. Der Außenminister konsultierte den Kriegs- und den Luftfahrtminister. Es zeigte sich, daß die für die Verteidigung Frankreichs verantwortlichen Persönlichkeiten die entmilitarisierte Zone erhalten wollten, aber keine Vorstellung hatten, wie das zu machen sei. General Maurin, der Kriegsminister, regte an, Vorkehrungen zu treffen für den Fall, daß der Remilitarisierung ein alsbaldiger Angriff auf Frankreich folgen sollte, riet aber nicht zu irgendwelchen Gegenmaßnahmen allein der französischen Streitkräfte in der entmilitarisierten Zone. Am 19. Februar 1936 konferierten die Stabschefs der drei Waffengattungen. Der Stabschef des Heeres gab den Ton an: »General Gamelin glaubt, es sei keine Gelegenheit vorstellbar, daß Frankreich die entmilitarisierte Zone allein besetzen könnte.« Er hätte sich deswegen keine Sorgen zu machen brauchen. Am 27. Januar hatte Außenminister Flandin in London mit Eden gesprochen. Dabei hatte er gefragt, was die Franzosen tun sollten, wenn Deutschland im Rheinland aktiv würde. Eden antwortete, dies sei in erster Linie Sache der Franzosen selbst. Eden sagt, er habe gefragt, »wieviel Bedeutung sie der entmilitarisierten Zone beilegten? Wollten sie sie um jeden Preis erhalten?« Oder würden sie darüber mit sich reden lassen? Eden berichtet: »Flandin erwiderte, dies seien genau die Fragen, die unsere Regierungen sorgfältig prüfen und über die sie dann miteinander beraten sollten.« Eden fährt fort: »Dies war kaum die Haltung oder die Sprache eines Mannes, der zum Kampf für das Rheinland entschlossen war.«284 Am 27. Februar faßte der französische Ministerrat einen Beschluß, den Flandin folgendermaßen formulierte: »Die französische Regierung wird für sich allein keine Maßnahmen ergreifen. Sie wird nur in Übereinstimmung mit den anderen Signatarmächten von Locarno vorgehen [...] Indem die französische Regierung auf die Äußerung der Meinung der Garantiemächte wartet, behält sie sich das Recht vor, alle vorbereitenden Maßnahmen, einschließlich militärischer Maßnahmen, hinsichtlich eines gemeinsamen Vorgehens zu ergreifen, das vom Völkerbundsrat sowie den Garantiemächten von Locarno beschlossen werden könnte.«285 Das war klar genug. Es bedeutete, daß Frankreich nichts tun würde,

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außer zu hoffen, daß England die Deutschen durch Verhandlungen irgendwie zum Rückzug aus dem Rheinland bewegen werde. Von Italien war mit Sicherheit nichts zu erwarten. Da der Krieg in Äthiopien noch im Gange und Italien noch das Objekt von Sanktionen war, war es unvorstellbar, daß Mussolini sich gegen Deutschland wenden würde. Was England betraf, so gab es genügend Zeugnisse, daß keine aktiven Schritte zu erwarten seien.286 Das Überraschende ist, daß die französische Regierung anscheinend eine sofortige militärische Gegenaktion gegen die Wiederbesetzung des Rheinlandes erwog, als diese geschah. Selbst Flandin scheint einige Äußerungen für die Anwendung von Gewalt getan zu haben, als das Kabinett am 8. März zusammentrat. Vermutlich wußte Flandin, daß der Kriegsminister sofort Einspruch erheben und solche Gedanken alsbald zu Fall bringen würde. Sicherlich hat Flandin den Engländern die Frage, was sie tun würden, wenn Frankreich allein handelte, nicht vorgelegt. Die französische Regierung wollte weder für das Rheinland kämpfen noch die entmilitarisierte Zone aufgeben. Infolgedessen wurde die ganze Angelegenheit den Locarnomächten und dem Völkerbundsrat unterbreitet. Auf den verschiedenen Konferenzen, die folgten, erwies sich die Bedeutung von Hitlers Angebot eines neuen Paktes. Die Engländer waren begierig darauf, die Jagd nach Hitlers Unterschrift zu erneuern. Am Konferenztisch forderte Flandin, Deutschland zu zwingen, die einseitige Kündigung des Locarno-Paktes rückgängig zu machen. In privaten Gesprächen war er viel mehr bereit, die Politik Englands zu akzeptieren. Dies war für den Dualismus der französischen Politik kennzeichnend. Öffentlich und amtlich hielt sie an der entmilitarisierten Zone als einem Mittel zur Erleichterung eines Angriffs auf Deutschland, wenn es galt, einem bedrohten Verbündeten Frankreichs zu helfen, fest, während die Neigung, sich mit den Zielen Deutschlands abzufinden, weniger offen eingestanden wurde. Das Ergebnis stand fest, da Frankreich das Veto Englands gegen ein Einschreiten von vornherein akzeptiert hatte: Verhandlungen mit Deutschland über einen Ersatz für die Sicherheit, die die entmilitarisierte Zone geboten hatte. Da hinter den von England und Frankreich gemachten Vorschlägen keinerlei Gewaltandrohung stand, kam dabei ganz und gar nichts heraus. Die Gespräche zogen sich über den Rest des Jahres hin, ohne Deutschlands Macht im Rheinland irgendwie zu schwächen.287 Die Bedeutung der Untätigkeit Frankreichs lag darin, daß sie ein Symptom mangelnder Stärke Frankreichs und mangelnder Entschlossenheit war, die Rolle des Polizisten in Europa zu spielen. Die Bündnisse Frankreichs mit Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien, Rußland und sogar mit Italien – soweit dieses Bündnis noch zählte – setzten jedoch die Bereitschaft zur Gewaltanwendung bei der Verteidigung des Status quo in Europa voraus. Die entmilitarisierte Zone war von Bedeutung, weil sie einen Angriff Frankreichs auf Deutschland in Ausführung dieser Verpflichtungen erleichtern würde. Ihre Preisgabe bedeutete eine weitere Beeinträchtigung des Wertes, den Frankreich

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als Bündnispartner besaß. Die Untätigkeit Frankreichs legte die Vermutung nahe, daß Frankreich seine amtlich vertretene Politik, die sich aus den östlichen Bündnissen ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen, nicht ernst nehme. Für viele Franzosen traf dies zu. Das gesamte Bündnissystem bezweckte, einen neuen Krieg mit Deutschland zu verhindern, nicht ihn herbeizuführen. Die Verbündeten im Osten sollten helfen, Deutschland einzuschüchtern, damit es Frankreich in Ruhe ließe, oder, wenn das nicht gelang, einen Angriff Deutschlands auf Frankreich abzuschwächen. In der französischen Armee war diese Auffassung bei weitem eindeutiger vertreten als in der amtlichen Politik. Diese hatte seit der Zeit Millerands und Poincarés so getan, als sei Frankreich überall der aktive Wächter der Regelung von Versailles, der tatkräftige Widersacher des Wiederaufstiegs Deutschlands. Sogar in Locarno hatte Briand diesen Gedanken wiederholt. Barthou hatte ihn energisch von neuem betont. Laval und Flandin stellten diese zur Orthodoxie gewordene Politik heimlich, beinahe verschwörerisch in Frage. Die Armee ignorierte sie völlig. Ihre Planung richtete sich ausschließlich auf die Verteidigung Frankreichs gegen einen deutschen Einfall. »Sollen wir so toll sein, vor unserer Festungslinie zu ich weiß nicht was für einem Abenteuer vorzurücken?« fragte General Maurin im Jahre 1935. Gamelin zeigte keinen Eifer, gegen eine Remilitarisierung des Rheinlandes Widerstand zu leisten. Als man ihn fragte, was die französische Armee tun könne, entgegnete er, sie könne ohne eine allgemeine Mobilmachung nicht in das Rheinland eindringen, und auch dann könne es nicht ohne die Mitwirkung Englands und Italiens geschehen – das heißt, es könnte überhaupt nicht geschehen. Als man ihn drängte, mögliche Operationen für eine teilweise Besetzung der entmilitarisierten Zone vorzuschlagen, wiederholte er, ohne den Völkerbund oder wenigstens die Locarnomächte könne nichts getan werden, und auch dann sei alles, was man ohne allgemeine Mobilmachung tun könne, die Besetzung des linken Ufers der Saar oder, man hätte es nicht glauben sollen, die Besetzung Luxemburgs. Um diese Vorschläge zu rechtfertigen, legte er Zahlen über die Stärke der Deutschen im Rheinland vor, die durch Einbeziehen von 235000 SA-, SS-, NSKK- (motorisierte nationalsozialistische Freiwillige) und Arbeitsdienstmännern auf 295000 Mann angeschwollen war. Später äußerte Gamelin die Hoffnung, das Außenministerium werde sich »darüber im klaren sein, daß die gegenwärtige Organisation unserer Armee so beschaffen ist, daß wir ohne Mobilmachung unsere Defensivlinien beziehen und einen Angriff aufhalten können, daß jedoch jegliches offensive Vorgehen im Lande des Feindes ausgeschlossen ist«.288 Im Jahre 1939 lieferte Gamelins Untätigkeit den abschließenden Beweis, daß die französische Armee nur daran dachte, einem Angriff entgegenzutreten, nicht aber daran, selbst einen Angriff zu unternehmen. Es war von entscheidender Bedeutung, daß dieses Zaudern unter der Oberfläche lag. Öffentlich pochte Frankreich noch auf seinen Status als Großmacht und lehnte es ab, das übrige Europa seinem Schicksal zu überlassen. Das bedeutete, daß es für französische Regierungen unmöglich wurde, sich nicht

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ihren feierlichen Versicherungen entsprechend zu verhalten, als die durch das Zaudern Englands gelieferte Entschuldigung für eine Resignation fortfiel. Die Rheinland-Krise zeigte, daß die Bündnisse Frankreichs noch funktionierten. Am 7. März erklärte der tschechische Außenminister, die Tschechoslowakei werde genau das tun, was Frankreich täte. Noch überraschender war, daß Oberst Beck zu dem französischen Botschafter in Warschau, Noël, sagte, Polen werde seine Bündnispflichten gegenüber Frankreich erfüllen. Noël wußte dafür eine plausible Erklärung. Marschall Rydz-Smigly, der Generalinspekteur der polnischen Armee und eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in Polen, habe angenommen, Frankreich werde militärische Maßnahmen gegen Deutschland ergreifen, und habe bei Beck eine Erklärung durchgesetzt, wonach Polen Frankreich beistehen werde. Beck habe angenommen, Frankreich werde nichts tun. So sei Beck in der Lage gewesen, geltend zu machen, seine Politik sei gerechtfertigt – die Politik, Sicherheit durch freundschaftliche Beziehungen zu Deutschland zu erlangen. Die Untätigkeit Frankreichs verursachte an anderen Orten Bestürzung. Jugoslawien und Rumänien, die schon unter dem Einfluß wirtschaftlicher Bindungen mit Deutschland standen, erfaßte große Beunruhigung. Der französische Gesandte in Belgrad drückte ihre Beschwerden mit folgenden Worten aus: »Ihr laßt, kurz gesagt, die Deutschen mit ihrer Taktik gewähren: sich im Westen Rückendeckung zu verschaffen zu suchen, um im Osten freie Hand zu haben.« Selbst die Tschechen, die loyalsten unter allen Verbündeten Frankreichs, begannen sich zu fragen, ob sie nicht mit Deutschland die bestmöglichen Abmachungen treffen sollten.289 Eden zog aus der Wiederbesetzung des Rheinlandes einige ›Schlußfolgerungen‹: »Wir müssen darauf vorbereitet sein, daß er [Hitler] keinen Vertrag, auch nicht einen frei ausgehandelten, anerkennt, wenn a) dieser lästig wird und wenn b) Deutschland stark genug ist und die sonstigen Umstände es begünstigen. Andererseits liegt es infolge der wachsenden materiellen Stärke Deutschlands und seiner Macht, in Europa Unheil zu stiften, in unserem Interesse, eine so weitreichende und dauerhafte Regelung wie möglich zu erzielen, solange Herr Hitler dazu aufgelegt ist.« Die Unlogik dieser Erklärung ergab sich daraus, daß sie der offiziellen Linie der britischen Politik des Ausgleichs und der Zugeständnisse Ausdruck gab und damit Zweifel an der Vernünftigkeit dieser Politik verband. Die offizielle Linie blieb jedoch weiterhin vorherrschend, ja, sie wurde noch entschiedener, je stärker Deutschland wurde. Ende 1936 gebrauchte Eden in einer öffentlichen Rede folgende Worte: »Wir sind so weit davon entfernt, Deutschland einkreisen zu wollen, daß wir seine Zusammenarbeit mit anderen Nationen auf wirtschaftlichem wie auch auf politischem Gebiet erstreben. Wir wollen weder Blöcke noch Barrieren in Europa.«290 Hitler profitierte noch in anderer Hinsicht von der Verärgerung, die Mussolini im Jahre 1936 erfaßt hatte. Mussolini gab seinem abnehmenden Interesse an der

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Verteidigung Österreichs dadurch Ausdruck, daß er aufhörte, Zahlungen für die faschistische ›Heimwehr‹ zu leisten und deren Führer, den Fürsten Starhemberg, zu unterstützen. Infolggedessen wurde es für den Nachfolger von Dollfuß, Schuschnigg, möglich, auf dem Verhandlungswege ein besseres Verhältnis zu Deutschland zu erstreben. Es war nicht so, daß Schuschnigg diesen Kurs hätte einschlagen müssen. Er glaubte, auf die Dauer sei die Selbständigkeit Österreichs nur mit deutscher Einwilligung sicherzustellen. Daher das deutsch-österreichische Abkommen vom 11. Juli 1936. Dieses erlaubte praktisch die Steigerung der nationalsozialistischen Propaganda in Österreich. Schuschnigg versprach, einige Mitglieder der ›nationalen Opposition‹ in amtliche Positionen aufzunehmen und sie an der aktiven Politik zu beteiligen. Dies war ein klarer Schritt in Richtung auf die Gleichschaltung.291 Dies alles trat bald in den Hintergrund, als der spanische Bürgerkrieg ausbrach. Es war ein Konflikt, der die Emotionen gewaltig erregte. Für viele Menschen in England und Frankreich, ja sogar in den Vereinigten Staaten, war er ein unzweifelhafter Kampf zwischen Gut und Böse. Für die linksstehenden Intellektuellen in Frankreich, für die meisten Liberalen, für manche Arbeiter handelte es sich um einen reaktionären, faschistischen, klerikalen Überfall auf eine fortschrittliche Demokratie. Für die meisten Katholiken, für den größten Teil der französischen Rechten und für manche britische Konservative war es ein Kreuzzug der sittlich guten Kräfte gegen gottlosen bolschewistischen Terror. Diese Themen wurden von zwei mächtigen Propagandaapparaten entfaltet: der katholischen Kirche – mit gewissen Ausnahmen – und – ausnahmslos – der kommunistischen Partei. Internationale Bedeutung erhielt der Konflikt durch die Intervention des Auslands. Daher sind hier die Hoffnungen und Befürchtungen der europäischen Regierungen in Betracht zu ziehen. Am wichtigsten war das Eingreifen Italiens auf der Seite Francos. Es gibt keinen zwingenden Beweis, daß Mussolini die Revolte von 1936 geplant oder beschleunigt hätte. Freilich faßte er alsbald den Entschluß einzugreifen. Dafür gab es vernünftige Gründe. Wenn sich Spanien zu einem Satellitenstaat machen ließ, würde die strategische Position Frankreichs im Mittelmeer ernstlich geschwächt, besonders dann, wenn auf den Balearen italienische Stützpunkte errichtet werden konnten. Die Verbindungen Frankreichs mit Nordafrika würden bedroht, der britische Stützpunkt auf Gibraltar würde an Wert verlieren. Mussolini sagte im November 1937 zu Ribbentrop, die Italiener hätten »in Palma einen Marine- und Luftwaffenstützpunkt errichtet [...] Franco müsse begreifen, daß auch nach der eventuellen Räumung Mallorcas durch die Italiener die Insel ein italienischer Stützpunkt im Falle eines Krieges mit Frankreich bleiben müsse [...] Kein Neger werde auf dem Weg über das Mittelmeer von Afrika nach Frankreich hinübergelangen«. Im April 1939 äußerte der italienische Außenminister Ciano Göring gegenüber, »daß ein Geheimvertrag mit Franco bestehe, auf Grund dessen Italien im Falle eines allgemeinen Konflikts nicht nur auf den Balearen, sondern auch noch an anderen Stellen Spaniens

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Flugstützpunkte zugewiesen bekommen würde«. Ciano notierte im Juli 1939 nach einer Unterredung mit Franco voll Genugtuung: »Franco ist ganz überwältigt von der Persönlichkeit Mussolinis [...] Er erwartet – das hat er wiederholt in Gesprächen, die er mit mir führte, gesagt – Instruktionen und Direktiven vom Duce. Und er selbst sprach zu mir von einem noch größeren Ereignis, das auch ich für unerläßlich halte, um das von unseren siegreichen Legionen in Spanien geleistete Werk zu vollenden, nämlich der Reise des Duce nach Madrid, wodurch Spanien endgültig mit dem Geschick des römischen Imperiums verbunden würde.« Franco täuschte Ciano und Mussolini.292 Die deutsche Intervention beruhte auf Hitlers persönlicher Entscheidung und erfolgte gegen den Wunsch seines Außenministeriums. Zu diesem Zeitpunkt ahnte niemand, daß sich der Krieg fast drei Jahre hinziehen würde. Wahrscheinlich rechnete Hitler damit, daß der Erfolg der Rebellen Frankreich schwächen würde, weil sie vermutlich weit weniger freundlich gegenüber Frankreich eingestellt sein würden als die Regierung, die sie zu stürzen trachteten. Noch weitere Vorteile zeigten sich und rechtfertigten die fortgesetzte und kostspielige Intervention in einem langen Krieg. Der eine war politisch, der andere wirtschaftlich. Hassell formulierte das politische Interesse Deutschlands mit folgenden Worten: »Der spanische Konflikt kann für die Beziehungen Italiens zu Frankreich und England eine ähnliche Rolle spielen wie der abessinische insofern, als er die sich gegenüberstehenden wirklichen Interessen der Mächte klar herausstellt [...] Um so schärfer wird Italien die Zweckmäßigkeit erkennen, den Westmächten Rücken an Rücken mit Deutschland gegenüberzustehen.« Im November 1937 deutete Hitler tatsächlich an, der spanische Bürgerkrieg könnte zu einem Krieg zwischen Italien und Frankreich führen. Um diese politischen Ziele zu erreichen, sollte Italien ermuntert werden, bei der Hilfe für Franco die Führung zu übernehmen. Wirtschaftspolitisch wurde jedoch der Vorrang Italien von Deutschland nicht eingeräumt. Mit beträchtlichem Erfolg, der durch Francos ausweichendes Verhalten etwas beschränkt wurde, suchten die Deutschen die Kontrolle über die spanische Erzproduktion, einen lebenswichtigen Faktor der deutschen Rüstungsindustrie, zu erlangen. Besondere Vorteile ergaben sich für die deutschen Streitkräfte. Der Krieg bot eine hervorragende Gelegenheit zur taktischen Übung mit scharfer Munition. Die Soldaten wurden ausgewechselt, um möglichst vielen den Vorteil dieser Erfahrung zu geben.293 Die Politik Englands bezweckte lediglich, die Ausbreitung des Krieges auf die Großmächte zu verhindern. Es war durchaus klar, daß ein Sieg Francos England strategisch schaden würde. Schwerer als diese Gefahr wog jedoch das Hauptziel der britischen Politik: die Verhinderung eines großen Krieges. Die öffentliche Meinung in England war hinsichtlich des Krieges so sehr geteilt, daß eine Intervention Englands in jedem Falle schwierig gewesen wäre, selbst wenn die Regierung sie gewünscht hätte. Weniger sicher ist, ob die öffentliche Meinung in England einen ernsthafteren Versuch, die Intervention anderer Mächte zu

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blockieren, notwendigerweise verhindert hätte, aber für die Regierung hätte dies die Gefahr eines Krieges mit Deutschland und Italien mit sich gebracht. Die Regierung suchte allen Seiten zu gefallen: Franco wurde die Anerkennung erst gewährt, als er den Krieg gewonnen hatte, und der Anschein, England bemühe sich darum, die Intervention zu verhindern, wurde sorgfältig gewahrt, während gleichzeitig diplomatische Kontakte zu den Rebellen hergestellt wurden, Kontakte, die die wirtschaftlichen Bestrebungen Deutschlands recht wirkungsvoll behinderten. Von der französischen Regierung konnte man erwarten, daß sie der spanischen helfen würde. Zur Zeit, als der Bürgerkrieg ausbrach, war die Volksfrontregierung unter Léon Blum im Amt. Ihre Sympathien gehörten natürlich der gleichartigen Regierung in Spanien. Die Kommunistische Partei, die zu Blums Mehrheit gehörte, trat am lautesten dafür ein, Spanien zu helfen. Von den strategischen Folgen einer Feindschaft Spaniens würde Frankreich am unmittelbarsten berührt werden. Tatsächlich antwortete die Regierung auf den Appell, der sie sofort nach Ausbruch des Krieges aus Spanien erreichte, mit der Entsendung von Waffen. Am 8. August machte die Regierung eine Kehrtwendung, und die direkten Waffenlieferungen wurden beendet. Warum geschah dies? Die Haltung Englands war nicht der entscheidende Faktor. Als Blum und sein Außenminister Delbos einige Tage nach Ausbruch des Konfliktes in Spanien einen kurzen Besuch in London machten, wurde das Thema nach Eden überhaupt nicht diskutiert. Es mutet indessen wahrscheinlicher an, daß die Engländer Vorbehalte gegenüber der französischen Hilfe für Spanien äußerten. Was wirklich eine Rolle spielte, war vielmehr die Erregung, die Blum bei seiner Rückkehr in Paris vorfand. Durch Verrat spanischer Diplomaten war durchgesickert, daß das Kabinett der spanischen Regierung Hilfe leistete, und das Echo de Paris hatte diese Tatsache am 23. Juli enthüllt. Als Blum am darauffolgenden Tag zurückkehrte, erhielt er Berichte über eine zunehmende Agitation gegen eine Einmischung in Spanien, und insbesondere Chautemps sagte zu ihm, die meisten Radikalen – die für Blums Regierungsmehrheit unentbehrlich waren – könnten sie nicht unterstützen. Das Verhalten der Radikalen spiegelte die Abneigung ihrer Anhänger gegen eine abenteuerliche und riskante Politik wider. Blum dachte an einen Rücktritt, wurde jedoch von Vertretern der spanischen Regierung gedrängt, zu bleiben – wie wenig Blum auch für sie tun konnte, eine ausschließlich radikale Regierung würde noch weniger tun. Noch schwerwiegendere Befürchtungen hemmten Blum. Die Bildung der Volksfront, ihr Wahlsieg und die Unruhen, die Blums Machtübernahme begleiteten, hatten bei der französischen Rechten zu Ausbrüchen von Furcht und Wut geführt. Die Ereignisse in Spanien schienen die schlimmsten Befürchtungen der Besitzenden und der Katholiken hinsichtlich der Auswirkungen von Volksfrontregierungen zu bestätigen. Das Letzte, was sie zu tun wünschten, war, die spanische Volksfrontregierung zu stärken. Im Gegenteil, deren Niederlage

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würde vielleicht ihre französische Version, Blums Regierung, untergraben. Blum gab seinen Befürchtungen später folgendermaßen Ausdruck: »Wir hätten in Frankreich ein Pendant von Francos Staatsstreich erlebt. Frankreich hätte eher einen Bürgerkrieg mit geringen Siegeschancen für die Republik als einen Krieg mit dem Ausland gehabt. Das heißt, man hätte Spanien nicht befreien können, sondern Frankreich wäre faschistisch geworden.« Am 25. Juli gab Präsident Lebrun vor dem Ministerrat der Furcht vor einem äußeren und einem Bürgerkrieg Ausdruck. Es wurde beschlossen, Nachschublieferungen an Spanien nur unter dem Deckmantel von Lieferungen an Mexiko zu gestatten, mit Ausnahme privater Geschäfte. Am 2. August wurde ein Vorschlag für eine internationale Vereinbarung über die Intervention ausgearbeitet. Am 6. August sandte Blum Admiral Darlan nach London, um den Versuch zu machen, die Engländer zum Intervenieren zu bewegen, was die Situation in Frankreich geändert hätte. Sie lehnten ab. Daher wurden die Lieferungen am 8. August eingestellt. Als sich zeigte, daß Deutschland und Italien die Hilfe an Franco fortsetzten, stimmte Blum der, wie er es nannte, non-intervention relachée zu – der Organisierung des »Schmuggels von Amts wegen«.294 Die Maßnahmen der Sowjetunion, die den größten Teil der Hilfe leistete, die die Regierung in Spanien erhielt, liegen in geheimnisvollem Dunkel. Wie es für die dreißiger Jahre auch sonst der Fall ist, wissen wir fast nichts über Stalins Methoden und Absichten. Es gibt zahllose Behauptungen und Hypothesen, von denen keine durch zuverlässige Belege gestützt wird. In großen Zügen sind zwei Linien der Interpretation vorherrschend. Die eine besagt, Stalin habe sich bemüht, die Politik der Volksfront tatsächlich wirksam zu machen, um England und Frankreich zum Widerstand gegen das Vordringen des deutschen und italienischen Faschismus zu ermuntern. Die andere läuft darauf hinaus, Stalin habe Hitler zeigen wollen, daß er mit der Sowjetunion rechnen müsse, und zwar als Vorstufe zu irgendeinem späteren Abkommen mit ihm. Feststeht, daß Stalin vorrangig mit inneren Angelegenheiten Rußlands beschäftigt war – in diesen Jahren leitete er die Ermordung einer großen Zahl seiner Mitarbeiter und Untergebenen in die Wege. Es ist möglich, daß die kommunistische Internationale lediglich ihre eigene Politik fortsetzte, die die Stärkung der kommunistischen Parteien in anderen Ländern bezweckte. Diese Politik hatte bemerkenswerte Erfolge in Spanien und außerhalb Spaniens, da die Kommunisten den Eindruck erweckten, die zuverlässigsten und tatkräftigsten Widersacher des Faschismus zu sein. Unterdessen verfolgte das russische Außenministerium vielleicht seine eigene Politik und bemühte sich, England und Frankreich für einen wirksamen antideutschen Block zu gewinnen. Dies würde die Widersprüche, die sich in den Handlungen der Sowjetunion zeigten, erklären. Gewißheit haben wir darüber keineswegs.295 Die diplomatische Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg drehte sich um die ›Nicht-Intervention‹. Auf französische Initiative hin erklärten alle europäischen Länder, sie würden keiner Seite im spanischen Krieg beistehen,

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und in London wurde ein Ausschuß für die Nicht-Intervention eingesetzt, um die Durchführung dieses Grundsatzes zu überwachen. Er blieb während des ganzen Krieges bestehen. Wie erfolgreich er war, kann man ermessen, wenn man eine Denkschrift des deutschen Außenministeriums vom Dezember 1938 betrachtet: »Der Sieg Francos erfordert die weitere Belassung der bei ihm kämpfenden Freiwilligenformationen in Nationalspanien, die Erhaltung ihrer Schlagkraft durch regelmäßigen Nachschub und die Unterstützung Francos mit Material [...] Trotzdem dürfen wir den Nichteinmischungsausschuß nicht zerfallen lassen [...] Wir müssen den Ausschuß vielmehr als Instrument diplomatischer Unterstützung Francos und der Bindung der französischen und englischen Politik hinsichtlich Spaniens zu erhalten suchen.« Alle wünschten das Fortbestehen des Nicht-Interventions-Ausschusses, obwohl er die Intervention nicht verhinderte. Die Schlüsselstellung hatte dabei Frankreich inne. Die französischen Regierungen brauchten den Ausschuß als Ausrede gegenüber den in Frankreich erhobenen Forderungen nach einer regelrechten Intervention. Die Engländer wünschten ihn, weil er die Franzosen, und mithin sie selbst, vor Schwierigkeiten bewahrte. Die Italiener faßten Sympathie für ihn, weil er es den Franzosen ermöglichte, nicht einzugreifen, während er es Italien praktisch, wenn auch nicht theoretisch, freistellte, ohne größeren Krieg zu intervenieren. Die Deutschen begünstigten ihn, weil sie den Sieg Francos wünschten und weil er die Intervention Italiens möglich machte (weder Mussolini noch Hitler wollten um Francos willen einen richtigen Krieg riskieren). Selbst die Russen akzeptierten ihn, vielleicht weil sie befürchteten, ihr Auszug aus dem Komitee würde die Erneuerung der Zusammenarbeit der vier Westmächte gegen sie beschleunigen.296 Der Ausschuß war recht aktiv. Manchmal erzielte er sogar Einigkeit – besonders zu der Zeit, als Francos Sieg ohnehin sicher schien –, und zwar über die Beendigung der Entsendung oder sogar die Zurückziehung der ›Freiwilligen‹. Die Ausführung solcher Vereinbarungen wurde dann sabotiert. Zeitgenössische Beobachter nannten das ganze Verfahren die ›Farce der Nicht-Intervention‹. Eine Folge des Krieges und der Existenz des Nicht- Interventions-Ausschusses bestand darin, daß die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Italien von Tag zu Tag enger wurde. Ciano besuchte im Oktober 1936 Berlin, und im Monat darauf verkündete Mussolini das Bestehen einer ›Achse‹ zwischen Rom und Berlin. In demselben Monat vollbrachte Ribbentrop, der zwar noch deutscher Botschafter in London war, jedoch weit größere Ambitionen hatte, eine persönliche Leistung: den Antikomintern-Pakt. Dies war ein Vertrag mit Japan. Die beiden Signatarmächte versprachen einander – geheim –, nichts zu tun, was einen Angriff der UdSSR auf den Partner erleichtern könnte. Beide hofften zweifellos, der Partner würde Rußland schwächen. Der Vertrag wurde durch Ribbentrops privaten nationalsozialistischen Apparat ausgehandelt. Das deutsche Auswärtige Amt sah keinen Grund, weshalb Deutschland am Fernen Osten über die Erhaltung der Vorzugsstellung, die Deutschland seit dem Krieg

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in China erlangt hatte, hinaus interessiert sein sollte. Das Auswärtige Amt hatte keine ausgeprägten Abneigungen gegen Rußland. Ein Jahr später trat Italien dem Antikomintern-Pakt bei. Ciano schrieb in sein Tagebuch: »Die Nationen betreten gemeinsam den Pfad, der sie vielleicht zum Kriege führt. Zu einem Kriege, der notwendig ist, um die Kruste zu durchbrechen, die die Energie und die Bestrebungen der jungen Nationen erstickt. Nach der Unterzeichnung gingen wir zum Duce. Ich habe ihn selten so glücklich gesehen. Die Situation, die 1935 bestand, hat sich gewandelt. Italien hat die Isolierung durchbrochen; es steht im Mittelpunkt der eindrucksvollsten politischen und militärischen Kombination, die es je gegeben hat.« Unterdessen hatten die Japaner einen weiteren Versuch unternommen, die Herrschaft über China zu gewinnen. Die Engländer waren schon zu dem Ergebnis gekommen, daß sie ihre Interessen in China nicht schützen könnten, wenn die Vereinigten Staaten sich nicht für den Einsatz ihrer Macht entschieden. Es war jedoch klar vorauszusehen, daß das Streben Japans nach politischer und wirtschaftlicher Herrschaft in Ostasien sich bis nach Malaya oder darüber hinaus erstrecken würde. Soweit die Unterschrift Italiens unter dem Dreierpakt irgendeine Bedeutung hatte, mußte sie in erster Linie gegen England gerichtet sein. »Theoretisch antikommunistisch, doch tatsächlich unmißverständlich antibritisch«, schrieb Ciano. Italien wollte im Mittelmeer England vom Widerstand gegen Japan im Osten ablenken. Ohne Zweifel war dies auf Seiten Mussolinis und Cianos eine leere Geste – sie hatten gar keine einheitlichen Ziele –, aber der Eifer der Engländer, Vereinbarungen mit Hitler und Mussolini zu erzielen, steigerte sich. Ohne die Vereinigten Staaten, die sich fernhielten, konnten die Interessen Englands aufgrund von Waffengewalt nicht mehr aufrechterhalten werden.297 Gegen Ende des Jahres 1937 rief der französische Außenminister Delbos Erinnerungen an Barthou wach, als er eine Reise zu Frankreichs östlichen Verbündeten machte. Anscheinend beabsichtigte er, einen gegenseitigen Beistandspakt Frankreichs mit der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien sowie, wenn möglich, mit Polen zustande zu bringen. Ein solcher Pakt würde vor allem die Tschechoslowakei gegen Deutschland stärken – Polen hatte keine Verpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei, während die Kleine Entente gegen Ungarn gerichtet war. Die Polen hielten an ihrer selbständigen Politik fest, obwohl sie nachdrücklich betonten, daß ihr Bündnis mit Frankreich gültig bleibe; die wirtschaftliche Bindung Rumäniens und Jugoslawiens an Deutschland wurde immer stärker. Darüber hinaus begannen die nichtdemokratischen Regierungen dieser Länder vielleicht zu glauben, daß die Achsenmächte eine Art Schranke gegen gesellschaftliche Veränderungen errichten könnten. Wie üblich zeigten allein die Tschechen uneingeschränkte Sympathie für Frankreich.298

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III. Die eigentlichen Ursprünge des Zweiten Weltkrieges – Anschluß Österreichs; Zerschlagung der Tschechoslowakei; Angriff auf Polen Von dieser Zeit, gegen Ende des Jahres 1937, lassen sich die eigentlichen Ursprünge des Zweiten Weltkrieges datieren. Im Sommer hatte Japan einen neuen Angriff auf China unternommen, der bald zu einem großen Konflikt führte. Es gab Anzeichen, daß Präsident Roosevelt willens war, allmählich in den Vereinigten Staaten einen Umschwung der öffentlichen Meinung herbeizuführen, so daß sie ein Eingreifen Amerikas in Übersee billigen würde. Am 5. Oktober sprach er von der »derzeitigen Herrschaft des Terrors und der Völkerrechtsbrüche« und fuhr fort: »Wenn diese Dinge auch in anderen Teilen der Welt geschehen, so soll doch niemand sich einbilden, Amerika werde davon nicht betroffen.« Er deutete an, daß Amerika aktive Maßnahmen ergreifen könnte: »Wenn eine körperliche Krankheit sich epidemisch auszubreiten beginnt, erklärt sich die Gemeinschaft damit einverstanden und hilft mit, die Patienten unter Quarantäne zu stellen, um die Gesundheit der Gemeinschaft gegen die Ausbreitung der Krankheit zu schützen.« Diese Bemerkungen fanden nur bei einer Minderheit der Bürger der USA Zustimmung, und der Präsident machte bald einen Rückzieher. Seine persönliche Haltung war jedoch nunmehr klar.299 In Deutschland begann Hitler vom Übergang von der Vorbereitung zum Handeln in absehbarer Zeit zu reden. Am 5. November 1937 sprach er ausführlich vor dem Kriegsminister von Blomberg, dem Oberbefehlshaber des Heeres, von Fritsch, dem Oberbefehlshaber der Marine, Raeder, Göring, der unter anderem Oberbefehlshaber der Luftwaffe war, sowie dem Außenminister von Neurath. Hitlers Adjutant Oberst Hoßbach verfaßte eine Aufzeichnung über die Ausführungen Hitlers. Hitler begann mit gewichtigen Worten. Seine Bemerkungen seien »das Ergebnis eingehender Überlegungen«. Sie sollten »seine grundlegenden Gedanken über die Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten unserer außenpolitischen Lage« auseinandersetzen. Im Falle seines Todes solle dies »seine testamentarische Hinterlassenschaft« sein. Die deutsche Rassengemeinschaft habe »das Anrecht auf größeren Lebensraum« als andere Völker, und »die deutsche Zukunft sei [...] ausschließlich durch die Lösung der Raumnot bedingt«. Dies erfordere Macht: »Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben, dieser wird niemals risikolos sein.« Nach 1943/45 werde die relative Stärke Deutschlands abnehmen: »Sollte der Führer noch am Leben sein, so sei es sein unabänderlicher Entschluß, spätestens 1943/45 die deutsche Raumfrage zu lösen.« Keine Andeutung über die Art und Weise der ›Lösung‹ tauchte auf. Hitler verbreitete sich jedoch ausführlich über die Möglichkeit des Handelns vor 1943. Wenn Frankreich in eine innere Krise stürzen sollte, so daß die französische Armee nicht gegen Deutschland eingesetzt werden könnte, dann »sei der Zeitpunkt zum Handeln gegen die Tschechei gekommen«. Wenn Frankreich in einen Krieg mit Italien verwickelt würde, müsse Deutschland die »Erledigung der tschechischen und

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österreichischen Frage« vielleicht schon im Jahre 1938 vornehmen. »Die Einverleibung der Tschechei und Österreichs [...] bedeute eine wesentliche Entlastung infolge kürzerer, besserer Grenzziehung, Freiwerdens von Streitkräften für andere Zwecke und der Möglichkeit der Neuaufstellung von Truppen bis in Höhe von etwa 12 Divisionen.«300 Warum machte Hitler diese Bemerkungen? Die Besprechung war ursprünglich von Blomberg angeregt worden, um eine Auseinandersetzung zwischen ihm und Göring über den Vorrang in Rüstungsfragen zu erörtern. Hitler benutzte sie hingegen, um Blomberg und Fritsch zu bewegen, einer rascheren Wiederaufrüstung zuzustimmen. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, weshalb er das Kriegsrisiko und die Notwendigkeit der Bereitschaft zum Handeln im Jahre 1938 so sehr betonte. Das heißt aber nicht, daß seine Ausführungen sonst keine Bedeutung gehabt hätten. Sie waren kein Aktionsprogramm, aber sie geben Aufschluß darüber, in welcher Richtung sich Hitlers Denken bewegte. Es gibt keinen Grund, es für zufällig zu halten, daß er speziell das Argument, es müsse ein Angriffskrieg, an erster Stelle gegen die Tschechoslowakei, riskiert werden, und nicht ein ganz anderes benutzte. Neurath machte nach seiner eigenen Aussage Hitler mit Nachdruck klar, daß diese Politik zu einem Weltkrieg führen müsse und daß viele von den Dingen, die Hitler zu wollen behauptete, mit friedlichen Mitteln, wenn auch langsam, zu erreichen seien. Hitler habe geantwortet, er könne nicht warten. Blomberg, Fritsch und Neurath zeigten sich ausnahmslos zaudernd und furchtsam. Anfang 1938 wurden sie alle abgelöst. Hitler wurde sein eigener Kriegsminister, Brauchitsch wurde Oberbefehlshaber des Heeres und Ribbentrop Außenminister. Ein aggressives Handeln war nunmehr für absehbare Zeit vorauszusehen und sollte mit der Tschechoslowakei beginnen.301 Gegen Ende des Jahres 1937 nahm die britische Außenpolitik einen entschiedeneren Ton an und wurde klarer definiert. Einigung und Verständigung mit Deutschland waren seit dem Ende des Krieges unablässig ein Ziel Englands gewesen. Die Verfolgung dieses Zieles war gehemmt worden durch die Abneigung gegen die Methoden Hitlers und durch das Bestreben, sich den französischen Wünschen nach einer wenigstens äußerlichen Erhaltung gewisser Überbleibsel der alten Politik des Widerstandes gegen die Ausbreitung der deutschen Macht anzupassen. Im Mai 1937 wurde Neville Chamberlain britischer Premierminister. Er war in vielem das Gegenteil seines Vorgängers Baldwin. Er war tatkräftig, energisch, klar und entschlossen. Er liebte es nicht, die Dinge aufzuschieben und ihnen auszuweichen, und rühmte sich seiner realistischen Einstellung. Als Premierminister zeigte er sich herrisch und selbstbewußt. Er war gewiß kein schwacher Mann, noch trat er für eine schwächliche Außenpolitik ein. Er hatte Widerstand gegen Mussolini in der äthiopischen Frage befürwortet, obgleich er die schleunige Beendigung der Sanktionen forderte, als ihr Scheitern offenbar wurde. Er hatte im Wahlkampf von 1935 zur Wiederaufrüstung auffordern wollen, denn er war überzeugt,

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militärische Stärke sei eine wesentliche Ergänzung des britischen Einflusses, obwohl er eine Überanstrengung der Wirtschaft oder Eingriffe in den normalen Ablauf des Handels zu vermeiden wünschte. Gegen Faschismus und Nationalismus hatte er eine Abneigung; Hitler bezeichnete er als ›tollen Diktator‹. Bald wendete Chamberlain seine Aufmerksamkeit der außenpolitischen Lage zu. Kurze Zeit, nachdem er Premierminister geworden war, erklärte er der Regierung der Vereinigten Staaten, England wünsche gleichzeitige Schwierigkeiten in Europa und im Fernen Osten zu vermeiden, und schlug vor, einen Versuch zu machen, mit Japan eine Einigung zu erzielen. Die Antwort der Vereinigten Staaten enthielt deren übliche Politik: keine Vereinbarungen und kein Widerstand – eine politische Linie, die der in Europa von französischen Regierungen eingeschlagenen eigentümlich ähnelte. Chamberlain konnte hinsichtlich Japans ohne Mitwirkung der Vereinigten Staaten nichts unternehmen. In Europa hatte er mehr Handlungsfreiheit. Auch hier rückte offensichtlich die Entscheidung zwischen Kompromiß und Krieg näher. Im Juli 1937 traf er zweimal den italienischen Botschafter und schrieb einen freundlichen Brief an Mussolini: »Ich habe meinen Brief dem Außenminister nicht gezeigt, denn ich glaubte, er würde Einspruch gegen ihn erheben.« Im Herbst besuchte Lord Halifax, der mit Chamberlain auf gutem Fuße stand, Göring und Hitler. Chamberlain schrieb bald danach: »Der Besuch in Deutschland war meines Erachtens ein großer Erfolg, weil er sein Ziel erreichte, nämlich eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Diskussion der mit einer Regelung in Europa zusammenhängenden Fragen möglich ist [...] Ich wüßte nicht, weshalb wir nicht zu Deutschland sagen sollten: ›Gebt uns hinreichende Zusagen, daß ihr gegenüber den Österreichern und Tschechen keine Gewalt anwendet, und wir werden euch ähnliche Zusagen geben, daß wir keine Gewalt anwenden werden, um die von euch gewünschten Änderungen zu verhindern, wenn ihr sie mit friedlichen Mitteln erreichen könnt.‹« Als Chamberlain, Eden und Halifax im November die französischen Minister trafen, ging der Premier noch weiter. England und Frankreich, forderte er, sollten sich aktiv für eine friedliche Regelung einsetzen und die Tschechen zu Konzessionen drängen. Chamberlain führte die Außenpolitik Englands auf einen schicksalhaften Weg: zum Eingreifen in mitteleuropäische Fragen.302 Von dieser Zeit an beherrschte er auch allmählich die französische Politik, nicht weil Frankreich im Verhältnis zu England schwach gewesen wäre, sondern weil er eine politische Linie vertrat, die Franzosen dagegen mehrere. Anfang 1938 begann Chamberlain auf Bemühungen um eine Einigung mit Italien zu drängen. Eden, der Außenminister, widersetzte sich. Er war ungehalten über das ausweichende Verhalten der Italiener in der spanischen Frage und war zu der Überzeugung gelangt, daß man Mussolini mit Festigkeit gegenübertreten müsse. Daher konnte es seiner Meinung nach keine Verständigung mit Italien geben, wenn Italien nicht die Truppen aus Spanien zurückzöge. Der Premierminister beharrte auf seinem eigenen Standpunkt,

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setzte den Fortgang der Verhandlungen durch, und Eden trat zurück. Er wurde durch Lord Halifax ersetzt. Abgesehen von der politischen Streitfrage war Eden mit Sicherheit verärgert über die hochfahrende Einmischung Chamberlains in außenpolitische Fragen und sein deutlich sichtbares Mißtrauen gegenüber dem Rat des Foreign Office. Diese Faktoren sind wichtiger als die Ablehnung eines Vorschlags Roosevelts für eine allgemeine Konferenz durch Chamberlain; Roosevelt hatte nicht den Wunsch, Chamberlains Bemühungen zu behindern, und war in keiner Weise beleidigt, gleichviel, was einige Angehörige des State Department der Vereinigten Staaten empfinden mochten. Chamberlain arbeitete in außenpolitischen Fragen am engsten mit einem Beamten zusammen, der nicht zum Foreign Office gehörte, Sir Horace Wilson. Das erste wichtige Ereignis des Jahres 1938 stellte Chamberlains Fähigkeiten als Mann des Ausgleichs jedoch nicht auf die Probe. Die Vereinigung Österreichs mit Deutschland vollzog sich auf eine Weise und zu einer Zeit, die jeder Erwartung widersprachen, und es gab kaum die Möglichkeit, mit nichtkriegerischen Mitteln zu intervenieren. Schuschnigg, der österreichische Bundeskanzler, erkannte, daß die Unabhängigkeit Österreichs nur mit deutscher Einwilligung sicherzustellen sei, zumal es nicht wahrscheinlich war, daß Mussolini seine Demonstration von 1934 wiederholen würde. Ende 1937 schlug Papen, seit 1934 deutscher Botschafter in Wien, Hitler und Schuschnigg ein Treffen vor. Beide stimmten zu. Zur Vorbereitung auf das Treffen mit Hitler nahm Schuschnigg Verhandlungen mit Seyß-Inquart, einem der ›anständigen‹ Nationalsozialisten im Gegensatz zu den radikalen Agitatoren der örtlichen Parteiorganisation, auf. Die Begegnung mit Hitler wurde auf den 12. Februar 1938 festgesetzt. Das Ergebnis stand mit dem Resultat der Verhandlungen Schuschniggs mit Seyß-Inquart, das den Deutschen im einzelnen mitgeteilt wurde, praktisch vorher fest. Hitler konnte also bei dem Treffen in Berchtesgaden Bedingungen auf den Tisch legen, von denen er vorher wußte, daß Schuschnigg sie annehmen werde. Obendrein benutzte er die Begegnung, um den österreichischen Bundeskanzler zu beleidigen und einzuschüchtern. Vielleicht wollte er sicherstellen, daß Schuschnigg in Zukunft deutsche Wünsche folgsam akzeptierte; vielleicht geriet Hitler lediglich durch den Anblick eines Exponenten der ›österreichischen Idee‹ in Zorn, eines Begriffes, den er schlechthin als Verrat an der ›deutschen Idee‹ ansah. Das Ergebnis des Treffens war ein Abkommen des Inhalts, daß die österreichische Außenpolitik die deutsche unterstützen werde, daß Seyß-Inquart österreichischer Innenminister werden solle, daß den österreichischen Nationalsozialisten die volle Möglichkeit zu legaler Betätigung gegeben werden solle, ohne jegliche Diskriminierung, und daß für die von österreichischen Gerichtshöfen verurteilten Nationalsozialisten eine Amnestie verkündet werden solle. Enge Beziehungen zwischen der österreichischen und der deutschen Armee, einschließlich des Austausches von Offizieren, sollten hergestellt werden.

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Hitler war hiermit sehr zufrieden. Die Gleichschaltung Österreichs mußte nunmehr Fortschritte machen können. Am 21. Februar befahl Hitler, die radikale Gruppe der nationalsozialistischen Führer in Österreich solle das Land verlassen, und am 26. Februar sagte Hitler zu diesen österreichischen Nationalsozialisten, »die Österreich-Frage könne nie durch eine Revolution gelöst werden«. Es gebe nur zwei Möglichkeiten, Gewalt oder evolutionäre Mittel. »Er wünsche, daß der evolutionäre Weg gewählt werde, ganz egal, ob man heute schon die Möglichkeit eines Erfolgs übersehen könne oder nicht. Das von Schuschnigg unterzeichnete Protokoll sei so weitgehend, daß bei voller Durchführung die Österreich-Frage automatisch gelöst werde. Eine gewaltmäßige Lösung sei ihm, wenn es irgendwie vermieden werden könne, jetzt nicht erwünscht, da für uns die außenpolitische Gefährdung von Jahr zu Jahr geringer werde und die militärische Macht von Jahr zu Jahr größer.«303 Das war ein wichtiger Punkt. Hitler nahm augenscheinlich die Möglichkeit ausländischen Eingreifens in Österreich noch ernst und glaubte nicht, daß die militärische Macht Deutschlands im Verhältnis zu der anderer Länder schon so stark geworden sei, wie sie es einmal sein werde. Dies läßt darauf schließen, daß seine Bemerkungen vom 5. November 1937 (s.o.S. 286 f.) seine wirklichen Ansichten hinsichtlich des Zeitplans darstellten: daß ein militärisches Vorgehen im Jahre 1938 nur unter besonderen Umständen möglich sei. Seine Ansichten sollten sich bald ändern. Schuschnigg war mit dem Ergebnis von Berchtesgaden nicht zufrieden. Es wurde bekannt, daß er ein Opfer der Einschüchterung geworden sei, Nationalsozialisten demonstrierten auf den Straßen, und seine Autorität wurde in Frage gestellt. Um den Fortschritt des von Hitler eingeleiteten evolutionären Prozesses und die Tätigkeit Seyß-Inquarts aufzuhalten und um es Hitler zu erschweren, sich einer Ausrede für Gewaltanwendung zu bedienen, beschloß er eine Maßnahme zur Stärkung seiner Position. Das österreichische Volk sollte aufgefordert werden, sich für die Unabhängigkeit Österreichs auszusprechen. Am 9. März gab Schuschnigg bekannt, daß am 13. März eine Volksabstimmung stattfinden solle, wobei die Wähler befragt werden sollten, ob sie »für ein freies und deutsches Österreich, ein unabhängiges und soziales Österreich, für ein christliches und einiges Österreich« einträten oder nicht. Man rechnete mit einer großen Mehrheit für Schuschnigg. Am Morgen des 10. März entschied Hitler, daß die Volksabstimmung nicht stattfinden dürfe. Beck, der Chef des Generalstabes des Heeres, wurde herbeigerufen und erhielt den Befehl, Vorbereitungen für den Einmarsch in Österreich zu treffen. Am späten Nachmittag ergingen vorbereitende Befehle an militärische Einheiten. In der Nacht wollten die Generäle Hitler von der Invasion abbringen, aber Keitel, der neue Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, gab ihre Einwände nicht an Hitler weiter. Am Morgen des 11. März erhielt Seyß- Inquart die Anweisung, bei Schuschnigg den Aufschub der Volksabstimmung zu fordern, und zwar unter Androhung des Einmarsches deutscher Truppen für den Fall, daß er bis Mittag nicht seine Zustimmung gebe. Die Frist wurde von Seyß-Inquart bis 14 Uhr

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verlängert. Um 14.45 Uhr führte Göring das erste von einer Reihe von Telefongesprächen mit Wien. Er erfuhr von Seyß-Inquart, Schuschnigg habe die Volksabstimmung abgesagt. Nach einem zwanzig Minuten dauernden Gespräch mit Hitler legte Göring eine neue Forderung vor: Seyß-Inquart sollte an die Stelle Schuschniggs treten. Der österreichische Bundespräsident Miklas lehnte dies ab. Um 20.45 Uhr erging der Befehl Hitlers, daß der Einmarsch in Österreich am nächsten Morgen durchgeführt werden solle. Es ist wichtig, festzustellen, daß Hitler vorher, um 18.00 Uhr, den Einmarsch abgesagt hatte, als die falsche Nachricht von Seyß-Inquarts Ernennung eintraf – Hitler wollte noch an ›evolutionären‹ Mitteln festhalten und hatte sich noch nicht entschlossen, den Anschluß konsequent durchzuführen. Zu dem Zeitpunkt, als Seyß-Inquart tatsächlich ernannt worden war, war es zu spät, den Einmarsch anzuhalten. Am 12. März rückten deutsche Truppen in Österreich ein und wurden von weiten Kreisen der Bevölkerung begeistert empfangen. Widerstand regte sich nicht.304 Inzwischen fand das Unternehmen diplomatischen Widerhall. Am 11. März unterrichtete Lord Halifax Wien, daß er Schuschnigg nicht raten könne, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, die ihn Gefahren aussetzen würden, gegen die England »Schutz zu garantieren nicht imstande« sei. Die Franzosen richteten an Schuschnigg die überflüssige Aufforderung, Zeit zu gewinnen, und versuchten, Mussolini zum Handeln zu bewegen. Ciano antwortete darauf, wenn die Franzosen über Österreich sprechen wollten, so sei das ein Gegenstand, über den mit Frankreich oder England zu beraten die italienische Regierung keinen Grund habe. An demselben Tag sandte Hitler Prinz Philipp von Hessen zu Mussolini, um ihm einzureden, Hitler habe in Osterreich keine Gewalt angewendet. Abends teilte der Prinz telefonisch mit, Mussolini habe »die ganze Angelegenheit sehr freundlich aufgenommen«, worauf Hitler plötzlich überschwengliche Erleichterung und Dankbarkeit äußerte. Anscheinend war er nicht ganz zuversichtlich gewesen, daß Mussolini wirklich nichts unternehmen werde, obwohl seit über einem Jahr dessen ganzes Verhalten augenscheinlich in diese Richtung wies. Andererseits überreichten der englische und der französische Botschafter am 11. März Proteste in Berlin. Der englische Botschafter, Sir Nevile Henderson, protestierte außerdem um Mitternacht bei Göring, schwächte allerdings seine Bemerkungen dadurch ab, daß er Schuschnigg wegen »voreiliger Torheit« tadelte. Göring versprach den Rückzug der deutschen Truppen aus Österreich, sobald die Lage stabil sei – ein weiteres Anzeichen, daß der sofortige Anschluß noch nicht in Betracht gezogen wurde. Der Einmarsch wurde tatsächlich durchgeführt, ohne daß von vornherein die feste Absicht dazu bestanden hätte. Erst nachdem Hitler sich persönlich nach Österreich begeben hatte, beschloß er die sofortige Vereinigung Österreichs mit Deutschland. Sie wurde am 13. März verkündet. Hitler gab dazu folgenden privaten Kommentar: »England hat mir eine Protestnote geschickt; eine Kriegserklärung hätte ich verstanden, auf einen Protest gebe ich gar keine Antwort. Frankreich ist [...] allein nicht handlungsfähig [...] Italien ist unser

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Freund, und Mussolini ist ein Staatsmann so großen Formats, der weiß und begreift, daß es eine andere Entwicklung nicht gibt.«305 Dieser große Erfolg bestärkte anscheinend Hitlers Selbstvertrauen. Das vorsichtige Zögern, das er vor dem Anschluß gezeigt hatte, trat zurück. Der in der Besprechung vom 5. November 1937 festgelegte Zeitplan – wonach er in der Zeit von 1943 bis 1945 gegen die Tschechoslowakei vorgehen wollte – wurde geändert. Es wurde sofort vermutet, daß eine Krise hinsichtlich der Tschechoslowakei dem Anschluß folgen werde, daß Hitler bald eine ›Lösung‹ wenigstens des Problems suchen werde, das sich durch die etwa drei Millionen innerhalb der Grenzen der Tschechoslowakei lebenden Deutschen stellte. Am 12. März kamen Lord Halifax und der französische Botschafter überein, daß sich französische und britische Minister treffen sollten, um über Maßnahmen hinsichtlich der Tschechoslowakei zu sprechen. Eine mögliche Reaktion auf künftige Forderungen Deutschlands hinsichtlich der Tschechoslowakei, die Organisierung kollektiven Widerstandes, schloß die britische Regierung schnell aus. Am 17. März erklärte der sowjetische Außenminister die Bereitschaft Rußlands, »sich an kollektiven Maßnahmen [...], die darauf abzielen würden, die weitere Entwicklung der Aggression zu hemmen« zu beteiligen und gemeinsam mit anderen Mächten »praktische Maßnahmen« zu erwägen. Eine Woche später legte Halifax in seiner Antwort den britischen Standpunkt dar. England würde eine Konferenz aller europäischen Staaten – das heißt, einschließlich Deutschlands – zur Behandlung und Regelung wichtiger Fragen begrüßen; »eine Konferenz, die nur von einigen europäischen Mächten besucht würde und deren Zweck weniger darin bestünde, die Regelung wichtiger Fragen herbeizuführen, als ein gemeinsames Vorgehen gegen eine Aggression zu organisieren, würde sich nicht notwendigerweise [...] so günstig auf die Aussichten auf Frieden in Europa auswirken.«306 Mit anderen Worten, die Politik Englands richtete sich weiterhin auf einen friedlichen Ausgleich, nicht auf Zwang. Nach Edens Entlassung hatte das Gespann Chamberlain-Halifax freie Hand, energisch den Kurs des Ausgleichs zu steuern. Newton, der britische Gesandte in Prag, legte die neue Akzentuierung im April 1938 dar. Ein Jahr vorher hatte Eden der Tschechoslowakei geraten, die Differenzen mit den Sudetendeutschen beizulegen, hatte aber mit Nachdruck betont, England sei »nicht willens, einen Rat anzubieten, und noch weniger, irgendeinen Vermittlungsversuch zu unternehmen«. Andererseits erklärte Chamberlain im Jahre 1938: »Es ist jetzt an der Zeit, alle diplomatischen Mittel für den Frieden einzusetzen.« Das bedeute, daß die britische Regierung »jederzeit bereit [sei], jede in ihrer Macht stehende Hilfe [...] zur Lösung von Fragen, die wahrscheinlich Schwierigkeiten zwischen der deutschen und der tschechoslowakischen Regierung verursachen, zu leisten«. Die sich daraus ergebende Politik wurde den neuen französischen Ministern, nämlich dem Ministerpräsidenten Daladier und dem Außenminister Bonnet, im April 1938 bei ihrem Besuch in London erläutert. Halifax sagte folgendes: »Es sollte der tschechoslowakischen Regierung und Dr. Benesch [dem

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tschechoslowakischen Staatspräsidenten] ganz klargemacht werden, daß sie diese Gelegenheit ergreifen müssen [...] sich mit äußerster Anstrengung um eine Regelung zu bemühen.« Andererseits »sollte die deutsche Regierung nicht ermuntert werden zu glauben, daß sie der Tschechoslowakei jede beliebige Regelung mit Gewalt oder Gewaltandrohung aufzwingen könnte«. Dies erläutert Chamberlains sorgfältig ausgearbeitete Erklärung vom 24. März. Der Premierminister lehnte es ab, die förmlichen Verpflichtungen Englands nach dem Locarno-Pakt und der Völkerbundssatzung zu erweitern. Er wollte nicht versprechen, daß England Frankreich helfen würde, wenn Frankreich Deutschland nach einem Angriff Deutschlands auf die Tschechoslowakei angriffe. Chamberlain sagte weiter: »Aber indem ich diesen Entschluß unumwunden darlege, möchte ich hinzufügen: Wo es um Krieg und Frieden geht, sind nicht allein rechtliche Verpflichtungen betroffen, und wenn ein Krieg ausbräche, würde er wahrscheinlich nicht auf diejenigen beschränkt bleiben, die derartige Verpflichtungen übernommen haben. Es wäre völlig unmöglich, zu sagen, wo er enden würde und welche Regierungen darin verwickelt würden [...] Dies gilt besonders für zwei Länder wie Großbritannien und Frankreich, die seit langem freundschaftlich miteinander verbunden sind, deren Interessen eng miteinander verflochten sind und die für dieselben Ideale demokratischer Freiheit eintreten und entschlossen sind, sie aufrechtzuerhalten.« Diese Erklärung bezweckte, Hitler davon zu überzeugen, daß England möglicherweise intervenieren würde, und gleichzeitig Benesch zu überzeugen, daß England nicht intervenieren würde. Beide sollten ermuntert werden, eine versöhnliche Haltung zu zeigen, und ein Konflikt sollte verhindert werden.307 Warum wollte die britische Regierung einen Konflikt mit Deutschland vermeiden? Die nächstliegende Antwort ist richtig: Ein solcher Krieg wäre ein großes Unheil, es sei denn, er wäre nachweislich unvermeidlich. Wenn es eine Chance gab, Hitler-Deutschland zur Anwendung friedlicher Mittel zu bewegen, indem man seinen berechtigten Klagen Rechnung trug, dann mußte man diese Chance nutzen. Es ging nicht darum, vor Deutschland zu kapitulieren – zu keiner Zeit war Chamberlain bereit, eine unbestrittene Vorherrschaft Deutschlands in Europa oder einen Zustand hinzunehmen, bei dem England hinsichtlich seiner Freiheit und Unabhängigkeit auf den guten Willen Deutschlands angewiesen gewesen wäre. Zur Unterstützung der Politik Englands wurden jedoch damals und später noch ganz andere Argumente benutzt. Sie alle wurden den französischen Ministern im April vorgetragen. Zunächst gab es militärische Argumente. England und Frankreich könnten in keinem Falle verhindern, daß die Tschechoslowakei überrannt würde, und England und Frankreich seien nicht stark genug, den schließlichen Sieg zu sichern. Zweitens würden die britischen Dominions – Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika – England in dem Bestreben, die Tschechoslowakei zu verteidigen, nicht folgen. Drittens würde die öffentliche Meinung in England der Regierung nicht erlauben, einen Krieg zu riskieren. Diese Argumente

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wurden ergänzend benutzt, um eine Politik zu begründen, die man auch verfolgt hätte, wenn es sie nicht gegeben hätte. Denn England ging im September 1938 tatsächlich bis an den Rand eines Krieges und erklärte im September 1939 wirklich den Krieg, ohne daß sich die strategischen Aussichten sehr gewandelt hätten – Polen konnte im Jahre 1939 schließlich nicht wirksamer verteidigt werden als die Tschechoslowakei im Jahre 1938. Die Kriegsdrohung Englands im September 1938 läßt auch darauf schließen, daß man im Notfall auf die Hilfe der Dominions rechnen konnte. Drittens machte die britische Regierung nicht den Versuch, die Haltung der überwältigenden Mehrheit der britischen Öffentlichkeit, die ganz gewiß Chamberlains Friedensbemühungen im Jahre 1938 unterstützte, zu ändern. Chamberlains Politik beruhte tatsächlich auf der Überzeugung, daß man Hitlers Forderungen befriedigen könne, ohne Europa der Herrschaft der Nationalsozialisten auszuliefern. In der 1938 akut gewordenen Frage zweifelte Chamberlain sehr, »ob Herr Hitler wirklich beabsichtige, den tschechoslowakischen Staat oder vielmehr einen tschechoslowakischen Staat zu zerstören« – das heißt, eine Tschechoslowakei, die verändert wäre, um den Klagen der Sudetendeutschen Rechnung zu tragen.308 Die Politik Frankreichs folgte der Linie Englands. Diese Tatsache wurde dadurch verdunkelt, daß sich die französische Regierung weigerte, sie offen zuzugeben. Frankreich war vertraglich zur Verteidigung der Tschechoslowakei verpflichtet. Der Tschechoslowakei nicht beizustehen, hätte also das Eingeständnis bedeutet, daß Frankreich keine Großmacht mehr sei. Die Politik Daladiers und Bonnets bestand mithin darin, die Bereitschaft zur Erfüllung der Verpflichtungen Frankreichs zu betonen und gleichzeitig Maßnahmen zu treffen, damit diese Bereitschaft nicht auf die Probe gestellt werde. Um eine Situation zu vermeiden, die Frankreich vor die Entscheidung entweder für einen offenen Verrat an der Tschechoslowakei oder für den Krieg gestellt hätte, mußte man die Tschechoslowakei bewegen, sich den Forderungen der Deutschen zu unterwerfen. Die Engländer waren bereit, dabei die Führung zu übernehmen. Daladier und Bonnet konnten in verbalen Demonstrationen der ›Ehre‹ Frankreichs schwelgen und hoffen, daß Chamberlain sie aus allen Schwierigkeiten heraushielte. Vorteilhaft an dieser Situation war, daß sie es Daladier ermöglichte, in Frankreich hinreichende politische Unterstützung zu erhalten, während eine klare Entscheidung für den Widerstand oder für die Kapitulation wahrscheinlich den Sturz der Regierung herbeigeführt hätte, sei es infolge interner Meinungsverschiedenheiten, sei es infolge des Verlustes des Rückhalts in der Deputiertenkammer. Diese Politik stand wahrscheinlich im Einklang mit den Wünschen der meisten Franzosen. Die französische Politik hatte so lange den Widerstand gegen die Ausweitung der Macht Deutschlands befürwortet, daß eine klare Kehrtwendung demütigend gewesen wäre, während ein Festhalten am Widerstand einen Krieg bedeutete, dessen Hauptlast auf Frankreich fallen mußte. Bei der Besprechung Ende April verkündete Daladier den britischen Ministern die öffentlich vertretene Linie der französischen Politik.

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Er sagte zu ihnen, er sei überzeugt, daß das Ziel der Deutschen die Zerstörung der Tschechoslowakei sei und daß man einesteils Benesch drängen sollte, vernünftige Zugeständnisse zu machen, daß man ihm andererseits aber beim Widerstand gegen die Zerstückelung seines Landes helfen sollte. Er machte nachdrücklich geltend, daß nicht allein die Grenze der Tschechoslowakei auf dem Spiele stehe: »Seiner Meinung nach seien die Ambitionen Napoleons bei weitem geringer gewesen als die jetzigen Ziele des Deutschen Reiches [...] Heute stünden wir vor der Frage der Tschechoslowakei. Morgen könnten wir vor der Frage Rumäniens stehen [...] falls und wenn sich Deutschland die Ölquellen und Weizenfelder Rumäniens verschafft hätte, würde es sich gegen die Westmächte wenden, und unsere eigene Blindheit hätte Deutschland mit eben dem Nachschub versorgt, den es für einen langen Krieg brauche, einen Krieg, den zu führen es nach seinem eigenen Eingeständnis jetzt nicht in der Lage wäre.« Diese Aufforderung zum Widerstand nimmt sich gegenüber gewissen privaten Bemerkungen Daladiers eigenartig aus, Bemerkungen, die der deutschen Botschaft in London berichtet wurden. Zu einem britischen Journalisten sagte er folgendes: »Nun, werdet ihr [d.h. die Engländer] Prag unter Druck setzen? Werdet ihr den Tschechen den dringenden Rat geben, sich klug zu verhalten? [...] Wir sind gegenüber der Tschechoslowakei verpflichtet, moralisch durch einen Vertrag verpflichtet [...] Ihr aber seid frei [...] Die Deutschen wollen jetzt – in diesem Sommer – eine Regelung der tschechoslowakischen Frage. Und wir müssen annehmen, daß sie es ernst meinen [...] Deutschland ist jetzt in einer gefährlichen Stimmung. Es ist fürchterlich stark [...] Der Friede Europas hängt in diesem Augenblick wahrscheinlich von der tschechoslowakischen Frage ab und davon, was eure Regierung, besonders Mr. Chamberlain, tun wird.« An demselben Tag, dem 30. April, sprach dieser Journalist mit dem Comte de Brinon, einem der führenden Männer, die in Frankreich für Deutschland Stimmung machten (nach dem Kriege wurde er als Kollaborateur der Nationalsozialisten hingerichtet). Er kannte Daladier seit einigen Jahren und war von ihm und anderen französischen Ministerpräsidenten oft zu inoffiziellen Kontakten mit den Machthabern des nationalsozialistischen Deutschland benutzt worden. Brinon berichtete, Daladier hoffe, »Chamberlain und Halifax würden sich selbst klarmachen, daß Prag unter Druck gesetzt werden solle«, so daß Daladier darin »einwilligen könnte, ohne den Eindruck zu machen, die Initiative dazu ergriffen zu haben [...] Bonnet sei sogar noch mehr als Daladier darauf erpicht, die Verpflichtungen Frankreichs zum Kampf für die Tschechoslowakei zu umgehen«. Im Mai sagte Bonnet tatsächlich zu dem deutschen Botschafter in Paris, wenn sich die tschechische Regierung weigere, »gerechte Forderungen« der Sudetendeutschen zu erfüllen, würde die französische Regierung ihr sagen, »daß sie ihre Bündnisverpflichtungen [...] einer Revision unterziehen müßte«.309 Nur eine kleine Gruppe der öffentlichen Meinung auf der politischen Rechten in Frankreich trat ganz offen für die Politik ein, die die Regierung praktisch, wenn auch nicht theoretisch, verfolgte. Diese Tatsache hatte bedeutsame

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Auswirkungen: Daladier und Bonnet konnten ihre Politik nur durchführen, wenn sie ihnen durch den Druck der Verhältnisse aufgezwungen schien. Sie konnten einen Feldzug für eine Änderung der angeblichen Politik Frankreichs nicht offen führen. Daher konnten sie, als sich die Verhältnisse änderten, das heißt, als die Engländer aufhörten, der Expansion Deutschlands Hindernisse entgegenzustellen, ihre öffentlich vertretene Politik des Widerstandes nicht ohne eine – unmögliche – öffentliche Kehrtwendung aufgeben. Daß sie es ablehnten, an die öffentliche Meinung Frankreichs rundheraus zu appellieren, hatte zur Folge, daß sie für einen derartigen Frontwechsel keine hinreichende Unterstützung finden konnten, als er die einzige Alternative zum Krieg wurde. Man sollte hinzufügen, daß diese Feststellungen für Bonnet stärker gelten als für Daladier. Bonnet hatte entschiedene Ansichten, für die er konsequent eintrat, wenn er auch zu sehr an seinem Amt hing, als daß er sie offen geäußert hätte. Daladier war unentschlossener. Er unterstützte Bonnets Auffassungen insofern, als er Bonnet zum Außenminister berief, doch fiel es ihm schwerer als Bonnet, sie in die Tat umzusetzen, wenn sie mit Verpflichtungen Frankreichs kollidierten. Es hatte stark den Anschein, als werde die Politik Englands und Frankreichs die Tschechoslowakei isolieren, besonders wenn man den Eindruck erwecken konnte, der tschechoslowakischen Regierung widerstrebe es, die Wünsche ihrer deutschen Bürger zu erfüllen. Diesem Zweck widmete Hitler selbst sich. Der Führer der Sudetendeutschen Partei, Henlein, erhielt am 28. März in Berlin Instruktionen. Hitler sagte ihm, er beabsichtige, die sudetendeutsche Frage in nicht allzuferner Zeit zu lösen. Er gab ihm die Anweisung, der tschechoslowakischen Regierung unannehmbare Forderungen zu stellen. Henlein drückte es so aus: »Wir müssen also immer so viel fordern, daß wir nicht zufriedengestellt werden können. Diese Auffassung bejahte der Führer.«310 Daher war jeder Versuch, einen Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen herbeizuführen, nutzlos. Benesch mußte jedoch solche Versuche unternehmen. Seine einzige Hoffnung, Hilfe vom Westen zu erhalten, bestand darin, den Eindruck der Besonnenheit und Versöhnlichkeit zu erwecken. Was ihn dabei behinderte, war die Befürchtung, ebenso unkontrollierbare Forderungen von Seiten anderer Minderheitengruppen zu erwecken und die Abneigung dagegen, die Moral der Tschechen durch Infragestellung der Fundamente des Staates zu schwächen. Die britische Regierung wandte sich energisch der aussichtslosen Aufgabe zu, eine Einigung zwischen den Tschechen und den Sudetendeutschen zu erzielen. Diese Entwicklung gipfelte in der Entsendung Lord Runcimans zur ›Untersuchung und Vermittlung‹ im Juli. Die Idee dazu wurde Benesch vorgetragen, noch bevor den Franzosen davon Mitteilung gemacht wurde, obwohl sie sie, als es geschah, bereitwillig akzeptierten. Die Mission Runcimans wirkte sich auf den Ablauf der Ereignisse nicht aus, aber sie erbrachte nützliche Informationen über die Lage der Deutschen in der Tschechoslowakei. Deutsche, die nicht Henleins Partei angehörten, erklärten Runciman, der deutschen Kultur

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werde die uneingeschränkte Entfaltung in der Tschechoslowakei erlaubt. Deutsche Sozialdemokraten wiesen darauf hin, daß bis zur Weltwirtschaftskrise die meisten Deutschen den neuen Staat akzeptiert hätten. Indessen habe infolge der Abhängigkeit der Sudetendeutschen von der Industrie und deren Abhängigkeit von der Ausfuhr die Depression die Deutschen in der Tschechoslowakei in große Schwierigkeiten gebracht, auf die sich die regierungsfeindliche und tschechenfeindliche Agitation stützen könne. Die Mission Runcimans endete im September, genau zu der Zeit, als die Voraussetzung, auf der sie basierte – daß eine Einigung zwischen Tschechen und Sudetendeutscher Partei möglich sei – hinfällig wurde. In diesem Monat gewährte der ›vierte Plan‹ der tschechoslowakischen Regierung praktisch alles, was die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei gefordert hatten. Das trügerische Spiel von Henleins Forderungen trat auf einmal zutage – es gab tatsächlich keine für die Deutschen annehmbare Lösung, die den tschechoslowakischen Staat intakt ließ. Endlich war für jedermann klar, daß Hitlers Wünsche, nicht die Henleins, ausschlaggebend waren und daß nützliche Verhandlungen nur mit Hitler geführt werden konnten. Nach seiner Rückkehr nach England Mitte September bestand Runcimans einzige Funktion darin, das britische Kabinett davon zu überzeugen, daß auf der Grundlage der Erhaltung der bestehenden Grenzen der Tschechoslowakei keine Einigung möglich sei.311 Hitlers Zeitplan war im Mai 1938 festgesetzt worden. Die Armee hatte Pläne für einen Überfall auf die Tschechoslowakei ausgearbeitet (›Fall Grün‹). Eine Weisung Hitlers vom 20. Mai an Keitel, den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, begann mit den Worten: »Es liegt nicht in meiner Absicht, die Tschechoslowakei ohne Herausforderung schon in nächster Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen«, es sei denn, eine besonders günstige Gelegenheit dazu träte ein. Am 30. Mai gab Keitel den neuen von Hitler gebilligten Plan an die drei Oberkommandierenden weiter. Er begann: »Es ist mein unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen.« Keitel bemerkte dazu, die Ausführung der Operation müsse »spätestens ab 1. 10. 38 sichergestellt sein«.312 Es ist möglich, daß dieser Entschluß zur Gewaltanwendung das Ergebnis der sogenannten Mai-Krise des Jahres 1938 war. Damals wurde berichtet, Deutschland führe zur Vorbereitung auf einen Überfall auf die Tschechoslowakei Truppenbewegungen durch; die Tschechen nahmen eine Teilmobilmachung vor, und der britische und der französische Botschafter trugen Hitler die Warnung vor, daß ein jeder Überfall zu einem allgemeinen Krieg führen müsse. Zweifellos hatte Hitler zu der Zeit keinen Angriff ins Auge gefaßt, aber Pressekommentare stellten es so dar, als habe das feste Auftreten der Alliierten ihn gezwungen, nachzugeben. Möglicherweise glaubte Hitler, eine erfolgreiche Demonstration von Gewalt sei notwendig, um sein Prestige wiederherzustellen. Wahrscheinlich vermutete er, England und Frankreich würden die Tschechoslowakei ihrem Schicksal preisgeben, nachdem ein

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Propagandafeldzug über die angebliche Unterdrückung, die die Sudetendeutschen erlitten, geführt worden wäre. So könnte die Tschechoslowakei durch einen Überfall oder durch die Androhung eines Überfalles zur Unterwerfung gezwungen werden. Die Entwicklung verlief anders. Wie man erwartet hatte, wurde die Krise im September 1938 von Hitler mit einer Rede auf dem Nürnberger Parteitag am 12. September sozusagen offiziell eröffnet. Unter drohenden Äußerungen forderte er die Selbstbestimmung (d.h. die Vereinigung mit Deutschland) für die Deutschen in der Tschechoslowakei. Bonnet und Daladier fielen prompt um. Bonnet sagte zu dem britischen Botschafter in Paris, der »Friede müsse um jeden Preis erhalten werden«, und äußerte sich dankbar für eine Abschrift der im Mai überreichten Warnung, daß England nicht automatisch verpflichtet wäre, zu den Waffen zu greifen, wenn Frankreich der Tschechoslowakei helfen würde. »Er gab zu verstehen [...], daß er sie gegenüber gewissen kriegerischen französischen Ministern für nützlich befunden habe.« Daladier erklärte »offensichtlich ohne Begeisterung, wenn die Deutschen Gewalt anwendeten, müsse Frankreich dasselbe tun«, und schlug weiter Gespräche über die Tschechoslowakei oder eine Konferenz Englands, Frankreichs und Deutschlands vor. Chamberlain hatte am 3. September geschrieben: »Ich zerbreche mir weiterhin den Kopf damit, ein Mittel zur Abwendung der Katastrophe, falls eine solche uns drohen sollte, zu versuchen und auszudenken. Ich dachte an ein so ungewöhnliches und kühnes Mittel, daß es Halifax fast den Atem verschlug.« Jetzt setzte er diesen Plan in die Tat um. Ohne sich die Mühe zu machen, die Franzosen vorher zu konsultieren, teilte er Hitler mit, er beabsichtige, sofort nach Deutschland zu fliegen, um zu versuchen, eine friedliche Lösung zu finden.313 Chamberlain und Hitler trafen sich am 15. September in Berchtesgaden. Chamberlains Eindruck war günstig. Er hatte Hitler einmal als »halb von Sinnen« bezeichnet. Jetzt sah er »keine Spur von Verrücktheit«. Seiner Schwester sagte er: »Trotz der Härte und Rücksichtslosigkeit, die ich in seinem Gesicht zu sehen glaubte, gewann ich den Eindruck, einen Mann vor mir zu haben, auf den man sich verlassen könne, wenn er sein Wort gegeben habe.« Hitler sprach ausführlich (»manchmal wurde er sehr erregt«), stellte seine üblichen historischen Betrachtungen an und verurteilte nichtvorhandene Grausamkeiten, die von »minderwertigen« Tschechen begangen würden, und erklärte, dies sei das letzte größere Problem, das gelöst werden müsse. Worauf es ankomme, sei, daß Deutschland die Sudetendeutschen ins Reich holen müsse, und um das zu tun, würde er einen Krieg riskieren. Chamberlain kehrte nach London zurück, nachdem er versprochen hatte, in ein paar Tagen wieder nach Deutschland zu kommen. Göring äußerte seine Meinung gegenüber dem britischen Botschafter in Berlin: »Es gebe nur zwei Möglichkeiten, a) wenn die englische und die französische Regierung das Selbstbestimmungsrecht für sie [die Sudetendeutschen] akzeptierten, die tschechoslowakische Regierung zur

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Zustimmung zu zwingen oder b) wenn sie dies nicht täten, es Deutschland zu erlauben.«314 Am 18. September kamen Bonnet und Daladier nach London, um Chamberlains Bericht über seine Begegnung mit Hitler sowie seine Ansichten über die nächsten Schritte zu hören. Sie billigten den Vorschlag Chamberlains, Görings erste Möglichkeit zu akzeptieren. Abermals stellte Daladier die Annahme, man könne Hitler zufriedenstellen, und der Friede könne durch eine Erfüllung seiner Forderungen gesichert werden, in Frage und schloß mit seiner Zustimmung dazu, daß man sie erfüllen solle. In der Nacht wurden die Einzelheiten der geplanten Regelung nach Prag übermittelt. Gebiete, in denen mehr als die Hälfte der Bevölkerung deutsch war, sollten von der Tschechoslowakei an Deutschland abgetreten werden. Ein Angebot wurde hinzugefügt: England wolle »einer internationalen Garantie der neuen Grenzen gegen eine nichtprovozierte Aggression beitreten«. Dieser Zusatz wurde gemacht, weil Daladier und Bonnet darum gebeten hatten, um die Tschechen leichter zur Abtretung von Land bewegen zu können, und als Kompensation für die in der Neutralisierung der Tschechoslowakei liegende Schwächung von Frankreichs Sicherheitssystem. Wahrscheinlich hielten die französischen Staatsmänner den Zusatz für nötig, um ihnen zu helfen, das französische Kabinett zur Annahme des neuen Planes zu überreden. Chamberlain stimmte zu, nachdem er diese Bitte mit Halifax, Simon und Hoare diskutiert hatte, doch ohne das Kabinett zu konsultieren, das erst am folgenden Tage unterrichtet wurde.315 Die Garantie führte schließlich kaum zu Ergebnissen, aber ihre Annahme war ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung auf die Verwicklung Englands in die osteuropäischen Angelegenheiten – eine Folge von Chamberlains Eifer, die sofortige Zustimmung Frankreichs und der Tschechoslowakei zu seinem Friedensplan zu erhalten, so daß er ihn mit nach Deutschland nehmen könnte, bevor Hitler die Geduld verlöre und angriffe. So drängten die Bemühungen Chamberlains um den Frieden ihn zur Intervention auf dem europäischen Festland und, wie sich herausstellte, zum Krieg. Der französische Ministerrat erklärte sich am 19. September damit einverstanden, daß die Vorschläge der Regierung in Prag vorgelegt werden sollten. Kein Entschluß wurde für den Fall gefaßt, daß die Tschechen sie ablehnten: Bonnet und Chautemps schlugen vor, sie zu warnen, daß eine Ablehnung die Weigerung Frankreichs bedeute, seinen Bündnispflichten nachzukommen. Dieser Vorschlag fand keine Zustimmung. An demselben Tage um 14.00 Uhr überreichten der britische und der französische Gesandte Benesch die Vorschläge. Am folgenden Tage um 19.35 Uhr erhielten sie die ablehnende Antwort der tschechoslowakischen Regierung. Am nächsten Morgen um 6.30 Uhr erhielt der britische Gesandte in Prag, Newton, einen Telefonanruf vom Sekretär des tschechischen Ministerpräsidenten, der sagte, die Regierung habe die Vorschläge angenommen.316 Es ist umstritten, was geschehen war. Nach der einen Auffassung war die Tschechoslowakei entschlossen, sich aus einem Kriege

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herauszuhalten, selbst wenn Frankreich beteiligt wäre; nach der zweiten war die Tschechoslowakei bereit zu kämpfen, doch nur, wenn sie auf Frankreich zählen könnte. Nach Bonnet war sich die tschechische Regierung darüber klar, daß jeder Krieg, mit oder ohne Frankreich, für die Tschechoslowakei verhängnisvoll wäre, mußte jedoch die öffentliche Meinung ihres Landes dadurch hinter sich bringen, daß sie eine Erklärung Frankreichs, dieses werde seine Bündnispflichten nicht erfüllen, zum Vorwand nahm. »Das Manöver war geschickt. Wir spielten mit«, schreibt Bonnet. Die tschechische Regierung behauptete, die Vorschläge Englands und Frankreichs seien nur deshalb angenommen worden, weil die Tschechoslowakei im Falle eines deutschen Angriffs nach Ablehnung der Vorschläge vom Westen keinen Beistand erhalten hätte. Die Nachricht, die Lacroix, der französische Gesandte in Prag, am Abend des 20. September übermittelte, spricht auf den ersten Blick für Bonnet. Sie besagte, die Tschechen würden nachgeben, wenn Paris bestätige, daß Frankreich der Tschechoslowakei gegen einen deutschen Angriff nicht beistehen würde, und die tschechische Regierung brauche diese Erklärung, um sich gegenüber der öffentlichen Meinung im eigenen Lande abzusichern.317 An demselben Abend berichtete Newton, die Regierung werde nachgeben, wenn sie von England und Frankreich hart genug unter Druck gesetzt würde: »Der Regierung muß eine Lösung aufgezwungen werden, da ohne solchen Druck viele ihrer Mitglieder zu sehr festgelegt sind, als daß sie akzeptieren könnten, was sie als notwendig einsehen.« Am 21. September um 2.00 Uhr nachts suchten die beiden Gesandten Benesch auf, um ihm mitzuteilen, England und Frankreich würden sich abseits halten, wenn ihre Vorschläge abgelehnt würden.318 Daraufhin nahmen die Tschechen an. Doch die Gespräche vom 20. und 21. September bedeuten nicht, daß die tschechische Regierung lediglich eine Rechtfertigung für die Kapitulation gesucht hätte. Sie wußte, daß die in London erzielte Vereinbarung zwischen England und Frankreich zur Folge hatte, daß die Tschechoslowakei keine Hilfe erwarten konnte. Sobald die Abmachung in Prag bekannt wurde, erkannte die Regierung, daß sie zwischen der Annahme der Vorschläge und dem Risiko eines Krieges mit Deutschland ohne Verbündete zu wählen hatte. Sie entschied sich von Anfang an für die Annahme, da sie vermutete, von Frankreich im Stiche gelassen worden zu sein, und die Ereignisse des 20. und 21. September bedeuteten einen Protest und eine Forderung der Tschechen, daß Frankreich die Verantwortung für die Kapitulation vor den Ansprüchen Hitlers offen übernehmen solle. Der Wechsel in der Haltung der tschechischen Regierung besagt nicht, daß die Tschechoslowakei unter keinen Umständen kämpfen wollte, sondern nur, daß die Regierung es nicht riskieren wollte, allein zu kämpfen. Bonnet konnte die Nachricht aus Prag jedoch dazu benutzen, um die Vermutung zu äußern, die Tschechen wünschten einen Konflikt, ob mit oder ohne Verbündete, zu vermeiden. So kam es, daß die französische Regierung nicht auseinanderbrach, als sie am 21. September eine Sitzung abhielt. Drei

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Minister hatten vorgehabt, aus Protest gegen die Preisgabe des Verbündeten durch Frankreich zurückzutreten; Bonnet konnte geltend machen, daß die Tschechen es selbst so wollten.319 Die Annahme der englisch-französischen Vorschläge durch die Tschechen bedeutete, daß die Regierung in Prag jeden Gedanken daran, einen allgemeinen Krieg durch einseitigen Widerstand zu erzwingen, aufgegeben hatte. Auf diese Weise geriet die Politik der Tschechoslowakei in Abhängigkeit von der Frankreichs; die französische Politik blieb von der englischen abhängig. Es ist jedoch möglich, daß die Ansichten in der tschechischen Regierung geteilt waren und daß die Aufforderung zur Kapitulation von dem Ministerpräsidenten Hodža kam und er sie gegenüber Benesch durchsetzte, indem er auf den tschechischen Generalstab einwirkte und sich darum bemühte, eindeutige Erklärungen von der englischen und der französischen Regierung zu erhalten, daß die beiden Länder der Tschechoslowakei nicht helfen würden. Tatsächlich legt ein allem Anschein nach in der Nacht vom 19. zum 20. September abgeschicktes Telegramm des sowjetischen Gesandten den Schluß nahe, daß Benesch zu dieser Zeit auch im Falle einer von ihm für möglich gehaltenen Weigerung Englands und Frankreichs, der Tschechoslowakei zu helfen, einen – isolierten – Widerstand der Tschechen erwog. Darüber hinaus berichtet Lacroix, daß er sein Telegramm nach Paris auf Bitten Hodžas absandte.320 Am 22. September reiste ein triumphierender Chamberlain nach Godesberg, um Hitler wieder zu treffen: »Der Friede in Europa ist mein Ziel, und ich hoffe, diese Reise möge den Weg dazu bahnen.« Hitlers Reaktion auf den englisch-französischen Plan entsprach in keiner Weise seinen Erwartungen. Hitler bestand auf einer sofortigen Grenzziehung, die die Gebiete bezeichne, die Deutschland alsbald besetzen könne – bis zum 28. September. Hitler verlängerte diese Frist noch bis zum 1. Oktober. Gleichzeitig müßten die polnischen und ungarischen Forderungen erfüllt werden. Wenn die Tschechen ablehnten, werde Deutschland angreifen und eine militärische Lösung durchsetzen, die eine militärische oder strategische Grenze und damit die Angliederung von Böhmen und Mähren an Deutschland bedeute. Wahrscheinlich war es dies, was Hitler haben wollte. Er wollte solche Forderungen vorlegen, daß die Tschechen zur Ablehnung gezwungen wären, sodann die Tschechoslowakei angreifen und zerstören und hoffte, daß England und Frankreich untätig zusehen würden. Hitler hatte dem Ministerpräsidenten und Außenminister Ungarns am 20. September gesagt, »er [...] sei entschlossen, die tschechische Frage selbst auf die Gefahr eines Weltkrieges zu lösen [...] Er sei überzeugt, daß England und Frankreich nicht marschieren würden [...] Seiner Auffassung nach sei die einzig befriedigende Lösung ein militärisches Vorgehen. Es bestände aber die Gefahr, daß die Tschechen alles annehmen«. Daher waren die von Hitler in Godesberg erhobenen Forderungen darauf angelegt, von den Tschechen abgelehnt zu werden.321 Sie wurden abgelehnt. Diesmal jedoch überließen England und Frankreich die Tschechoslowakei nicht einfach ihrem Schicksal.

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Daladier in Frankreich litt unter seinem häufigen krampfhaften Verlangen, etwas Entschiedenes zu tun, ohne zu wissen, was. Anscheinend gelangte er allmählich dahin, zu bezweifeln, ob es klug sei, alles zuzugestehen, was zu fordern Hitler sich die Mühe machte. Die Vorstufe zur vollen Mobilmachung der französischen Armee wurde eingeleitet, darunter die Einberufung der Reservisten zur Auffüllung der couverture renforcée. Unter dem Druck des französischen Außenministeriums – wenn auch nicht Bonnets – willigte Lord Halifax am 22. September darin ein, die Tschechen nicht länger aufzufordern, von der Mobilmachung abzusehen. Am 23. September schlug Halifax Chamberlain vor, die britische Regierung möge Vorkehrungen zur Mobilmachung erwägen. Am 24. bestimmte Halifax das Kabinett dazu, daß es Chamberlains Bereitschaft, die Forderungen Hitlers anzunehmen, zurückwies. Am 25. kamen Daladier und Bonnet wieder nach London. Abermals befürwortete Daladier den Widerstand. Diesmal stimmten die Engländer zu. Nachdem Simon Daladier unhöflich ins Kreuzverhör genommen hatte, anscheinend, um zu zeigen, daß Frankreich nicht kämpfen könne, sagte Chamberlain am 26. September zu Daladier, er beabsichtige, Hitler zu warnen, daß, falls Frankreich der Tschechoslowakei in der Ablehnung der Godesberger Forderungen beistünde, England Frankreich helfen würde. Sir Horace Wilson wurde mit dieser Drohung auf die Reise geschickt, um die Versuche zu verstärken, Hitler die sofortige Invasion der Tschechoslowakei auszureden. Am 26. September gab Lord Halifax eine Mitteilung an die Presse heraus, die besagte: »Falls [...] ein deutscher Angriff auf die Tschechoslowakei unternommen wird, muß er sofort zur Folge haben, daß Frankreich verpflichtet ist, ihr zu Hilfe zu kommen, und daß Großbritannien und Rußland sicherlich an der Seite Frankreichs stehen.«322 Am nächsten Tag kam man überein, die britische Flotte zu mobilisieren, und Reservisten von Einheiten zur Küstenverteidigung sowie von Luftabwehrbatterien erhielten den Befehl, sich zum Dienst zu melden. Dies war etwas ganz Neues: England drohte mit dem Kriege, um eine ordnungsgemäße Regelung »eines Streites in einem weit abgelegenen Lande zwischen Leuten, von denen wir [die Engländer] nichts wissen«, an Stelle einer Regelung durchzusetzen, die auf bloßer Gewaltanwendung beruhte. Hitler wich zurück, nahm von einer Invasion Abstand und stimmte einer internationalen Konferenz zu, vielleicht durch Druck von Seiten Mussolinis, der einen allgemeinen Krieg zu vermeiden trachtete, dazu bewogen, vielleicht wegen der Opposition von Seiten des Oberkommandos des Heeres, das das Risiko eines Krieges mit den Westmächten nicht eingehen wollte, vielleicht auch deswegen, weil das Risiko den Anschein der Realität bekommen hatte. Am 28. September schlug Hitler eine Konferenz Italiens, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands vor. Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler trafen sich am folgenden Tage in München. Das Münchner Abkommen sah die Abtretung »überwiegend deutscher« Gebiete der Tschechoslowakei an Deutschland vor; ihr Umfang sollte von einer internationalen Kommission festgesetzt werden. Näher

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bezeichnete Gebiete sollten in der Zeit vom 1. bis zum 7. Oktober von deutschen Truppen eingenommen werden – damit bekam Hitler den für den 1. Oktober geforderten Zutritt zur Tschechoslowakei – und das gesamte, Deutschland zuzuweisende Gebiet sollte bis zum 10. Oktober besetzt werden. »Die Fragen der polnischen und ungarischen Minderheiten« sollten im Wege der Vereinbarung oder durch eine neue Konferenz geregelt werden. England und Frankreich wiederholten das Angebot einer internationalen Garantie für den neuen tschechoslowakischen Staat. Deutschland und Italien versprachen, der Tschechoslowakei Garantie zu leisten, sobald Polen und Ungarn zufriedengestellt seien. Die Tschechen konnten nichts unternehmen, es sei denn, sie wären bereit gewesen, allein einen Krieg zu riskieren, wogegen sie sich schon entschieden hatten. Nach den Verhandlungen sprach Chamberlain mit Hitler über die Abrüstung, den spanischen Bürgerkrieg und die Weltwirtschaft. Dann forderte er Hitler auf, ein Dokument zu unterzeichnen, worin sich beide die Zusicherung gaben, alle »Fragen, die unsere beiden Länder angehen, nach der Methode der Konsultation zu behandeln«. Mit Hitlers Unterschrift kehrte Chamberlain am 30. September triumphierend nach London zurück. Am Abend sagte er: »Ich glaube, das ist der Frieden für unsere Zeit.«323 Um das Münchner Abkommen ist eine große Auseinandersetzung entstanden. Es ist von denjenigen in England und Frankreich kritisiert worden, die glaubten, man hätte der Expansion Deutschlands einmal entgegentreten müssen. Die meisten von ihnen haben behauptet, das Münchner Abkommen habe künftigen Widerstand noch erschwert. Es habe die Tschechoslowakei neutralisiert, Rußland vor den Kopf gestoßen und die kleinen osteuropäischen Staaten glauben lassen, der einzige Weg für sie bestehe in dem Versuch, zu den bestmöglichen Abmachungen mit Deutschland zu gelangen. Nach dieser Darstellungsweise ist München sogar zu einer Ursache des Krieges geworden, da es durch die Schwächung der in Opposition zu Hitler stehenden Kräfte über die bloße Kriegsdrohung hinaus den Krieg selbst erforderlich gemacht habe, um Hitler künftig zu zügeln. Dieses Argument geht davon aus, daß Hitler sich sogar für die Preisgabe seiner Forderungen hinsichtlich der sudetendeutschen Gebiete entschieden hätte, wenn ihm England und Frankreich entschlossen entgegengetreten wären. Es gibt nicht genug Belege, um diese Auffassung zu stützen oder zu bestreiten. Es gab jedoch damals und später den Beweis, daß Hitler durch einen Staatsstreich in Deutschland zur Aufgabe jener Forderungen hätte gezwungen werden können. Hitlers Pläne für einen Angriff auf die Tschechoslowakei wurden von der Führung des deutschen Heeres mit Bestürzung betrachtet. Am energischsten äußerte diese der Chef des Generalstabs, Ludwig Beck. Von Mai bis Juli 1938 suchte Beck die Generäle, besonders von Brauchitsch, den Oberbefehlshaber des Heeres, zu Maßnahmen zu veranlassen, die Hitler daran hindern sollten, einen Krieg mit Frankreich, Rußland und England zu riskieren.

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� Abb. 12: Der britische Premierminister Neville Chamberlain verläßt nach Abschluß der Münchner Konferenz Deutschland Anfang August brachte Beck eine Besprechung der gesamten Führungsspitze des Heeres zustande. Er wollte ein gemeinsames Ultimatum an Hitler erreichen, das ihn aufforderte, die Kriegsvorbereitungen einzustellen und der Herrschaft der Parteiführer und den Angriffen auf die Kirche ein Ende zu setzen und zum Rechtsstaat sowie zu »preußischer Sauberkeit und Einfachheit« zurückzukehren. Entweder aus Taktik oder infolge eines schwerwiegenden Mißverständnisses argumentierte er mit Ausdrücken, die von der Rettung Hitlers vor schlechten Ratgebern sprachen. Falls Hitler nicht nachgäbe, sollten die Generäle in ihrer Gesamtheit zurücktreten. Brauchitsch unterließ es, Becks Appell den versammelten Generälen vorzulegen, und der Plan hatte kein anderes Ergebnis, als daß Beck zurücktrat, was erst nach der Konferenz von München öffentlich bekannt wurde. Becks ablehnende Haltung förderte jedoch die Entstehung eines gewaltsameren Vorhabens. Ein Plan für einen Staatsstreich wurde unter entscheidender Mitarbeit von Offizieren, die Truppen befehligten, ausgearbeitet. Die wichtigsten waren General von Witzleben, der Kommandeur des Wehrkreises Berlin, Graf von Brockdorff-Ahlefeld, der Kommandeur der Potsdamer Garnison, Graf Helldorf, der Polizeipräsident von Berlin, und General Hoepner, der Kommandeur einer Panzerdivision. Hitler sollte in Berlin verhaftet und später vor Gericht gestellt oder für wahnsinnig erklärt werden, und die

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Armee sollte die Macht übernehmen. Sobald der endgültige Befehl zum Angriff auf die Tschechoslowakei erlassen würde, wollte Halder, der an die Stelle Becks getreten war, die Verschwörer unterrichten, und der Plan sollte ins Werk gesetzt werden. Es sollte ein Eingreifen in letzter Minute sein; es mußte für die deutsche öffentliche Meinung ganz klar sein, daß Hitler mit voller Absicht einen Krieg mit der Tschechoslowakei vom Zaune brechen und das Risiko eines Krieges mit den Großmächten auf sich nehmen wollte. Die Verschwörer gingen davon aus, dieser Fall werde eintreten, und unternahmen Schritte, um sich zu vergewissern, daß die Westmächte klarstellten, sie würden zum Widerstand gegen Hitler antreten. Dann würde Hitler entweder seinen Krieg absagen oder gestürzt werden. Selbst wenn er die Aggression aufgeben sollte, würde sein Prestige so geschwächt sein, daß sein Regime verschwände. Im August 1938 setzte Ewald von Kleist, ein hervorragender konservativer Gegner des Nationalsozialismus, sein Leben aufs Spiel, indem er als Emissär der Verschwörer bei den verantwortlichen Stellen in England auftrat. Er bezeichnete es mit Nachdruck als notwendig, daß seine deutschen Freunde durch ein festes Auftreten der Westmächte gegenüber Hitler Unterstützung erhielten. Nachrichten über die Opposition gegen Hitlers Politik kamen auch aus anderen Kreisen, teilweise durch Andeutungen, die mit Einwilligung Weizsäckers, des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, gemacht wurden. Der beabsichtigte Staatsstreich wurde nach dem Godesberger Treffen anscheinend beinahe Wirklichkeit. Das Ergebnis der Münchner Konferenz, ein Kompromiß zwischen Hitler und den Westmächten, der Hitlers öffentlich erhobene Forderungen voll befriedigte, beseitigte die Grundlage des Plans. Wir können nicht sagen, was die Verschwörer getan hätten, wenn Chamberlain nicht nach München gegangen wäre, oder ob sie dann zur Tat geschritten wären. Es steht jedoch fest, daß unter den Verschwörern tapfere und aufrichtige Männer waren.324 Das Münchner Abkommen und die Mittel, durch die es erzielt worden war, mußten alle etwaigen Zweifel der Sowjetunion an der Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den Westmächten bekräftigen. Es war eine Rückkehr zu dem Viermächtepakt, zu dem Gedanken der Umgestaltung Europas ohne Konsultierung Rußlands, unter der Schirmherrschaft der aggressiven Staaten Deutschland und Italien sowie Englands und Frankreichs, denen offenbar daran lag, die Diktatoren zu besänftigen und sie nach Osten abzulenken. Es wäre interessant, zu wissen, inwieweit die Leiter der russischen Politik im Jahre 1938 bereit waren, sich am Widerstand gegen Deutschland zu beteiligen, oder inwieweit sie jeden derartigen Gedanken, falls sie ihn je hegten, bereits aufgegeben hatten. War die Sowjetunion bereit, der Tschechoslowakei beizustehen? Vertraglich gesehen, hatte Rußland Bewegungsfreiheit, da die Verpflichtungen Rußlands erst bindend wurden, wenn Frankreich vorher den seinen nachkam. Rußland konnte seine Bereitschaft zur uneingeschränkten Erfüllung seiner Verpflichtungen verkünden, ohne daß diese Behauptung auf die Probe gestellt wurde. Daher können wir keineswegs sagen, wozu sich Stalin

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entschlossen hatte oder ob er überhaupt einen Entschluß faßte. Gewiß, dem sowjetischen Außenminister war nicht klar, wie die sowjetischen Streitkräfte die Tschechoslowakei erreichen könnten, wenn weder Polen noch Rumänien ihnen den Durchmarsch durch ihr Land erlauben wollten. Andererseits berichtete die deutsche Botschaft in Moskau im Oktober, die sowjetische Presse habe die Krise heruntergespielt, und vorbereitende Maßnahmen zur Mobilmachung seien in Rußland nicht getroffen worden. In diesem Bericht hieß es: »Nachträglich behaupten die Sowjets, daß sie in Anbetracht der nachgiebigen Politik Frankreichs und Englands gegenüber den Aggressoren an den Ausbruch eines Krieges niemals ernstlich geglaubt hätten.« Wahrscheinlich traf dies zu. Da das Schicksal der Tschechoslowakei Rußland nicht unmittelbar betraf, konnte die Sowjetregierung eine tapfere antinational-sozialistische Haltung ohne nennenswerte praktische Bedeutung annehmen. Die einzige konkrete Maßnahme, die Rußland während der Krise ergriff, bestand darin, Polen Gegenmaßnahmen Rußlands anzudrohen, falls Polen die Tschechoslowakei angriffe – eine Drohung, die keinen Einfluß auf die polnische Politik hatte.325 Der Zeitabschnitt von September 1938 bis März 1939 war die klassische Periode des appeasement. Für Frankreich suchte Bonnet ein gleichartiges Dokument wie das von Chamberlain und Hitler in München unterzeichnete Abkommen zu erhalten. Zu diesem Zweck kam Ribbentrop im Dezember 1938 nach Paris. Eine deutsch-französische Erklärung verkündete, die deutsch-französische Grenze werde als endgültig anerkannt und die Regierungen der beiden Staaten seien »vorbehaltlich ihrer besonderen Beziehungen zu dritten Mächten« entschlossen, alle Fragen von gemeinsamem Interesse künftig gemeinsam zu erörtern. Ribbentrop wollte unzweifelhaft freie Hand in Osteuropa. Dieses Ziel glaubte er erreicht zu haben. In einem offiziellen Gespräch mit Bonnet verurteilte Ribbentrop Frankreichs östliche Bündnisse als »ausgesprochene Überbleibsel (Atavismen) des Versailler Vertrags, bzw. der Versailler Mentalität«, und sagte, daß »diese Art der Einkreisungspolitik als ein unerträglicher Zustand früher oder später, sei es auf dem Verhandlungsweg, sei es anderswie, abgeschüttelt werden müßte. Wenn man in Frankreich diese deutsche Interessensphäre ein für allemal respektiere, dann glaube er, der Reichsaußenminister, durchaus an die Möglichkeit eines grundsätzlichen und endgültigen Ausgleichs zwischen Deutschland und Frankreich«. Bonnet antwortete unbestimmt, »daß sich die Verhältnisse seit München ja in dieser Hinsicht grundlegend geändert hätten«, wechselte sofort das Thema und kam auf die Forderungen Italiens wegen Tunis zu sprechen. Als im Februar 1939 der deutsche Botschafter in Paris dagegen protestierte, daß Bonnet öffentlich von einer Festigung der freundschaftlichen Beziehungen zu Osteuropa sprach, erklärte Bonnet, »in außenpolitischen Kammerdebatten würden oft Dinge gesagt, die offensichtlich für das interne Forum bestimmt seien und keine darüber hinausgehende Bedeutung hätten. Wenn ein französischer Außenminister [...] innerlich die Konsequenzen aus der Veränderung der Lage in Zentraleuropa

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gezogen habe, könne man nicht gut von ihm verlangen, daß er auch vor der Kammer auf der ganzen Linie abdiziere. Wenn er dies tun würde, so würden nur die Kriegshetzer Oberhand erhalten«. Im Juli 1939 schrieb Ribbentrop an Bonnet, er habe im Dezember 1938 »ausdrücklich auf Osteuropa als deutsche Interessensphäre hingewiesen« und Bonnet habe seinerseits betont, »daß sich in der Einstellung Frankreichs zu den osteuropäischen Fragen seit der Konferenz von München ein grundsätzlicher Wandel vollzogen habe«326. Ribbentrop setzte sich mit der bekannten Diskrepanz zwischen der öffentlich vertretenen Politik Frankreichs und Bonnets tatsächlicher Politik auseinander. Diese Diskrepanz konnte nach wie vor zur Folge haben, daß Bonnet und seine Anhänger in eine Lage gerieten, die sie nötigte, eine von ihnen nicht gewollte Politik des Widerstandes durchzuführen, da sie es ablehnten, das Risiko auf sich zu nehmen, sich mehr Unterstützung für ihre Politik in der öffentlichen Meinung zu verschaffen. In England empfand man hinsichtlich der im Münchner Abkommen liegenden Regelung mehr Zuversicht als in Frankreich. Wenn es nicht genügte, um den Frieden zu sichern, so hatte es doch wenigstens gezeigt, wie der Friede erreicht werden könnte. Allerdings wurchs die Opposition gegen die Politik des Ausgleichs mit Hitler. Dreißig Konservative, namentlich Churchill, Eden und Duff Cooper – der letztere war aus Protest gegen das Münchner Abkommen aus der Regierung ausgetreten – äußerten sich in verschiedenen Graden der Skepsis, während gleichzeitig die Kritik der Liberalen und der Labour Party an den Zugeständnissen, die die Regierung faschistischen Diktatoren machte, heftiger wurde. Das Verhalten der Deutschen trug nicht dazu bei, das Klima der appeasement-Politik zu erhalten. Die deutsche Regierung zeigte im diplomatischen Verkehr eine beleidigende Arroganz und zügellose Brutalität im eigenen Lande, wo im November organisierte Überfälle auf die Juden stattfanden (die alle noch etwa vorhandenen Illusionen hinsichtlich des Charakters des nationalsozialistischen Regimes in England und vermutlich auch in Deutschland beseitigten), sowie Unhöflichkeit in öffentlichen Reden und in Zeitungen. Sogar Chamberlain erfaßten Zweifel. Im Oktober schrieb er: »Wir sind der Zeit, da wir uns den Kopf von jedem Gedanken an Krieg freimachen können, sehr wenig näher gekommen.« Die Wiederaufrüstung in England ging weiter, worüber man sich in Deutschland bitter beklagte. Aber Chamberlains Politik änderte sich nicht: »Der auf Versöhnung gerichtete Teil der Politik ist ebenso wichtig wie die Aufrüstung.«327 Sie änderte sich auch im März 1939 nicht, doch das Verhältnis von Versöhnung und Zwang verschob sich infolge der Zerstörung der Tschechoslowakei durch Deutschland. Die Regelung vom September 1938 war auf Seiten Hitlers eine Konzession gewesen, die Invasion und Beseitigung der Tschechoslowakei waren verschoben worden. Vergessen waren sie nicht. In einer Weisung Hitlers an die Wehrmacht vom 21. Oktober 1938 hieß es: »Es muß möglich sein, die Rest-Tschechei jederzeit zerschlagen zu können«, und eine weitere Weisung vom 17.

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Dezember 1938 machte klar, daß diese Aufgabe von der Wehrmacht im Friedenszustand ohne Mobilmachung gelöst werden müsse: »Nach außen muß klar in Erscheinung treten, daß es sich nur um eine Befriedungsaktion und nicht um eine kriegerische Unternehmung handelt.« Es bestand kein Grund zu großer Eile; die nach München gebildete tschechoslowakische Regierung zeigte sich gegenüber deutschen Befehlen äußerst unterwürfig. Ebenso wie ein Jahr vorher beim Anschluß Österreichs handelte es sich um ein Unternehmen, das Hitler irgendwann in der Zukunft einmal ausführen wollte, nicht um einen festen Eroberungsplan. Obwohl sich Hitlers Abneigung gegen eine Tschechoslowakei, die noch einen Rest von Unabhängigkeit besaß, bei seinem Gespräch mit dem tschechischen Außenminister im Januar zeigte und sein Interesse an der slowakischen Unabhängigkeitsbewegung im Februar deutlich wurde, fiel die Entscheidung zum Handeln anscheinend erst, nachdem in der Tschechoslowakei eine innere Krise ausgebrochen war. Am 10. März 1939 entließ die Zentralregierung in Prag den slowakischen Ministerpräsidenten Tiso, weil er auf die Unabhängigkeit der Slowaken hinarbeitete. Dies war ein Vorwand für die Behauptung, die Tschechoslowakei sei in Auflösung begriffen. Am 12. März setzte die Wehrmacht militärische Bedingungen für ein Ultimatum an die Regierung in Prag auf, worin die Kapitulation gegenüber einer deutschen Invasion gefordert wurde. Auch ergingen Anweisungen mit dem Zweck, die Tschechen zu antideutschen Kundgebungen aufzustacheln. Am 13. März wurden die Ungarn zur sofortigen Besetzung Rutheniens aufgefordert. Hitler gab Tiso die Anweisung, die Unabhängigkeit der Slowakei zu verkünden, und drohte, falls er dieser Anweisung nicht im Zeitraum von Stunden nachkäme, würden die Ungarn die Erlaubnis erhalten, die Slowakei zu besetzen.328 Nach Hitlers Bemerkungen bei seinem Treffen mit Tiso zu urteilen, beabsichtigte er damals die »unerträglichen Zustände«, die die unter den Einfluß des »Benesch-Geistes« gefallenen Tschechen geschaffen hätten, als eine Rechtfertigung für eine Invasion zur Wiederherstellung der »Ordnung« zu benutzen, doch bot sich unerwartet ein besserer Weg an. Die tschechische Regierung erfaßte eine verzweifelte Unruhe, als sie die Anzeichen des deutschen Unwillens sah. Daher suchten der Präsident und der Außenminister ein Gespräch mit Hitler, in der Hoffnung, wenigstens einen bescheidenen Rest von Unabhängigkeit für Böhmen und Mähren zu retten. Als sie in Berlin eintrafen, waren deutsche Truppen schon nach der Tschechoslowakei in Marsch gesetzt. Hacha, der Präsident der Tschechoslowakei, traf Hitler um 1.15 Uhr in der Nacht zum 15. März. Um 4 Uhr war er so weit eingeschüchtert, daß er ein Dokument unterzeichnete, womit er »das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches« legte.329 Am Vormittag rückten deutsche Truppen in Prag ein. Am folgenden Tag verkündete Hitler ein Protektorat über Böhmen und Mähren. Einer tschechischen Regierung, die von einem deutschen Reichsprotektor überwacht und kontrolliert wurde, verblieb eine begrenzte Autonomie. Am 23. März stellte sich die Slowakei unter

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den Schutz Deutschlands; deutsche Truppen erhielten das Recht, sich in Teilen des Landes festzusetzen. Die Voraussetzungen für die nächste Krise wurden bereits geschaffen. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen hatten im September 1938 gut funktioniert. Dennoch mußte früher oder später jede deutsche Regierung eine Modifizierung der Bestimmungen des Versailler Vertrags über Danzig und den polnischen Korridor herbeizuführen suchen. Am 24. Oktober 1938 sprach Ribbentrop mit dem polnischen Botschafter Lipski. Die Unterredung verlief »in sehr freundschaftlichem Tone«. Ribbentrop erklärte, die Zeit für eine Beseitigung aller etwaigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und Polen sei gekommen. Dies könne ohne Schwierigkeiten geschehen. Danzig solle zu Deutschland zurückkehren und Deutschland eine exterritoriale Straße und eine exterritoriale Eisenbahn durch den Korridor nach Ostpreußen bekommen, Polen in Danzig einen Zugang zum Meer und exterritoriale Rechte innerhalb Danzigs erhalten. Die deutsch-polnische Grenze solle als endgültig anerkannt werden. Polen solle dem Antikomintern-Pakt beitreten. Am 19. November traf Lipski Ribbentrop ein weiteres Mal. Lipski sagte, Polen könne der Eingliederung Danzigs in Deutschland nicht zustimmen, doch könne eine Verbindung Deutschlands durch den Korridor mit Ostpreußen in Erwägung gezogen werden. Ribbentrop forderte, Oberst Beck solle seinen Vorschlägen mehr Beachtung schenken. Am 5. Januar 1939 traf Beck Hitler selbst in Berchtesgaden.

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� Abb. 13: Deutsche Truppen rücken in Prag ein Hitler gab sich sehr konziliant. Er legte ausführlich dar, Deutschland habe kein Interesse, in der Ukraine eine polenfeindliche Politik zu verfolgen (der polnische Staat umfaßte Gebiete, die von Ukrainern bewohnt waren, und Beck war über die Ermunterung des ukrainischen Separatismus durch Deutschland besorgt). Er und Beck versicherten sich ihrer gegenseitigen Freundschaft. Beck versprach, über die von Deutschland gemachten Vorschläge nachzudenken. Am folgenden Tag schlug Ribbentrop Beck vor, Polen und Deutschland sollten in Fragen der Ukraine zusammenarbeiten, einschließlich der sowjetischen Ukraine. »Dies wiederum setze allerdings auch eine immer klarere antirussische Einstellung Polens voraus.« Drei Wochen später fuhr Ribbentrop nach Warschau. Er sprach »nochmals über die von Polen und Deutschland gegenüber der Sowjetunion zu treibende Politik und in diesem Zusammenhang auch über die Frage der Großukraine« und regte »erneut eine deutsch-polnische Zusammenarbeit auf diesem Gebiet« an. Beck versprach eine sorgfältige Prüfung dieser Gedanken. Das Vorgehen Deutschlands gegen die Tschechoslowakei im März gefiel den Polen nicht, da sie darüber nicht konsultiert worden waren, und sie waren darüber empört, daß Deutschland den ›Schutz‹ der Slowakei übernahm, wenn sie auch damit zufrieden waren, daß Ungarn Ruthenien (die Karpato- Ukraine) schluckte. Am 21. März traf Ribbentrop mit Lipski zusammen. Der Ton war ein anderer geworden. Den bekannten Vorschlägen wurden Drohungen hinzugefügt: »In zunehmendem Maße sei aber der Führer über die polnische Haltung verwundert [...] Es käme darauf an, daß er nicht den Eindruck erhalte, daß Polen einfach nicht wolle.«330 Die Polen wollten nicht. Lipski fuhr in äußerst düsterer Stimmung nach Warschau, um Beck Bericht zu erstatten, und sprach über die Möglichkeit eines deutschen Ultimatums an Polen. Beck legte seine Politik dar. Wenn polnische Interessen bedroht würden, »werden wir kämpfen«. Zu diesen Interessen gehöre die Verteidigung des polnischen Gebietes und der Unabhängigkeit Danzigs. Danzig habe symbolische Bedeutung. Polen dürfe nicht einer derjenigen östlichen Staaten werden, die sich einem Diktat beugten. Deutschland habe jeden Sinn für Mäßigung verloren, und der einzige Weg, ihn wiederherzustellen, sei entschiedener Widerstand, etwas, was Hitler noch nicht begegnet sei. Am 26. März überreichte Lipski Ribbentrop die polnische Antwort. Die Forderung Deutschlands nach Exterritorialität für Verbindungswege durch den Korridor wurde abgelehnt, und nur ein neues Statut für Danzig auf der Grundlage einer gemeinsamen deutsch-polnischen Garantie wurde angeboten. Ribbentrop erklärte, eine Verletzung Danzigs durch polnische Truppen bedeute Krieg. Am folgenden Tag sagte Ribbentrop zu Lipski: »Auf den großzügigen Vorschlag, den Deutschland an Polen gemacht habe, sei eine ausweichende Antwort erfolgt [...] Die Beziehungen beider Länder entwickelten sich daher stark abschüssig.« Am

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29. März teilte Beck dem deutschen Botschafter in Warschau mit, jede Verletzung der Souveränität Danzigs durch Deutschland bedeute Krieg mit Polen. In der Nähe Danzigs wurden, zum Teil als Antwort auf die von Deutschland am 22. März vollzogene Angliederung des litauischen Hafens Memel an Ostpreußen, polnische Truppen konzentriert. Am 5. April teilte der deutsche Außenminister seinem Botschafter in Polen mit, das deutsche Angebot an Polen »sei einmalig gewesen«, weitere Gespräche solle es nicht geben.331 Hitlers Angebote an Polen waren sicher aufrichtig. Vom deutschen Standpunkt aus gesehen waren sie wirklich großzügig. Sie stellten Bedingungen für eine mildere endgültige Regelung mit Polen dar, als sie Stresemann je in Betracht gezogen hätte. Natürlich hätten sie nach polnischer Auffassung die Reduzierung Polens auf den Status eines abhängigen Satelliten mit sich gebracht. Den Status wollte Polen nicht akzeptieren – Beck konnte es nicht, denn die öffentliche Meinung Polens hätte es nicht ertragen. Polen wollte unabhängig oder gar nichts sein. Bevor Lipski nach Berlin zurückkehrte, dachte Hitler schon daran, statt Freundschaftsangeboten gegenüber Polen Gewalt anzuwenden. Am 25. März ordnete er an, die Danziger Frage solle »nun aber bearbeitet werden«. Dennoch war Hitler sehr unentschlossen: »Führer will die Danziger Frage jedoch nicht gewaltsam lösen. Möchte Polen nicht dadurch in die Arme Englands treiben [...] Vorläufig beabsichtigt Führer nicht, die poln[ische] Frage zu lösen.« Dann fuhr Hitler nach Berchtesgaden, um über Polen nachzudenken. Anfang April, nachdem Becks Antwort bekannt geworden und die englische Garantieerklärung für Polen verkündet worden war, erging eine Weisung Hitlers, einen Angriff auf Polen vorzubereiten, der zu einem Zeitpunkt nach dem 1. September 1939 ausgeführt werden solle. Die polnischen Streitkräfte sollten vernichtet werden. Der Krieg war »womöglich« auf Polen zu begrenzen. In Hitlers Weisung hieß es jedoch: »Das deutsche Verhältnis zu Polen bleibt weiterhin von dem Grundsatz bestimmt, Störungen zu vermeiden«, es sei denn, Polen ändere seine Politik gegenüber Deutschland. Im nächsten Monat wurde Hitler wesentlich deutlicher. Am 23. Mai richtete er eine Ansprache an die Führungsspitze der Wehrmacht. Nunmehr ging er davon aus, daß Polen ein Feind sei: »Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und es bleibt der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen.«332 Inzwischen waren in London und Paris große Veränderungen vor sich gegangen. Die Zerstörung der Tschechoslowakei im März hatte die Politik des appeasement in Verruf gebracht. München hatte Hitler offensichtlich nicht zufriedengestellt. Der Gedanke, man könne zu vernünftigen Regelungen begrenzter deutscher Forderungen gelangen, wurde in Frage gestellt. Diejenigen, die immer gegen diese Politik opponiert hatten, behaupteten, die Ereignisse hätten ihnen recht gegeben; die Urheber dieser Politik begannen an ihrem eigenen Werk zu zweifeln. Am bedeutsamsten von allem war die Entwicklung, die sich im Denken Chamberlains vollzog. Am 15. März sprach er noch so, als sei seine Politik unverändert. Zwei Tage später, nachdem er die Reaktion der

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britischen öffentlichen Meinung und des Unterhauses vernommen hatte, war der Ton anders: »Ist dies das Ende eines alten Abenteuers oder der Beginn eines neuen? [...] Ist dies tatsächlich ein Schritt in Richtung auf den Versuch, die Welt mit Gewalt zu beherrschen?« Am 19. März schrieb er: »Sobald ich Zeit hatte nachzudenken, sah ich, daß es unmöglich sei, mit Hitler klarzukommen, nachdem er seine eigenen Versicherungen alle über Bord geworfen hatte [...] Ich habe einen Plan ausgearbeitet.« Sein Ziel war noch immer, den Frieden zu sichern, nicht sich auf einen unabwendbaren Krieg vorzubereiten: »Ich akzeptiere niemals den Gedanken, daß der Krieg unvermeidlich ist.« Nun wurde gegenüber Hitler mehr die Methode des Zwanges als die des Ausgleichs angewandt, doch die des Ausgleichs nicht vergessen. Am 30. Juli schrieb Chamberlain, man müsse Deutschland überzeugen, »daß die Aussichten, einen Krieg zu gewinnen, ohne sich dabei völlig zu erschöpfen, zu gering sind, als daß er der Mühe wert wäre. Aber man muß den Zusatz machen, daß Deutschland die Chance hat, von uns und anderen gerecht und vernünftig berücksichtigt und behandelt zu werden, wenn es den Gedanken aufgibt, diese Behandlung von uns erzwingen zu wollen, und uns überzeugt, daß es ihn aufgegeben hat«. Die Meinung Frankreichs wurde ähnlich beeinflußt. Flandin, der eine deutsch-französische Verständigung noch immer befürwortete, berichtete im Mai, daß »die öffentliche Meinung in der Provinz [...] eine offensichtliche Kriegsbereitschaft« zeige. Selbst Daladier, nach Flandin einer von denjenigen »französischen Politikern, die mit einem besonders guten Empfinden für die allgemeine Stimmung ausgerüstet« waren, trat anscheinend nach März 1939 endgültig auf die Seite des Widerstandes gegen Deutschland. Bonnet konnte man (wie es Flandin tat) weiter »für den am meisten bewußten und für den solidesten Pazifisten im Kabinett« halten – doch hatte er es nie gewagt, für seine Politik offen einzutreten, und es war noch unwahrscheinlicher, daß er es jetzt tun würde. Die Tatsache, daß er die Politik des Widerstandes öffentlich billigte, erschwerte es ihm, sie inoffiziell zu sabotieren, obwohl er sich, wie die Ereignisse zeigen sollten, alle Mühe dazu gab. Durch die Schwenkung der britischen Politik wurde ihm jedoch das stärkste Argument entzogen.333 Wie im Jahre 1938 übernahm die britische Diplomatie die Führung. Chamberlains ›Plan‹ wurde am 20. März in die Tat umgesetzt. Zu dieser Zeit wurde infolge von Erklärungen, die der rumänische Botschafter in London abgab, vermutet, Rumänien sei von einem Angriff Deutschlands unter Mitwirkung Ungarns bedroht. Die britische Regierung schlug vor, »unverzüglich zur Organisierung gegenseitiger Hilfe auf Seiten derjenigen überzugehen, die die Notwendigkeit begreifen, die Gemeinschaft der Völker vor weiteren Verletzungen fundamentaler Gesetze, auf denen sie beruht, zu schützen«. »Als erster Schritt« wurde eine Erklärung vorgeschlagen, die Frankreich, Polen und Rußland zusammen mit England abgeben sollten, des Inhalts, daß diese Regierungen über gemeinsamen Widerstand gegen »eine jegliche Handlung, die eine Bedrohung der politischen Unabhängigkeit irgendeines europäischen

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Staates« darstelle, beraten sollten. Frankreich und Rußland stimmten zu, letzteres unter der Bedingung, daß auch Polen zustimme. An der Haltung Polens scheiterte der Plan. Beck machte geltend, ein öffentliches Zusammengehen Polens mit Rußland könnte Hitler zu einem Überfall auf Polen provozieren. Dies entsprach seiner Überzeugung, polnische Festigkeit werde Hitler Einhalt gebieten. Beck scheint tatsächlich geglaubt zu haben, er besitze besondere Erfahrungen im Umgang mit Deutschland, war aber bestrebt, die Verstärkung, die Englands Hilfe bedeuten konnte, nicht von der Hand zu weisen. Er regte ein vertrauliches englisch- polnisches Abkommen in den Formulierungen der vorgeschlagenen Erklärung an. Er bekam viel mehr Unterstützung, als er erwartete. Am 27. März wurde das Vorhaben Englands veröffentlicht, Polen oder Rumänien beim Widerstand gegen die Bedrohung ihrer Unabhängigkeit Hilfe zu versprechen. Man dachte noch in der Hauptsache an Rumänien, das Angebot an Polen sollte von einer Zusage der Hilfe für Rumänien abhängig gemacht werden.334 Plötzlich wurde dieses Vorhaben aufgegeben. Am 30. März teilte Lord Halifax dem Kabinett mit, er habe Informationen, daß Polen vor einem vielleicht sofortigen Angriff Deutschlands stünde. Die Hauptquelle hierfür war anscheinend eine Information des Berliner Korrespondenten des News Chronicle, der am Vortage mit Halifax und Chamberlain gesprochen hatte. Chamberlain setzte eine Botschaft an Beck auf, worin er um dessen Zustimmung zu einer Garantie der Unabhängigkeit Polens durch England bat. Gleichzeitig erhielt er die Zustimmung Frankreichs. Beck nahm sofort an. Am 31. März sprach Chamberlain im Unterhaus. Er betonte erneut, seine Regierung habe »die Beilegung jeglicher Streitigkeiten, die zwischen den betroffenen Parteien entstehen können, auf dem Wege freier Verhandlungen unter ihnen beständig befürwortet [...] Ihrer Meinung nach sollte es keine Frage geben, die nicht mit friedlichen Mitteln gelöst werden könnte, und sie könne keine Rechtfertigung dafür sehen, Gewalt oder Gewaltandrohung an die Stelle der Verhandlungsmethode zu setzen«. Er erklärte, Konsultationen seien im Gange. Bis zu ihrem Abschluß werde »die Regierung Seiner Majestät sich verpflichtet fühlen, der polnischen Regierung jede in ihrer Macht stehende Hilfe zu leisten, falls irgend etwas geschähe, was eine klare Bedrohung der Unabhängigkeit Polens bedeuten und dem mit ihren nationalen Streitkräften entgegenzutreten die polnische Regierung dementsprechend für lebensnotwendig halten würde«. Die Engländer waren weiterhin bestrebt, ein Versprechen polnischer Hilfe für Rumänien zu erhalten, und Halifax machte zunächst den künftigen Fortbestand der britischen Garantie für Polen sogar von dessen Zustimmung abhängig. Dennoch war die Garantie für Polen zweifellos nicht eine indirekte Maßnahme, um Rumänien zu helfen, sondern das Ergebnis der Befürchtungen Polens selbst. Diese Feststellung wird nicht berührt von der eigenartigen Tatsache, daß Beck den Engländern sagte, Deutschland bedrohe Polen nicht. Wahrscheinlich wollte Beck alle Versuche Englands, nach dem Muster von 1938 zwischen Deutschland

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und Polen zu vermitteln, vermeiden. Im April folgten Garantien Englands und Frankreichs für Rumänien und Griechenland, wobei die letztere gegen Italien gerichtet war.335 Diese Garantien bedeuteten einen überraschenden Wandel in der Politik Englands. Im Jahre 1938 hatte England in die kontinentaleuropäischen Angelegenheiten eingegriffen, jetzt waren daraus bindende Verpflichtungen geworden. Die Politik Frankreichs hatte sich nach außen hin nicht verändert. Frankreich hatte nie aufgehört, sein Interesse an dem übrigen Europa zu betonen, aber die Bemühungen Englands machten es nun viel wahrscheinlicher, daß Frankreichs Handeln seinen Worten entsprechen würde. Die von England ausgesprochenen Garantien waren kein Bluff. Wie sehr die britische Regierung auch hoffte, zu ihrer Durchführung nie aufgerufen zu werden, von ihrer widerwilligen Bereitschaft, dafür einzustehen, falls die Garantien den Aggressor nicht abschrecken sollten, wich sie nicht ab. Hitler hatte sich zur Vernichtung Polens, dem er nicht mehr trauen könne, entschieden, und beharrte, abgesehen von einem gewissen Zögern in der letzten Minute, auf diesem Entschluß. Daher deutete im frühen Sommer des Jahres 1939 die internationale Lage auf einen Krieg in Europa hin. Aus der Rückschau gewinnt man den Eindruck, daß nur eines Hitlers Beschluß hätte ändern können: eine feste und ausführbare Verpflichtung der Sowjetunion zur Verteidigung Polens. Sie wurde nicht erreicht und war vielleicht nicht zu erreichen. Es ist unmöglich, über die sowjetische Politik Gewißheit zu gewinnen, da wir nicht wissen, worin sie nach Stalins Vorstellungen bestehen sollte. Seit 1934 hatte die Sowjetregierung offen zum Widerstand gegen faschistische Aggressoren aufgefordert. In Spanien wurde diese Politik praktiziert, ohne daß dies entsprechende Schritte des Westens hervorgerufen hätte. Im Jahre 1938 erklärte die Sowjetunion ihre Bereitschaft, sich an der Verteidigung der Tschechoslowakei zu beteiligen, und wurde von den Westmächten ignoriert. Möglicherweise – und Stalins Rede vom 10. März 1939 vermag diese Auffassung zu stützen – war Stalin spätestens bis Frühjahr 1939 zu der Schlußfolgerung gelangt, daß er nicht darauf vertrauen könne, daß die Westmächte Widerstand gegen Hitler leisten würden, und daß sie die Mitwirkung der Sowjetunion im Jahre 1939 erstrebten, um zu versuchen, Rußland in einen Krieg mit Deutschland zu verwickeln, dem sie selbst fernbleiben würden. Wenn dies der Fall sein sollte, dann mußte Stalin versuchen, ihre Pläne zu durchkreuzen, indem er darauf hinarbeitete, daß die Westmächte selbst gegen Deutschland kämpften, oder wenigstens mit Deutschland Abmachungen traf, um einen Angriff Deutschlands auf Rußland zu verhindern. Wenn Stalin sich diesen Standpunkt im März zu eigen gemacht haben sollte, dann wären die Verhandlungen mit England und Frankreich im Frühjahr und Sommer 1939 nie ernst gemeint gewesen. Andererseits ist es möglich, daß Stalin erst während der Verhandlungen selbst die Entscheidung traf, daß ein Abkommen mit Deutschland der bessere Weg sei. Sollte dies zutreffen, dann

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hätten Polen und der Westen damals einen möglichen Verbündeten verloren. Schdanows Artikel in der Prawda vom 29. Juni 1939 stützt die letztere Auffassung, wenn man den Artikel für bare Münze nimmt. Schdanow schrieb: »Mir scheint, die Engländer und Franzosen wollen kein echtes Abkommen [...] Das einzige, was sie wirklich wollen, sind Gespräche über ein Abkommen, indem sie sich der Hartnäckigkeit der Sowjetunion dazu bedienen, um die öffentliche Meinung in ihren eigenen Ländern auf eine etwaige Vereinbarung mit den Aggressoren vorzubereiten. Die nächsten Tage müssen zeigen, ob dies der Fall ist oder nicht.«336 Der Verlauf der Verhandlungen paßt ziemlich gut zu beiden Hypothesen. Die Russen verhandelten gleichzeitig mit beiden Seiten – mit England und Frankreich sowie mit Deutschland. Die Verhandlungen mit den Westmächten gingen unter beträchtlicher Publizität und genauer Beachtung der Einzelheiten vonstatten. Die Gespräche mit Deutschland wurden bis zuletzt viel vorsichtiger geführt – sie waren geheim, wenn auch gelegentlich Gerüchte nach außen drangen. Man kann aus diesen Gesprächen keine Schlußfolgerungen ziehen, die beweisen würden, daß für die Sowjetunion die einen oder die anderen Verhandlungen den Vorrang gehabt hätten. Beide wurden in die Länge gezogen. Die Russen zeigten keine Eile, zum Abschluß zu kommen. Sie mißtrauten beiden Seiten: wenn sie die Angebote des Westens annähmen, dann könnten England und Frankreich diesen Erfolg benutzen, um eine Entente gegen Hitler durchzusetzen; wenn Rußland Hitler zu zeitig freie Hand gegen Polen ließe, dann könnte Hitler den Westen durch Einschüchterung dazu bringen, ihm im Osten Europas freie Hand zu lassen. Die sowjetische Diplomatie suchte beide Seiten zu ermuntern, bei dem Kurs, für den sie sich entschieden hatten, zu verharren: den Westen nämlich zu der Annahme, die Hilfe Rußlands wäre verfügbar, wenn sie Widerstand gegen Deutschland leisteten; Hitler zu der Annahme, die Neutralität Rußlands sei zu erreichen, wenn er angriffe. Der Sowjetunion machte es keine Schwierigkeiten, die Verhandlungen hinzuziehen, bis die Zeit zur Entscheidung gekommen war. Die Deutschen befürchteten, die Russen könnten etwaige Ungeduld, die sie, die Deutschen, zeigten, als Mittel benutzen, um den Westen zu einer Allianz mit Rußland zu drängen. Was die Westmächte anging, so standen für sie echte Hindernisse einem Bündnis mit Rußland im Wege. Vor allem unter dem Einfluß Molotows, der an die Stelle Litwinows getreten war, bestanden die Russen darauf, daß alle ihre Nachbarn, ob sie es wollten oder nicht, Garantien der Sowjetunion gegen einen Angriff erhalten sollten. Mehr noch, sie sollten Hilfe gegen etwaige Angreifer erhalten, ob sie Hilfe wollten oder nicht. Selbst wenn sie sich ausdrücklich dagegen aussprächen, sollten sie gleichwohl ›Beistand‹ erhalten. Die Russen gebrauchten den Begriff der ›indirekten Aggression‹, den Gedanken, ein Land könne ohne einen direkten Angriff unter deutschen Einfluß geraten, als Vorwand zur Einmischung in die Angelegenheiten jedes beliebigen Nachbarlandes, das nach ihrer Meinung sich Deutschland zuwandte. Dabei zitierten sie den Präzedenzfall

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der Tschechoslowakei im März 1939. Die britische Regierung, der ernstlich an der Erhaltung der Unabhängigkeit kleiner Länder gelegen war, zögerte, dies zu akzeptieren. Außerdem, und das war der Punkt, an dem die Verhandlungen aufhörten, bestanden die Russen darauf, daß England und Frankreich die Zustimmung Polens zum Durchmarsch russischer Truppen durch polnisches Gebiet für den Fall herbeiführten, daß Rußland Polen gegen Deutschland ›helfen‹ sollte. Die Polen lehnten dies ab. Die Engländer wollten die Polen nicht dazu zwingen. Sie fürchteten, falls sie es versuchten, würde Polen sich wieder Deutschland zuwenden und die Aggressivität Deutschlands könnte dann noch weniger gehemmt werden als ohne ein Bündnis mit Rußland. Die Entscheidung fiel im August. Als die britischen und französischen militärischen Unterhändler noch in Moskau weilten, begannen die Deutschen am 14. August großes Interesse zu zeigen, zu einer sofortigen Vereinbarung mit der UdSSR zu gelangen. Molotow war vorsichtig und sprach von einer sorgfältigen Vorbereitung des Bodens. Am 18. August gab Ribbentrop dem deutschen Botschafter in Moskau die Weisung, auf alsbaldige Gespräche zu drängen, und äußerte die Bereitschaft, Interessensphären abzugrenzen. Am 19. stimmte Stalin einem Besuch Ribbentrops in Moskau zu. Er solle jedoch erst in einer Woche kommen. Am 21. August forderte Hitler selbst Stalin auf, Ribbentrop am nächsten oder übernächsten Tag zu empfangen. Stalin gab seine Zustimmung für den 23. August. Das plötzliche energische Drängen von Seiten der Deutschen überzeugte Stalin wahrscheinlich davon, daß ein deutscher Angriff drohe. Um diese Jahreszeit wäre es jedoch für einen Angriff auf Rußland zu spät gewesen. Stalin konnte mithin ohne Gefahr die Angebote Deutschlands anhören; wenn Deutschland Polen angriff, dann würden England und Frankreich entweder den Krieg erklären, was für Rußland gut wäre, oder es unterlassen, in welchem Falle Stalin die günstigste Position für die Zukunft gewonnen hätte. Am 21. August gaben die Deutschen bekannt, Deutschland und die Sowjetunion würden einen Nichtangriffspakt abschließen. Am 23. August wurde er unterzeichnet. Ein geheimes Zusatzprotokoll bestimmte die russischen Interessensphären in Finnland, Estland, Lettland, in einem großen Teil Polens und in Bessarabien, das nach 1918 zu Rumänien zurückgekehrt war. So wurde die russische Neutralität durch Bestechung erkauft.337 Durch gute Nachrichten aus Rußland bestärkt, äußerte Hitler bei verschiedenen Gelegenheiten im August seine Absichten: am 12. August vor dem italienischen Außenminister Ciano, am 14. August vor dem Chef des Generalstabes und anderen Offizieren, und am 22. August vor den Oberbefehlshabern und Kommandierenden Generälen. Hitler trug im großen und ganzen jeweils ähnliche Argumente vor. Die polnische Frage müsse geregelt werden, weil man nicht darauf vertrauen könne, daß Polen bei einem künftigen Krieg Deutschlands im Westen nicht gegen Deutschland vorgehen werde. Mit Rußland könnten Abmachungen getroffen werden. England und Frankreich

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würden höchstwahrscheinlich nicht eingreifen; wenn sie tatsächlich versuchen sollten, Polen zu helfen, würde es sich vermutlich um ein Handelsembargo handeln. Wenn sie den Krieg erklärten, könne ihr Eingreifen Polen nicht retten, da dieses schnell vernichtet werden könne, ohne daß die Westmächte in der Lage waren, ernsthafte Angriffsschläge zu fuhren. Wenn England und Frankreich in den Krieg einträten, wäre das nur die Bestätigung, daß der Krieg mit ihnen unvermeidlich sei. Die deutschen Streitkräfte würden nach ein paar Wochen gegen sie konzentriert werden. Hitler war anscheinend bereit, den Krieg mit England und Frankreich zu riskieren, auch wenn er ihn nicht für wahrscheinlich hielt. Schließlich würden in einem solchen Kriege England und Frankreich als Angreifer vor der deutschen öffentlichen Meinung dastehen, die fest davon überzeugt war, daß die deutschen Beschwerden gegen Polen berechtigt seien. Am 23. August wurde als Zeitpunkt zum Angriff auf Polen der 26. August bestimmt.338 Am 25. August wurde Hitler jedoch unentschlossen. Der Angriffsbefehl wurde aufgehoben. Der Hauptgrund hierfür scheint Mussolinis Haltung gewesen zu sein. Hitler nahm Mussolini stets ernst, und seine Teilnahme am Krieg wäre höchst wünschenswert, wenn England und Frankreich in den Krieg eintreten würden. Am 25. August teilte Mussolini Hitler mit, er könne ohne deutsche Lieferungen nicht in einen großen Krieg eintreten. Am selben Tag traf die Nachricht ein, daß England und Polen soeben einen förmlichen gegenseitigen Beistandspakt abgeschlossen hätten. Dadurch wurde das Eingreifen Englands und Frankreichs wahrscheinlicher. Hitler widmete sich nunmehr der Aufgabe, die Neutralität Englands und die Bereitschaft Italiens zum Kriegseintritt zu erreichen. Beides mißlang ihm. Am folgenden Tag traf von Mussolini eine Liste mit erbetenen Lieferungen ein, die absichtlich so gehalten war, daß sie nicht erfüllt werden konnte. Andererseits belebte sich wieder die Hoffnung, daß England vielleicht dem Krieg fernbliebe. Hitler schrieb am 26. August an Mussolini: »Da weder Frankreich noch England im Westen irgendwelche entscheidenden Erfolge erzielen können [...] scheue ich mich nicht, auf die Gefahr einer Verwicklung im Westen hin die Frage im Osten zu lösen.« Hitler hatte sich nicht viel Zeit gelassen. Wie er Ciano gesagt hatte, rechnete der deutsche Generalstab mit sechs Wochen zur Beseitigung Polens. Von der zweiten Oktoberhälfte an würden Nebel und Schlamm militärische Operationen unmöglich machen. Hitler blieb bis zum 30. August unentschlossen. An diesem Tag teilte er den Armeebefehlshabern mit, die Invasion Polens werde auf keinen Fall später als am 1. oder 2. September stattfinden. Am folgenden Morgen hatte sich die Lage geändert. Nach Halders Tagebuchaufzeichnungen hatte Hitler gut geschlafen. Am frühen Morgen erfuhr Halder, die Invasion solle am 1. September beginnen. Später hörte er die genaue Zeit: »Regelung der Angriffszeit 04.45; Mitwirkung des Westens angeblich nicht zu vermeiden; trotzdem Führerentschluß zum Angriff.« Tatsächlich glaubte Hitler noch an die Möglichkeit der Neutralität des Westens: »Führer hofft, daß Einwirkung

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Mu[ssolini]s beitragen wird, daß großer Konflikt vermieden wird«, während Görings Eindruck war: »England will herausbleiben.« Gewiß war das alles nicht. Hitler nahm lieber das Risiko eines Krieges mit England und Frankreich auf sich, als den Angriff auf Polen zu verschieben. Am frühen Morgen des 1. September begann der Angriff.339 Hitlers Entschluß machte den Krieg mit England unvermeidlich. Dies ist eine umstrittene Feststellung; oft ist behauptet worden, die britische Regierung und vor allem Chamberlain seien nach der übereilten Garantieerklärung, die Polen Ende März gegeben worden war, bestrebt gewesen, den Folgen auszuweichen. Wenn Hitler nicht klein beigeben wollte, hätten sie statt dessen nachgeben wollen. Es ist natürlich wahr, daß die britische Regierung die Garantie für Polen als ein Mittel zur Sicherung des Friedens betrachtete, nicht als Vorbereitung auf den Krieg. Wie alle zivilisierten Regierungen trat auch die britische widerwillig in den Krieg ein. Doch wird auch die weiterreichende Vermutung geäußert, britische Minister seien im Sommer 1939 zu der Politik von 1938 zurückgekehrt und hätten dem Gedanken zugestimmt, Hitler Zugeständnisse zu machen, selbst wenn solche Zugeständnisse die Schwächung oder Vernichtung der Unabhängigkeit eines weiteren Landes – Polens – mit sich gebracht hätten. Dies war sicher nicht die öffentlich erklärte Politik Englands, die darin bestand, die Unabhängigkeit Polens im Falle ihrer Bedrohung zu verteidigen. Zum Beweis dafür, daß es eine andere, halbverborgene Politik gegeben habe, werden folgende Punkte angeführt: die Haltung Englands gegenüber Deutschland, wie sie in mannigfachen Gesprächen zwischen englischen und deutschen Vertretern in den letzten drei Monaten vor dem Kriege dargelegt wurde; die Haltung Englands gegenüber Polen, nachdem die Garantie gegeben worden war, und besonders in den der deutschen Invasion unmittelbar vorauf gehenden Tagen; sowie die Verzögerung der britischen Kriegserklärung nach der Invasion. Dieses Beweismaterial ist der Reihe nach zu prüfen. Es gab mehrere Kontakte zwischen der britischen Regierung und Abgesandten Görings, der anscheinend die Rolle des Friedensmachers gegenüber England übernommen hatte, und zwar im Juni, Juli und August 1939. Die Hauptpersonen dabei waren zwei schwedische Industrielle, Wenner-Gren und Dahlerus, sowie Görings Untergebener Wohlthat. Die wichtigsten Gespräche waren diejenigen zwischen Wohlthat und Sir Horace Wilson, dem engsten Mitarbeiter Chamberlains. Alle diese Gespräche gingen um dasselbe Thema. Auf deutscher Seite wurde vorgebracht, England habe keinen Grund, sich in Osteuropa zu engagieren, da von Deutschland niemals eine Bedrohung fundamentaler Interessen Englands ausgehen werde. Auf britischer Seite wurde beharrlich wiederholt, das Verhalten Deutschlands habe Mißtrauen erweckt, besonders die Zerstörung der Tschechoslowakei, und in Zukunft werde ein solches Verhalten mit Gewalt beantwortet. Wenn Deutschland indessen zeige, daß man ihm doch trauen könne, und wenn Hitler nur auf Gewalt und Gewaltandrohung verzichten würde, dann wäre alles möglich. Eine ›umfassende Regelung‹ könne

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ausgearbeitet werden, die deutschen Ansprüche in Danzig und Polen könnten in Ruhe geprüft werden, Pläne zur Abrüstung könnten leicht wieder aufgegriffen werden. Die einzige vernünftige Grundlage für Hitlers Außenpolitik, die die Engländer einsehen könnten, sei wirtschaftlicher Art. Sie versprachen daher wirtschaftliche Zusammenarbeit und ihr Einverständnis mit der wirtschaftlichen Vorherrschaft Deutschlands in Ost- und Südosteuropa. Der bemerkenswerteste Beleg dafür, daß Chamberlain sich von der seit März 1939 verfolgten Politik habe lösen wollen, ist der Bericht Wohlthats über seine Gespräche mit Wilson im Juli. Danach bestand Wilson anscheinend darauf, daß es keine Aggression geben dürfe, war aber bereit, sich vorzustellen, daß dies durch eine bloße ›Erklärung‹ gerantiert werden könnte. Wohlthat berichtete: »Sir Horace ist hierbei der Meinung, daß eine solche Erklärung die Garantien Englands gegenüber Polen und Rumänien gegenstandslos machen würde, da infolge einer solchen Erklärung Deutschland diese Staaten nicht angreifen würde und diese Staaten sich deshalb auch nicht in ihrer nationalen Existenz durch Deutschland bedroht fühlen können.« Wie Wilson selbst berichtete, sagte er, sämtliche Verpflichtungen Englands seien »ausschließlich defensiver Natur, und wenn die deutsche Regierung einmal klargestellt habe, daß es ihrerseits künftig keine Aggression geben werde, dann werde die Politik der Garantien für potentielle Opfer ispo facto unwirksam«. Wahrscheinlich nahm Wilson an, er stelle lediglich fest, was selbstverständlich sei – wenn Deutschland niemanden angriffe und einen Gesinnungswandel durchmache, würden die britischen Garantien belanglos. Auch nach Wohlthats Bericht vom Juli sprach Wilson mit Entschiedenheit: »Allerdings möchte die englische Regierung nicht den Eindruck erwecken, als ob sie unter allen Umständen verhandeln wollte. Wenn keine andere Lösung möglich sei, so sei England und das Empire heute auf eine kriegerische Auseinandersetzung vorbereitet und dazu entschlossen.« Es ist aber verständlich, daß Ribbentrop und Hitler den Fehler machten, die Schlußfolgerung zu ziehen, die britische Regierung meine es nicht ernst, obwohl alle diese Bemerkungen mit der Politik vereinbar sind, die Lord Halifax im Juni in einer Rede darlegte: »Wenn wir einmal davon überzeugt werden könnten [...] daß wir alle wirklich friedliche Lösungen wollen [...] dann könnten wir diese Probleme erörtern, die heute die Welt ängstigen [...] doch ist das nicht die Situation, die wir heute vor uns haben. Die Drohung militärischer Gewalt hält die Welt gefangen, und unsere Aufgabe ist es, der Aggression sofort entgegenzutreten.« Genau denselben Eindruck wie diese Rede machten Äußerungen führender Vertreter der appeasement-Politik in Cliveden und Chamberlain selbst gegenüber Adam von Trott zu Solz, als dieser Anfang Juni 1939 England besuchte.340 Eine zum Beweis der obengenannten These herangezogene Tatsache, die damals Hitlers Aufmerksamkeit auf sich zog, war das seltsame Scheitern der Verhandlungen für eine britische Anleihe an Polen. Dies rührte jedoch anscheinend nicht von einer Schwenkung der Außenpolitik, sondern lediglich

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daher, daß das britische Schatzamt auf Bedingungen bestand, die es für wirtschaftlich annehmbar hielt. Als die Krise nahte, wurde am 23. August Hitler von dem britischen Botschafter in Berlin, Henderson, ein Brief Chamberlains überreicht. Damit begann die diplomatische Tätigkeit der letzten Friedenstage. Der Brief bestritt, daß der Hitler-Stalin-Pakt die Politik Englands ändern werde: »Welcher Art auch immer das deutsch-sowjetische Abkommen sein wird, so kann es nicht Großbritanniens Verpflichtung gegenüber Polen ändern, die Seiner Majestät Regierung wiederholt öffentlich und klar dargelegt hat, und die sie entschlossen ist, zu erfüllen [...] Nötigenfalls ist Seiner Majestät Regierung entschlossen und bereit, alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte unverzüglich einzusetzen.« Die Möglichkeit eines Friedensschlusses nach der Eroberung Polens durch Hitler wurde ausgeschlossen: »Es würde eine gefährliche Täuschung sein, zu glauben, daß ein einmal begonnener Krieg frühzeitig enden würde, selbst wenn ein Erfolg auf einer der verschiedenen Fronten [...] erzielt worden sein sollte.« Versöhnlichere Äußerungen folgten. Chamberlain schrieb: »Ich kann nicht ersehen, daß die zwischen Deutschland und Polen schwebenden Fragen irgend etwas enthalten, das nicht ohne Gewalt gelöst werden könnte und sollte, wenn nur ein Zustand des Vertrauens wiederhergestellt werden könnte.« Dann könne es direkte Verhandlungen zwischen Deutschland und Polen geben. Hitlers Antwort war kompromißlos und drohend. Zwei Tage später, am 25. August, änderte Hitler seine Absicht. Er rief den britischen Botschafter zu sich, erklärte ihm, er sei »ein Mann großer [...] Entschlüsse«, und forderte Henderson auf, mit seinem »letzten Vorschlag« nach London zu fliegen. Er äußerte seine Entschlossenheit, die polnische Frage zu ›lösen‹. Wenn jedoch der Krieg vermieden werde, das heißt, wenn England Polen preisgebe, wolle er das Britische Empire garantieren und ihm die Macht Deutschlands zur Verfügung stellen, vorausgesetzt, seine Forderungen nach Kolonien würden zu gegebener Zeit erfüllt. Inzwischen versicherte »der Führer erneut, daß er an den westlichen Problemen nicht interessiert sei«. In der britischen Antwort wurde dieser plumpe Versuch, freie Hand zu bekommen, abgelehnt. Es hieß darin, die britische Regierung »könnte nicht, wegen irgendeines Großbritannien angebotenen Vorteils, einer Lösung zustimmen, die die Unabhängigkeit eines Staates gefährden würde, dem sie ihre Garantie gegeben hat«. Sie schlug deutsch-polnische Verhandlungen vor, denen die Polen zugestimmt hätten. Hitler erhielt diese Erwiderung am späten Abend des 28. August. Am 29. August um 19.15 Uhr wurde Henderson die deutsche Antwort gegeben. Sie forderte das Erscheinen eines polnischen Bevollmächtigten am folgenden Tage, dem 30. August, in Berlin. In welcher Richtung sich die Gedanken in der Reichshauptstadt bewegten, zeigen Halders Tagebuchaufzeichnungen. Am 28. August schrieb er: »Wir fordern Danzig, Korridor durch Korridor und Abstimmung [...] England wird vielleicht

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annehmen, Polen wahrscheinlich nicht. Trennung!« Und einen Tag später notierte er: »30. 8. Polen in Berlin. 31. 8. Zerplatzen. 1. 9. Gewaltanwendung.«341 Dieser Versuch, England von Polen zu trennen, schlug fehl. Beck lehnte die Entsendung eines Bevollmächtigten ab, worin ihm Halifax zustimmte. Halifax forderte jedoch die Polen auf, in direkte Verhandlungen mit der deutschen Regierung einzutreten, »vorausgesetzt, daß die Methode und die allgemeinen Anstalten für die Besprechungen zufriedenstellend vereinbart werden«. Der britische Botschafter in Warschau erhielt Weisung, diese Botschaft in der Nacht vom 30. zum 31. August nach Mitternacht zu überreichen. Um dieselbe Zeit war Henderson bei Ribbentrop, der ihm die deutschen Forderungen an Polen vorlas. Diese Forderungen erklärte er aber jetzt für überholt, da kein polnischer Bevollmächtigter eingetroffen sei. Am 31. August stimmten die Polen Schritten zur Aufnahme von Kontakten mit der deutschen Regierung zu. Der polnische Botschafter in Berlin erhielt jedoch die Weisung, keine Forderungen entgegenzunehmen, bevor nicht die Verfahrensweise ausgearbeitet sei. Am 1. September um 0.50 Uhr telegrafierte Halifax nach Warschau und drängte die Polen, ihren Botschafter in Berlin anzuweisen, ein Dokument mit den deutschen Forderungen anzunehmen. Dies wurde nur als eine ernste Hoffnung geäußert, und Halifax stimmte mit den Polen darin überein, daß sie auf Gesprächen über die Art der Verhandlungsführung bestehen sollten, bevor sie sich auf Verhandlungen selbst einließen. Ein paar Stunden später erfolgte der deutsche Angriff. Es geht zweifellos zu weit, wenn man sagt, »noch vierundzwanzig Stunden, und der Bruch [zwischen England und Polen] hätte sich weit auf getan«. Auch kann man nicht sagen, Hitler sei »dadurch in den Krieg verwickelt worden, daß er ein diplomatisches Manöver [d.h. die Forderung nach einem polnischen Bevollmächtigten] am 29. August in Szene setzte, das er am 28. hätte in Szene setzen sollen«.342 Hitler wurde in den Krieg mit Polen verwickelt, weil er sich für den Angriff entschied. Der Krieg mit England und Frankreich war die notwendige Folge. Es gibt nichts, was darauf schließen ließe, daß die Engländer sich darauf vorbereitet hätten, Polen im Stich zu lassen, wenn die Polen es ablehnten, Hitlers Forderungen zu diskutieren, oder daß sie im Begriff gewesen wären, den Polen diese Forderungen aufzuzwingen, indem sie ihnen drohten, ihnen ihre Hilfe zu entziehen. Die Deutschen, die sicher noch immer hofften, England und Frankreich würden neutral bleiben, ließen sich vielleicht durch ihre Kenntnis der Ansichten Hendersons über die Polen irreführen; Henderson vertrat nicht mehr die Auffassung seiner Regierung. Nicht einmal Chamberlain ging mit seinen Äußerungen gegenüber dem amerikanischen Botschafter in London, Joseph P. Kennedy, am 23. und 30. August so weit, wie es Henderson zuweilen tat. Chamberlain war über die Aussicht auf den Krieg deprimiert und erkannte, daß die Westmächte Polen nicht retten könnten. Er hoffte auf die Verhandlungsbereitschaft der Polen und fürchtete das Gegenteil. Er hoffte, man könne Hitler zu einer friedlichen Regelung geneigt machen. Dennoch spielte er

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in keiner Weise darauf an, die Polen unter Druck zu setzen.343 Wir müssen uns nunmehr den Ereignissen von der deutschen Invasion bis zur britischen und französischen Kriegserklärung zuwenden. Am 31. August hatte Ciano einen Vorschlag Mussolinis für eine am 5. September abzuhaltende Konferenz übermittelt, die über Modifizierungen des Vertrags von Versailles, d.h. über Zugeständnisse an Hitler, verhandeln sollte. Der Vorschlag führte zu Differenzen zwischen England und Frankreich. Chamberlains Reaktion war, es sei »unmöglich, unter der Drohung mobilisierter Armeen einer Konferenz zuzustimmen«. Daladier meinte, er wolle »lieber zurücktreten, als zustimmen«. Bonnet war anderer Auffassung. Schon am 23. August hatte er die Frage gestellt, ob Frankreich seine Bündnispflichten gegenüber Polen erfüllen solle. Jetzt brachte er es fertig, das Kabinett zur Annahme von Mussolinis Vorschlag zu überreden, wenngleich nur unter der Bedingung, daß Polen auf der Konferenz vertreten wäre. Am 1. September erteilte Halifax dem britischen Botschafter in Rom die Weisung, zu antworten, »es scheine [...] daß das Vorgehen der deutschen Regierung es nunmehr unmöglich gemacht habe, nach diesem Verfahren zu verhandeln«. Eine ganz andere, nämlich »günstige Antwort«, kam von der französischen Regierung. Hierdurch sowie durch die Abschwächung von Halifax’ negativer Antwort durch den britischen Botschafter in Rom ermutigt, legten die Italiener ihren Plan Hitler vor. Der Plan sah einen Waffenstillstand vor, der die Armeen in »den gegenwärtigen Stellungen« beließ. Bonnet forderte die Polen ohne Konsultierung der Engländer zur Annahme auf und erhielt eine von Verachtung erfüllte ablehnende Antwort.344 Die Deutschen ergriffen die Gelegenheit, Zeit zu gewinnen, und teilten mit, »der Führer würde [...] in ein bis zwei Tagen einen Antwortentwurf ausarbeiten«. Am frühen Nachmittag des 2. September telefonierte Ciano mit Bonnet und Halifax. Er sagte, Hitler würde vielleicht den Konferenzvorschlag annehmen. Bonnet antwortete, die Franzosen stünden dem Gedanken freundlich gegenüber. Halifax indessen meinte, die britische Regierung könne »keine Konferenz in Erwägung ziehen, solange deutsche Truppen auf polnischem Boden« seien. Halifax bekräftigte dies noch einmal nach einer Kabinettssitzung am späteren Nachmittag. Damit war die Angelegenheit beendet.345 Hitler hatte nicht die Absicht, sich aus Polen zurückzuziehen, und war nicht an einer Regelung wie der in München getroffenen interessiert. Gleichwohl machte Bonnet am Abend des 2. September einen letzten Versuch, nachdem sich das französische Kabinett der Haltung Englands angeschlossen hatte. Er regte an, Ciano möge die Deutschen zu einem »symbolischen« Rückzug überreden, um die Engländer zur Zurückziehung ihres Vetos zu veranlassen. Ciano machte sich nicht die Mühe, das zu versuchen. So wurden Bonnets Bestrebungen, den Verpflichtungen Frankreichs auszuweichen, durch die britische Regierung zur Aussichtslosigkeit verurteilt.346 Schließlich ist noch ein Wort über die Verzögerung der Kriegserklärung zu sagen. Nach Bonnet wollte Halifax statt der warnenden Note vom 1. September

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in Berlin ein Ultimatum überreichen lassen. Bonnet berief sich nachdrücklich darauf, nach der französischen Verfassung sei zur Absendung eines Ultimatums die Ermächtigung durch das Parlament erforderlich, das erst am 2. September zusammentreten könne. Kennedy berichtete am Nachmittag des 1. September: »Man ist hier bestrebt, in enger Gemeinsamkeit mit Frankreich zu handeln, sowohl zeitlich wie der Form nach, und wünscht den Eindruck zu vermeiden, Großbritannien ziehe Frankreich in den Krieg hinein. Man möchte lieber bei der französischen Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, daß Großbritannien seinem Verbündeten Frankreich den Rücken stärkt.« Diesen Gesichtspunkt hatte der britische Botschafter in Frankreich besonders unterstrichen. Bonnet forderte am 2. September ein auf 48 Stunden befristetes Ultimatum, das den Ausbruch des Krieges bis zum 4. oder 5. September hinausgezögert hätte. Er machte geltend, der französische Generalstab wünsche eine reibungslose Abwicklung der Mobilmachung und die Evakuierung großer Städte. Das war der britischen Regierung zuviel. Am Nachmittag des 2. September beschloß sie, der Krieg solle um Mitternacht beginnen.347 Bonnet blieb ungerührt. Halifax übte weiteren Druck aus, damit Chamberlain im Unterhaus eine Erklärung abgeben könnte, erfuhr jedoch, die Sitzung des französischen Kabinetts werde bis 20 oder 21 Uhr dauern. Infolgedessen konnte Chamberlain dem Unterhaus um 20 Uhr nur mitteilten, die Engländer stünden mit den Franzosen wegen der Frist für den Rückzug der deutschen Truppen aus Polen in Verbindung. Heftige Empörung über Chamberlain im Unterhaus und im Kabinett war die Folge. Man verdächtigte ihn des Verrats. Es lag auf der Hand, daß der Krieg vor der nächsten Sitzung des Unterhauses am folgenden Tage um 12 Uhr erklärt werden müsse. Chamberlain telefonierte mit Daladier. Dieser bestand darauf, daß Frankreich vor diesem Zeitpunkt nicht handeln könne. Daher wurde das britische Ultimatum am 3. September um 9 Uhr und das französische um 12 Uhr überreicht. England befand sich am 3. September von 11 Uhr an mit Deutschland im Kriegszustand, Frankreich von 17 Uhr an. Es ist klar, daß Frankreich die Verzögerung verursachte. Es ist jedoch festzustellen, daß Chamberlain die britische Garantie für Polen nicht hätte umgehen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Die öffentliche Meinung Englands, wie sie sich im Unterhaus äußerte, hätte ihn zum Krieg gezwungen.348 Die unmittelbare Ursache dafür, daß der Krieg ein europäischer wurde, war Hitlers Entschluß zum Angriff auf Polen. Der tiefere Grund war die in England und Frankreich wachsende Überzeugung, man dürfe nicht erlauben, daß Deutschland die Herrschaft über Europa erringe. Daher lehnten beide Länder es ab, Deutschland im Osten freie Hand zu lassen. Wenn Deutschland über Osteuropa herrschte, wäre, so glaubte man, die Sicherheit des Westens nicht gewährleistet. Der Charakter von Hitlers Regime machte diese Überzeugung zwingend. Für England und Frankreich handelte es sich um einen Verteidigungskrieg. Aber moderne Kriege bedürfen der moralischen Rechtfertigung, da sie von den Massen getragen werden müssen. Daher ging es

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im Zweiten Weltkrieg von vornherein um die Vernichtung des Nationalsozialismus, ein denkbar erstrebenswertes Kriegsziel. 13. Der Zweite Weltkrieg 1939–1945 Mit Hitlers Angriff auf Polen und mit den Kriegserklärungen Englands und Frankreichs begann im September 1939 der Krieg. Polen wurde innerhalb weniger Wochen erobert, die letzten Widerstandsnester wurden am 6. Oktober beseitigt. Die erste Phase des Krieges war im Juni 1940 mit der Kapitulation Frankreichs abgeschlossen. Von da an bis Juni 1941 brachte Großbritannien, das fast allein auf sich gestellt war, alle Versuche Deutschlands zum Scheitern, den englischen Gegner durch Gewalt oder Überredung zum Friedensschluß zu bewegen. Im Sommer 1941 griff Deutschland Rußland an. Mit dem japanischen Angriff auf die Vereinigten Staaten und England sowie der Kriegserklärung Deutschlands an die Vereinigten Staaten weitete sich im Dezember 1941 der Krieg zum Weltkrieg aus. Von September 1939 bis Dezember 1941 wurde der Krieg in Europa durch die ›Blitzkrieg‹-Strategie Deutschlands beherrscht. Hitler beabsichtigte, die Kampfhandlungen zu Lande auf eine Reihe kurzer, entscheidender Feldzüge zu beschränken. Das war Krieg zu niedrigem Einsatz, kein ›totaler‹ Krieg. (Noch 1942 war der Verbrauch auf dem zivilen Sektor in Deutschland fast ebenso hoch wie 1937.349) Schnelle Panzertruppen und motorisierte Infanterie waren die militärischen Hilfsmittel dazu. Sie dienten als Stoßkeile für die nachfolgende Infanterie, die ihrerseits die durch rasche motorisierte Vorstöße errungenen Geländegewinne sicherte. Kampfflugzeuge, besonders Sturzkampfbomber, gaben dabei ihre leicht zu dirigierende Feuerunterstützung. Luftlandetruppen bildeten einen zusätzlichen Faktor taktischer Beweglichkeit. Dieses Verfahren ermöglichte es Hitler, innerhalb des genannten Zeitraums Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Frankreich, Jugoslawien, Griechenland und einen großen Teil des europäischen Rußland zu erobern und Ungarn, Rumänien und Bulgarien zu beherrschen. Die Eroberung von Polen, Holland, Belgien, Frankreich und Rußland war die Folge deutscher Angriffsoperationen; die übrigen Besetzungen resultierten daraus, daß Deutschland auf Kriegshandlungen der Gegner antwortete oder solchen zuvorkam. Die Strategie Englands und Frankreichs war defensiv. Deutsche Angriffe auf diese Länder sollten so lange abgewehrt werden, bis die Alliierten genügend Kräfte gesammelt hätten, um zur Offensive übergehen zu können. Inzwischen sollte wirtschaftlicher Druck, der durch Blockade und Bombenkrieg ausgeübt wurde, die Widerstandskraft des Feindes schwächen.350 England sah in der Anwendung wirtschaftlicher Druckmittel seinen wichtigsten Beitrag zur Kriegführung: Bis März 1939 war lediglich die Entsendung von zwei Divisionen nach Frankreich vorgesehen gewesen, und knapp ein Jahr später waren es zwei weitere. In jenem Monat jedoch verdoppelten sich die Verpflichtungen Englands, und die britische Regierung entschloß sich, die Armee auf 32 Divisionen zu

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verstärken. (Tatsächlich standen am 10. Mai 1940 13 britische Divisionen in Frankreich, von denen drei unvollständig ausgebildet oder ausgerüstet waren.351) Der Entschluß Frankreichs, lieber auf den Angriff zu warten, als selbst anzugreifen, wurde besonders deutlich im September 1939, als an der Westfront nur wenige deutsche Truppen standen. Der Norwegenfeldzug hingegen war die Folge eines alliierten Vorstoßes. Die nordschwedischen Erzgruben waren eine wesentliche Quelle zur Deckung des deutschen Bedarfs an Eisenerzen. Im Winter mußte der größte Teil des Erzaufkommens über den eisfreien norwegischen Hafen Narvik verschifft werden. Von dort aus konnte man deutsche Häfen ansteuern, ohne die norwegischen Hoheitsgewässer zu verlassen. Den Verkehr über Narvik abzuschneiden würde also für die Alliierten von Nutzen sein – die Besetzung der Erzgruben selbst sogar von entscheidender Bedeutung. Als daher Rußland seine Forderungen nach Militärstützpunkten in Finnland durch den Einmarsch durchzusetzen suchte (Dezember 1939 bis März 1940), wurden auf alliierter Seite Pläne entwickelt, um Finnland zu helfen. Vielleicht konnte man Norwegen und Schweden veranlassen, den Durchmarsch alliierter Truppen auf dem Schienenweg von Narvik und Trondheim nach Finnland zu gestatten. Dieser Weg würde sie durch das Erzgebiet führen. Starke Truppenverbände sollten die Bahnlinie sichern. Falls die Deutschen diesem Schritt durch einen Angriff auf Norwegen und Schweden begegneten, würden die Alliierten vor ihnen dort sein und eine günstige Verteidigungsposition innehaben. Dieser scharfsinnige Plan scheiterte daran, daß die Finnen ihren Widerstand aufgaben. Anfang April wurde ein neuer Plan gefaßt: In den norwegischen Gewässern sollten Minen gelegt werden; falls die Deutschen daraufhin in Norwegen einmarschierten, würden alliierte Truppen – voraussichtlich mit norwegischer Zustimmung – in Norwegen landen. Die deutsche Armeeführung vermutete solche Absichten auf der anderen Seite. Schon im Dezember 1939 hatte Hitler Pläne für die Besetzung Norwegens ausarbeiten lassen. Am 9. April 1940 mußten die Alliierten erkennen, daß Deutschland ihnen zuvorgekommen war: Deutsche Truppen hatten Kopenhagen, Oslo, Stavanger, Bergen, Trondheim und Narvik besetzt. Die Engländer und Franzosen hatten sich auf kampflose Landeunternehmen eingerichtet. Nunmehr standen sie einem ganz anderen Problem gegenüber. Ihre Gegenmaßnahmen litten infolgedessen unter organisatorischen Mängeln. Narvik wurde erst Ende Mai genommen und schon eine Woche später wieder geräumt. Die deutsche Flotte mußte bei dem Feldzug schwere Verluste hinnehmen. Auch machte der Feldzug eine der Tatsachen sichtbar, die den Verlauf des Krieges beherrschten: die Gefährlichkeit von Operationen für Überwasserschiffe ohne Unterstützung aus der Luft in Gebieten, die von der feindlichen Luftwaffe beherrscht wurden.352 Der Westfeldzug von 1940 war das klassische Blitzkrieg-Unternehmen. Wenn es allerdings nach der Mehrzahl der höheren Offiziere, auf deutscher wie auf französischer Seite, gegangen wäre, hätte er gar nicht stattgefunden. Weder die

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einen noch die anderen waren für den Angriff. Die höheren Offiziere im Oberkommando des Heeres (OKH), darunter der Oberbefehlshaber von Brauchitsch und der Chef des Generalstabs des Heeres, Halder, hofften auf Frieden und nicht auf einen europäischen Krieg. Sie zweifelten daran, daß man Frankreich und England niederwerfen könne. Hitler setzte sich über sie hinweg. Im Oktober 1939 befahl er den Angriff für den 12. November. Neunundzwanzigmal wurde dieser Termin verschoben, teils wegen der schlechten Wetterbedingungen, teils wegen der Einwände von Armeekommandeuren. Am 10. Mai 1940, einem Termin, der alles in allem für rasche Operationen günstiger war als jeder vorherige, begann der deutsche Angriff.353 Hitler war nicht gewillt, den Krieg zu einem langwierigen Unternehmen werden zu lassen, bei welchem das wirtschaftliche Potential ebensoviel gelten würde wie das militärische, und er war mit Recht davon überzeugt, daß er Deutschlands Position in Europa festigen müsse, bevor sich die USA und Rußland zum Eingreifen entschlössen. Er meinte, die Niederlage Frankreichs würde automatisch den Kriegsaustritt Englands zur Folge haben (an einer Schwächung des Britischen Empire war er ja nicht interessiert), und glaubte, die Engländer würden Vernunft annehmen und sich der Vorherrschaft Deutschlands in Europa nicht länger widersetzen, sobald man ihnen klarmachte, daß ihnen die Bundesgenossen auf dem Kontinent gegen das Deutsche Reich nichts nützen könnten. Von Anfang an bestand kein Zweifel daran, daß der Westfeldzug den Einmarsch in Holland, Belgien und Luxemburg mit sich bringen würde. Nur so konnte man einen Frontalangriff auf die französischen Grenzbefestigungen vermeiden und gleichzeitig Stützpunkte gewinnen, um England zu bedrohen. Der ursprüngliche deutsche Aufmarschplan hatte gewisse Ähnlichkeit mit dem Schlieffen-Plan aus der Zeit vor 1914. Das Schwergewicht der Truppenkonzentration sollte auf dem rechten Flügel, nördlich von Lüttich, liegen. Die tatsächlichen Operationen beruhten jedoch auf ganz anderen Dispositionen, die das OKH getroffen hatte, nachdem Hitler von General Rundstedts Stabschef Manstein wiederholt gemachte Vorschläge aufgegriffen hatte. Der neue Operationsplan verlegte den Schwerpunkt des Angriffs auf die Heeresgruppe Rundstedt und sah den massierten Einsatz der Panzerverbände vor. Sie sollten die Maasübergänge zwischen Namur und Sedan gewinnen und dann nach Westen zum Meer vorstoßen. Dort sollten sie den alliierten Truppen den Weg abschneiden, die, wie man wußte, nach Belgien vorrücken würden, um dem deutschen Entlastungsangriff gegen Holland und Belgien, der sich nun entwickelte, entgegenzutreten. Dieser Plan führte die Niederlage Frankreichs herbei. Die Niederlage war eine militärische, das heißt, sie war nicht von vornherein infolge etwaiger Ungleichheit der den kämpfenden Heerführern zur Verfügung stehenden Streitkräfte unvermeidlich. Diese Feststellung steht ihm Gegensatz zu einer Beweisführung, die das Ergebnis der militärischen Operationen von

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Anfang an durch fundamentale Ursachen nichtmilitärischer Natur vorherbestimmt sieht, und die besonders denen attraktiv erschien, die für die Niederlage Frankreichs lieber eine falsche politische Führung als militärische Irrtümer verantwortlich machen wollten. Behauptet man das Gegenteil, so bedeutet das allerdings nicht, daß die Gründe für die Niederlage ausschließlich nach dem 10. Mai 1940 zu suchen sind. Aber auch die vor diesem Zeitpunkt anzusetzenden Ursachen – Irrtümer in der Konzeption, der Ausbildung, der Organisation und der Aufmarschplanung – lagen im Einflußbereich der Militärs, und es war keineswegs so, daß die Struktur der französischen Gesellschaft oder des französischen Bildungswesens zwangsläufig Soldaten hervorgebracht hätte, die zu solchen Fehlern prädestiniert gewesen wären. Deutschland war von Haus aus weit stärker als Frankreich, und die Macht Englands war noch nicht so weit mobilisiert, daß sie den Unterschied hätte ausgleichen können. Das militärische Kräfteverhältnis war indessen im Mai 1940 durch diesen Unterschied des Potentials nicht beeinflußt. Insofern hätte Frankreich erfolgreich verteidigt werden können. Auf deutscher Seite standen an der Westfront 114 Divisionen; bis zum 23. Juni wuchs diese Zahl auf 142 an. Darunter waren 10 Panzerdivisionen, 6 motorisierte Infanteriedivisionen, eine Kavalleriedivision, 3 Gebirgsdivisionen und 46 Infanteriedivisionen, die für die erste Angriffswelle bestimmt waren, also insgesamt 66 Divisionen von hoher Kampfkraft. Auf französischer Seite standen im Nordosten 91 Divisionen, davon 3 Panzerdivisionen, 3 ›leichtmechanisierte‹ Divisionen (DLM) und 5 Kavalleriedivisionen. Von den 80 Infanteriedivisionen bestanden 31 zum größeren Teil aus aktiven Truppen. Die Engländer verfügten über 10 voll ausgebildete Divisionen. Vorausgesetzt, daß die Alliierten nach Belgien vorstoßen würden, konnte man noch 20 belgische Divisionen und 8 holländische hinzufügen. So hatten die Alliierten mit den Engländern, aber ohne die Holländer und Belgier 52 hochqualifizierte Divisionen aufzubieten. Ferner befanden sich eine französische Panzerdivision und eine motorisierte Division im Stadium der Aufstellung. Eine britische Panzerdivision traf Ende Mai ein. Da die ›mechanisierten‹ französischen Divisionen im Grunde Panzerdivisionen entsprachen, war das Verhältnis zwischen den französischen Panzerverbänden und denen der Deutschen weniger ungünstig für die Franzosen, als es zunächst scheint. Die Zahl der Panzer selbst war ungefähr gleich. Frankreich besaß etwa 2250 moderne Panzer, wozu ungefähr 200 englische kamen. Die Deutschen hatten etwa 2500 Panzer. Die französischen Fahrzeuge waren den deutschen alles in allem zwar hinsichtlich der Geschütze und der Panzerung überlegen, nicht aber hinsichtlich der Geschwindigkeit und des Aktionsradius. In der Luft waren die Alliierten allerdings klar im Nachteil: 3500 deutschen Flugzeugen standen etwa 800 französische gegenüber. Zu Beginn der Schlacht waren über 400 britische Flugzeuge in Frankreich stationiert, die während des Feldzugs verstärkt wurden und außerdem Unterstützung von Geschwadern erhielten, die von England aus operierten. Anscheinend reduzierte der Mangel an voll

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ausgebildetem Personal die Zahl der einsatzfähigen französischen Maschinen beträchtlich.354 Den ursprünglichen Angriffsabsichten der Deutschen hätte der Schlachtplan der Alliierten wirksam begegnen können. Ein starker linker Flügel mit den britischen Kontingenten sollte nach Belgien vorstoßen, sich dort mit den belgischen und holländischen Truppen treffen und eine Frontlinie gegen Osten bilden. 17 britische und französische Infanteriedivisionen waren auf einer Frontlinie von 63 km zwischen Namur und Antwerpen aufgestellt, an deren linken Flügel sich die belgische Armee anschloß. Eine weitere französische Armeegruppe mit 7 Divisionen rückte auf die Scheldemündung vor. An der Stelle, wo der heftigste Ansturm der Deutschen zu erwarten war, zwischen Longwy und Namur, hielten 12 Divisionen, die von Kavallerie unterstützt wurden, eine 135 km lange Front. Weiter südlich hielten 36 Infanteriedivisionen die Maginotlinie besetzt. 13 Divisionen bildeten die Reserve, darunter auch Panzerdivisionen. Gegen den deutschen Angriff war die Rheinfront unnötig stark besetzt, der linke Flügel verfügte über einen unverhältnismäßig großen Anteil an Panzerverbänden (etwa vier Fünftel), und die Mitte, das ›Scharnier‹, auf das die Hauptwucht des deutschen Angriffs prallte, war zu schwach. Die motorisierten Reserven reichten gegen einen schnell vorstoßenden Gegner nicht aus. Trotz allem gab es zwei Gelegenheiten, bei denen französische Panzerdivisionen den deutschen Sieg hätten beeinträchtigen können. Dieser Sieg beruhte auf zwei Maasüberquerungen, die am 13. Mai bei Dinant und Sedan erfolgten, und auf dem schnellen Vorstoß der deutschen Panzerverbände zur Küste, die sie am 20. Mai erreichten. Damit war die feindliche Nordarmee abgeschnitten. Gegen die gerade gebildeten Brückenköpfe an der Maas hätten französische Gegenangriffe unternommen werden können, oder man hätte versuchen können, die Verbindung der Deutschen zur Küste abzuschneiden, bevor die Flanken sich konsolidierten. Mit einiger Aussicht auf Erfolg hätte also die dritte französische Panzerdivision den Brückenkopf bei Dinant und die erste Panzerdivision den bei Sedan angreifen können. Beide Angriffe wurden falsch geführt und zu lange verzögert und hatten zudem zur Folge, daß die Bildung eines starken Stoßkeils, der die deutsche Verbindungslinie zum Meer hätte durchbrechen können, unmöglich wurde. (Wie empfindlich die deutsche Armee gegenüber dieser Gefahr war, zeigte sich daran, daß am 21. Mai schon ein verhältnismäßig schwacher Angriff englischer Truppen südlich von Arras beinahe eine Panik ausgelöst hätte.355) Mit der Einkesselung der alliierten Verbände im Norden und dem Mißlingen der infolgedessen mit mangelhafter Organisation durchgeführten Gegenangriffe gegen die deutsche Küstenverbindung war Frankreichs Schicksal besiegelt. Zwar wurde noch eilig eine neue französische Front an der Somme und Aisne gebildet, aber am 5. Juni konnten die deutschen Truppen dort mit weit überlegenen Kräften angreifen. Der Durchbruch gelang am 12. Juni, und der französische Rückzug wurde zur wilden Flucht. Ministerpräsident Reynaud wollte

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anscheinend den Krieg von Französisch-Nordafrika aus fortsetzen, wobei viele Franzosen die Regierung unterstützt hätten. Aber Reynauds eigene Personalpolitik, vor allem die Ernennung Pétains zum stellvertretenden Ministerpräsidenten und Weygands zum Oberbefehlshaber, schadeten der Sache des Widerstandes. Weygand forderte Waffenstillstand. Gründe dafür gab es genug: Der Krieg sei verloren, England könne nicht allein weitermachen, eine Fortsetzung des Widerstandes könne nur zu einer nutzlosen Steigerung der Leiden führen. Auch gab es Befürchtungen, es werde zu einer sozialen Revolution kommen, wenn die verfassungsmäßige Gewalt in Frankreich zusammenbräche. Der unklare Wunsch, einen Rest französischer Souveränität in Frankreich selbst zu erhalten, traf zusammen mit dem weniger unklaren Wunsch, die republikanische Demokratie zu beseitigen und ein ›neues‹ Frankreich unter autoritärer Führung mit Pétain als Galionsfigur zu schaffen. Das Kabinett Reynaud war sich nicht einig. Chautemps schlug nach parlamentarischem Brauch einen Kompromiß vor: Man solle um Waffenstillstandsbedingungen bitten, die indessen so hart ausfallen würden, daß alle Franzosen sich zum Widerstand aufgerufen fühlen würden. Die Mehrheit des Kabinetts schloß sich diesem Vorschlag an. Reynaud bemühte sich, die Unterstützung des Präsidenten Lebrun für die Bildung eines zum Kampf entschlossenen Kabinetts zu gewinnen. Der Präsident zog es vor, der Mehrheit zu folgen, und ermächtigte Pétain, eine Regierung für die Kapitulation zu bilden.356 Am 22. Juni wurde der Waffenstillstandsvertrag mit Deutschland unterzeichnet, am 24. Juni der mit Italien, dessen später Eintritt in den Krieg gänzlich erfolglos geblieben war. Die meisten Franzosen akzeptierten die Kapitulation der rechtmäßigen Regierung. Einige aber folgten General de Gaulle, der am 18. Juni zur Fortsetzung des Krieges aufrief. Damit tat sich eine Kluft im politischen Leben Frankreichs auf, die bis heute noch nicht ganz geschlossen ist. De Gaulle fand außerhalb der französischen Gebiete in Äquatorialafrika zunächst wenig Unterstützung. Doch je weiter die Zeit fortschritt und je mehr sich die Richtigkeit der von ihm im Jahre 1940 eingenommenen Haltung bestätigte, desto mehr wurde er das Symbol der Unabhängigkeit Frankreichs – Unabhängigkeit sowohl von den Alliierten wie von den Deutschen – im Gegensatz zur konservativen ›nationalen Revolution‹ der Vichy- Regierung unter Pétain. Dieser Zwiespalt war nicht einfach eine Sache von ›rechts‹ und ›links‹. Im großen und ganzen aber unterstützten die konservativen, vermögenden, klerikalen Kreise Frankreichs Vichy, während de Gaulle, so konservativ er und viele seiner führenden Anhänger auch sein mochten, die stärkste Zustimmung bei den radikalen, fortschrittlichen und demokratischen Kräften der französischen Gesellschaft fand. Mussolini hatte den Krieg mit peinlichem Unbehagen verfolgt. Er war hin- und hergerissen zwischen der Furcht vor der Macht Frankreichs und Englands im Mittelmeer und dem Mißvergnügen an der schwächlichen und für einen Diktator wenig passenden Position der Neutralität. Der deutsche Sieg über

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Frankreich beseitigte Mussolinis Furcht, und am 10. Juni erklärte Italien Großbritannien und Frankreich den Krieg. Mussolini wollte sich damit einen Platz bei der Aufteilung des französischen (und möglicherweise auch des britischen) Imperiums sichern. So verwickelte er Italien in einen von dem Land nicht gewollten, unnötigen und verderbenbringenden Krieg. Denn der Krieg war noch nicht aus. Hitler hoffte, daß die Engländer jetzt ein Einsehen haben würden, und forderte lediglich die Rückgabe der früheren deutschen Kolonien. Aber England weigerte sich hartnäckig, Hitler in Europa freie Hand, zu lassen. Im Gegenteil, es beharrte auf dem Entschluß, Deutschland zu besiegen. Premierminister Winston Churchill bekräftigte diese Überzeugung nachdrücklich: »Wir werden unsere Heimatinsel verteidigen und zusammen mit dem Britischen Empire unbesiegbar weiterkämpfen, bis der Fluch Hitlers von der Menschheit genommen ist. Wir sind sicher, daß schließlich alles gut ausgehen wird.« Die Möglichkeiten, England zu verteidigen, waren klar. Wenn man den Deutschen die Luftherrschaft verwehren konnte, mußten sie bei einer Invasion mit der lähmenden Gegenwehr britischer Bomber und überlegener britischer Seestreitkräfte rechnen. Die Chancen für einen Sieg Englands in dem Kriege waren dagegen sehr viel unsicherer. Man verließ sich darauf, daß Blockade und Luftkrieg sowie Aufstände in den von Deutschland besetzten Gebieten Europas es relativ geringen Landstreitkräften ermöglichen würden, einen entscheidenden Schlag zu führen. Das war sehr optimistisch gedacht. Die britische Einschätzung der deutschen Invasionschancen entsprach übrigens ziemlich genau derjenigen auf deutscher Seite. Seit Juli 1940 erwog Hitler ernsthaft die Eroberung Rußlands; er bestimmte damals den Sommer des Jahres 1941 als Termin für dieses abschließende Werk. Es schien ihm nützlich, zunächst den Widerstand Englands zu brechen. Am 16. Juli 1940 befahl Hitler, die Invasion Englands vorzubereiten. Die Kriegsmarine forderte, erst müsse die Luftherrschaft gewonnen werden, und Hitler teilte diese Ansicht. Aber bis zum 15. September war klargeworden, daß diese Voraussetzung nicht erreicht worden war. Am 17. September verschob Hitler die Invasion auf unbestimmte Zeit.357 Das war eine schwere Niederlage. Es bedeutete vor allem, daß im Falle eines Kriegseintritts der Vereinigten Staaten die Alliierten über eine erstklassige Operationsbasis verfügen würden, von der aus sie ihre Macht gegen das von Hitler beherrschte Europa einsetzen könnten. Hitlers Strategie stand nunmehr im Zeichen des bevorstehenden Kampfes mit Rußland. In der Auseinandersetzung mit England blieben ihm der Krieg gegen die britische Wirtschaft, der hauptsächlich mit U- Booten geführt wurde, und Bombenangriffe – beinahe erfolgreich das eine, wirkungslos das andere. Vor dem Krieg gegen Rußland war noch Zeit, Englands Machtstellung direkter anzugreifen; mit der endgültigen Niederwerfung konnte Hitler sich Zeit lassen, bis er mit Rußland fertig wäre. Dementsprechend wurde 1940 ein Plan für die Besetzung Gibraltars ausgearbeitet und eine wirksame Unterstützung, notfalls mit Landstreitkräften, für Mussolinis Einfall in Ägypten vorbereitet. Auf diese Weise sollte England aus dem Mittelmeer verdrängt und seine Herrschaft über

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die Ölgebiete des Nahen Ostens bedroht werden. Diese Operationen schlugen fehl, da Franco, der keine Dankbarkeit zeigte, Spanien nicht in den Krieg hineinziehen wollte, und da Mussolini, statt die Engländer aus Ägypten vertreiben zu können, sich in Gefahr befand, selbst aus Nordafrika vertrieben zu werden. Außerdem begann Mussolini einen Krieg auf eigene Faust – hauptsächlich wohl, um seine Unabhängigkeit von den Deutschen zu demonstrieren – indem er von Albanien aus Griechenland überfiel. Der italienische Angriff scheiterte. Die Folge war das Auftauchen britischer Luftstreitkräfte auf Kreta und in Griechenland. Es blieb zwar ohne große Wirkung, war jedoch ein deutlicher Hinweis darauf, daß britische Bomber in der Lage seien, gegebenenfalls die rumänischen Ölfelder zu erreichen. Nun griff Hitler ein, um die Folgen italienischer Fehler zu korrigieren, und befahl den Einmarsch in Griechenland, woran sich Bulgarien und Jugoslawien beteiligen sollten. Als nach einem Staatsstreich in Belgrad Jugoslawien sich weigerte, mit den Achsenmächten zusammenzugehen, wurde auch Jugoslawien dem Untergang geweiht. Am 6. April 1941 griffen deutsche Truppen Jugoslawien und Griechenland an. Ende des Monats waren beide Länder erobert, und im Mai nahmen Fallschirmjäger die Insel Kreta. Die durch den Abfall Jugoslawiens verlängerten Kämpfe verzögerten den großen Überfall auf Rußland um etwa vier Wochen. Um Mussolini in Afrika zu retten, mußten deutsche Luftwaffenverbände auf Sizilien stationiert werden. Im Februar 1941 entsandte Hitler das Deutsche Afrikakorps unter General Rommel nach Libyen. Am 22. Juni 1941 begann das Unternehmen ›Barbarossa‹, der Angriff auf Rußland. In einem Blitzfeldzug sollte Rußland niedergeworfen und auf der Linie Wolga-Archangelsk ein Sperrgürtel gegen dessen asiatische Gebiete gezogen werden. Von dieser Linie aus konnte die deutsche Luftwaffe die noch übriggebliebenen Industriegebiete im Ural zerstören. Die eroberten Gebiete im Osten sollten wirtschaftlich ausgebeutet werden. (Ein wichtiger Aspekt der Blitzkriegstrategie zeigte sich in einer Weisung Hitlers, die er schon vor Beginn des Feldzugs erteilt hatte: er befahl, die Rüstungsproduktion für das Heer zu drosseln und alle Anstrengungen auf die Rüstung der Kriegsmarine und der Luftwaffe zum Zweck der künftigen Operationen gegen England zu richten.) Im Oktober schien die russische Armee dem Zusammenbruch nahe. Massierte deutsche Panzerverbände durchbrachen immer wieder die langgezogenen Stellungen der Russen und bildeten Kessel, die dann von der Infanterie aufgerieben wurden. Der deutschen Armee war die erfolgreichste Offensive in der Geschichte gelungen. Wahrscheinlich waren etwa drei Millionen russischer Soldaten getötet öder gefangengenommen worden. In der ersten Phase des Feldzugs hatten die deutschen Truppen eine Streitmacht vernichtet, deren Größe etwa ihrer eigenen entsprach. Doch jetzt, im Oktober 1941, begann sich die Lage zu verschlechtern. Regen und Schlamm beeinträchtigten die ohnehin stark beanspruchten Nachschubwege und die Kampfkraft der motorisierten Verbände. Im Dezember brach der russische Winter über die darauf nicht vorbereiteten

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deutschen Truppen herein. Die noch kampffähigen russischen Truppenteile und ihre Kommandeure hatten allmählich aus ihren Erfahrungen gelernt und erhielten durch Aushebungen in den rückwärtigen Gebieten und durch die Heranführung bewährter Truppen aus dem Fernen Osten Verstärkung. Am 5. Dezember traten die Russen vor Moskau zum Gegenangriff an. Hitlers Blitzkrieg war zu Ende. Wenngleich das Jahr 1942 noch große Erfolge in Rußland und Afrika brachte und der deutsche Vormarsch erst Ende dieses Jahres bei Stalingrad und El Alamein zum Stehen kam, so hatte sich doch seit Dezember 1941 der Krieg genau so entwickelt, wie Hitler es nicht gewollt hatte: zu einem langwierigen Ringen, das letzten Endes durch das Potential an Menschen und Material entschieden werden würde.

� Abb. 14: Europa 1942 Deutschlands Niederlage war unvermeidlich, da nunmehr auch die Vereinigten Staaten auf der Seite der Gegner standen. Am 7. Dezember 1941 führten japanische Bomber von Flugzeugträgern aus einen erfolgreichen Angriff gegen die in Pearl Harbor liegende Hauptmacht der amerikanischen Pazifikflotte; davon verschont blieben nur deren Flugzeugträger, die sich zu diesem Zeitpunkt auf See befanden. Der Krieg in Europa ließ Japan auf die Verwirklichung seines langfristigen Ziels hoffen: die Errichtung eines autarken Wirtschaftsgebiets unter japanischer Führung in Ostasien, einer ›Großostasiatischen Wohlstandssphäre‹. Dazu sollten auf jeden Fall Französisch-Indochina, Britisch-Malaya und Niederländisch-Indien gehören, aber auch die Mandschurei und die wichtigsten Gebiete Chinas. Durch die Niederlage

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Frankreichs, die Besetzung des holländischen Mutterlandes, die Bedrohung Englands von Europa und Afrika her und schließlich durch den deutschen Überfall auf Rußland waren alle potentiellen Gegner geschwächt oder ausgeschaltet – alle, bis auf die USA. Auch die Aufmerksamkeit der amerikanischen Regierung war durch die deutsche Gefahr stark in Anspruch genommen. Seit 1931 hatten die USA die gewaltsame Expansion Japans immer mißbilligt. Nach 1940 versuchten die Amerikaner Japan davon zu überzeugen, daß sie sich am Widerstand gegen alle japanischen Eroberungen, die zu Lasten der europäischen Freunde Amerikas gingen, beteiligen würden – ohne sich allerdings förmlich dazu zu verpflichten. Im Jahre 1940 wurde der Export von Eisen und Schrott nach Japan eingestellt, und seit August 1941 war der Ölexport nach Japan verboten. Da die Holländer ein ähnliches Embargo einführten, sah sich Japan einer Versorgungskrise gegenüber. Wenn diese Restriktionen andauerten, würden die japanische Wirtschaft und die japanische Kriegsmaschinerie langsam erdrosselt und Japan gezwungen, entweder sich aus China zurückzuziehen oder die Bedingungen der Vereinigten Staaten für eine Regelung zu akzeptieren – doch auch das hätte den Rückzug aus China und den Verzicht auf Eroberungen bedeutet. Eine weitere Alternative war der Krieg, war die Durchbrechung der drohenden wirtschaftlichen Einkreisung und der Einsatz von Gewalt zur Gewinnung von Mitteln, die zur Aufrechterhaltung eben der Gewalt nötig waren. Der wachsende amerikanische Druck gab der japanischen Armee die Möglichkeit, den vorsichtigeren Kaiser und die Chefs der japanischen Kriegsmarine davon zu überzeugen, daß das gewagte Spiel eines Krieges unvermeidlich sei.358 Hitler lag sehr an dem Eingreifen Japans, das die USA ablenken und somit England schwächen sollte. Er versprach im April 1941, im Falle eines japanischen Kriegseintritts werde Deutschland den Vereinigten Staaten den Krieg erklären. Diese Zusage wiederholte er am 29. November. Hitler hielt Wort. Am 11. Dezember erfolgte die Kriegserklärung. Präsident Roosevelt und seine Berater hatten dieses Ereignis sicher herbeigewünscht – und erwartet. Es war für sie eine große Erleichterung, daß sie den Kongreß nicht zu veranlassen brauchten, selbst die Initiative zu ergreifen. Hitler mag seinerseits nur bestrebt gewesen sein, zu seinen Verpflichtungen zu stehen. Wahrscheinlicher ist aber, daß es ihm jetzt nicht mehr darauf ankam, daß die USA auch formell am Kriege beteiligt waren. Die Entschlossenheit der Amerikaner, eine Niederlage Englands zu verhindern, war sowieso offenkundig. Das Leih- und Pachtgesetz vom März 1941 ermöglichte es dem Präsidenten, Kriegsmaterial ohne Bezahlung an andere Staaten zu liefern. Davon wurde in steigendem Maße zugunsten Englands und Rußlands Gebrauch gemacht. Seit September 1941 wurden amerikanische Kriegsschiffe und Flugzeuge zur Sicherung von Geleitzügen auf dem Atlantik eingesetzt. Hitler rechnete noch mit dem Sieg über Rußland für das Jahr 1942 und hoffte, dann mit einer starken Festung Europa den USA die Stirn bieten zu können.

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Der Kriegseintritt der USA machte deutlich, daß der Kampf ein Wettstreit der Wirtschaftspotentiale werden würde. Einen solchen Kampf mußte Hitler verlieren. Die folgenden Zahlen veranschaulichen das Verhältnis der Kräfte. Wert der Rüstungsproduktion im Jahre 1943 (in Milliarden Dollar)359 AlliierteAchsenmächte USA37,5Deutschland13,8 Großbritannien11,1Japan4,5 UdSSR13,9 Panzerproduktion 1940–1944360 DeutschlandGroßbritannienUSA 194014591399331 1941325648414052 19424098861124997 19436083747629497 19448466247617565 (1. Halbjahr) Flugzeugproduktion 1939–1944361 JapanDeutschlandGroßbritannienUSA 19394467829579402141 1940476810826150496086 19415088117762009419443 19428861155562367247836 194316693255272626385898 194421180398072646196318 (Nach Angaben Stalins produzierte Rußland im Jahre 1944 40000 Flugzeuge) Erstaunlich ist, daß der Krieg bis 1945 dauerte. Ein Grund dafür war der, daß die Nachschubwege der Alliierten sehr lang waren, weitgehend auf See verliefen und leicht verwundbar waren, während Deutschland in Europa über ausgezeichnete Verbindungen zu Lande verfügte, die kürzer und schneller waren und nur aus der Luft angegriffen werden konnten. Solange der Nachschub der Alliierten nicht ausreichend gesichert war, konnte die Macht der Vereinigten Staaten nicht in vollem Umfang gegen Deutschland eingesetzt werden. Noch bis 1942 bildeten die deutschen Angriffe auf Transportschiffe, vor allem U-Boot-Angriffe, eine ernste Bedrohung für die alliierten Streitkräfte; England brachten sie zeitweilig an den Rand der Niederlage. Von 1939 bis 1942 wurden 6,5 Millionen BRT alliierten Schiffsraums versenkt. Nur etwas mehr als 7

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Millionen BRT wurden neu gebaut. Dagegen wurde von 1943 bis 1945 nur 4,5 Millionen BRT versenkt, während 31 Millionen BRT neu gebaut wurden.362 Ein weiterer Grund für die Dauer des deutschen Widerstandes war die Verdoppelung der deutschen Rüstung in der Zeit von 1942 bis 1944. Deutschland sah sich nun doch in einen totalen Krieg gedrängt. Todt und nach ihm Speer (als Reichsminister für Bewaffnung und Munition) bauten eine vollständige Kriegsindustrie auf. Ihr Erfolg beruhte zum Teil auf gesteigerter Produktivität, zum Teil auf der Umstellung ziviler Produktionsmittel. Da sich jedoch die nationalsozialistischen Gauleiter Angriffen auf den Lebensstandard widersetzten und Arbeitskräfte und Lebensmittel aus den besetzten Ländern zur Verfügung standen, bekam die deutsche Zivilbevölkerung die wirtschaftliche Anspannung durch den Krieg weniger zu spüren als die Zivilbevölkerung in England, die stärker für die Rüstungsindustrie eingesetzt wurde. (Andererseits hatte die deutsche Bevölkerung natürlich weit mehr unter den militärischen Kriegseinwirkungen zu leiden.) Ziviler Verbrauch an Konsumgütern in Deutschland und Großbritannien363 1938–1944 (1938 = 100; unter Voraussetzung gleichbleibender Preise) DeutschlandGroßbritannien 1938100100 1939108100 194010087 19419781 19428879 19438776 19447977 Einsatz von Arbeitskräften (in Prozenten) Mai-Juni 1944364 GroßbritannienDeutschlandUSA Streitkräfte222418,5 Ziviler Kriegsdienst332821,5 Andere Beschäftigung454858 Arbeitslose––2 Auch bei der Situation der Frauen zeigt sich der geringere Einsatz der deutschen Bevölkerung für die Kriegswirtschaft: in England verdoppelte sich die Zahl der in der Industrie tätigen Frauen von 1939 bis 1944, während die entsprechende Zahl in Deutschland konstant blieb. Dies erklärt die bemerkenswerte Tatsache, daß im September 1944 1,25 Millionen deutscher Frauen als Hausangestellte arbeiteten (gegenüber 1,5 Millionen vor dem Kriege), während die Zahl der Hausangestellten in England nur etwa ein Drittel der

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Vorkriegszahl ausmachte.365 Vor allem aber wurde der Krieg durch den Widerstandswillen der Deutschen verlängert. Diese Entschlossenheit beruhte nicht auf der relativ erträglichen materiellen Lage der Bevölkerung oder auf der verspäteten Ausrufung des totalen Krieges, sondern hatte seinen Grund in den Leiden des Krieges und in der Furcht vor den Leiden, die eine Niederlage den Deutschen auferlegen würde. Von den Russen erwartete niemand Gnade, am wenigsten die große Zahl von Deutschen, denen das Gebaren der deutschen Eroberer in Rußland bekannt war. Die westlichen Alliierten stärkten den deutschen Widerstandswillen auf dreifache Weise. Erstens durch die Forderung nach ›bedingungsloser Kapitulation‹. Diese Forderung war verursacht durch die lebendige Erinnerung an die Propaganda, die deutsche Nationalisten mit dem angeblichen betrügerischen Manöver der Alliierten von 1918 getrieben hatten, ein Manöver, wodurch ein ›im Felde unbesiegtes‹ Deutschland veranlaßt worden sei, sich der Gnade der Alliierten auszuliefern, und sie beruhte auch auf dem Bemühen, sowjetische Befürchtungen wegen etwaiger Sonderverhandlungen der westlichen Alliierten mit einer deutschen Regierung zu zerstreuen, Befürchtungen, die Stalin möglicherweise veranlaßt hätten, diesen Weg als erster selbst zu gehen. Zweitens schürten die alliierten Bombenangriffe auf Deutschland den Haß auf einen Feind, der offenbar keine Unterschiede machte und kein Erbarmen kannte. Drittens kam im September 1944 die Nachricht von dem absurden Morgenthau-Plan, der in Aussicht stellte, »Deutschland in ein Gebiet mit überwiegender Agrarstruktur und dem Charakter eines Weidelandes« zu verwandeln. Der deutsche Widerstand konnte jedoch nur den Krieg verlängern, nicht aber zum Siege führen, sofern sich die Sowjetunion oder die westlichen Alliierten nicht zum Abschluß eines Separatfriedens bewegen ließen. Eine echte Chance dafür gab es nie, obwohl die Westmächte und die Russen der Entschlossenheit des jeweils anderen, bis zum Ende zu kämpfen, mißtrauten. So, wie die Dinge lagen, bestand die Strategie der Alliierten lediglich darin, ihre überlegene Macht zur Geltung zu bringen. Die Strategie der Russen wurde durch die Geographie diktiert – ihre Aufgabe war einzig der Sieg über die gegen die Rote Armee eingesetzten deutschen Landstreitkräfte. Der Rußlandfeldzug nahm von Anfang an und bis zum Ende des Krieges deren größten Teil in Anspruch. Die Strategie der Engländer und Amerikaner hatte mehr Spielraum. Die bedeutsamste Entscheidung war schon vor dem Kriegseintritt der USA gefallen: zuerst sollte Deutschland besiegt werden, mit Japan wollte man warten, bis dieses Ziel erreicht sei. Man erkannte, daß Deutschland der stärkere Feind sei, und glaubte, es könnte noch stärker werden, wenn man ihm Zeit ließe, die in Europa gemachten Eroberungen zur Unterstützung der deutschen Kriegsanstrengungen einzusetzen. Abgesehen von ein paar Wochen im Sommer des Jahres 1942, als die amerikanischen Stabschefs drohten, das Schwergewicht des amerikanischen Einsatzes gegen Japan zu richten (Präsident Roosevelt entschied gegen sie), hielt man an dieser Strategie fest, ohne daß es zu großen Meinungsverschiedenheiten

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gekommen wäre. Folglich ging es bei den strategischen Erörterungen der Engländer und Amerikaner um die wirksamste Methode, Deutschland zu besiegen. Die hauptsächliche Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Alliierten bezog sich weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Voraussetzungen, die geschaffen werden müßten, bevor die Invasion in Frankreich unternommen werden könne. Die Amerikaner wollten alle Mittel für diese Invasion zusammenfassen und sie zum frühest möglichen Zeitpunkt ausführen. Die Engländer vertraten die Auffassung, die Invasion solle so lange hinausgeschoben werden, bis die Widerstandskraft der Deutschen durch anderweitige Landoperationen oder durch Bombenangriffe geschwächt sei. Im großen und ganzen setzte sich die Strategie der Engländer durch – bis zum Frühjahr 1944 befanden sich mehr Landstreitkräfte aus dem Britischen Empire im Einsatz gegen den Feind (Deutschland und Japan) als aus den USA, und die Meinung der Engländer wog entsprechend schwer. Andererseits legte Roosevelt Wert darauf, die amerikanischen Landstreitkräfte schnell gegen Deutschland einzusetzen, und da die Einwände der Engländer gegen eine Invasion in Frankreich im Jahre 1942 offensichtlich wohlbegründet waren, konnte dieser Einsatz an anderer Stelle geschehen. Diese Erwägungen führten zu der Invasion in Nordafrika im November 1942, weiterhin zur Invasion in Sizilien im Juli 1943 und, nachdem diese den Sturz Mussolinis nach sich gezogen hatte, zur Landung auf dem italienischen Festland im September. Der von September 1943 bis Mai 1945 dauernde Feldzug in Italien war der umstrittenste Punkt in der Strategie der Engländer und Amerikaner. Viele Amerikaner hielten ihn für eine gefährliche Ablenkung von Kräften, die bei dem Haupteinsatz der Alliierten in Frankreich gebraucht würden. Einige amerikanische und die meisten britischen Generäle behaupteten dagegen, der Italienfeldzug lenke deutsche Kräfte vom Hauptkriegsschauplatz ab. Wer lenkte wen ab? Der entscheidende Moment war Ende Mai und Anfang Juni 1944. Zu der Zeit banden die Alliierten mit 27 Divisionen 17 deutsche Divisionen in Italien, davon 6 Panzer- oder Panzergrenadierdivisionen. Das war ein Sieg für die Alliierten, denn ausschlaggebend war, daß die zum Zeitpunkt der Invasion der Alliierten in Frankreich stehenden deutschen Streitkräfte möglichst gering waren, zu dem Zeitpunkt also, da die Stärke der ersten Wellen der Alliierten durch die verfügbaren Landungsfahrzeuge und nicht durch die verfügbaren Truppen bestimmt war. Der zweite sehr umstrittene Punkt der Strategie der Alliierten war die strategische Bomberoffensive gegen Deutschland. Zweifellos bildeten die taktische Unterstützung der Landstreitkräfte durch die alliierte Luftwaffe und deren Angriffe auf Nachschubwege hinter den Fronten, besonders 1944 in Frankreich, einen wesentlichen Faktor bei dem militärischen Sieg der Alliierten. Fraglich ist, ob die Versuche der Engländer und Amerikaner, die Kampfkraft der Deutschen durch Angriffe auf hauptsächlich in Deutschland gelegene Ziele ohne unmittelbare taktische Bedeutung zu schwächen, Ergebnisse brachten, die in

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angemessenem Verhältnis zu dem Aufwand standen. Der Streit verschärft sich, wenn man nach der moralischen Seite der Sache fragt: wenn die strategische Bomberoffensive keine wirksame Kriegswaffe war, ist es unmöglich, die Vernichtung von Menschenleben und die Zerstörung von Gebäuden, die in keinem faßbaren Zusammenhang mit dem Kriegseinsatz des Feindes standen, zu verteidigen, wenn auch die für die alliierten Bombenangriffe Verantwortlichen der Meinung waren, sie kürzten den Krieg ab und mordeten nicht etwa unschuldige Menschen in der Art, wie es die deutsche Regierung tat. Tatsächlich hoffte man, der Bombenterror werde den Kampfeswillen der Deutschen untergraben. Dennoch war diese Hoffnung, die anscheinend eine Illusion war, nicht die Ursache für die Bombenangriffe auf Deutschland. Wie bei den wahllosen Bombenangriffen der Deutschen auf England in den Jahren 1940 und 1941 lag den alliierten Bombenangriffen die Annahme zu Grunde, daß die Kampfkraft der Deutschen, nicht ihr Kampfwille, durch Angriffe auf Rüstungswerke und militärische Transportwege beeinträchtigt oder zerstört werden könne. Anfangs ging man davon aus, daß begrenzte Ziele wie Bahnhöfe, Fabriken und Ölraffinerien von Bombern erkannt und zerstört werden könnten. Diese Erwartungen beruhten auf Erfahrungen, die man in Friedenszeiten bei Übungsflügen gegen ungeschützte Ziele gemacht hatte. Bald wurde klar, daß Bomber bei Tage ohne Jägerschutz gar nicht operieren konnten, und später zeigte sich, daß Nachtbomber häufig die Orientierung völlig verloren und, selbst wenn das nicht der Fall war, gewöhnlich keine Ziele treffen konnten, die kleiner waren als eine große Stadt. Im August 1941 stellte ein britischer Bericht über nächtliche Bombenangriffe im Juni und Juli 1941 fest, daß von 6103 eingesetzten Flugzeugen nur etwa 1200 ihre Bomben innerhalb eines Umkreises von acht Kilometern um die Ziele herum abgeworfen hatten. Im Ruhrgebiet, das durch starke Luftabwehr geschützt war, hatten nur rund sieben Prozent der Bomber diesen Grad von Treffsicherheit erreicht.366 Infolgedessen wandten die Engländer künftig bei Bombenangriffen gewöhnlich die Methode des Flächenbombardements an, das heißt, man zielte auf einen Punkt in einer großen Stadt, der meistens in der Nähe des Zentrums lag, und vertraute darauf, daß eine gründliche Verwüstung nicht nur nutzlos großen Schaden anrichten und menschliches Leid verursachen, sondern daß sie auch den Kriegseinsatz der Deutschen irgendwie beeinträchtigen werde. Heute ist erwiesen, daß der der deutschen Kriegsindustrie durch Flächenangriffe zugefügte Schaden von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht genügte, um das Verfahren strategisch und infolgedessen moralisch zu rechtfertigen. Wirksame Flächenangriffe erforderten eine verbesserte Ausbildung und aeronautische Hilfen. Erst die Durchführung dieser Verbesserungen sowie die Ausschaltung der deutschen Jagdabwehr durch die Entwicklung eines amerikanischen Jägers mit großem Aktionsradius reichten schließlich aus, um die ursprünglich erstrebte Genauigkeit bei Bombenangriffen wenigstens teilweise zu erzielen.

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Nachdem die Überlegenheit in der Luft erreicht war, konnten die amerikanischen Bomberverbände, die das Streben nach Präzisionsangriffen nie aufgegeben hatten, auch wirksame Angriffe bei Tage führen.

� Abb. 15: Blick auf die durch Bomben zerstörte Innenstadt von Stuttgart Allerdings waren die ›Präzisions‹angriffe nur unter außergewöhnlichen Voraussetzungen genau – bei wolkenlosem Himmel und dem Fehlen einer wirksamen Abwehr. Die Auswirkungen, die die amerikanischen Bombenangriffe am Boden hatten, waren oft von denen der britischen nicht zu unterscheiden. In den letzten Monaten des Krieges wurden die Flächenangriffe gegen eine geschwächte deutsche Luftabwehr so verheerend, daß sie manchmal tatsächlich wirtschaftliche Folgen hatten. Der Beginn dieses durch Bombenangriffe errungenen Sieges fiel mit der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten und der Eroberung der rumänischen Ölfelder durch die Russen zusammen und ging ihnen nicht etwa voraus. Tatsächlich trug die Besetzung Frankreichs durch die Alliierten zu dem endgültigen Erfolg der strategischen Bombenangriffe auf Deutschland weit mehr bei als diese zum Erfolg des alliierten Feldzugs in Frankreich, und zwar dadurch, daß sie das Operationsgebiet der Alliierten verkleinerte, ihr Radarnetz vorschob und die deutsche Luftabwehr zurückdrängte. Man kann also sagen, daß es kein Anzeichen dafür gab, daß die Bombenangriffe der Engländer und Amerikaner entscheidend gewesen wären,

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bis der Krieg offensichtlich ohnehin gewonnen war, und man kann weiter feststellen, daß die Flächenangriffe, die besonders die Engländer hauptsächlich deshalb durchführten, weil nur wenige ihrer Bomberbesatzungen bis zum Sommer 1944 zu etwas anderem in der Lage waren (selbst von Oktober bis Dezember 1944 richtete sich mehr als die Hälfte der britischen Einsätze bei Flächenangriffen gegen Städte), erst gegen Ende des Krieges durch ihre Ergebnisse gerechtfertigt wurden. Der Einsatz war beträchtlich: fast ein Fünftel der Gefallenen der britischen Streitkräfte waren Bomberbesatzungen. Ergebnisse, die wirklich ins Gewicht fielen, wurden erst Ende 1944 und 1945 erzielt, als die deutsche Treibstoffproduktion ernstlich beeinträchtigt und der Eisenbahn-Transport teilweise zum Erliegen gebracht wurde. Die Entwicklung ließ die völlige Zerstörung der größeren deutschen Städte in greifbare Nähe rücken. Wenn der Krieg länger gedauert hätte, hätten die Bombenangriffe der Engländer und Amerikaner unter ungeheuren menschlichen Leiden den deutschen Widerstand vielleicht allein gebrochen. Das Eindringen der Roten Armee und der alliierten Armeen ersparte Deutschland größtenteils eine solche Steigerung, für die im Februar 1945 in Dresden ein Beispiel gegeben wurde. Nach Hitlers Tod kapitulierten die deutschen Streitkräfte im Mai 1945. Ihren Höhepunkt erreichten die strategischen Bombenangriffe im Krieg gegen Japan. In ihren großen Zügen war die Strategie des japanischen Krieges ziemlich einfach. Nachdem die Japaner durch ihren Überraschungsangriff auf Pearl Harbor die zeitweilige Herrschaft in den Gewässern des Pazifik erlangt hatten, konnten sie Gebiete in Besitz nehmen, die ein autarkes ostasiatisches Reich bildeten. Im Sommer 1942 beherrschten die Japaner Burma, Malaya, die Philippinen, Hongkong, fast die gesamten Inseln von Niederländisch-Indien und die Inseln des mittleren Pazifik bis zur internationalen Tagesgrenze. Außerdem hielten sie Gebiete in der Mandschurei, China, Französisch-Indochina und Thailand besetzt. Sie nahmen an, die Vereinigten Staaten würden lieber verhandeln als die ungeheure Aufgabe auf sich nehmen, die Japaner aus den eroberten Gebieten zu vertreiben. Diese Annahme unterschätzte die Macht und Entschlossenheit der Amerikaner. Beide waren so groß, daß sie es den Vereinigten Staaten ermöglichten, durch den kombinierten Einsatz von Überwasserschiffen sowie von Flugzeugen, die von Landstützpunkten und Flugzeugträgern aus operierten, die Seeherrschaft wiederzugewinnen, noch bevor der Krieg gegen Deutschland vorbei war und obwohl der Haupteinsatz des Krieges gegen Deutschland gerichtet wurde. Die Beweglichkeit, die den Amerikanern die Seeherrschaft verlieh, ermöglichte es ihnen, japanische Inselstützpunkte zu umgehen, statt sie einen nach dem anderen zurückzuerobern, und sich auf die Gewinnung ausgewählter Basen zu konzentrieren, um die japanischen Nachschubwege zu unterbrechen, Japan zu blockieren und einen direkten Angriff auf die japanischen Heimatinseln vorzubereiten. Der Sieg über Japan rückte durch die Einnahme von Iwo Jima im Februar und März 1945 und von Okinawa von April bis Juni 1945, bei der

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hartnäckiger Widerstand zu überwinden war, in greifbare Nähe. Pläne wurden ausgearbeitet für die Invasion Kyushus im November 1945 und der japanischen Hauptinsel Hondo im März 1946. Man rechnete fest damit, daß die Japaner diesen Invasionen mit buchstäblich selbstmörderischer Entschlossenheit entgegentreten würden und daß die Amerikaner wenigstens eine halbe Million an Verlusten erleiden würden. Die amerikanische Heeresflieger-Streitmacht war inzwischen zu dem Schluß gekommen, daß sie Japan allein besiegen könne. Die Luftwaffe war entmutigt, da es ihr nicht gelungen war, den Krieg gegen Deutschland zu gewinnen, und enttäuscht über die Auswirkungen der Präzisionsangriffe mit hochexplosiven Bomben. Wie die Engländer einige Jahre vorher, folgerte auch die amerikanische Luftwaffe, die einzige Reaktion auf diese Erkenntnis seien Flächenangriffe, und ihre Befehlshaber entschieden, die beste Waffe, um einen höchstmöglichen Grad von Zerstörung zu erzielen, sei der Einsatz von Brandbomben. Am 9. März 1945 wurde Tokio in Brand gesetzt. Dabei wurden etwa 261000 Gebäude zerstört und 83793 Männer, Frauen und Kinder getötet. General Le May, der Kommandeur der schweren Bomberverbände, rechnete aus, er werde den Krieg im Oktober beenden, wenn er 33 der großen Städte Japans auf diese Weise in Trümmer legte. Die Armee, die solche Voraussagen schon früher gehört hatte, blieb skeptisch. Zu diesem Zeitpunkt wurde die erste Atomwaffe vorbereitet. Sie kam genau in dem Moment, als man nach einem Mittel suchte, um die japanische Regierung davon zu überzeugen, daß Japan den Krieg bereits verloren habe. Die kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Politikern, die von der Bombe wußten, erörterte, wie man sie am besten zu diesem Zweck einsetzen könnte. Einige waren dafür, mit ihrem Einsatz zu drohen, andere für eine öffentliche Zündung der Bombe auf einer unbewohnten Insel. Beide Auffassungen konnten sich nicht durchsetzen, die letztere deshalb nicht, weil diese Bombe möglicherweise nicht losginge und die Moral der Japaner infolgedessen Auftrieb erhielte. Der vernünftigste Vorschlag, die Bombe auf unbesiedeltes Waldgebiet in Japan abzuwerfen, wurde gar nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Obwohl das Argument vorgetragen wurde, die Vereinigten Staaten würden jeden moralischen Anspruch auf die Forderung nach einer internationalen Kontrolle über die Atomenergie verlieren, wenn sie die Bombe einsetzten, entschied man sich dafür, die Bombe auf eine unversehrte japanische Stadt abzuwerfen, um für den Fall, daß sie explodierte, die außer jedem Zweifel stehende Macht der Vereinigten Staaten zu demonstrieren, und für den Fall, daß sie nicht explodierte, Prestigeverlust zu vermeiden. Am 6. August 1945 wurde eine Atombombe über Hiroshima abgeworfen, am 9. August eine zweite über Nagasaki. Die japanische Regierung hatte bereits Bemühungen um einen Verhandlungsfrieden erwogen, denen sich die militärischen Oberbefehlshaber mit der Begründung widersetzten, der beste Zeitpunkt für Verhandlungen sei nach einer Invasion der Amerikaner. Sie hofften, die Forderung der Amerikaner nach bedingungsloser Kapitulation würde gemildert durch die Verluste, die die

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Japaner den amerikanischen Invasoren zuzufügen gedachten. Die Atombombe stärkte die Position der Politiker und die des Kaisers gegen die Militärs, und mit knapper Mehrheit beschloß die japanische Regierung die Kapitulation – allerdings auch jetzt nicht eine ›bedingungslose‹ Kapitulation, sondern eine, die die Beibehaltung der japanischen Monarchie festlegte. Bei den Angriffen mit Atombomben wurden in Hiroshima über 70000 Menschen, in Nagasaki ungefähr 35000 Menschen getötet. Die Bombardierung von Nagasaki war vermutlich unnötig. Die schreckliche Arithmetik des Krieges rechtfertigte den Einsatz der Bombe – ohne sie hätte Japan wahrscheinlich erst kapituliert, nachdem die US-Luftwaffe noch mehr Japaner getötet und die Invasion zur Tötung von noch mehr amerikanischen und japanischen Soldaten geführt hätte.367 Der Einsatz der Atombombe ließ die Möglichkeit sichtbar werden, daß die Menschheit sich bald selbst würde vernichten können – die Gegenwart hatte begonnen. Im Zweiten Weltkrieg wurden vermutlich 35 bis 45 Millionen Menschen getötet. Die folgenden Zahlen sind zu einem erheblichen Teil nur grobe Schätzungen.368 Gefallene SoldatenGetötete Zivilisten Frankreich250000350000 Deutschland3500000700000 Italien33000080000 Japan1200000260000 Großbritannien32600062000 USA300000– Sowjetunion650000010000000 (?) Die schwersten Verluste erlitten ferner Polen (in den Vorkriegsgrenzen) mit wahrscheinlich über 5000000 Getöteter sowie Jugoslawien mit über 1000000 Getöteter. Die meisten von diesen waren Zivilisten. Weiteres menschliches Leid wurde durch Vertreibung verursacht. Wohl 13000000 Menschen, darunter etwa 11000000 Deutsche, mußten von 1939 bis 1947 ihre Heimat verlassen. Manche wurden während des Krieges nach deutschen Plänen zur Vereinigung von verstreut lebenden Volksdeutschen in einem Großdeutschland umgesiedelt. Die meisten waren Flüchtlinge, die 1944/45 vor dem Vormarsch der Roten Armee flohen, oder Menschen, die von Polen und der Tschechoslowakei als Reaktion auf die von Deutschland während des Krieges verfolgte Politik vertrieben wurden.369 Abgesehen von Japan wirkte sich der Krieg am schlimmsten auf die deutsche Bevölkerung und die Bevölkerung der Länder im Osten Europas aus. (Für England und Frankreich war der Krieg weit weniger hart als der von 1914 bis 1918.) Das lag vor allem an dem langen Kampf zwischen Deutschland und Rußland, und zwar teilweise an dem enormen Umfang der eingesetzten Streitkräfte und teilweise an der Härte der Kriegführung. Diese Härte rührte daher, daß die deutschen Truppen durchweg in Ländern mit feindlich gesinnter

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Zivilbevölkerung operierten, doch noch weit mehr erwuchs sie aus den Ideologien, die den Krieg entfesselt hatten, Ideologien, die besagten, daß Nicht- Deutsche und vornehmlich Slawen nur insoweit Existenzberechtigung hätten, als ihre Existenz den Zielen des deutschen Volkes diente. So wurden etwa 2,5 Millionen russischer Kriegsgefangener umgebracht oder dem Hungertode überlassen. Dies war die Folge von Gleichgültigkeit, aber auch einer bewußten Politik. Im Gegensatz dazu steht die im ganzen korrekte Behandlung westlicher Kriegsgefangener durch die deutschen Behörden – einige Ausnahmen gingen auf das Konto der Waffen-SS. Sogar jüdische Kriegsgefangene aus westlichen Ländern waren ungefährdet. In Rußland nahm die Armee an der Ermordung gewisser Kategorien von Kriegsgefangenen (politische Kommissare usw.) aufgrund von Befehlen des Oberkommandos der Wehrmacht selbst unmittelbar teil, wobei jedoch manche Verbände des Heeres die Befehle mißachteten.370 Es fällt auf, daß während des Krieges in Europa mehr Zivilpersonen als Soldaten ums Leben kamen. Die Hauptgründe dafür waren folgende: Flächenangriffe der Bombenflugzeuge, Zwangsarbeit, Widerstand und Partisanenkrieg in den von Deutschland besetzten Gebieten und Mord, in erster Linie an Juden. Die Bombenangriffe bilden eine eigene Kategorie, sie waren Kriegshandlungen, mochten sie auch fehlgeleitet und wahllos sein. Die meisten Verluste und das größte Leid im Bombenkrieg verursachten die englischen und amerikanischen Angriffe auf Deutschland. Die übrigen Kategorien sind nicht ganz scharf voneinander zu trennen – es ist oft nicht klar, ob Todesopfer der einen Linie der deutschen Politik zuzuschreiben sind oder einer anderen. Die deutsche Kriegswirtschaft war ständig knapp an Arbeitskräften. Die besetzten Gebiete in Europa trugen zur Lösung dieses Problems bei (hinsichtlich der Facharbeiter wurde es nie ganz bewältigt), indem sie Arbeitskräfte in örtlichen Werkstätten und Fabriken, Arbeitskräfte für deutsche Bauvorhaben in den besetzten Gebieten und solche für den Einsatz in Deutschland selbst stellten. Im September 1944 waren in Deutschland über sieben Millionen Beschäftigte, das heißt etwa ein Fünftel aller Arbeitskräfte, Ausländer.371 Im Osten, zunächst in Polen und dann in Rußland, rekrutierten sich die Fremdarbeiter sowohl aus Freiwilligen als auch aus solchen, die man zur Arbeit gezwungen hatte. Im Westen war der Arbeitseinsatz für Deutschland bis 1942 freiwillig, dann begann die Zwangsarbeit. Wie ein deutscher Beobachter feststellte, wurden besonders im Osten Methoden angewandt, die für die schlimmsten Zeiten des Sklavenhandels kennzeichnend waren. Beispielsweise wurde das Eigentum derjenigen, die sich weigerten zu arbeiten, beschlagnahmt, ihre Häuser wurden verbrannt und ihre Verwandten als Geiseln eingesperrt. Die Zwangsarbeiter wurden häufig wie Vieh nach Deutschland geschafft und blieben oft tagelang ohne Nahrung. Die Verhältnisse beim Arbeitseinsatz in Deutschland waren sehr unterschiedlich. Arbeiter aus westlichen Ländern wurden verhältnismäßig anständig behandelt, gewisse wertvolle Facharbeiter sogar großzügig. Die Arbeitskräfte aus dem Osten, besonders die Russen, lebten unter Bedingungen, die im besten Falle Not

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und Entbehrung, im schlimmsten Falle den Hungertod bedeuteten. Was die unter Schirmherrschaft der SS in Konzentrationslagern Beschäftigten anging, so war ihr Arbeitseinsatz »im wahren Sinn des Wortes erschöpfend«. Viele, nicht nur Juden, überantwortete man der »Vernichtung durch Arbeit«.372 In vielen der eroberten Länder stieß die deutsche Besatzungsmacht auf den Widerstand der Zivilbevölkerung. In Polen, Rußland und Jugoslawien mußten gegen solche Partisanen regelrechte Feldzüge geführt werden. In Frankreich und Italien (nach der Kapitulation Italiens vor den Alliierten und der Übernahme der Macht durch die Deutschen) war bewaffneter Widerstand schwieriger. Dennoch gab es Sabotage und organisierte Widerstandsgruppen. Die Unterdrückungsmethoden der Deutschen waren brutal und blutrünstig. Dies war eine vorsätzliche und überlegte Politik. Am 16. Juli 1941 erklärte Hitler: »Die Russen haben jetzt einen Befehl zum Partisanenkrieg hinter unserer Front gegeben. Dieser Partisanenkrieg hat auch wieder seinen Vorteil: er gibt uns die Möglichkeit, auszurotten, was sich gegen uns stellt.« Im September erging ein Befehl Keitels, des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, worin es hieß, es sei »zu bedenken, daß ein Menschenleben in den betroffenen Ländern vielfach nichts gilt und eine abschreckende Wirkung nur durch ungewöhnliche Härte erreicht werden kann. Als Sühne für ein deutsches Soldatenleben muß in diesen Fällen im allgemeinen die Todesstrafe für 50 bis 100 Kommunisten als angemessen gelten«373. Kollektive Repressalien – die Erschießung von vorher festgenommenen Geiseln oder wahllose Schlächtereien – wurden für die deutsche Reaktion auf Akte des Widerstandes bezeichnend. Am 10. Juni 1944 wurde, um ein Beispiel zu nennen, ein Offizier der 2. SS-Panzerdivision in der Nähe von Oradour- sur-Glane von einem Franzosen erschossen. Ein Bataillon der Division äscherte das Dorf ein und tötete die gesamte Bevölkerung, 642 Männer, Frauen und Kinder. Am 7. März 1945 wurden 400 Holländer nach einem Anschlag auf den örtlichen deutschen Polizeichef hingerichtet. Im Westen waren dies extreme Beispiele, im Osten waren solche Aktionen gang und gäbe.374 Die Folge war, daß sich die Deutschen die Sympathie des größten Teils der einheimischen Bevölkerung in Rußland verscherzten, die oft für die eindringenden Truppen aufgeschlossen war und sich manchmal durch die einsichtigeren Armeebefehlshaber und durch einige zivile Verwaltungsbeamte gewinnen ließ. Von denjenigen Russen, die den Deutschen halfen, wurden viele von den russischen Behörden, die es mit den Deutschen an Grausamkeit aufnehmen konnten, später erbarmungslos bestraft. Dieser Band hat sich zu einem großen Teil damit beschäftigt, wie Deutschland nach 1918 wiedererstarkte und wie es die Herrschaft über Europa gewann. Den Gipfelpunkt der Machtausübung, die Deutschland aufgrund seiner Stärke ermöglicht wurde, stellte das schwerste Verbrechen dar, das in der Geschichte überliefert ist, ein Verbrechen in jedem Sinne des Wortes. Die meisten Greuel des Zweiten Weltkrieges waren eine Folge des Kampfes um den militärischen Sieg. Nicht so die Ermordung der europäischen Juden. Sie war Selbstzweck.

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Es ist nicht sicher, wie viele umgebracht wurden. Man kann eine Mindestzahl von vier Millionen und eine Höchstzahl von etwa sechs Millionen annehmen.375 Einige starben den Hungertod, andere beim Arbeitseinsatz, wieder andere bei der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Getto. Eine viel größere Zahl wurde von beweglichen Einsatzgruppen in Polen und Rußland erschossen oder in Vergasungswagen umgebracht. Die meisten wurden in den Todeslagern in Polen vernichtet, gewöhnlich durch Gas. Die polnischen und russischen Juden konnte man mithin an Ort und Stelle töten; die Juden aus dem übrigen von Deutschland beherrschten Europa wurden deportiert. Diese Maßnahmen wurden von der deutschen SS und dem Sicherheitsdienst (SD) überwacht und organisiert. Die Mörder waren jedoch keineswegs ausschließlich Deutsche. Rumänische Truppen brachten bei eigenen Mordaktionen aufs Geratewohl Menschen um, was die besser organisierten deutschen Fachleute manchmal schockierte. Litauer und Letten wirkten bei den von Deutschen veranlaßten Morden unmittelbar mit. Esten und Russen halfen mit, die Juden zusammenzutreiben, während Ukrainer sich den Deutschen bereitwillig als Helfer zur Verfügung stellten.376 in denjenigen von Deutschland besetzten Ländern, deren Regierungen aus Kollaborateuren bestanden, wurde bei der Deportierung der Juden nach den Tötungslagern die Mitwirkung der einheimischen Behörden benötigt. Dadurch wurde die Vernichtungsmaschinerie manchmal gehemmt. Antisemitismus bei der französischen Rechten war eine seit langem bekannte Tatsache, und im Jahre 1940 trat die Vichy-Regierung mit eigenen antisemitischen Maßnahmen hervor. Die französischen Behörden belieferten den deutschen Mordapparat mit eingewanderten und ausländischen Juden in Frankreich, die von der französischen Polizei zusammengetrieben wurden. Sie bemühten sich jedoch, die in Frankreich geborenen und naturalisierten Juden – weitgehend durch Verzögerungen und Ausflüchte – zu schützen, und hatten dabei beträchtlichen Erfolg. Viele in Frankreich lebende Juden wurden von der italienischen Armee in der erweiterten Besatzungszone geschützt, die sie im November 1942 übernahm. Wenn auch die Italiener durch einen leichtsinnigen Diktator in den Krieg hineingezogen worden waren, so bewahrten sie doch ihre Menschlichkeit, und obwohl Mussolini selbst Lippenbekenntnisse zur deutschen Politik ablegte, bemühte er sich anscheinend nicht ernstlich, sie durchzusetzen. Solange die italienische Armee die Herrschaft in dem von ihr besetzten Gebiet Frankreichs ausübte, war jeder Jude, der dorthin gelangen konnte, in Sicherheit. Die italienische Armee hinderte sogar die französische Polizei mit Gewalt daran, ausländische Juden zusammenzutreiben.377 Nach der italienischen Kapitulation vor den Alliierten übernahmen die Deutschen leider in den zuvor von Italien besetzten Gebieten Frankreichs und in einem großen Teil Italiens selbst die Herrschaft. Hier hatte Mussolini nach deutschem Vorbild die antisemitische Gesetzgebung eingeführt, doch war es nicht zu Deportationen gekommen. Nunmehr wurden viele Juden in Südostfrankreich und in Italien gefangen.

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Das Verhalten der nationalsozialistischen Machthaber in Deutschland, die die Juden vernichten wollten, ist erklärlich. Sie nahmen ihre Lehren ernst und glaubten, in Europa ließe sich ohne Juden besser leben. Was überrascht – andererseits aber ebenfalls erklärlich ist –, ist die Tatsache, daß solche Männer in einem hochzivilisierten, mächtigen, modernen Staat an die Macht gelangen konnten. Schwer verständlich, indessen für jeden, der das Verhalten des Menschen in der Gesellschaft begreifen will, entscheidend bleibt die Frage, wie sie das Morden organisieren und in diesem Ausmaß durchführen konnten, ohne daß ihnen Einhalt geboten worden wäre. Das Hauptproblem ist, weshalb das deutsche Volk, dessen Regierung für die Morde verantwortlich war, diese Morde zuließ. Eine wichtige Frage lautet: Wie viele Deutsche wußten, was geschah? Es ist unmöglich, das festzustellen. Es gab damals schwerwiegende Gründe, sich nach den Maßnahmen der SS und der Polizei nicht zu erkundigen: Furcht vor Strafe und Furcht vor der Übernahme von Verantwortung. Nach 1945 führte das Bemühen, sich reinzuwaschen, notwendigerweise dazu, daß man sagte, man habe nichts gewußt. Jede Antwort auf die eben gestellte Frage kann also nur ein zögernder Versuch sein. Die deutsche Regierung gab nicht bekannt, was sie tat. Im Gegenteil, es wurden sorgfältige Maßnahmen zur Täuschung getroffen, wobei viele der unmittelbar Verantwortlichen auch zur Selbsttäuschung griffen: sie schrieben und sprachen von jüdischer ›Emigration‹, von ›Neuansiedlung im Osten‹, von der ›Endlösung der Judenfrage‹ und so weiter. Mit Sicherheit wußte jedermann in Deutschland, daß die Juden deportiert wurden, was an sich eine unmenschliche Maßnahme war. Wahrscheinlich glaubten viele Durchschnittsbürger in Deutschland an eine tatsächliche Neuansiedlung. Dieser Glaube wurde möglicherweise durch die Tatsache bestärkt, daß die ursprüngliche Absicht der Nationalsozialisten bis 1941 wirklich dahin ging, die europäischen Juden durch gewaltsame Emigration nach Übersee aus dem Wege zu räumen. Der bevorzugte Plan war, sie nach Madagaskar zu schicken. Infolgedessen konnte das Gerede von der ›Neuansiedlung‹ viele beruhigen. Die SS machte sich die Mühe, detaillierte Berichte über das Leben der ›wiederangesiedelten‹ Juden anzufertigen. Auch veranlaßte man deportierte Juden, an Freunde und Bekannte Postkarten zu schreiben, die dann aufgehoben und eine gewisse Zeit nach der Ermordung der Opfer abgesandt wurden. Richtlinien für Postsendungen an ›wiederangesiedelte‹ Juden wurden veröffentlicht.378 Die Gerüchte über die tatsächlichen Vorgänge konnte man für feindliche Propaganda halten. Die Lage derjenigen, die unmittelbar im Dienst der Regierung standen, war unterschiedlich. Der Verwaltungsapparat, der in die Morde verwickelt war, war kompliziert und umfangreich; es war schwierig, nicht den Verdacht zu haben, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei. Furcht oder Gleichgültigkeit führten zu abgestumpftem Komplizentum oder dem bedrückenden Gefühl, nichts tun zu können. Dafür zwei Beispiele. Zwei Angestellte der IG Farben, die die dem Todeslager Auschwitz angeschlossene Fabrik für synthetischen Kautschuk

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besuchten, führten ein aufschlußreiches Gespräch. Der eine machte über einen Lagerinsassen die Bemerkung: »Diese Judensau könnte auch rascher arbeiten«, und der andere antwortete: »Wenn die nicht arbeiten können, sollen sie in der Gaskammer verrecken.« Nach dem Kriege erklärte Werner von Tippelskirch, ein Angehöriger des Auswärtigen Amtes, die Tatsache, daß er niemals gegen die Ermordung von Juden in Rußland protestiert hatte, mit den Worten: »Ich fühlte mich in meiner Stellung machtlos [...]« Über seine Vorgesetzten Erdmannsdorf, Wörmann und Weizsäcker sagte er: »Ich kann mir nur vorstellen, daß sie auch zu der Überzeugung gekommen sind, daß sie in ihren Stellungen nichts tun konnten.« Sie hätten lediglich auf eine »Änderung des Regimes in Deutschland« gewartet. Auf die Frage: »Sie glauben, die durften das Risiko, daß das Regime geändert würde, auf sich nehmen, und in der Zeit Tausende von Leuten in den Tod schicken?« antwortete Tippelskirch: »Schwere Frage.«379 In der Armee war die Kenntnis von den Morden der Einsatzgruppen sicher weit verbreitet, besonders unter den Offizieren in der Etappe und unter den Stäben der Verbände an der Front. Auch die Truppe selbst erfuhr etwas von den Morden. (Obwohl sich die Waffen-SS großenteils lediglich aus kämpfenden Soldaten zusammensetzte, gab es in ihr einige, die unmittelbar in die Morde verwickelt waren.) Am 10. Oktober 1941 erließ Generalfeldmarschall von Reichenau, der Befehlshaber der 6. Armee, einen Befehl, worin es hieß, der Soldat müsse »für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben«. Die Heeresgruppe Süd (Rundstedt) sandte Abschriften des Befehls an die Kommandeure der übrigen Armeen, nämlich der 11. Armee (Manstein), der 17. Armee (Stülpnagel) und der 1. Panzerarmee (Kleist). Reichenau erklärte, es handele sich um das Vorgehen gegen Partisanen, und Mansteins Befehl, der auf den Worten Reichenaus basierte, fügte hinzu, der Jude sei der »Mittelsmann« zwischen der Roten Armee und den Partisanen.380 So bildete die Tätigkeit der Einsatzgruppen für die Armee und ohne Zweifel auch für diejenigen in der Heimat, die davon gehört hatten, einen Teil des Kampfes gegen die gefürchteten und gehaßten Partisanen. Die Armee konnte also die SS und die Polizei gewähren lassen und über die von diesen verübten ›Ausschreitungen‹ hinwegsehen, sich davon mit Anstand abwenden und sich weiterhin bemühen, den Krieg zu gewinnen. Wenigen Deutschen war in vollem Ausmaß bekannt, was geschah. Alle wußten von ›Deportationen‹, viele von Massakern im Osten. Bei dem einen konnte man sich darauf hinausreden, daß es sich um eine Vorkehrung zur Wiederansiedlung, bei dem andern, daß es sich um einen Teil des Krieges, um eine Maßnahme des Kampfes gegen die Partisanen handle. Jedermann war sich darüber im klaren, daß die SS brutal und rücksichtslos war, und sie wurde weder bewundert noch geliebt. Als 1943 die Einziehung von Männern zur Waffen-SS begann, klagten viele Deutsche darüber; denn obwohl dieser Zweig der SS nicht unbedingt für andere Zwecke als den normalen Kampf an der Front eingesetzt wurde, war der Ruf der SS so, daß anständige Eltern ihre Söhne auch

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aus der Waffen-SS heraushalten wollten.381 Allerdings brachten manche es fertig, zu glauben, die Untaten der SS würden inoffiziell und nicht von Staats wegen verübt, sie seien keine notwendige Begleiterscheinung des Regimes: der Führer würde ihnen ein Ende setzen, wenn er durch den Krieg nicht so beschäftigt wäre. Ein überraschendes Beispiel dafür ist die Geschichte, wie sich die Frau Baldur von Schirachs, eines prominenten national-sozialistischen Führers, bei Hitler selbst darüber beschwerte, wie empörend die Zusammentreibung von Juden in Amsterdam gewesen sei. Hitler nahm ihre Bemerkungen begreiflicherweise mit nervöser Gereiztheit auf.382 Gegen die Behandlung der Juden durch die Nationalsozialisten gab es kaum offenen Widerstand. Daß es eine Opposition gegen das Regime gab, ist jedoch sicher. Von 1933 bis 1945 wurden schätzungsweise 32000 Deutsche aus politischen Gründen hingerichtet.383 Zweifellos mußten viele von diesen für ihre Gesinnung, nicht für aktiven Widerstand, büßen. Die Zahl ist dennoch groß. Es gab kommunistische, sozialistische, christliche und konservative oppositionelle Gruppen. Doch beschränkte sich ihr Tun weitgehend auf Gespräche und auf die heimliche Verbreitung verbotener Schriften. Mit einer Ausnahme gab es kein straff organisiertes Zentrum des Widerstandes. Diese Ausnahme war die Armee. Mehr und mehr Offiziere in der Armee waren über das nationalsozialistische Regime unglücklich. Nach 1942 begriffen die besser unterrichteten höheren Offiziere in wachsender Zahl, daß Hitler durch sein starres Festhalten an der Fortsetzung eines schon verlorenen Krieges Deutschland ins Verderben führte. Gleichzeitig verachteten viele Offiziere die Fanatiker in der Partei. So wurden Kritik und Verachtung für Hitler von Armeeoffizieren im privaten Kreise freimütig geäußert. Bei den meisten überwog jedoch eine seltsam schizophrene Haltung, und die Armee setzte ihre Fähigkeiten und ihre Entschlossenheit im Kampf für Deutschland ein, ungeachtet der Tatsache, daß dieser Einsatz eine Steigerung und Verlängerung der Macht des Regimes bedeutete, das sie im besten Fall für fehlgeleitet, im schlimmsten Fall für böse hielten. Einige aber zogen die Konsequenz, daß ein Staatsstreich unternommen werden müsse, um Hitler von der Macht zu entfernen. Im Jahre 1938 hatte eine Gruppe höherer Offiziere einen solchen Schritt ins Auge gefaßt, um zu verhindern, daß Hitler einen Krieg entfesselte, der nach ihrer Überzeugung ins Verderben führen würde. Derartige Gedanken wurden durch die triumphalen Siege Deutschlands in den Jahren 1940 bis 1942 zurückgedrängt. Danach erhielt das Motiv, Deutschland durch die Beseitigung Hitlers zu retten und vielleicht an allen Fronten, vielleicht nur mit den Westmächten, vielleicht nur mit Rußland einen ehrenhaften Frieden zu schließen, neuen Auftrieb. Seit 1942 entwickelte eine Gruppe von Offizieren, von denen die tatkräftigsten Olbricht, von Stauffenberg und von Tresckow waren, Pläne für eine Machtergreifung nach der Beseitigung Hitlers. Die zwiespältige Haltung der meisten führenden Generäle zeigte sich, als diese Männer an sie herantraten, um sie zur Teilnahme an der Verschwörung zu bewegen. Niemand

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von ihnen verriet die Verschwörer, doch nur wenige waren, wie sich herausstellte, bereit, den Umsturzversuch aktiv zu unterstützen. Nach vielen Fehlschlägen ließ Stauffenberg am 20. Juli 1944 in Hitlers Hauptquartier eine Bombe explodieren, und die Verschwörer versuchten, die Macht an sich zu reißen. Die Mehrzahl der Generäle wartete ab, was geschehen würde. Als sich zeigte, daß Hitler nicht tot war, wurde die Verschwörung ziemlich leicht niedergeschlagen. Zweifellos bildete die Hoffnung, Deutschland vor dem Untergang zu bewahren, das Hauptmotiv der Verschwörer, doch wollten mit Sicherheit manche von ihnen auch der mörderischen Brutalität des Regimes ein Ende setzen. Als Hitler nach dem 20. Juli wütend Rache nahm, ging die Armee ihren Weg zu Ende. Sie kämpfte tapfer und ließ der Bestialität von Himmlers Leuten noch einige Monate freien Lauf. Es wäre verfehlt, alle Deutschen für die Verderbtheit der Nationalsozialisten verantwortlich zu machen, und selbst wenn das möglich wäre, wäre es falsch, den Deutschen eine besondere Veranlagung zum Bösen zuzuschreiben. Die historische Bedeutung der nationalsozialistischen Herrschaft ist eine ganz andere: Sie hat gezeigt, auf welche Stufe zivilisierte Menschen, die in einer hochorganisierten Gesellschaft zusammengeschlossen sind, sinken können. Das Selbstverständnis der Menschheit wird nie wieder das sein, das es einmal gewesen ist. Anmerkungen DBFP = Documents on British Foreign Policy, 1919–1939; hrsg. v. E.L. Woodward und R. Butler. London 1947 ff. DDF = Documents Diplomatiques Français; hrsg. v. Ministère des Affaires Etrangères. Paris 1963 ff. DGFP = Documents on German Foreign Policy; hrsg. v. R.J. Sontag u.a. London und Washington 1949 ff. 1 P. Mantoux, Les Délibérations du Conseil des Quatre. Paris 1955, Bd. II, S. 121. 2 A.a.O., Bd. II, S. 267, 338, 355. 3 A.a.O., Bd. I, S. 70, 73. 4 British State Papers, Accounts and Papers (14) S.P. 1924, XXVI. Cmd. 2169. 5 D. Lloyd George, The Truth about the Peace Treaties. London 1938, Bd. I, S. 404–416.

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6 P. Mantoux, a.a.O., Bd. II, S. 267 f., 392 ff., 408–412. 7 A. Tardieu, La Paix. Paris 1921, S. 188, 277. 8 D. Lloyd George, a.a.O., Bd. I, S. 414. 9 P. Mantoux, a.a.O., Bd. I, S. 63–75, 89, 181 f., 209 f. 10 A.a.O., S. 47. 11 D. Lloyd George, a.a.O., Bd. II, S. 988. 12 P. Mantoux, a.a.O., Bd. II, S. 381 f. 13 D. Perman, The Shaping of the Czechoslovak State. Leiden 1962, zitiert S. 150 H. Nicolson, Peacemaking 1919 (dt. Ausg.: Friedensmacher 1919. Berlin 1933, dies S. 36). 14 D. Lloyd George, a.a.O., Bd. I, S. 418. 15 P.S. Wandycz, France and her Eastern Allies. Minneapolis 1962, S. 36. 16 P. Mantoux, a.a.O., Bd. II, S. 275–283. 17 H.W.V. Temperley (Hrsg.), History of the Peace Conference of Paris. London 1920–24, Bd. II, S. 285 f. 18 D. Perman, a.a.O., S. 172; P. Mantoux, a.a.O., Bd. I, S. 149. 19 D. Perman, a.a.O., S. 178 ff. 20 P. Mantoux, a.a.O., Bd. I, S. 461 f.; D. Lloyd George, a.a.O., Bd. II, S. 957. 21 D. Lloyd George, a.a.O., Bd. I, S. 589. 22 Papers Relating to the Foreign Relations of the United States, 1919, The Paris Peace Conference. Washington 1942–47. Bd. III, S. 718. 23 H.W.V. Temperley, a.a.O., Bd. II, S. 295–301. 24 A.a.O., Bd. III, S. 74 ff.

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25 A.a.O., Bd. III, S. 69–73. 26 V.S. Mamatey, The United States and East Central Europe, 1914–1918. Minneapolis 1962, S. 235 f.; H.W.V. Temperley, a.a.O., Bd. I, S. 453. 27 H.W.V. Temperley, a.a.O., Bd. I, S. 452 f. 28 A.a.O., Bd. V, S. 384–391. 29 P. Mantoux, a.a.O., Bd. I, S. 482. 30 R. Albrecht-Carrié, Italy at the Paris Peace Conference. New York 1938. 31 H.W.V. Temperley, a.a.O., Bd. IV, S. 330; Bd. V, S. 428–432. 32 DBFP, 1. Serie, Bd. IV, S. 7, Anm. 4. 33 A.a.O., 1. Serie, Bd. IV, S. 83–86. 34 P.S. Wandycz, a.a.O., S. 101; DBFP, 1. Serie, Bd. VI, S. 159 f. 35 DBFP, 1. Serie, Bd. VIII, S. 502–506, 524–530. 36 H.W.V. Temperley, a.a.O., Bd. IV, S. 271 ff., 228, 211. 37 DBFP, 1. Serie, Bd. II, S. 900–910; A. Apponyi u.a., Justice for Hungary. London 1928. 38 H.W.V. Temperley, a.a.O., Bd. V, S. 432–476. 39 H.W.V. Temperley, a.a.O., Bd. IV, S. 453–459. 40 P. Mantoux, a.a.O., Bd. I, S. 20–23, 52–55. 41 DBFP, 1. Serie, Bd. I, S. 689 f., 696 ff.; Art. 12 des Waffenstillstandsvertrages vom 11. Nov. 1918; DBFP, 1. Serie, Bd. III, S. 98–105. 42 P. Mantoux, a.a.O., Bd. II, S. 401; DBFP, 1. Serie, Bd. III, S. 129, 134 f, 206, 221, 249 bis 254. 43 E.H. Carr, The Bolshevik Revolution. Bd. III, London 1953. S. 277. 44 A.a.O., S. 154; J. Korbel, Poland Between East and West. Princeton 1963, S. 23–40.

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45 P.S. Wandycz, a.a.O., S. 140; DBFP, 1. Serie, Bd. VII, S. 216. 46 P.S. Wandycz, a.a.O., S. 177 f. 47 J. Erickson, The Soviet High Command. London 1962, S. 84–110. 48 DBFP, 1. Serie, Bd. II, Bd. VII, Bd. VIII. 49 A.a.O., Bd. II, S. 867–875, 912; Bd. VII, S. 327; Bd. VIII, S. 216, 323–328, 375–378. 50 P.S. Wandycz, a.a.O., S. 146, 177, 169; DBFP, 1. Serie, Bd. XII, S. 733. 51 P.S. Wandycz, a.a.O., S. 163; DBFP, 1. Serie, Bd. VIII, S. 709, 713 f., 734 f. 52 A.a.O., Bd. XI, S. 425, 455 f., 487 f., 514; Bd. VIII, S. 785 f.; Bd. XI, S. 421, 424, 429–434, 454, 466; P.S. Wandycz, a.a.O., S. 165–174. 53 DBFP, 1. Serie, Bd. XI, S. 422, 438 f., 427 f., 208 f. 54 A.a.O., Bd. XI, S. 405 ff., 409 ff., 428, 442 f., 501 f., 510–513, 532; Bd. VIII, S. 781 f. 55 E.H. Carr, a.a.O., Bd. III, S. 287 ff., 344 ff. 56 J. Korbel, a.a.O., S. 69 ff. 57 DBFP, 1. Serie, Bd. IX, S. 256–260. 58 E.H. Carr, a.a.O., Bd. III, S. 310 f., 315 f.; DBFP, 1. Serie, Bd. III, S. 511. 59 E.H. Carr, a.a.O., Bd. III, S. 315. 60 A.a.O., S. 368 f. 61 G. Freund, Unholy Alliance. London 1957, S. 92 f., 97 f. 62 E.H. Carr, a.a.O., Bd. III, S. 368 f. 63 A.a.O., S. 359. 64 G. Freund, a.a.O., S. 124 f., 201–212.

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65 P.S. Wandycz, a.a.O., S. 217 f., 300. 66 DBFP, 1. Serie, Bd. IX, S. 50 f., 170 f., 221 f., 317 f., 361 f., 379. 67 A.a.O., Bd. IX, S. 1–197, bes. 48 ff., 54 f., 58–65, 141–151. 68 P.S. Wandycz, a.a.O., S. 231–237; Lord D’Abernon, An Ambassador of Peace. London 1929–1930, Bd. I, S. 185; H.W.V. Temperley, a.a.O., Bd. VI, S. 261–265, 617–630. 69 Ministère des Affaires Etrangères, Documents relatifs aux négociations concernant les garanties de sécurité contre une aggression de l’Allemagne. Paris 1924, Nr. 18, 22; British State Papers, Papers respecting Negotiations for an Anglo-French Pact. Cmd. 2169, London 1924, Nr. 33, 40, 47. 70 C. Bresciani-Turroni, The Economics of Inflation. London 1937, S. 45, 90 ff., sowie Kap. 1 u. 2. 71 E. Weill-Raynal, Les Réparations Allemandes et la France. Paris 1938–1947, Bd. II, S. 78–84, 148–165, 191 f., 236 f., 260. 72 A.a.O., S. 200–205. 73 Eine andere Auffassung vertritt L. Kochan in dem Buch The struggle for Germany. Edinburgh 1963. 74 Papers respecting negotiations for an Anglo- French Pact, Nr. 34; Parliamentary Debates (Hansard), House of Commons, Serie V, Bd. 152, Sp. 1894 f.; R.N.W. Blake, The Unknown Prime Minister. London 1955, S. 485; J.M. Keynes, Economic Consequences of the Peace. London 1919, S. 14; Hansard, Serie V, Bd. 167, Sp. 1816; Bd. 168, Sp. 481; Bd. 160, Sp. 509; Bd. 168, Sp. 505. 75 E. Weill-Raynal, a.a.O., Bd. II, S. 328, 195–198. 76 Ministère des Affaires Etrangères, Documents Diplomatiques. Demande de moratorium. Conférence de Londres. Conférence de Paris. Paris 1923, S. 54, 85; E. Weill-Raynal, a.a.O., S. 327–360. 77 E. Di Nolfo, Mussolini e la politica estera italiana 1919–1933. Padua 1960, S. 74–77. 78 E. Weill-Raynal, a.a.O., Bd. II, S. 385–399, Bd. III, 220 f.

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79 A.a.O., Bd. II, S. 418–448. 80 A.a.O., Bd. II, S. 509, 517 f., 522, 494 f., 493, 527–563. 81 A.a.O., Bd. II, S. 600. 82 A.a.O., Bd. II, S. 659 f. 83 A.a.O., Bd. III, S. 71–86, 119 f. 84 A. Thimme, Gustav Stresemann. Eine politische Biographie zur Geschichte der Weimarer Republik. Hannover und Frankfurt am Main 1957, S. 65–69; Gustav Stresemann, Vermächtnis (hrsg. v. H. Bernhard). Berlin 1932–1933, Bd. II, S. 553. 85 H.W. Gatzke, Stresemann and the Rearmament of Germany. Baltimore 1954, S. 28 f.; A. Thimme, a.a.O., S. 53 f. 86 A. Thimme, a.a.O., S. 85; G. Stresemann, a.a.O., Bd. II, S. 553 ff.; Z.J. Gasiriowski, Stresemann and Poland before Locarno, in: Journal of Central European Affairs, 18. Boulder 1958–1959, S. 42. 87 G. Stresemann, a.a.O., Bd. II, S. 281, 554; A. Thimme, a.a.O., S. 98. 88 Z.J. Gasiriowski, a.a.O., S. 299; J. Korbel, a.a.O., S. 198 (Anm. des Übers.: der Erlaß Stresemanns an den deutschen Botschafter in London ist abgedruckt bei CH. Höltje, Die Weimarer Republik und das Ostlocarno-Problem 1919–1934. Würzburg 1958, S. 254). 89 H.W. Gatzke, a.a.O., S. 70–75. 90 H.L. Bretton, Stresemann and the Revision of Versailles. Stanford 1953, S. 96, 107. 91 E. Weill-Raynal, a.a.O., Bd. III, S. 391 f., 399, 403, 868–879. 92 J. Korbel, a.a.O., S. 241 f. 93 Z.J. Gasiriowski, The Russian Overture to Germany of December 1924, in: Journal of Modern History, 30. Chicago 1958. E.H. CARR, A History of Soviet Russia. Socialism in one Country. London 1964, Bd. III, S. 275–279, 422–425, 432 f., 437 f., 1010–1017. 94 E. Di Nolfo, a.a.O., Kap. 1.

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95 A.a.O., S. 79–98. 96 A. Cassels, Mussolini and German Nationalism, in: Journal of Modern History, 35. Chicago 1963, S. 143 f., 147–151. 97 E. Di Nolfo, a.a.O., S. 134–138. 98 I. Svennilson, Growth and Stagnation in the European Economy. UNECE. Genf 1954, S. 169 f. 99 A. Maizels, Industrial Growth and World Trade. Cambridge 1963, S. 442, 424 f. 100 A.a.O., S. 220. (Die Zahl für 1913 bezieht die Niederlande nicht ein.) 101 I. Svennilson, a.a.O., S. 190. (Pakistan gehört zu Indien. Die Zahl für Japan bezieht sich auf das Jahr 1914.) 102 A.a.O., S. 152. A. Maizels, a.a.O., S. 490. 103 I. Svennilson, a.a.O., S. 153 ff. 104 A.a.O., S. 199. 105 A. Maizels, a.a.O., S. 477, 481. 106 I. Svennilson, a.a.O., S. 87. 107 T. Wilson, Fluctuations in Income and Employment. 2. Aufl. London 1948 (1. Aufl. 1942), S. 117, 159; W.A. Lewis, Economic Survey 1919–1939. London 1949, S. 61. 108 H.W. Arndt, Economic Lessons of the Nineteen- Thirties. London 1944, S. 14–19, 36; W.A. Lewis, a.a.O., S. 51–57; T. Wilson, a.a.O., S. 143–172. 109 W.A. Lewis, a.a.O., S. 56 f. 110 E.W. Bennett, Germany and the Diplomacy of the Financial Crisis, 1931. Cambridge (Mass.) 1962, S. 100 f. 111 L. Robbins, The Great Depression. London 1934, S. 91–97. 112 W.A. Lewis, a.a.O., S. 58–68.

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113 H.C. Hillman, Comparative Strength of the Great Powers, in: A. Toynbee und F.T. Ashton- Gwatkin (Hrsg.), The World in March 1939. London 1952, S. 439. (Die Zahlen gelten nur annäherungsweise, da sie für die Sowjetunion auf Schätzungen beruhen.) 114 Lord Beveridge, Full Employment in a Free Society. 2. Aufl. London 1960, S. 47. Die Zahlen beziehen sich auf die von der Arbeitslosenversicherung erfaßten Personen und schließen bestimmte Gruppen, namentlich Landarbeiter, Hausangestellte sowie bestimmte Arbeiter im öffentlichen Dienst und Eisenbahnarbeiter aus. Sie lassen Nordirland, wo die Zahl der Arbeitslosen höher lag, außer acht. 115 S. Pollard, The Development of the British Economy 1914–1950. London 1962, S. 4. 116 A.a.O., S. 110–114. 117 I. Svennilson, a.a.O., S. 121, 123, 128, 272 f.; Beveridge, a.a.O., S. 318. 118 I. Svennilson, a.a.O., S. 153; Beveridge, a.a.O., S. 318. 119 A.a.O., S. 318. 120 A. Maizels, a.a.O., S. 275, 280 f., 432 f., 490–493. 121 S. Pollard, a.a.O., S. 210 f.; E.V. Morgan, Studies in British Financial Policy, 1924–1925. London 1952, S. 98, 152, 211, 377. 122 I. Svennilson, a.a.O., S. 304 f.; Key Statistics of the British Economy 1900–1962. London und Cambridge 1964, S. 13. 123 A. Maizels, a.a.O., S. 432. 124 Beveridge, a.a.O., 1. Aufl. London 1944, S. 63 f., 73. 125 W. Hannington, Unemployed Struggles, 1919–1936. London 1936; H.M. Pelling, Modern Britain 1885–1955. Edinburgh 1960, S. 130. 126 S. Pollard, a.a.O., S. 267. 127 A.a.O., S. 290. 128 A.a.O., S. 275; J. Symons, The General Strike. London 1957, S. 24–27.

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129 W.H. Crook, The General Strike. Chapel Hill (North Carolina) 1931, S. 384. 130 Lord Citrine, Men and Work. London 1964, S. 162–172. 131 A.a.O., S. 189. 132 J. Symons, a.a.O., S. 138–143. 133 H.A. Clegg, A. Fox, A.F. Thompson, History of British Trade Unions since 1889. Bd. I. Oxford 1964, S. 43–46, 314 f., 362 f., 393 ff.; H.M. Pelling, History of British Trade Unionism. London 1963, S. 127. 134 H.A. Clegg, A. Fox, A.F. Thompson, a.a.O., S. 471–475. 135 H.M. Pelling, The British Communist Party. London 1958, S. 27, 62 f. 136 A.a.O., S. 192. 137 G.M. Young, Stanley Baldwin. London 1952. 138 R. Bassett, Nineteen Thirty-One. London 1958. 139 A.a.O., S. 333. 140 G.M. Young, a.a.O., S. 202. 141 C.L. Mowat, Britain between the Wars 1918–1940. London 1955, S. 506–512. 142 D.E. Butler und J. Freeman, British Political Facts 1900–1960. London 1963, S. 123. 143 C.L. Mowat, a.a.O., S. 548 ff., 581 f. 144 C. Cross, The Fascists in Britain. London 1961. 145 E. Di Nolfo, a.a.O., Kap. 1. 146 A. Rossi (Tasca), The Rise of Italian Fascism. London 1938, S. 33 f. 147 R. De Felice, Mussolini il rivoluzionario. Turin 1965, S. 625. 148 K.R. Popper, The Open Society and its Enemies. 4. Aufl., London 1962, Kap. 12.

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149 Istituto Centrale Di Statistica, Sommario di Statistiche Storiche Italiane 1861–1955. Rom 1958, S. 105. 150 S.B. Clough, Economic History of Modern Italy. New York und London 1964, S. 382 f.; R. De Felice, a.a.O., S. 435; P. Alatri, Le Origini del Fascismo. 3. Aufl. 1962, S. 46. A. Rossi (Tasca), a.a.O., S. 75–81. 151 L. Einaudi, La Condotta economica e gli effetti sociali della Guerra Italiana. Bari und Newhaven 1933, S. 291–295; A. Rossi (Tasca), a.a.O., S. 91–96; P. Alatri, a.a.O., S. 49 ff. 152 Istituto Centrale Di Statistica, a.a.O., S. 172, 204 f. 153 L. Salvatorelli und G. Mira, Storia d’ltalia nel periodo fascista. Turin 1964, S. 110 f. 154 A.a.O., S. 148 f., 160–163. 155 A.a.O., S. 151–156. 156 P. Alatri, a.a.O., S. 72–80; R. De Felice, a.a.O., S. 607 f. 157 L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 195 f.; P. Alatri, a.a.O., S. 67. 158 L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 179. 159 R. De Felice, a.a.O., S. 603 f.; L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 201, 207, 230. 160 C. Sforza, L’Italia dal 1914 al 1944 quale io la vidi. 2. Aufl. Rom 1945, S. 117 f. 161 R. De Felice, a.a.O., S. 607. 162 L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 221–230; P. Alatri, a.a.O., S. 129 ff. 163 L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 237. 164 P. Alatri, a.a.O., S. 85, 243. 165 A. Rossi (Tasca), a.a.O., S. 318 f.

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166 P. Alatri, a.a.O., S. 88 f.; L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 289–292. 167 C.F. Delzell, Mussolini’s Enemies. Princeton 1961, S. 11. 168 P. Alatri, a.a.O., S. 90 f.; L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 307–310. 169 A.a.O., S. 352; C.F. Delzell, a.a.O., S. 16. 170 A.a.O., S. 38–41. 171 F. Chabod, A History of Italian Fascism. London 1963, S. 63–67 (die italienische Originalausgabe erschien 1961 in Mailand). 172 L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 465, 891 f. 173 S.W. Halperin, Mussolini and Italian Fascism. Princeton 1964, S. 146 ff. 174 W.G. Welk, Fascist Economic Policy. Cambridge (Mass.) 1938, S. 76; A. Rossi (Tasca), a.a.O., S. 75–81. 175 L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 541, 574. 176 I. Svennilson, a.a.O., S. 312 f. 177 W.G. Welk, a.a.O., S. 159–250. 178 I. Svennilson, a.a.O., S. 251. 179 A.a.O., S. 304 f. 180 P. Pétain, Paroles aux français. Lyon 1941, S. 78, 80. 181 P. Tissier, Le Procès de Riom. London 1942, S. 5. 182 A. Sauvy, Histoire économique de la France entre les deux guerres. Bd. I, Paris 1965, S. 501, 534, 403, 339. 183 A.a.O., S. 282, 263, 350–353, 405 f., 355 f.; J. Néré, La Troisième République. Paris 1965, S. 135. 184 C.P. Kindleberger, Economic Growth in France and Britain 1851–1950. Cambridge (Mass.) 1964, S. 74; C. Bettelheim, Bilan de l’Economie française 1919–46. Paris 1947, S. 5; I. Svennilson, a.a.O., S. 70 f.

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185 A. Sauvy, a.a.O., S. 94 f.; D. Ligou, Histoire du socialisme en France 1871–1961. Paris 1962, S. 366. 186 A. Sauvy, a.a.O., S. 118; G. Dupeux, Le Front Populaire et les élections de 1936. Paris 1959, S. 26; P. Reynaud, Mémoires Bd. I: Venu de ma montagne. Paris 1960, S. 350–419. 187 J. Néré, a.a.O., S. 133; A. Sauvy, La nature sociale. Paris 1957, S. 96 f.; I. Svennilson, a.a.O., S. 235. 188 G. Dupeux, a.a.O., S. 30–40. 189 A. Sauvy, Le pouvoir et l’opinion. Paris 1949, S. 100–110. 190 G. Lefranc, Histoire du Front Populaire. Paris 1965, S. 310–321, 380–383; J. Néré, a.a.O., S. 184. 191 G. Lefranc, a.a.O., S. 324 f., 386. 192 J. Néré, a.a.O., S. 107; I. Svennilson, a.a.O., S. 149, 262. 193 P.J. Larmour, The French Radical Party in the 1930s. Stanford 1964, S. 48; F. Goguel, La politique des partis sous la Troisième République. Paris 1946, S. 519; J. Plumyène und R. Lasierra, Les Fascismes français 1923–1963. Paris 1963, S. 28 ff., 50. 194 D. Ligou, a.a.O., S. 367; A. Sauvy, Histoire économique ..., S. 108. 195 F. Goguel, a.a.O., S. 206–214. 196 A. Kriegel, Le congrès de Tours. Paris 1964, S. XXIX f.; J. Fauvet, Histoire du Parti Communiste Français I, 1917–1939. Paris 1964, S. 280 f.; G. Lefranc, Le mouvement socialiste sous la Troisième République. Paris 1963, S. 435 ff.; F. Goguel, a.a.O., S. 260. 197 F. Goguel, a.a.O., S. 260–266, 327 f. 198 J. Plumyène und R. Lasierra, a.a.O., S. 56–63. 199 F. Goguel, a.a.O., S. 482 f.

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200 J. Chastenet, Déclin de la Troisième, 1931–38. Paris 1962, S. 71–89; G. Lefranc, Front Populaire, S. 20; J. Plumyène und R. Lasierra, a.a.O., S. 72 ff., 82; M. Beloff, The Sixth of February, in: J. Joll (Hrsg.), Decline of the Third Republic. London 1959. 201 D. Ligou, a.a.O., S. 399. 202 G. Lefranc, a.a.O., S. 113; G. Dupeux, a.a.O., S. 65–95; J. Joll, The Making of the Popular Front, in: J. Joll (Hrsg.), Decline of the Third Republic. 203 P.J. Larmour, a.a.O., S. 172–176, 186 f. 204 L. Bodin und J. Touchard, Front Populaire 1936. 2. Aufl. Paris 1965, S. 140 f.; G. Lefranc, a.a.O., S. 339. 205 G. Lefranc, a.a.O., S. 465; L. Bodin und J. Touchard, a.a.O., S. 200–221. 206 R. Rémond, La droite en France. Paris 1963, S. 222–226; E. Weber, Action Française. Stanford 1962, S. 415 ff.; R. Plumyène und J. Lasierra, a.a.O., S. 122–141. 207 D. Ligou, a.a.O., S. 447 ff. 208 J. Fauvet, a.a.O., S. 255 ff. 209 P. Pétain, a.a.O., S. 235. 210 E. Bonnefous, Histoire politique de la Troisième République. Bd. VI, Paris 1965, S. 196. 211 C. Bettelheim, a.a.O., S. 9. 212 L. Blum, Œuvre. Mémoires. La Prison et le Procès. A l’Echelle Humaine. Paris 1955, S. 323 f. 213 Vgl. z.B. das Vorwort von B.H. Liddell Hart zu Col. Goutard, The Battle of France 1940. London 1958, S. 10. 214 Commission d’enquête parlementaire sur les événements survenus en France de 1933 à 1945. Dépositions etc. Bd. I, Paris 1951, S. 109–209, Aussage Jacomets. 215 A.a.O., Bd. I, S. 266–283, Aussage Cots; Bd. II, S. 295–359, Aussage La Chambres. 216 R. Carr, Spain 1808–1939. Oxford 1966, S. 472.

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217 G. Brenan, The Spanish Labyrinth. Cambridge 1943, S. 85–202. 218 A.a.O., S. 59–62. 219 P. Broué und E. Témime, La Révolution et la Guerre d’Espagne. Paris 1961, S. 25–30. 220 G. Jackson, The Spanish Republic and the Civil War 1931–39. Princeton 1965, S. 25–38. 221 A.a.O., S. 43–102; R. Carr, a.a.O., S. 603–625; G. Brenan, a.a.O., S. 229–259; H. Thomas, The Spanish Civil War. London 1961, S. 38–65. 222 Den Standpunkt, Gil Robles sei eine Stütze der Demokratie gewesen, nimmt S. De Madariaga, Spain. London 1942, S. 325–343, ein; die entgegengesetzte Auffassung vertritt G. Brenan, a.a.O., S. 290–300; G. Jackson, a.a.O., S. 122–128, 172–175, 202–215, bringt einige Belege für Madariagas Darstellung, S.G. Payne, Falange. Stanford 1962, S. 105 f., ein Fragment zur Unterstützung Brenans. 223 B. Bolloten, The Grand Camouflage. London 1961, S. 19. 224 G. Brenan, a.a.O., S. 265–289; H. Thomas, a.a.O., S. 74–85. 225 H. Thomas, a.a.O., S. 89–94. 226 G. Brenan, a.a.O., S. 302–312. 227 C.G. Bowers, My Mission to Spain. London 1954, S. 226–238. 228 G. Brenan, a.a.O., S. 308–311; S.G. Payne, a.a.O., S. 96–115. 229 P. Broué und E. Témime, a.a.O., S. 71–74; H. Thomas, a.a.O., S. 100–118. 230 G. Jackson, a.a.O., S. 356 ff. 231 A.a.O., S. 356–421. 232 B. Bolloten, a.a.O., S. 35–76. 233 G. Jackson, a.a.O., S. 526–540; H. Thomas, a.a.O., S. 631 ff. 234 G. Jackson, a.a.O., S. 276–309.

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235 C. Bresciani-Turroni, a.a.O., S. 286–333; G. Bry, Wages in Germany 1871–1945. Princeton 1960, S. 268. 236 F. Hiller Von Gaertringen, Die Deutschnationale Volkspartei, in: E. Mathias und R. Morsey, Das Ende der Parteien, Düsseldorf 1960, S. 548 f.; A. Bullock, Hitler. A Study in Tyranny. Neuaufl. London 1965, S. 147–151. 237 K.D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. 4. Auf. 1. Villingen 1964, S. 645–656. 238 R. Heberle, From Democracy to Nazism. Baton Rouge 1945. 239 W.S. Allen, The Nazi Seizure of Power. London 1966, S. 51. 240 A. Bullock, a.a.O., S. 213. 241 DBFP, 2. Serie, Bd. III, S. 140–143. 242 F.L. Carsten, Reichswehr und Politik. 2. Aufl. Köln und Berlin 1965, S. 431–437. 243 DGFP, Serie D, Bd. VII, S. 201 (Nr. 192). 244 DBFP, 2. Serie, Bd. I, S. 580. 245 A.a.O., Bd. II, S. 85; E.W. Bennett, a.a.O., S. 54, 150 ff., 295 ff., 300 f. 246 DBFP, 2. Serie, Bd. II, S. 67 f., 96, 108. 247 A.a.O., S. 435–514; Bd. III, S. 52 ff., 77, 178 f. 248 A.a.O., S. 595–602; DDF, 1. Serie (1932–1935), Paris 1964, Bd. I, S. 1 f. 249 E. Weill-Raynal, a.a.O., Bd. III, S. 712–731, 890 f., 896 f. 250 DDF, 1. Serie, Bd. I, S. 423 f.; DBFP, 2. Serie, Bd. IV, S. 137, 182, 193. 251 DDF, 1. Serie, Bd. I, S. 440, 476–491. 252 A.J.P. Taylor, The Origins of the Second World War. London 1961, führt an, Hitlers Handlungen seien durch die Umstände und die Handlungen anderer bestimmt gewesen.

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253 DGFP, Serie C, Bd. I, S. 37; R.J. O’Neill, The German Army and the Nazi Party. London 1966, S. 125 f., 39 ff.; W. Treue, Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3, Stuttgart 1955, S. 204–210; T. Vogelsang in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 2, 1954, S. 434 f. 254 A.J.P. Taylor, a.a.O., S. 70 f., 218 f.; H.C. Hillman, Comparative Strength of the Great Powers, in: A. Toynbee und F.T. Ashton-Gwatkin (Hrsg.), Survey of International Affairs 1939–46. The World in March 1939. London 1952, S. 452 ff. T.W. Mason, Some Origins of the Second World War, in: Past and Present Nr. 29, Oxford 1964. 255 DBFP, 2. Serie, Bd. V, S. 389. 256 A.a.O., S. 28, 202; Bd. VI, S. 80, 90; DGFP, Serie C, Bd. I, S. 328–333, 342 f., 364; Z.J. Gasiriowski, Did Pilsudski attempt to initiate a preventive war in 1933? in: Journal of Modern History, Chicago. Juni 1955, S. 135–151; H. Roos, Die Präventivkriegspläne Pilsudskis von 1933, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3, 1955, S. 344–363. 257 DBFP, 2. Serie, Bd. VI, S. 90 f., 228, 378. 258 Zu den französisch-britischen Verhandlungen vgl. a.a.O., Bd. IV, V, VI; siehe z.B. Bd. V, S. 618–624; Bd. VI, S. 68, 303, 631 ff., 764 f. 259 H.C. Hillman, a.a.O., S. 439; I. Svennilson, a.a.O., S. 262 f. 260 DGFP, Serie C, Bd. I, S. 160 f., 181 f., 196–203; DBFP, 2. Serie, Bd. V, S. 67, 87 f., 447 f., 492 f. 261 A.a.O., S. 109, 114 f., 281. 262 Z.J. Gasiriowski, a.a.O., S. 141; DGFP, Serie C, Bd. I, S. 127, 111, 325, 343, 364, 46, 332, 342, 307, 365 ff., 840; Bd. II, S. 365, 421 f. 263 Z.J. Gasiriowski, a.a.O., S. 149 f. 264 DGFP, Serie C, Bd. II, S. 297; Bd. I, S. 875. 265 Z.B. a.a.O., Bd. II, S. 815 (Mai 1934); Bd. III, S. 521 (Oktober 1934); Bd. IV, S. 871, 898 (Dezember 1935). 266 W.E. Scott, Alliance against Hitler. Durham (N.C.) 1962, S. 3–69, 125–129.

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267 A.a.O., S. 160–175; DBFP, 2. Serie, Bd. VI, S. 752 f. 268 DBFP, 2. Serie, Bd. VI, S. 871 f. 269 DGFP, Serie C, Bd. III, S. 396–402, 385 f.; DBFP, 2. Serie, Bd. VI, S. 858–861; W.E. Scott, a.a.O., S. 187 f. 270 A.a.O., S. 201 f.; DBFP, 2. Serie, Bd. VI, S. 426, 884 f. 271 DGFP, Serie C, Bd. III, S. 494, 472. 272 A.a.O., S. 926, Bd. IV, S. 356; Bd. III, S. 728, 956, 706; W.E. Scott, a.a.O., S. 231–253. 273 A.a.O., S. 266; DGFP, Serie C, Bd. IV, S. 495, 860, 926. 274 A.a.O., Bd. III, S. 785 f.; A.J. Toynbee, Survey of International Affairs 1935. Bd. I, London 1936, S. 104–108; H. Lagardelle, Mission à Rome, Mussolini. Paris 1955, S. 117 f.; DDF, 2. Serie, Bd. II, S. 184. 275 Survey of International Affairs 1935, Bd. I, S. 122 f.; Earl of Avon (Anthony Eden), Facing the Dictators. London 1962, S. 139 ff.; Correspondence showing the course of certain Diplomatic Discussions directed towards securing an European Settlement. (British State Papers 1935–36; Accounts and Papers 13, Bd. XXVII, Misc. Nr. 3, 1936.) 276 DGFP, Serie C, Bd. IV, S. 87, 189, 588. 277 L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 824 f.; Survey of International Affairs 1935, Bd. II, S. 148 f. 278 Documents on International Affairs 1935. Bd. II, London, S. 566; Survey of International Affairs 1935, Bd. II, S. 48; L. Salvatorelli und G. Mira, a.a.O., S. 828. 279 Documents on International Affairs 1935, Bd. II, S. 244–248. 280 DGFP, Serie C, Bd. IV, S. 975, 1043; DDF, 2. Serie, Bd. I, S. 336 f. 281 A.a.O., S. 304, 309 f.; DGFP, Serie C, Bd. IV, S. 1142 ff., 1163–1166, 1172–1175, 1202 f., 1219. 282 R.J. O’Neill, a.a.O., S. 128 f.; DGFP, Serie C, Bd. IV, S. 1165.

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283 Z.B. DDF, 2. Serie, Bd. I, S. 40, 52 ff., 78 f., 91 etc. 284 A.a.O., S. 260, 323 f., 158, 245 ff., 301; Lord Avon, a.a.O., S. 332 f. 285 DDF, 2. Serie, Bd. I, S. 339. 286 Siehe z.B. a.a.O., S. 162, 273–276, 303. 287 Lord Avon, a.a.O., S. 359; R.A.C. Parker, The First Capitulation. France and the Rhineland Crisis of 1936, in: World Politics. Princeton 1956, S. 355–373; Survey of International Affairs 1936, S. 282–370. 288 DDF, 2. Serie, Bd. I, S. 444 f., 504 ff.; Bd. II, S. 185. 289 A.a.O., Bd. I, S. 415, 419; Bd. II, S. 120 f., 273, 277 ff. 290 Lord Avon, a.a.O., S. 345; Survey of International Affairs 1936, S. 370. 291 DGFP, Serie D, Bd. I, S. 278–281 (Nr. 152); J. Gehl, Austria, Germany and the Anschluß 1931–1938. London 1963, S. 101–132. 292 G. Ciano, Ciano’s Diplomatic Papers (hrsg. v. M. Muggeridge; engl. Übers. v. L’Europa verso la catastrofe). London 1948, S. 144 f., 295; DGFP, Serie D, Bd. III, S. 147 f. (Nr. 137); Bd. VI, S. 261 (Nr. 211). 293 A.a.O., S. 1 f. (Anmerkungen), 7 (Nr. 5), 10 f. (Nr. 10), 172 (Nr. 157); Bd. II, S. 37 (Nr. 19); K.W. Watkins, Britain Divided. London 1963, S. 7. 294 DGFP, Serie D, Bd. IV, S. 4 (Nr. 3); Lord Avon, a.a.O., S. 406; G. Lefranc, Front Populaire. S. 186, 461, 465. 295 D.T. Cattell, Soviet Diplomacy and the Spanish Civil War. Berkeley und Los Angeles 1957; G.F. Kennan, Russia and the West under Lenin and Stalin. London 1961; F. Borkenau, European Communism. London 1953. 296 DGFP, Serie D, Bd. III, S. 803 (Nr. 701); D.T. Cattell, a.a.O., S. 106. 297 G. Ciano, Ciano’s Diary 1937–8. (Engl. Übers., hrsg. v. A. Mayor) London 1952, S. 27 ff.; E. Wiskemann, Rome – Berlin Axis. London 1966, Kap. IV; E.L. Presseisen, Germany and Japan. A study in Totalitarian Diplomacy 1933–41. Den Haag 1958, Kap. IV, VI.

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298 DGFP, Serie D, Bd. I, S. 88 (Nr. 49), Survey of International Affairs 1937, Bd. I, S. 340–344. 299 A.a.O., S. 273–276. 300 DGFP, Serie D, Bd. I, S. 29–39 (Nr. 19). 301 G. Meinck, Hitler und die deutsche Aufrüstung. Wiesbaden 1959, S. 174–187. 302 K. Feiling, Life of Neville Chamberlain. London 1946, Kap. XVIII-XXII; H. Feis, The Road to Pearl Harbor. Princeton 1950, S. 8 f. 303 J. Gehl, a.a.O., S. 166–175; DGFP, Serie D, Bd. I, S. 515 ff. (Nr. 295), 549 (Nr. 328). 304 A.a.O., S. 563 (Nr. 340); J. Gehl, a.a.O., S. 182–195; R.J. O’Neill, a.a.O., S 151. 305 DBFP, 3. Serie, Bd. I, S. 13 f., 23 f.; DGFP, Serie D, Bd. I, S. 578 f. (Nr. 355, 356); J. Gehl, a.a.O., S. 194 (zitiert F. Langoth, Kampf um Österreich. Wels 1951, S. 239 ff). 306 DBFP, 3. Serie, Bd. I, S. 35 f., 62 ff., 101. 307 A.a.O., S. 151, 214, 97. 308 A.a.O., S. 212–226. 309 DGFP, Serie D, Bd. II, S. 253 (Nr. 143), 257 (Nr. 147), 344 (Nr. 210); Les Procès de collaboration: Fernand de Brinon, Joseph Darnand, Jean Luchaire. Paris 1948, bes. S. 12 f., 54, 179–206. 310 DGFP, Serie D, Bd. II, S. 198 (Nr. 107). 311 DBFP, 3. Serie, Bd. I, S. 563, 567, 600 ff.; Survey of International Affairs 1938, Bd. II, S. 208 f., 215 ff., 238–256, 334–337. 312 DGFP, Serie D, Bd. II, S. 299–303 (Nr. 175), 357–362 (Nr. 221). 313 DBFP, 3. Serie, Bd. II, S. 310–314, 318; K. Feiling, a.a.O., S. 357. 314 A.a.O., S. 357, 367; DBFP, 3. Serie, Bd. II, S. 338–354, 363.

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315 A.a.O., S. 373–399, 404 ff.; R.J. Minney, Private Papers of Hore-Belisha. London 1960, S. 142. 316 Survey of International Affairs 1938, Bd. II, S. 345; P. Reynaud, Mémoires Bd. II: Envers et Contre Tous. Paris 1963, S. 209; DBFP, 3. Serie, Bd. II, S. 416, 438 f. 317 G. Bonnet, Le Quai d’Orsay sous trois Républiques. Paris 1961, S. 212 f.; DBFP, 3. Serie, Bd. II, S. 447 f.; D. Vidal, Czechoslovakia and the Powers, September 1938, in: Journal of Contemporary History, Bd. I, H. 4, London 1966, S. 54. 318 DBFP, 3. Serie, Bd. II, S. 435, 438, 449 f. 319 Survey of International Affairs 1938, Bd. II, S. 363. 320 V.F. Klochko und andere (Hrsg.), New Documents on the History of Munich. Prag 1958, S. 86 f.; C. Serre, Rapport fait au nom de la commission chargée d’enquêter sur les événements survenus en France de 1933 à 1945. Paris 1951, Bd. II, S. 268. 321 Survey of International Affairs 1938, Bd. II, S. 376; DBFP, 3. Serie, Bd. II, S. 463–473, 499–508; DGFP, Serie D, Bd. II, S. 863 f. (Nr. 554). 322 DBFP, 3. Serie, Bd. II, S. 459 f., 483 f., 520–535, 536 f. (und Anmerkung), 565 f., 550. Public Record Office, London. Cab. 23/95, S. 198 f. 323 A.a.O., S. 627–640; K. Feiling, a.a.O., S. 381. 324 J.W. Wheeler-Bennett, The Nemesis of Power. London 1953, S. 395–424 (deutsch: Die Nemesis der Macht. Die deutsche Armee in der Politik 1918–1945. Düsseldorf 1954); DBFP, 3. Serie, Bd. II, S. 683–692. 325 A.a.O., S. 489; Survey of International Affairs 1938, Bd. III, S. 55; DGFP, Serie D, Bd. IV, S. 606 (Nr. 477). 326 A.a.O., S. 470 (Nr. 369), S. 473 f. (Nr. 370), 497 (Nr. 387); Survey of International Affairs 1938, Bd. III, S. 189. 327 K. Feiling, a.a.O., S. 385 f. 328 DGFP, Serie D, Bd. IV, S. 99 (Nr. 81), 185 f. (Nr. 152), 190–195 (Nr. 158), 209–213 (Nr. 168), S. 235 (Nr. 188), 240 f. (Nr. 197 ff.), S. 243 f. (Nr. 202). 329 A.a.O., S. 261 f. (Nr. 225), S. 263–270 (Nr. 228 f.).

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330 A.a.O., Bd. V, S. 104–107 (Nr. 81), 127 ff. (Nr. 101), S. 152–156 (Nr. 119 f.), S. 167 f. (Nr. 126); Bd. VI, S. 70 ff. (Nr. 61). 331 J. Szembek, Journal 1933–1939. Paris 1952, S. 433 ff.; DGFP, Serie D, Bd. VI, S. 121–124 (Nr. 102), 127 (Nr. 103), 136 (Nr. 108), 147 f. (Nr. 118), 195 (Nr. 159). 332 A.a.O., S. 117 (Nr. 99), 186 f. (Nr. 149), 223–227 (Nr. 185), S. 574–580 (Nr. 443); DBFP, 3. Serie, Bd. V, S. 46. 333 K. Feiling, a.a.O., S. 399 ff., 409; DGFP, Serie D, Bd. VI, S. 569 ff. (Nr. 430). 334 DBFP, 3. Serie, Bd. IV, S. 400, 467, 500–503, 515 ff.; J. Szembek, a.a.O., S. 433 f. 335 I. Colvin, Vansittart in Office. London 1965, S. 298–311; DBFP, 3. Serie, Bd. IV, S. 545 f., 552 f.; vgl. M. Gilbert und R. Gott, The Appeasers. London 1963, S. 230–236. 336 Survey of International Affairs 1939–1946. The Eve of War 1939, S. 426–429; DBFP, 3. Serie, Bd. VI, S. 217 ff. 337 Zu den Verhandlungen mit der UdSSR siehe: DBFP, 3. Serie, Bd. IV-VII; DGFP, Serie D, Bd. VI und VII. 338 DGFP, Serie D, Bd. VII, S. 39–49 (Nr. 43), 53–56 (Nr. 47), 557 ff. (Anhang I), 200–206 (Nr. 192 f.). 339 A.a.O., S. 285 f. (Nr. 271), 309 f. (Nr. 301), 314 (Nr. 307), 569 (Anhang I); Documenti Diplomatici ltaliani. 8. Serie, Bd. XIII. Rom 1953, S. 39. 340 Survey of International Affairs. The Eve of War 1939, S. 204–224; DBFP, 3. Serie, Bd. V, S. 791 ff.; Bd. VI, S. 389 ff., 407–410, 579–582, 736–761; DGFP, Serie D, Bd. VI, S. 674 bis 678 (Nr. 497), 977–983 (Nr. 716), 1088–1093 (Nr. 783); Ministry of Foreign Affairs of the U.S.S.R., Documents and Materials Relating to the Eve of the Second World War. Moskau 1948, Bd. II, S. 67–78 (Nr. 13–15), 116–125 (Nr. 24). 341 DBFP, 3. Serie, Bd. VII, S. 127 f., 177 ff., 227 ff., 330 ff.; DGFP, Serie D, Bd. VI, S. 566 f. (Anhang I). 342 DBFP, 3. Serie, Bd. VII, S. 391, 410 f., 427, 432 f., 447, 469 f.; A.J.P. Taylor, a.a.O., S. 275, 278. 343 Foreign Relations of the United States 1939. Bd. I. Washington 1956, S. 355, 392.

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344 DBFP, 3. Serie, Bd. VII, S. 442 f., 449, 477 ff., 481, 498 f.; DGFP, Serie D, Bd. VII, S. 509 f. (Nr. 535); Gen. M. Gamelin, Servir. 3 Bde. Paris 1946–47. Bd. I, S. 28 f. 345 DGFP, Serie D, Bd. VII, S. 514 (Nr. 541); DBFP, 3. Serie, Bd. VII, S. 505–508. 346 DGFP, Serie D, Bd. VII, S. 538 f. (Nr. 565); Documenti Diplomatici ltaliani, 8. Serie, Bd. XIII, S. 375 f. 347 G. Bonnet, a.a.O., S. 296 f.; Foreign Relations of the United States 1939, Bd. I, S. 405; DBFP, 3. Serie, Bd. VII, S. 500–504; R.J. Minney, a.a.O., S. 226. 348 DBFP, 3. Serie, Bd. VII, S. 513 f., 518, 524 f.; R.J. Minney, a.a.O., S. 226 ff.; M. Gilbert und R. Gott, a.a.O., S. 306–312. 349 A.S. Milward, The German Economy at War. London 1965, S. 29. 350 J.R.M. Butler, Grand Strategy. Bd. II. London 1957, S. 10. 351 L.F. Ellis, The War in France and Flanders, 1939–40. London 1953, S. 5. 352 J.R.M. Butler, a.a.O., S. 91–150. 353 H.A. Jacobsen in: H.A. Jacobsen und J. Rohwer (Hrsg.), Entscheidungsschlachten des Zweiten Weltkriegs. Frankfurt am Main 1960, S. 22 ff. 354 Gen. De Cossé-Brissac, L’Armée allemande dans la campagne de France de 1940, in: Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, Paris Januar 1964, S. 4 f.; Gen. M. Gamelin, a.a.O., Bd. I, S. 149–167; J.R.M. Butler, a.a.O., S. 177 ff. 355 L.F. Ellis, a.a.O., S. 36; Gen. M. Gamelin, a.a.O., Bd. II, S. 311; Lt.-Col. Le Goyet, La Percée de Sedan 10–15 Mai 1940, in: Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, 1965, S. 25–52; Col. A. Goutard, The Battle of France 1940 (aus dem Französ.). London 1958, S. 116–179. 356 P. Reynaud, a.a.O., Bd. II, S. 396–444. 357 R.R.A. Wheatley, Operation Sea Lion. Oxford 1958; J.R.M. Butler, a.a.O., S. 209 bis 215, 284–293. 358 H. Feis, The Road to Pearl Harbor. Princeton 1950. 359 H.A. Jacobsen, Der Zweite Weltkrieg. Grundzüge der Politik und Strategie in Dokumenten. Frankfurt a.M. 1965, S. 168.

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360 H.L. Thomson und L. Mayo, The Ordnance Department: Procurement and Supply. Washington 1960, S. 263. 361 W.F. Craven und J.L. Cate (Hrsg.), Army Air Forces in World War II. Bd. VI. Washington 1955, S. 350. 362 H.A. Jacobsen, a.a.O., S. 169. 363 C. Webster und N. Frankland, The Strategie Air Offensive Against Germany 1939–45. London 1961, Bd. IV, S. 481. 364 A.a.O., S. 472, 480; W.K. Hancock und M.M. Gowing, British War Economy. London 1949, S. 370. 365 A.S. Milward, a.a.O., S. 47; Central Statistical Office, Statistical Digest of the War. London 1951, S. 17–29; C. Webster und N. Frankland, a.a.O., Bd. IV, S. 473 f. 366 A.a.O., S. 227. 367 L. Giovannitty und F. Freed, The Decision to Drop the Bomb. London 1967; H. Feis, Japan Subdued. Princeton 1961. 368 G. Frumkin, Population Changes in Europe since 1939. New York 1951. 369 X. Lannes, Les Conséquences démographiques de la guerre en Europe, in: Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, Juli 1955, S. 7. 370 A. Dallin, German Rule in Russia 1941–5. London 1957, Kap. XIX; H.A. Jacobsen, Kommissarbefehl und Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener, in: H. Buchheim und andere, Anatomie des SS-Staates. Bd. II, Olten und Freiburg im Breisgau 1965. 371 A. Toynbee und V.M. Toynbee, Survey of International Affairs 1939–46. Hitler’s Europe. London 1954, S. 234. 372 A.a.O., S. 245, 249, 253 f.; A. Dallin, a.a.O., S. 435 f. 373 M. Carlyle (Hrsg.), Documents on International Affairs 1939–46, Bd. II: Hitler’s Europe. London 1954, S. 231, 188 f. 374 G.H. Stein, The Waffen SS. Ithaca, N.Y., 1966, S. 276; A. Toynbee und V.M. Toynbee, a.a.O., S. 506; A. Dallin, a.a.O., S. 76, 210 ff.

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375 L. Poliakov, Quel est le nombre de victimes? in: Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, Oktober 1956, S. 88–96; G. Reitlinger, Die Endlösung (Übers. aus dem Engl.). Berlin 1956, S. 557 ff.; R. Hilberg, The Destruction of the European Jews, Chicago und London 1961, S. 767; H. Krausnick, Judenverfolgung, in: H. Buchheim und andere, a.a.O. 376 R. Hilberg, a.a.O., S. 199 ff., 203 ff., 244 ff. 377 A.a.O., S. 389–421. 378 A.a.O., S. 470; W. Warmbrunn, The Dutch under German Occupation 1940–45. Stanford 1963, S. 173 f. 379 R. Hilberg, a.a.O., S. 596, 661 f.; ferner: Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, Dokument NG-2801 (Befragung Werner v. Tippelskirch), Institut für Zeitgeschichte, München. 380 R. Hilberg, a.a.O., S. 211 f. 381 G.H. Stein, a.a.O., S. 204 f. 382 R. Hilberg, a.a.O., S. 651 f. 383 R. Collenot, L’Opposition Allemande contre Hitler, in: Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, Oktober 1959, S. 24. Literaturverzeichnis Aufgeführt sind nur die wichtigsten Werke Quellen Documenti Diplomatici Italiani. Rom 1952 ff. Documents Diplomatiques Français 1932–1939. Paris 1963 ff. Documents on British Foreign Policy 1919–1939. London 1947 ff. Foreign relations of the United States: Diplomatic papers. Washington 1861 ff. International Military Tribunal, Nuremberg. Trial of the major war criminals. Nürnberg 1947–1949 Mantoux, P. (Hrsg.) Les Délibérations du Conseil des Quatre. Paris 1955 Stresemann, G., Vermächtnis (hrsg. v. H. Bernhard). Berlin 1932–33

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Darstellungen Allgemeines Albrecht-Carrié, R., Italy at the Paris Peace Conference. New York 1938 Bretton, H., Stresemann and the Revision of Ver sailles. Stanford 1953 Carr, E., A History of Soviet Russia. London 1950 ff. Freund, G., Unholy Alliance. London 1957 Gatzke, H., Stresemann and the Rearmament of Germany. Baltimore 1954 Gilbert, M. und Gott, R., The Appeasers. London 1963 Keynes, J., Economic Consequences of the Peace. London 1919 Lloyd George, D., The Truth about the Peace Treaties. London 1938 Di Nolfo, E., Mussolini e la politica estera italiana 1919–33. Padua 1960 Scott, W.E., Alliance against Hitler. The Origins of the Franco-Soviet Pact. Durham (N.C.) 1962 Tardieu, A., La Paix. Paris 1921 Taylor, A., Origins of the Second World War. London 1961 Temperley, H. (Hrsg.), History of the Peace Conference of Paris. London 1920–24 Thimme, A., Gustav Stresemann. Hannover und Frankfurt a.M. 1957 Toynbee, A. und andere (Hrsg.), Survey of International Affairs 1920 to 1946. London 1927–58 Wandycz, P., France and her Eastern Allies. Minneapolis 1962 Weill-Raynal, E., Les Réparations Allemandes et la France. Paris 1938–47 Wirtschaftliche Probleme Arndt, H., Economic Lessons of the Nineteen-Thirties. London 1944 Lewis, W., Economic Survey 1919–39. London 1949 Maizels, A., Industrial Growth and World Trade. Cambridge 1963 Svennilson, I., Growth and Stagnation in the European Economy. Genf 1954 Einzelne Länder England Bassett, R., Nineteen Thirty-One. London 1958 Mowat, C, Britain between the Wars. 1918–40. London 1955 Pollard, S., Development of the British Economy 1914–50. London 1962 Taylor, A., English History 1914–45. Oxford 1965 Italien Alatri, P., Le Origini del Fascismo. 3. Aufl. Rom 1962 De Felice, R., Mussolini il rivoluzionario. Turin 1965

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Rossi, A. (Tasca), The Rise of Italian Fascism. London 1938 Salvatorelli, L. und Mira, G., Storia d’Italia nel periodo fascista. Turin 1964 Welk, W., Fascist Economic Policy. Cambridge (Mass.) 1938 Frankreich Bonnefous, G., Histoire politique de la Troisième République. Paris 1956 ff. Chastenet, J., Histoire de la Troisième République. Paris 1952–63 Goguel, F., La Politique des Partis sous la Troisième République. Paris 1946 Lefranc, G., Le mouvement socialiste sous la Troisième République. Paris 1963 –, Histoire du front populaire. Paris 1965 Ligou, D., Histoire du socialisme en France 1871–1961. Paris 1962 Nere, J., La Troisième République. Paris 1965 Sauvy, A., Histoire économique de la France entre les deux guerres. Paris 1965 ff. Spanien Bolloten, B., The Grand Comouflage. London 1961 Brenan, G., The Spanish Labyrinth. Cambridge 1943 Broué, P. und Temime, E., La Révolution et la Guerre d’Espagne. Paris 1961 Carr, R., Spain 1808–1939. Oxford 1966 Jackson, G., The Spanish Republic and the Civil War 1931–39. Princeton 1965 Thomas, H., The Spanish Civil War. London 1961 Deutschland Allen, W., The Nazi Seizure of Power. London 1966 Angress, W., Stillborn Revolution. Princeton 1963 Bracher, K.D., Die Auflösung der Weimarer Republik. 4. Aufl. Villingen 1964 Bresciani-Turroni, C., The Economics of Inflation. London 1937 Bullock, A., Hitler. A Study in Tyranny. 2. Aufl. London 1965 (Deutsche Übersetzung: Hitler. Eine Studie über Tyrannei. Düsseldorf 1953; Taschenbuchausgabe Frankfurt a.M. und Hamburg 1964) Carsten, F., Reichswehr und Politik. 2. Aufl. Köln und Berlin 1965 Dorpalen, A., Hindenburg and the Weimar Republic. Princeton 1964 Eyck, E., Geschichte der Weimarer Republik. 3./2. Aufl. Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1959 Heberle, R., From Democracy to Nazism. Baton Rouge 1945 Matthias, E. und Morsey, R., Das Ende der Parteien. Düsseldorf 1960 Wheeler-Bennett, J., The Nemesis of Power. London 1953 Zweiter Weltkrieg

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Die wichtigsten Arbeiten dazu sind die in London und den USA veröffentlichten offiziellen Geschichtswerke: History of the Second World War. United Kingdom Civil Series. London 1949 ff. History of the Second World War. United Kingdom Military Series. London 1952 ff. The United States Army in World War II. Washington 1947 ff. Craven, W. und Cate, J. (Hrsg.), The Army Air Forces in World War II. Chicago 1948–58 Morison, S., History of United States Naval Operations in World War II. Boston 1947–62 Ferner sind zu nennen: Esposito, V. (Hrsg.), The West Point Atlas of American Wars. New York 1959 Hilberg, R., The Destruction of the European Jews. Chicago 1961 Verzeichnis und Nachweis der Abbildungen � 1 David Lloyd George: Foto Archiv Gerstenberg, Frankfurt a.M. � 2 Georges Clemenceau: Foto Archiv Gerstenberg, Frankfurt a.M. � 3 Thomas Woodrow Wilson: Foto Archiv Gerstenberg, Frankfurt a.M. � 4 Europäische Grenzen 1919–1937: nach Martin Gilbert, Recent History Atlas (Verlag Weidenfeld and Nicolson, London) � 5 Raymond Poincaré: Foto Archiv Gerstenberg, Frankfurt a.M. � 6 Gustav Stresemann: Foto Radio Times Hulton Picture Library, London � 7 Aristide Briand: Foto Radio Times Hulton Picture Library, London � 8 Vorbeimarsch junger Faschisten vor Mussolini (Oktober 1935): Foto Radio Times Hulton Picture Library, London � 9 Spanischer Bürgerkrieg. Soldaten der nationalistischen Rebellenarmee führen republikanische Gefangene ab: Foto Ullstein � 10 General Kurt von Schleicher: Foto Radio Times Hulton Picture Library, London

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� 11 Adolf Hitler begrüßt den Reichspräsidenten von Hindenburg: Foto Ullstein � 12 Der britische Premierminister Neville Chamberlain verläßt nach Abschluß der Münchner Konferenz Deutschland: Foto Ullstein � 13 Deutsche Truppen rücken in Prag ein: Foto dpa � 14 Europa 1942: nach Großer Historischer Weltatlas, III. Teil (Bayerischer Schulbuch-Verlag, München) � 15 Blick auf die durch Bomben zerstörte Innenstadt von Stuttgart: Foto Ullstein

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