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Fischer Weltgeschichte Band 8 Die Mittelmeerwelt im Altertum IV Das Römische Reich und seine Nachbarn Herausgegeben von Fergus Millar Dieser Band ist der letzte von vier Bänden über die Mittelmeerwelt im Altertum im Rahmen der Fischer Weltgeschichte. Er schildert die Geschichte des römischen Kaiserreiches und seiner Nachbarn vom Tod des Augustus bis zum Regierungsantritt Diokletians. Der Herausgeber, Dr. Fergus Millar (Universität Oxford), stellt in chronologischer Reihenfolge die Entwicklung des Imperium Romanum in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung dar. Neben knappen, aber lehrreichen Hinweisen auf das Leben und politische Handeln der einzelnen Imperatoren stehen ausführliche Analysen der Verfassungsorgane des Reiches, seiner sozialen und wirtschaftlichen Struktur und der religiösen Strömungen, von denen das Christentum für die Zukunft des römischen Staates die entscheidendste werden sollte. Der Herausgeber analysiert die Kontakte der Reichsbevölkerung mit den Staatsorganen und dem Kaiser und beschreibt die Entwicklung der Armee und der Grenzen. Ein großer Teil des Bandes ist der Darstellung der sozialen und kulturellen Entfaltung der verschiedenen Reichsgebiete auf der Grundlage literarischer Zeugnisse und archäologischer Quellen gewidmet. Besondere Kapitel schildern die Nachbarvölker, mit denen Rom in dieser Epoche seiner Geschichte in geistige und militärische Konflikte verwickelt war. Prof. Richard N. Frye (Harvard University) ist der Autor des Abschnittes über Iran. Tamara Talbot Rice (Edinburgh) verfaßte den Beitrag über die Skythen und Sarmaten. Prof. D. Berciu (Universität Bukarest) ist für das Kapitel über die Daker verantwortlich. Prof. Georg Kossack (Universität Kiel) schrieb die Geschichte der Germanen. - Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung. Der Herausgeber Fergus Millar, 1

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Fischer Weltgeschichte Band 8 Die Mittelmeerwelt im Altertum IV Das Römische Reich und seine Nachbarn Herausgegeben von Fergus Millar Dieser Band ist der letzte von vier Bänden über die Mittelmeerwelt im Altertum im Rahmen der Fischer Weltgeschichte. Er schildert die Geschichte des römischen Kaiserreiches und seiner Nachbarn vom Tod des Augustus bis zum Regierungsantritt Diokletians. Der Herausgeber, Dr. Fergus Millar (Universität Oxford), stellt in chronologischer Reihenfolge die Entwicklung des Imperium Romanum in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung dar. Neben knappen, aber lehrreichen Hinweisen auf das Leben und politische Handeln der einzelnen Imperatoren stehen ausführliche Analysen der Verfassungsorgane des Reiches, seiner sozialen und wirtschaftlichen Struktur und der religiösen Strömungen, von denen das Christentum für die Zukunft des römischen Staates die entscheidendste werden sollte. Der Herausgeber analysiert die Kontakte der Reichsbevölkerung mit den Staatsorganen und dem Kaiser und beschreibt die Entwicklung der Armee und der Grenzen. Ein großer Teil des Bandes ist der Darstellung der sozialen und kulturellen Entfaltung der verschiedenen Reichsgebiete auf der Grundlage literarischer Zeugnisse und archäologischer Quellen gewidmet. Besondere Kapitel schildern die Nachbarvölker, mit denen Rom in dieser Epoche seiner Geschichte in geistige und militärische Konflikte verwickelt war. Prof. Richard N. Frye (Harvard University) ist der Autor des Abschnittes über Iran. Tamara Talbot Rice (Edinburgh) verfaßte den Beitrag über die Skythen und Sarmaten. Prof. D. Berciu (Universität Bukarest) ist für das Kapitel über die Daker verantwortlich. Prof. Georg Kossack (Universität Kiel) schrieb die Geschichte der Germanen. - Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung. Der Herausgeber Fergus Millar,

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geb. 1935 in Edinburgh, war von 1958–1964 Fellow of All Souls College in Oxford, wo er 1962 zum Ph. D. promovierte; 1964 Fellow of The Queen’s College in Oxford, 1976 Professor für Ancient History am University College der University of London; seit 1999 lehrt er am Brasenose College in Oxford. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. ›A Study of Cassius Dio‹ (1964). Mitarbeiter dieses Bandes Prof. Dr. D. Berciu (Universität Bukarest): Kapitel 15 Prof. Richard N. Frye (Harvard University): Kapitel 14 Prof. Dr. Georg Kossack (Universität Kiel): Kapitel 17 Dr. Fergus Millar (Universität Oxford): Kapitel 1–13 Tamara Talbot Rice (Edinburgh): Kapitel 16 Jürgen Ackermann (Rotenburg/Fulda) übersetzte die Kapitel 1–13 und 16 aus dem Englischen. Christoph Schneider (Köln) übersetzte Kapitel 15 aus dem Französischen. Gudrun Steigerwald (Heidelberg) übersetzte Kapitel 14 aus dem Amerikanischen. 1. Einleitung Die römische Geschichte beginnt in Rom und endet in Konstantinopel. Mit dieser einfachen Feststellung werden die Grenzen der Periode abgesteckt, von der dieses Buch handelt: vom Tod des Augustus, des ersten Kaisers, im Jahr 14 n. Chr. bis zur Thronbesteigung Diokletians im Jahr 284. Die Institutionen des Stadtstaates Rom waren zugleich Rahmen und Grundlage für die Festlegung der gesetzlichen Macht, mit der sich Augustus, der Sieger im Bürgerkrieg zwischen den Mitgliedern der herrschenden römischen Klasse, in seiner Stellung als Monarch ausstattete. Im Jahr 14 n. Chr. residierte der Kaiser in Rom und regierte das Reich in weitgehend formaler, zum Teil aber noch echter Zusammenarbeit mit dem Senat. Die Männer, die die Provinzen verwalteten und die Armeen befehligten, kamen aus Rom und kehrten dorthin zurück. In Rom verbrachten sie als Mitglieder des Senats den größten Teil ihres Lebens. Das römische Bürgerrecht, das in ganz Italien galt, besaßen in den Provinzen noch wenige. Im Jahr 284 jedoch war die überwiegende Mehrheit der Reichsbevölkerung im Besitz des Bürgerrechtes. Der inzwischen stark angeschwollene

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Verwaltungsapparat bestand weitgehend aus Männern, die keinerlei Bindungen an die Stadt Rom hatten. Rom wurde, obwohl einigen Provinzen – nicht mehr den Legionen – immer noch römische Senatoren vorstanden, allmählich und im 4. Jahrhundert endgültig zu einer privilegierten Stadt zweiten Ranges, die die Kaiser, die im übrigen anderswo regierten, bei seltenen festlichen Anlässen besuchten. Diokletian machte Nikomedeia in Bithynien (im Nordwesten der heutigen Türkei) zu seiner Hauptstadt, weil es recht zentral zwischen den beiden wichtigsten Grenzen des Reiches, der Donau und dem Euphrat, lag. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Gründung des Neuen Rom durch Konstantin im Jahr 330, nämlich der Stadt Konstantinopel, die nicht weit von Nikomedeia entfernt jenseits der Meerenge lag. Vereinheitlichung ist das Hauptthema dieser Periode, Vereinheitlichung auf politischem, sozialem, kulturellem und religiösem Gebiet. Anfangs wurden die Provinzen, großräumige, aus Eroberungen hervorgegangene und als Verwaltungseinheiten organisierte Gebiete, von Statthaltern beherrscht, die fast immer aus Senatorenfamilien stammten, aus Rom kamen, eine kleine Gruppe von Helfern mitbrachten und, wenn auch nicht überall, durch die Anwesenheit römischer Legionen unterstützt wurden. Die Provinzen glichen in ihrem inneren Aufbau Mosaiken aus weitgehend sich selbst regierenden Städten, Stämmen oder Gemeinden, die Rom Steuern zahlten und periodisch vom Statthalter besucht wurden, der in wichtigeren Fällen Recht sprach. Eine Verwaltungshierarchie gab es nicht. Der Statthalter kam mit seinem Mitarbeiterstab aus Rom und kehrte nach einem oder mehreren Jahren dorthin zurück. Die einheimischen Beamten in den Provinzen besaßen lediglich im lokalen Bereich Einfluß und hatten zunächst fast keine Möglichkeit, in die römische Verwaltung aufzusteigen. In einigen, keineswegs in allen Provinzen gab es Verbände, die alle oder fast alle Gemeinden umfaßten. Einige von ihnen, z.B. in Griechenland, besaßen als Erbteil ihrer Geschichte politische Restfunktionen, andere verdankten ihr Bestehen hauptsächlich dem gemeinschaftlichen Kult der Roma und des Kaisers. In der Folgezeit gewannen sie jedoch nach und nach wichtige politische Funktionen hinzu – eine Entwicklung, die im 4. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Eine Reihe von Einflüssen trug bald zur Beseitigung dieser Trennung zwischen römischen und örtlichen Elementen im Staat bei. Besonders in den westlichen Provinzen und dort wiederum vor allem in Afrika, Südgallien und Spanien gab es viele Gemeinden mit römischen oder wenigstens italischen Siedlern oder Kolonisten. Aber sogar bei der einheimischen Bevölkerung ging der Prozeß der Romanisierung – der Angleichung an die Italiker in Sprache, Kleidung, Einrichtungen und, was am wichtigsten war, in der Verstädterung – schon schnell voran. Die östlichen Provinzen waren von einem Netz griechischer Städte überzogen, die, wenn sie nicht schon bestanden, im Gefolge der Eroberungen Alexanders des Großen vor dreieinhalb Jahrhunderten gegründet worden waren. Diese Städte wurden im allgemeinen von einer oft reichen und

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kultivierten Bourgeoisie beherrscht, deren hervorragendste Vertreter in einigen Fällen in engem Kontakt mit der führenden Klasse Roms standen.1 Sowohl im Westen als auch im Osten erwarb die Oberschicht der einheimischen Gesellschaft in zunehmendem Maß das römische Bürgerrecht und erhielt sodann die Ämter, die bisher römische equites innehatten (wörtlich »Reiter«, die herkömmliche Bezeichnung für die Gesellschaftsschicht, die den Senatoren am nächsten stand und deren Mitglieder ein bestimmtes Vermögen besitzen mußten). Von da aus konnten sie, oder, was häufiger vorkam, ihre Söhne und Nachkommen, in den Senat selbst aufsteigen. Am Ende dieser Epoche war aus dem Senat, obwohl er im Kern italisch blieb, eine Klasse von Männern geworden, die aus allen Teilen des Reiches mit städtischen Lebensformen stammten, von denen viele die Verbindungen zu ihrer Heimat aufrechterhielten und von denen einige vielleicht überhaupt nie nach Rom kamen. Die Verbreiterung des Senats spiegelt sich mit bemerkenswerter Genauigkeit in der Herkunft der einzelnen Dynastien, die nacheinander den kaiserlichen Thron innehatten: Zuerst waren es die Nachkommen der römisch-republikanischen Aristokratie (das Julisch-Claudische Herrscherhaus), dann Mitglieder der italischen Bourgeoisie (die Flavier), darauf folgten die italischen Siedler in Spanien und Südgallien (Trajan, Hadrian und die Antoninen), sodann die Afrikaner und Syrer (die Severer), und schließlich während der letzten Jahrhunderthälfte dieser Epoche waren es Männer aus dem Donau- und Balkanraum, der jetzt romanisiert wurde, einen ansehnlichen Teil der Rekruten für die Armee stellte und auch einer der Hauptschauplätze der ständigen Kriege war, die die Mitte des 3. Jahrhunderts ausfüllten. Diese Kriege beschleunigten weitgehend eine Entwicklung, die im Reich von Anbeginn angelegt war: die Loslösung der Kaiser von den republikanischen Einrichtungen in Rom (vor allem von der Institution des Senats). Die von Augustus während seiner Regierung entwickelte verfassungsrechtliche Position umfaßte verschiedene Ämter, die von senatorischen Beamten und Statthaltern bekleidet wurden. Dem Kaiser war jedoch weder ein fester Platz innerhalb der republikanischen Institutionen zugewiesen, noch waren seinen Wirkungsmöglichkeiten und seiner Macht genaue Grenzen gesetzt. So konnte selbst Augustus Rom für längere Zeit verlassen, sich in Spanien, Gallien und im Osten aufhalten und von dort aus das Reich regieren, ohne den Senat wirklich einzuschalten. Tiberius (14–37), der erste Kaiser der hier behandelten Epoche, verbrachte seine letzten Regierungsjahre auf Capri. Andere Kaiser, wie Trajan (98–117), befanden sich längere Zeiten hindurch auf Feldzügen oder, wie Hadrian (117–138), auf Reisen durch das Reich. Der Kaiser hatte seinen Mitarbeiterstab, seine Freunde und Ratgeber bei sich, gab Edikte heraus, schrieb Briefe und empfing Gesandtschaften, wo immer er sich gerade aufhielt. Die Bedeutung dieser Bewegungsfreiheit wurde dadurch unterstrichen, daß die einzelnen Gemeinden bereitwillig ihre Vertreter sandten, die dem Kaiser ihre Wünsche und Forderungen direkt vorbringen sollten. Etwas Derartiges läßt sich schon im Jahr 29 v. Chr. beobachten, als der Geograph Strabo auf dem Ägäischen

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Meer einen Fischer aus Gyaros traf, der zu Augustus nach Korinth reisen und diesen um Senkung des Tributs bitten wollte. Ähnliches geschah im Jahr 115 n. Chr., als Gesandtschaften aus mehreren Orten, die unter einem schrecklichen Erdbeben gelitten hatten, bei Trajan in Antiochia eintrafen.2 Einige Kaiser versuchten, einen Teil solcher Geschäfte an den Senat weiterzuleiten, hatten dabei jedoch niemals großen Erfolg. In den Augen der Bewohner des Reiches war der Kaiser die Quelle aller Wohlfahrt, darum gingen sie zu ihm. Trotz alledem blieb Rom bis in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts die eigentliche Residenz der Kaiser. Wenn sie sich dort aufhielten, war ihr Lebensstil dem eines Cicero recht ähnlich. Von ihren Palästen in Rom aus begaben sie sich zu ihren Landhäusern, die sich hauptsächlich an der mondänen Küste Latiums und Kampaniens befanden. Selbst in diesen Landhäusern konnten sie ihre Amtsgeschäfte weiterführen, was sie denn auch häufig taten. Cornelius Fronto, der Freund und Lehrer Marc Aurels (161–180), tadelt den Kaiser, weil er während seiner »Ferien« in Alsium seine Kräfte durch Audienzen auch während der Nacht über Gebühr anstrenge.3 Dieser »senatorische« Lebensstil der Kaiser wurde schließlich durch die unaufhörlichen Kriege des 3. Jahrhunderts beendet. Im Jahr 217 wurde Caracalla auf einem Feldzug in Syrien ermordet, Macrinus, der erste eques auf dem Thron, trat an seine Stelle. Die Wahl fiel auf Macrinus, weil er zu der entsprechenden Zeit als Präfekt der Prätorianer bei Caracalla weilte; während seiner kurzen Regierungszeit (217–218) hat er niemals den Boden Roms betreten. Wenige Jahre danach, im Jahr 235, wiederholten sich diese Vorgänge. Kaiser Alexander Severus wurde von Soldaten in Gallien ermordet. Ihm folgte Maximinus auf den Thron, der sich vom einfachen thrakischen Soldaten hochgedient hatte. In der Regel wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte die Kaiser nach (oder vor) dem Tod ihrer Vorgänger von der Armee ausgerufen und blieben während des größten Teils ihrer Regierungszeit auf dem Schlachtfeld. Oft mußten sie von einer Front zur anderen reisen. Sie erschienen nur noch sehr selten in Rom, um einen Triumph zu feiern oder Geschenke auszuteilen. Nach den obskuren und unzuverlässigen Quellenaussagen über das Leben der Kaiser des 3. Jahrhunderts scheint Gallienus (Alleinherrscher von 260 bis 268) der letzte gewesen zu sein, der längere Zeit in Rom gewesen sein kann. Durch die Macht der äußeren Umstände also wurde in den letzten fünfzig Jahren dieser Epoche das Amt des Kaisers mehr und mehr in die Nähe der Armee gerückt. Von den Kaisern Claudius Goticus (268–270) bis Carus (282–283) stammte nur Tacitus (275–276) aus dem Senatorenstand. Darüber hinaus scheint das gesamte Gepräge der Hofhaltung, der kaiserlichen Regierung und der einzelnen Verwaltungsmaßnahmen entscheidend durch diesen Prozeß beeinflußt worden zu sein, wie die Regierungszeit Diokletians (284–305) deutlich machen sollte. Der Wandel wird höchst augenfällig dadurch symbolisiert, daß sich Diokletian seinen Alterspalast in Split (Dalmatien) nicht nach dem Muster der

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Paläste und Villen in Rom, sondern nach dem der Feldlager der römischen Armee bauen ließ. Die Armee selbst stellte in verschiedenster Hinsicht einen der bedeutsamsten Faktoren für die soziale Entwicklung innerhalb des Reiches dar. Am Anfang der Periode machten die 25 Legionen römischer Bürger, die in der Hauptsache aus Italien stammten, noch das Herzstück der Armee aus. Daneben gab es Sonderformationen aus Nicht-Bürgern, Auxilien genannt. Je weiter das Bürgerrecht ausgedehnt wurde, desto mehr bezogen die Legionen ihre Soldaten aus den Provinzen. Andererseits verloren die Hilfstruppen etwa um die Mitte des 1. Jahrhunderts ihre Bindung an die Heimatländer (wenn auch nicht ihre Herkunftsbezeichnungen, die man beibehielt); die Dienstzeit wurde in diesen Einheiten auf 25 Jahre festgelegt, nach deren Ablauf den einzelnen das römische Bürgerrecht gewährt wurde. Im 2. Jahrhundert gab es einige Hilfstruppen, die sich ausschließlich aus römischen Bürgern zusammensetzten. Kurzum, die Unterscheidung zwischen Legionen und Hilfstruppen wurde weitgehend zu einer Unterscheidung nach Größe und Art der Einheit. Die Einberufung von Nicht-Bürgern zu den Hilfstruppen und ihre Entlassung als Bürger war ein wesentlicher Faktor bei der Romanisierung der Provinzen; andere Faktoren waren die Entstehung von Städten rings um Legionslager oder in ihrer Nähe und die Ansiedlung von Veteranen als Einzelpersonen oder in regelrechten Kolonien in den Provinzen. Auf diese Weise wurde die Anwesenheit der Armee zum beherrschenden Faktor bei der Bildung eines »romanisierten« sozialen Gefüges in den abseits liegenden Teilen des Reiches. Aber darüber hinaus besteht eine der wichtigsten Entwicklungen dieser Periode, die einen grundlegenden Wandel des Staatscharakters bezeichnet, in der ständig zunehmenden Verwendung von Soldaten niederer und höherer Ränge in Stellungen, die zuvor von Zivilisten ausgefüllt wurden. Dies trifft zunächst für die Polizei in den Provinzen zu. Im 2. und 3. Jahrhundert breiteten sich sehr schnell kleine, von Soldaten besetzte stationes, besonders entlang den Hauptstraßen, aus, die für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zu sorgen hatten. In den christlichen Märtyrerakten, die in den letzten Jahrzehnten des 2. Jahrhunderts beginnen, stößt man in zunehmendem Maß auf römische Soldaten, die mit den örtlichen Beamten zusammenarbeiteten. Das traf aber auch für eine große Zahl anderer Bereiche zu, von der Landvermessung und Ingenieursarbeiten bis hin zu Schreiberdiensten und anderen Pflichten im Bereich der Provinzialverwaltung oder auf juristischem Gebiet. Dieser Prozeß verlief parallel zu der ständigen Vermehrung der Verwaltungsstellen, deren Inhaber sich mit Bergwerken, dem Postwesen, Steuern, dem kaiserlichen Eigentum oder anderem befaßten und die in Italien und den Provinzen mit Rittern besetzt wurden. Am Ende des 1. Jahrhunderts tauchten auch zum ersten Mal Stadtaufseher (curatores rei publicae) auf, die vom Kaiser zur Beaufsichtigung des Finanzgebarens einer Stadt in Italien oder in den Provinzen ernannt wurden. Diese entstammten gewöhnlich dem Senatoren- oder Ritterstand, aber einige von

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ihnen, so in dieser Periode besonders in Italien, fungierten zugleich als Stadtherren. Unter Diokletian wurden nur noch einheimische Würdenträger mit diesem Amt betraut. Auch diese wurden vom Kaiser berufen. Alle diese Entwicklungen zeigen die stetige Ausweitung des »römischen« Staates auf die Gebiete, die man zuvor den örtlichen Gemeinschaften überlassen hatte. In Geschichtsbüchern über das römische Reich wird dies oft als ein unheilvoller Vorgang dargestellt, durch den Rom die Freiheit und Vitalität der Städte zerstörte. In Wirklichkeit trat diese Entwicklung gleichzeitig mit dem oben erwähnten Prozeß ein, durch den zuvor nur römischen Bürgern reservierte Stellungen auch Männern aus den Provinzstädten zugänglich wurden. Eine große Zahl von Menschen, von denen wir wissen, daß sie als Centurionen in der Armee oder in anderen militärischen oder zivilen Stellungen tätig waren, hatten zugleich auf örtlicher Ebene Ämter in ihren eigenen Städten inne. Die Verschmelzung wirkte sich in beiden Richtungen aus. Magistratspersonen aus dem örtlichen Bereich konnten Reichsämter (besonders das des advocatus fisci – des Advokaten der kaiserlichen Kasse) in ihrem Gebiet erhalten; umgekehrt konnte der Kommandeur einer Hilfstruppe Ratsherr in dem Ort werden, in dem er stationiert war. Die Armee nahm innerhalb des Verschmelzungsprozesses den zentralen Platz ein. Denn sie stellte, da es neben ihr keine zahlenmäßig vergleichbare Vereinigung von Staatsbediensteten gab, nicht nur das Personal auf niederer Ebene, das die ausgeweiteten Funktionen des Staates gegenüber den Privatpersonen innehatte. Durch die Armee war auch die Mehrzahl der Amtsträger aus dem Ritterstand gegangen; diese waren in die Armee entweder schon als equites eingetreten oder aus ihr auf Grund ihrer Stellung als erste unter den Centurionen (primus pilus) auf ritterliche Militär- und Zivilposten gesetzt worden. Seit der Regierungszeit Vespasians (69–79) wurde es Brauch, daß der Kaiser einige Inhaber ritterlicher Verwaltungsposten in den Senat berief. Im 2. Jahrhundert, besonders während der Donaukriege Marc Aurels, die eine beträchtliche Belastung für die römische Armee und ihre Befehlshaber darstellten, wurden equites speziell in senatorische Kommandostellen eingesetzt. In den Notzeiten des 3. Jahrhunderts waren sodann Karrieren wie die des Oclatinius Adventus möglich, der vom einfachen Soldaten in der Schutztruppe eines Provinzgouverneurs zum Centurionen der speculatores (eines Korps mit Geheimdienstaufgaben), zum Prätorianerpräfekten und schließlich, als sein Kollege Macrinus im Jahr 217 den Thron okkupierte, zum Senator, Konsul und Präfekten von Rom aufstieg.4 Dieser Fall erzeugte unter den Senatoren Bitterkeit und Verärgerung, was wir aus der Haltung eines zeitgenössischen Senatoren, des Historikers Cassius Dio, ablesen können. Als die Kriege des 3. Jahrhunderts in noch weit stärkerem Maß Berufskommandeure erforderten, hatte dies nicht so sehr die beschleunigte Übernahme von Rittern in den Senat zur Folge als vielmehr den in den Jahren

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zwischen 260 und 280 rasch zunehmenden Ausschluß der Senatoren von allen Kommandostellen. Die Traditionen und der soziale Zusammenhalt des Senats hatten dem Druck des neuen römischen Staates, der aus dem Bereich der Armee kam, Widerstand geleistet, was jedoch auf Kosten seiner Macht erfolgte. Wie die neue Ordnung aussehen sollte, hatte das Beispiel des Maximinus gelehrt, eines thrakischen Bauernsohnes, der in die Armee eintrat, hohe Offiziersränge erreichte und im Jahr 235 den Thron bestieg, ohne je Senator gewesen zu sein. Was zur Bedeutung der Armee für die gesamte Entwicklung noch zu sagen bleibt, ist, daß sie bezahlt werden mußte. Die älteren Staaten vor den Römern hatten Söldnerarmeen besessen oder aber Bürgermilizen, die in Notzeiten einberufen wurden. In der frühen Kaiserzeit wurde endgültig eine stehende Armee aus langdienenden Soldaten aufgestellt, die ihren Sold erhielt und (kleinere Abweichungen sind festzustellen) in voller Kriegsstärke gehalten wurde. Obgleich abhängige Königreiche absorbiert und die Grenzen an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten vorgeschoben wurden, gab es nur zwei größere Eroberungen nach dem Jahr 14 n. Chr., die Britanniens im Jahr 43 und diejenige Dakiens (Dacia) in den Jahren 105/106. Von diesen beiden brachte nur die Besetzung Dakiens ausreichende Beute, die das herkömmliche Finanzierungsmittel antiker Kriege war. Die ständig wachsende Armee mußte darum durch Besteuerung, durch alle möglichen regelwidrigen Mittel der Geldbeschaffung, die existierten, wie die Konfiskation, oder die Forderung von Sachabgaben aufrechterhalten werden. Wenn wir auch keine Zahlen kennen und solche auch in Zukunft nicht besitzen werden, so läßt sich doch mit einiger Sicherheit sagen, daß die vornehmlich auf Ackerbau gegründete Wirtschaft ohne intensive Anspannung und menschliches Leid den notwendigen Überschuß ganz einfach nicht erzeugen konnte. Reichen Senatoren, deren Domänen in Italien allerdings wegen des privilegierten Status italischen Bodens von der Besteuerung ausgenommen waren, drohte ständig eine summarische Verurteilung und die Konfiskation ihres Besitzes. Wie wir sehen werden, offenbaren die Quellen endlose Klagen der Menschen am anderen Ende der sozialen Stufenleiter über ungerechte Forderungen der Soldaten und Steuereinnehmer. Die dazwischenliegende Schicht der Landbesitzer, die die herrschende Klasse in den Städten darstellte, mußte nicht nur für die Ausgaben und Spenden aufkommen, die die Kontrolle der städtischen Ämter notwendig machte, sondern auch für die Einziehung der Steuern und deren Entrichtung an die Provinzbeamten. Daß seit dem 2. Jahrhundert aus dem Privileg, ein Amt bekleiden zu dürfen, eine schwere Belastung wurde, der sich die einzelnen zu entziehen suchten, gehört zu den bekanntesten Grundzügen der Kaiserzeit. Seit Hadrian (117–138) entstand dann aber ein System gesetzlicher Privilegien, durch das die örtlichen Magistrate in den Städten (ebenso die Veteranen und die Angehörigen der Oberschicht) von der übrigen Bevölkerung getrennt wurden. Dieses System könnte tatsächlich – diese Frage ist noch nicht endgültig geklärt – als eine Art Kompensation für die diesen Gruppen aufgebürdeten Lasten

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entwickelt worden sein. Danach besaßen die Mitglieder der Oberschicht, die honestiores, ein Anrecht auf eine Anzahl leichterer Strafen, als die Angehörigen der niederen Schichten, die plebei, sie bei Verurteilung wegen derselben Vergehen zu erwarten hatten. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts wurde es einem Provinzialstatthalter zur Pflicht gemacht, den Kaiser zu konsultieren, ehe er einen honestior mit Deportation bestrafte. Der genaue Zweck dieser Unterscheidungen bleibt im dunkeln. Gewiß bezeichnend ist es aber, daß sie zu der Zeit entstanden, als das römische Bürgerrecht seine ursprüngliche Bedeutung verlor. Seine schnelle Ausweitung auf die Provinzen fand in dem Edikt ihren Höhepunkt, durch das Caracalla (211 bis 217), wie unsere Quellen behaupten, das Bürgerrecht der gesamten Reichsbevölkerung gewährte. (Einige Dokumente lassen jedoch darauf schließen, daß einige große Gruppen Nicht-Privilegierter übrigblieben.) Im Verlauf zweier Jahrhunderte erfolgte also die wirksame Ablösung einer Unterscheidung nach lokalen Gruppen (römischen Bürgern, vornehmlich Italikern, und anderen) durch eine Unterscheidung nach Klassen, die, soweit wir wissen, im ganzen Reich Anwendung fand. Symbolisch für diesen Wechsel ist, daß das Wort ›plebs‹, das ursprünglich die untere Klasse in der Stadt Rom bezeichnete, zum Fachterminus für die unteren Schichten im ganzen Reich wurde. Diese neue Unterscheidung auf gesetzlicher Ebene spiegelt in gewisser Weise die kulturelle Assimilation und Vereinigung wider, die für das gesamte Reich charakteristisch war. Im Jahr 200 hätte man von Britannien nach Syrien reisen können und wäre dabei unterwegs durch Städte eines weitgehend einheitlichen Typs gekommen, deren öffentliche Bauten (Thermen, Theater, Amphitheater oder Zirkusse, Versammlungshäuser für den Gemeinderat, Tempel) einander sehr ähnlich waren. Auf der gesamten Reise hätten für die Verständigung in den Städten zwei Sprachen genügt, Griechisch und Lateinisch, und in einigen Orten hätte man beide Sprachen verstanden. Obgleich zwischen der griechischsprechenden Hälfte des Reiches (die den gesamten Osten bis zur Westküste des Schwarzen Meeres, bis zu den südöstlichen Balkanländern und bis zum heutigen Libyen umfaßte) und der lateinischsprechenden eine spürbare Scheidung bestand, ähnelten die beiden Kulturen, die beide im Grund städtisch waren, einander sehr. Die lateinische Erziehung und Literatur war von Anfang an stark vom Griechischen abhängig gewesen, und die Verbindungen blieben immer sehr eng, wobei ein unvergleichlich stärkerer Einfluß von der griechischen Seite ausging. Als Beispiel für diesen kulturellen Verschmelzungsprozeß – und das Übergewicht der griechischen Kultur – läßt sich der griechische Redner Aelius Aristides aus dem 2. Jahrhundert anführen, der von seiner Kur im Heiligtum des Asklepios in Pergamon berichtet, er habe dort einen Afrikaner getroffen, der nicht nur ein römischer Senator, sondern ein Schüler des Demosthenes gewesen sei.5 Um die Mitte des 3. Jahrhunderts zog ein Lehrer der Rhetorik von Griechenland nach Rom und ließ sich schließlich in Autun als Lehrer nieder.6

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Die kulturelle und soziale Verschmelzung innerhalb des Reiches war das Ergebnis der Verbreitung eines weitgehend ähnlichen Typs griechisch-römischen Stadtlebens über das ganze Reich. Mit dieser Aussage wird das bedeutsamste Charakteristikum griechisch-römischer Kultur berührt, ihre grundlegend koloniale Wesensart. Das bedeutet, daß außerhalb Roms und Italiens die Gesellschaft und Kultur aller Gebiete des Reiches durch Import, Eroberung, Emigration und Assimilation einer vorherrschenden fremden Kultur und durch ihr Überlagern über die bestehende einheimische Kultur oder durch Verschmelzung mit ihr geformt wurden. Will man die römische Kaiserzeit verstehen, muß man sich zunächst mit dem Regierungsüberbau beschäftigen, den sie von der Republik übernahm und den sie in den ersten drei Jahrhunderten n. Chr. stark veränderte. Denn ohne diesen Überbau hätte es überhaupt kein römisches Kaiserreich gegeben. Will man sodann aber begreifen, wie das römische Kaiserreich als Gesellschaft und Zivilisation, als ein Teil menschlicher Erfahrung beschaffen war, muß man sich den einzelnen Teilen des Reiches zuwenden, um die unterschiedlichen Formen kennenzulernen, die die dominierende griechisch-römische Kultur in jedem von ihnen annahm. Man muß sich fragen, wie weit die griechisch-römische Kultur ein fremdartiger Import blieb, der sich auf die Städte beschränkte; wie weit die Landbevölkerung ihre einheimische Kultur und Sprache beibehielt; oder wie weit in manchen Teilen des Reiches eine kulturelle und soziale Verschmelzung stattfand. Die einzelnen Glieder des Imperiums besaßen eine höchst unterschiedliche Vergangenheit, wie beispielsweise Griechenland und Ägypten mit ihrer langen Geschichte oder aber Britannien, das kaum eine geschichtliche Tradition hatte. In einem Gebiet wie Südspanien war jede Spur einheimischer Kultur schon zu Beginn unserer Periode infolge der Einwanderung von Italikern und der Annahme der lateinischen Kultur durch seine Bewohner verschwunden. In Ägypten dagegen überdauerte die Muttersprache – die Sprache der Hieroglyphen – 600 Jahre griechischer und römischer Okkupation und gewann im 3. und 4. Jahrhundert im Koptischen, der ägyptischen Kirchensprache, neue Bedeutung. Ein Einblick in die komplexe Lage, die durch das Zusammentreffen griechisch-römischer und bodenständiger Kulturen in den Provinzen entstand, kann aus den herkömmlichen griechischen und lateinischen literarischen Quellen und aus Inschriften und Papyri gewonnen werden. Aus den griechischen Provinzen, nicht aber aus anderen Teilen des Reiches, sind größere Mengen solchen Materials in anderen Sprachen als der griechischen und lateinischen erhalten. Für die übrigen Bereiche müssen wir uns auf archäologisches Material verlassen, das allein Auskunft über die Kleidung, die Häuser, die Gerätschaften, die Bestattungsriten oder die Tempel der Menschen in den Provinzen geben kann. Der ungeheure Reichtum und die Vielfalt des Materials aus den römischen Provinzen wurde erstmals in seiner ganzen Fülle in M. Rostovtzeffs ›Social and Economic History of the Roman Empire‹ (Gesellschaft und Wirtschaft im römischen

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Kaiserreich) ausgebreitet, die im Jahre 1926 veröffentlicht wurde und immer noch das einzig bedeutsame zusammenfassende Werk über diesen Zeitraum darstellt. Aber wenn auch bislang kein Historiker der Kaiserzeit Rostovtzeff übertroffen hat, so sind doch die Ausgrabungen in jedem Teil des Reiches außer in Spanien, besonders seit dem letzten Kriege, sehr viel weiter fortgeschritten. Die Aufmerksamkeit der Forschung konzentriert sich heute auf die Beziehungen zwischen griechisch-römischer Kultur und den einheimischen Kulturen, was auch Thema des VIII. Internationalen Kongresses für Klassische Archäologie war, der 1963 in Paris tagte. Die wechselseitige Beeinflussung der Kulturen war nicht nur für die materielle Zivilisation oder soziale Struktur von Bedeutung, sondern auch für das religiöse Leben des Reiches. Charakteristisch ist, daß nicht nur die einheimischen Kulte – in Gallien oder Britannien ebenso wie im Osten – dem Übergewicht der fremden Kultur am erfolgreichsten widerstanden, sondern daß in wachsendem Maß in das griechisch-römische Heidentum im Osten beheimatete Götterkulte, wie die der Kybele, der Isis oder des Mithras, eindrangen. Einer dieser Kulte war das Christentum, das als Sekte unter der »subkolonialen« jüdischen Landbevölkerung Palästinas entstand, aber innerhalb weniger Jahre sich über das Netz jüdischer Gemeinden in den griechischen Städten und in Rom ausbreitete. Damit wurde es paradoxerweise zu einem Element innerhalb der beherrschenden griechischen Stadtkultur, brachte bis in das späte 2. Jahrhundert keine Literatur in lateinischer Sprache hervor und drang nur langsam und unter Schwierigkeiten aus den Städten auf das flache Land vor. Selbst die Entwicklung des römischen Staates in dem Zeitraum zwischen Augustus und Diokletian läßt sich nur vor dem Hintergrund der sozialen Entwicklung der einzelnen Teile des Reiches verstehen. Durch diese Entwicklung wurde bestimmt, wer berechtigt und fähig war, aus den Reihen der Armee als Diener des Staates in den Ritterstand, den Senat oder auf den kaiserlichen Thron zu gelangen. Außerdem lag es in der Natur des Staates, daß dieser nur sehr begrenzte Ziele, die hauptsächlich mit der Armee zusammenhingen, von sich aus verfolgte. Abgesehen von der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und der Steuererhebung, neigten der Staat und sein Personal im übrigen dazu, sich auf die Rolle eines Friedensstifters und Wohltäters zu beschränken, wenn immer seine Untertanen darum nachsuchten. Das trifft ebenso für den Kaiser selbst zu, der als Inhaber absoluter und willkürlicher Macht den Zwist streitender Parteien schlichtete oder Petitionen wegen gesetzlicher oder materieller Vorteile beantwortete, die Gemeinden oder einzelne Untertanen vorbrachten. Daraus folgte, daß der Kaiser oft die geringfügigsten Angelegenheiten im örtlichen oder persönlichen Bereich entschied. Entscheidend für das Funktionieren der kaiserlichen Politik war deshalb, in welchen Teilen des Reiches und zu welchen Zeiten es Männer mit ausreichend Vermögen, Vertrauen und politischen Beziehungen gab, um sich Zugang beim Kaiser zu verschaffen und von ihm einen günstigen Bescheid zu

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erhalten. Hier herrschte, wie in so vielen anderen Dingen, der griechische Osten vor; der allergrößte Teil der bekannten kaiserlichen Briefe ist an griechische Städte gerichtet. Die römische Literatur gibt, wie bei der bissigen Beschreibung der »habgierigen Griechen« durch Juvenal, ein verzerrtes Bild der historischen Situation. In Wahrheit war es der griechische Osten, dessen Reichtum und Bevölkerung Vitalität in der Literatur und in den neuen Religionen entwickelten, die im Volk den Widerstand gegen die Invasionen der Barbaren im 3. Jahrhundert weckten, und der seine eigene Kultur und sein eigenes römisch-griechisches Reich bis zu dessen Ende im Jahr 1453 bewahren sollte. 2. Rom, das römische Volk und der Senat Rom und der Senat stellten den Rahmen dar, in den die Einrichtungen der Kaiserzeit hineinwuchsen. In republikanischer Zeit war der Senat, dessen Mitglieder vom römischen Volk gewählt wurden, weitgehend jedoch einen Erbanspruch geltend machten, die eigentliche Regierung des Staates; das Volk, der nominelle Souverän, hatte das letzte Wort, nahm aber aktiv nur wenig Einfluß auf die Politik. In der Kaiserzeit verlor das Volk alle wirksamen verfassungsmäßigen Rechte – sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei den Wahlen – und gewann statt dessen immer stärker wachsende wirtschaftliche Privilegien. Die Aquädukte und öffentlichen Gebäude unterstanden kaiserlicher Aufsicht; die Getreidebeschaffung und die Nahrungsmittelpreise, die freien monatlichen Ausgaben von Getreide (später auch von anderen Nahrungsmitteln), die immer wiederholten Geldgeschenke der Kaiser und die Spiele und Aufführungen, die ständig an Zahl zunahmen und die die Kaiser noch in den Kalender der Stadt aufnahmen, waren Gegenstand kaiserlicher Sorge. Zu dem traditionellen Recht des römischen Volkes auf die Früchte des Kaiserreiches kam der Wunsch der Kaiser hinzu, den Erfolg ihrer Herrschaft durch Schaustellungen und Geschenke in derselben Weise wie die Aristokraten der Republik zu demonstrieren. Darüber hinaus gab, wie wir noch sehen werden, die Anwesenheit des Kaisers dem Volk die Möglichkeit, noch etwas wirkliche politische Macht auszuüben, selbst als seine eigentlichen Rechte verschwunden waren. Die Bedeutung der Stadt Rom und des römischen Volkes lag also einmal darin, daß die Gewinne des Reiches zu einem großen Teil noch in Rom ausgegeben wurden, zum anderen darin, daß Rom noch bis zum Ende unserer Epoche die Hauptbühne blieb, auf der die Kaiser agierten. Die Bedeutung des Senats war weit größer und komplizierter. Er setzte sich aus den Inhabern und ehemaligen Trägern öffentlicher Ämter zusammen (viele Mitglieder entstammten in der frühen Kaiserzeit republikanischen Senatorenfamilien) und gab das Maß der Legalität, der zu beachtenden Schicklichkeit und Tradition an, wonach die Kaiser beurteilt wurden. (Es war zum Beispiel beabsichtigte Rücksicht auf die Tradition, daß Tiberius aufstand, um die Konsuln zu begrüßen.) Kaiser Augustus baute

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seine verfassungsmäßige Stellung nach seinem Sieg im Jahr 31 v. Chr., der ihn zum Alleinherrscher in der römischen Welt gemacht hatte, unter sorgfältiger Beachtung der unter den Senatoren lebendigen Gefühle aus. Danach haben die Kaiser, die alle, bis hin zu Macrinus (217–218), vor der Thronbesteigung Senatoren gewesen waren, mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen versucht, mit dem Senat zusammenzuarbeiten und die unterschwellige Spannung zu mindern, die unvermeidlich aus dem Konflikt zwischen senatorischen Traditionen und dem bloßen Vorhandensein eines Kaisers resultierten. Wie diese Spannung und die Versuche zu ihrer Lösung aussahen, verdeutlicht die Tatsache, daß die Kaiser von Nerva (96–98) bis Septimius Severus (193–211) einen Eid ablegten (den sie nicht immer einhielten), keinen Senator ohne Zustimmung des Senats hinrichten zu lassen. Außerdem blieb die Verleihung einzelner Funktionen und Titel ein wesentliches, wenn oft auch formales Element der Kaisererhebung; der Senat stimmte auch für die Vergöttlichung eines Kaisers oder für die »Verdammung der Erinnerung« an ihn nach dessen Tod. Darüber hinaus hielt der Senat von der Republik her weiter an seiner legislativen Rolle fest, verrichtete eine Vielzahl nicht leicht zu definierender Verwaltungsaufgaben und erwarb eine neue Funktion als Gerichtshof für bestimmte Vergehen durch Mitglieder des Senatoren- und Ritterstandes. So war, in Umrissen, die Stellung des Senats als Körperschaft beschaffen. In unseren Geschichtsquellen, bei Tacitus im frühen 2., bei Cassius Dio im frühen 3. oder in der Historia Augusta im 4. Jahrhundert, werden die Kaiser in der Hauptsache danach beurteilt, wie sie sich gegenüber dem Senat verhielten. Es ist recht auffallend, daß alle die Kaiser – Nero, Domitian, Commodus –, die die Gefühle des Senats am gewaltsamsten beleidigten, auch eines gewaltsamen Todes starben. Die einzelnen Senatoren behielten überdies, Ägypten ausgenommen, das Monopol auf Führungsstellen in der Armee und in den wichtigen Provinzen. Die so beschaffene Regierungsstruktur des Reiches bestand weitgehend unangefochten bis in das letzte Drittel des 3. Jahrhunderts fort. Der davor eingetretene Wandel war ganz anderer Art und bestand in der ständigen Ausweitung der Rekrutierungsbasis des Senats auf alle Reichsteile mit einer Stadtkultur. Obwohl die neuen Männer nicht ohne Erlaubnis des Kaisers aufgenommen werden konnten, machten sie und ihre Nachfahren sich dennoch die Traditionen des Senats und das Gefühl für seine Würde, die er als Körperschaft besaß und die der Kaiser nicht verletzen durfte, ganz zu eigen. I. Rom und das römische Volk Zur Zeit der Republik gab es in Rom die öffentlichen Dienste fast alle noch nicht. Erst Kaiser Augustus hatte während seiner langen Regierung (31 v. Chr. – 14 n. Chr.) allmählich verschiedene Dienste eingerichtet, an deren Spitze Männer aus

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dem Senatoren- oder Ritterstand mit ihren Untergebenen standen. Das wichtigste Amt war das des Stadtpräfekten, der Konsul gewesen sein mußte, weitgehende polizeiliche und richterliche Gewalt besaß und die drei städtischen Kohorten von je 1000 Mann befehligte. Dieses Amt, das später der krönende Abschluß einer senatorischen Laufbahn wurde, den nur wenige erlangten, absorbierte allmählich den größten Teil der Rechtsprechung in Rom und wurde zum Haupt aller Staatsdienste in der Hauptstadt. Die vigiles (Nachtwächter und Feuerwehr) unter dem Kommando eines Präfekten aus dem Ritterstand waren ebenfalls eine Schöpfung des Augustus. Hauptsächlich um Feuer zu verhüten oder um Brandstifter zu bestrafen, besaß dieser Präfekt gewisse richterliche Befugnisse. Aber es ist für die die römische Rechtsprechung charakterisierende ungenaue Abgrenzung der Kompetenzen bezeichnend, daß die einzige uns erhaltene vollständige Niederschrift eines vom Präfekten der vigiles durchgeführten Prozesses von einem ausgedehnten Streit (226 bis 244) handelt, in dem die Walkerzunft ihr Recht auf freie Benutzung eines öffentlichen Platzes verteidigte.1 Augustus richtete ebenfalls das senatorische Amt eines curator (Aufsehers) für Tempel und öffentliche Gebäude ein, das bis in das 4. Jahrhundert bestand. Im 2. und 3. Jahrhundert gab es daneben kaiserliche Agenten aus der Ritterschaft, procuratores für die öffentlichen Bauten in Rom. Über den Aufgabenbereich dieser Beamten ist nicht viel bekannt. Aber die Funktionen eines vergleichbaren Postens, des senatorischen Aufsehers (curator) der Aquädukte, der auf Veranlassung des Kaisers Augustus im Jahr 11 v. Chr. geschaffen wurde, sind sehr gut bekannt. Denn Julius Frontinus, der von 96 bis 98 dieses Amt innehatte, beschrieb in seinem Buch De aquae ductu urbis Romae die Entstehung der Aquädukte und, bis zur kleinsten Einzelheit, wie sie funktionierten und verwaltet wurden.2 Kein anderes Zeugnis offenbart mit solcher Klarheit, wieviel Rom der Fürsorge der Kaiser verdankte und wie eng die senatorische Verwaltung mit den neuen kaiserlichen Beamten zusammenarbeitete. Die für die Aquädukte verantwortliche Truppe entstand aus der Sklavenmannschaft, die der Heerführer des Kaisers Augustus, Marcus Agrippa, für Arbeiten an den Aquädukten als Ädil im Jahr 33 v. Chr. aufgestellt hatte. Als Agrippa im Jahr 13 v. Chr. starb, hinterließ er die Arbeiterkolonne dem Kaiser, der sie dem Staat übergab; zwei Jahre später ließ Augustus den Senat für die Einrichtung des curator-Amtes stimmen. Die Untergebenen der curatores und die jetzt öffentlichen Arbeitssklaven mußten aus dem aerarium, der Staatskasse, bezahlt werden. Kaiser Claudius (41–54) beschäftigte noch eine zweite Sklavenabteilung, die kaiserlicher Besitz blieb und vom fiscus, der kaiserlichen Kasse, bezahlt wurde, der auch für das notwendige Material aufkam. Diese Ämter hatten mit der Instandhaltung bestehender Tempel, öffentlicher Gebäude und Aquädukte zu tun. Darüber hinaus errichteten die Kaiser, weitgehend auf eigene Kosten, bis in die letzte Jahrhunderthälfte unserer Epoche, in der nur noch geringe Bautätigkeit beobachtet werden kann, eine

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große Zahl von Bauten – Tempel, Theater, Bäder, Triumphbögen, neue Aquädukte. In dieser späteren Periode war das bedeutendste öffentliche Bauwerk von ganz anderer Art: Aurelian (270 bis 275) ließ eine etwa 19 km lange Mauer um die Stadt Rom errichten, die seit den Tagen der frühen Republik zum ersten Mal wieder notwendig war.3 Diese lange Reihe von Bauten – von denen das Kolosseum, das von Vespasian (69–79) begonnen und von seinem Sohn Titus vollendet wurde, vielleicht das berühmteste ist – symbolisierte die Freigebigkeit und Stabilität des kaiserlichen Regimes. Die Bauten dienten wohl auch noch einem anderen Zweck, denn als Vespasian eine arbeitssparende Vorrichtung zur Beförderung von Marmorsäulen auf das Kapitol angeboten wurde, lehnte er diese mit den Worten: »Erlaube mir, das Volk zu ernähren« ab. Solch unmittelbare Vorteile interessierten das Volk. Am wichtigsten war dabei die Versorgung mit Getreide und anderen Nahrungsmitteln zu erträglichen Preisen. Während der Regierung des Kaisers Augustus kam es zweimal, in den Jahren 22 v. Chr. und 6 n. Chr., bei der Getreideversorgung zu Schwierigkeiten. Beim zweiten Mal hatte Augustus Senatoren mit der Überwachung beauftragt; aber im Jahr 14 n. Chr. gab es dann den Präfekten der Getreideversorgung (annona), der dem Ritterstand entstammte. Seine Pflichten und Vollmachten waren beschränkt. Der Getreidehandel lag in privaten Händen. Es gibt keinerlei Belege dafür, daß Getreideschiffe im Besitz des Staates waren. Sogar das Getreide – vielleicht ein Drittel des Gesamtimports –, das als Tribut aus den Provinzen, besonders aus Africa und Ägypten, kam, wurde auf privaten Schiffen befördert. Der Präfekt und seine Mitarbeiter überprüften die Getreidequalität, kontrollierten Maße und Gewichte, verhinderten Betrug und schlossen mit Schiffseigentümern Verträge ab, die die Beförderung des Tribut-Getreides regelten; später übte der Präfekt die Rechtsprechung in Fällen, die Schiffsleute betrafen. Die volle Verantwortung lag jedoch beim Kaiser, wie Tiberius in einer Rede vor dem Senat im Jahr 22 ausführte: »Diese Verantwortung, Senatoren, wird vom Kaiser getragen. Ihre Nichtbeachtung würde den Staat völlig zerstören.« Drei Jahre zuvor war er durch die Beschwerden des Volkes dazu gezwungen worden, den Getreidepreis zu senken und den Händlern Subventionen zu zahlen. Kaiser Claudius, der im Jahr 51, als das Getreide knapp war, beinahe sein Leben verlor, als er von einer wütenden Menge auf dem Forum angegriffen wurde4, gab den Schiffseigentümern Belohnungen, die Getreide nach Rom brachten, und beaufsichtigte den Bau des ersten geeigneten Hafens in Ostia; ein zweiter, innerer Hafen wurde dann von Trajan gebaut. Septimius Severus (193–211) soll die Versorgung so geschickt geregelt haben, daß bei seinem Tod Vorräte für sieben Jahre in den Kornspeichern Roms lagen. Aus der Regierungszeit des Severus Alexander (222–235) ist eine Anekdote erhalten, nach der die Massen im Circus oder im Theater eine Herabsetzung der Preise forderten. Der Kaiser ließ durch seinen Herold fragen, welche Nahrungsmittel

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gemeint seien. »Rind- und Schweinefleisch«, riefen sie – und es wurden Maßnahmen getroffen, die eine bessere Versorgung gewährleisteten. Neben der allgemeinen Aufsicht über Vorräte und Preise gab es die besondere Aufgabe der freien monatlichen Getreideausgaben an das römische Volk. Dies war keine Maßnahme der Armenfürsorge, sondern ein politisches Privileg, das das Volk in der späten Republik gewonnen hatte und das die Kaiser anerkannten. Die Austeilung erfolgte nach einer besonderen Liste, auf der Augustus 200000 Personen hatte verzeichnen lassen, die in der Regel männlichen Geschlechts, über zehn Jahre alt, römische Bürger und in Rom wohnhaft sein mußten. Diese Personen waren im Besitz von Karten (tesserae), die den Inhaber berechtigten, an einem bestimmten Tag an einer bestimmten Tür am Hauptverteilungsort, dem Portikus von Minucia, seine monatliche Zuteilung abzuholen. Der jüdische Philosoph Philo berichtet, daß Augustus den Juden von Rom erlaubte, einen anderen Tag zu wählen, wenn die Ausgabe auf den Sabbat fiel. Obgleich der Theorie nach eine Liste der berechtigten Personen aufbewahrt wurde, ist klar, daß die tesserae später Tauschobjekte wurden, die gekauft, verkauft oder ererbt werden konnten. Die eigentliche Verteilung (im Gegensatz zur Bereitstellung des Getreides, von der wir nichts wissen) wurde von zwei senatorischen Präfekten der Kornverteilung beaufsichtigt, die bis etwa zum Jahr 230 belegt sind. Im 3. Jahrhundert nahmen die Ausgaben an Umfang und Vielfalt zu. Septimius Severus soll eine tägliche Ölration hinzugefügt haben, während Aurelian (270–275) auch Schweinefleisch und Wein zu herabgesetzten Preisen austeilen ließ und schließlich die monatlichen Getreidegaben durch tägliche Brotgaben ersetzte. Mit den Nahrungsmittelverteilungen eng verbunden waren die Geldspenden (congiaria), die dem gleichen Personenkreis zugute kamen, aber nur unregelmäßig bei besonderen Anlässen wie kaiserlichen Machtübernahmen, Geburtstagen oder Triumphen gegeben wurden. Sie waren persönliche Geschenke des Kaisers an die Bevölkerung der Hauptstadt. Als Marcus Aurelius (161–180) von seinen Kriegszügen zurückkehrte, verlangte das Volk für jeden Bürger acht Goldstücke, eines für jedes Jahr seiner Abwesenheit.5 Der Kaiser hatte bei der Verteilung den Vorsitz. Eine Anekdote über Hadrian berichtet, daß er die laut gerufenen Beschwerden einer alten Frau hörte, als er beim congiarium saß. Zu diesem Anlaß ausgegebene Münzen zeigen, wie die Kaiser auf einer Tribüne saßen, während ein Beauftragter die Münzen den Angehörigen des Volkes aushändigte, die nacheinander die Stufen hinaufstiegen, um das Geld zu empfangen.

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� Abb. 1: Der Kaiser verteilt Gaben an das Volk von Rom. Diese Münzen mit der Aufschrift LIBERALITAS AUGUSTI (›Freigebigkeit des Augustus‹) zeigen Geldverteilungen an das Volk, bei denen der Kaiser, der auf einem erhöhten Tribunal sitzt, den Vorsitz führte, a) Diese Münze wurde von Nero (54–68) ausgegeben und zeigt, wie ein Beamter die Münzen von einem Tisch verteilt, b) Auf der von Severus Alexander im Jahr 229 ausgegebenen Münze ist die Person des Kaisers stärker hervorgehoben. Anstelle des Beamten erscheint eine symbolische Gestalt mit Füllhorn und Rechenbrett. Diese Gaben betrafen nur eine begrenzte Gruppe privilegierter Personen. Es existierten aber noch andere Vergünstigungen von größerer Bedeutung. Der Lehrer des Marcus Aurelius, Cornelius Fronto, führte dazu aus: »Das römische Volk wird durch zwei Dinge friedvoll gehalten, die annona und die Spiele; das Reich wird sowohl nach seinen Vergnügungen als auch nach seinen ernsthaften Angelegenheiten beurteilt ... Congiaria werden weniger drohend verlangt als Spiele; denn congiaria sind nur für die einzelnen auf den Kornlisten nützlich, Spiele aber für das ganze Volk.«6 Spectacula (Schauspiele) gehörten, wie allgemein bekannt, zu den wichtigsten Charakteristika römischen Lebens und füllten nach einem Kalender aus der Mitte des 4. Jahrhunderts nicht weniger als 176 Tage im Jahr aus. Viele Spiele und Aufführungen gingen auf die Republik zurück und wurden noch immer von verschiedenen senatorischen Beamten teils mit eigenen, teils mit öffentlichen Geldern veranstaltet. Andere wurden laufend von den Kaisern hinzugefügt. Zu Anlässen wie Geburtstagen und Triumphen standen besondere Veranstaltungen auf der Tagesordnung. Das Ausrichten von Spielen und Aufführungen bedurfte großer Anstrengungen. Tiere mußten erworben und dressiert werden (Plutarch sah bei einer Aufführung in Rom abgerichtete Hunde und erzählt die liebenswerte

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Geschichte von einem Elefanten, dem ein Kunststück bei der Vorstellung mißlang und der deshalb am Abend allein übte7. Die Kaiser besaßen das Monopol auf die Jagd und den Besitz von Elefanten und hatten einen Elefantenpark in Laurentum bei Rom. In Rom und später auch an anderen Orten unterhielten sie Gladiatorenschulen (wie es führende Persönlichkeiten zu republikanischen Zeiten getan hatten und einige von ihnen noch immer taten). Sie waren darauf bedacht, die besten Darsteller zu engagieren. Nach der Unterdrückung des jüdischen Aufstandes der Jahre 66–70 wurden 600 ausgesuchte Gefangene nach Rom eingeschifft, um in der Arena zu sterben. Im 3. Jahrhundert schrieb der Rechtsanwalt Modestinus: Wenn ein Statthalter Männer zum Tod durch wilde Tiere verurteilt hat, die wegen ihrer Stärke und ihres Geschicks zur Schaustellung für das Volk von Rom geeignet scheinen, soll er den Kaiser befragen. Im 2. und 3. Jahrhundert ließen die Kaiser auch Gruppen von pantomimi oder Tänzern ausbilden. Diejenigen, die in Rom keinen Beifall fanden, wurden in Italien und in den Provinzen auf Tournée geschickt.8 Die Tradition der kaiserlichen Schaustellungen fand im Jahr 274 mit dem großen Triumph ihren Höhepunkt, den Aurelian für den Sieg über Palmyra feierte. Nach dem Triumphzug, in dem nicht nur Gefangene und Beutestücke, sondern Hunderte von Tieren (Tiger, Elche, Giraffen) und 800 Gladiatorenpaare mitgeführt wurden, veranstaltete der Kaiser Theateraufführungen, Rennen, Jagden auf wilde Tiere, Gladiatorenkämpfe und eine zum Schein geführte Seeschlacht. An solchen kaiserlichen Festtagen wurden manchmal Essen für die ganze Bevölkerung ausgegeben, die der Kaiser den Empfängern im Theater oder Zirkus servieren oder an verschiedenen Stellen der Stadt austeilen ließ. Die Mitglieder des Ritter- und des Senatorenstandes wurden bei solchen Anlässen vom Herrscher persönlich bewirtet. Bei anderen Gelegenheiten verteilten die Kaiser wahllos Pfänder, sogenannte missilia, unter die Menge, die den Inhaber zu Geschenken verschiedenster Art berechtigten. Nero (54–68) vergab auf solche Weise Vögel, Nahrungsmittel, Karten für die Getreideverteilung, Kleidungsstücke, Juwelen, Bilder, Sklaven, Vieh, dressierte Tiere und schließlich sogar Schiffe, Mietskasernen und Grundstücke. Kaiser Elagabal (218–222) schenkte Gold und Silber, Nahrungsmittel, Kleidungsstücke, Kamele, Esel, Vieh und Rotwild. Während die wirtschaftlichen Vorteile also ständig zunahmen, verlor das römische Volk alle verfassungsmäßigen Rechte. Im Jahr 14 n. Chr. wurde erstmals das System praktiziert, wonach der Senat durch gegenseitiges Übereinkommen (später durch ein formelles Votum) Jahr für Jahr alle diejenigen senatorischen Beamtenstellen zu besetzen hatte, für die noch keine Kandidaten mit der persönlichen »Empfehlung« des Kaisers, die die Wahl garantierte, aufgestellt waren. Das Volk kam bis ins 3. Jahrhundert zu Wahlversammlungen zusammen. Die Rituale der republikanischen Versammlung wurden denn auch

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beibehalten, aber die Anwesenden gaben einer einzigen Kandidatenliste ihre Zustimmung.9 Nach der Verfassung stand dem Volk als zweites wesentliches Recht die Gesetzgebung in der Form von Gesetzen (leges) oder Volksentscheiden zu. Unsere Quellen verwenden den Begriff lex für verschiedene Teile der Gesetzgebung bis zur Regierungszeit Nervas (96–98). Es gibt jedoch aus dieser Periode keine einzige Beschreibung einer gesetzgebenden Versammlung, und es scheint, daß eine solche auch nicht stattgefunden hat. Der Verlust aller verfassungsmäßigen Aufgaben bedeutete keineswegs den Verlust sämtlicher Macht. Druck konnte sowohl auf den Senat (im Jahr 14 n. Chr. umdrängte der Pöbel erneut das Senatsgebäude und zwang den Senat, der Besoldungserhöhung der Tänzer bei öffentlichen Aufführungen zuzustimmen) als auch, was noch wichtiger war, auf den Kaiser ausgeübt werden. Abgesehen von Aufständen konnte man die Volksstimmung im Theater oder Amphitheater, wo sich die Menge in großer Zahl versammelte, kennenlernen, wo sie auch ihre Beschwerden und Forderungen dem Kaiser zurief und gelegentlich mit ihm einen regelrechten Dialog führte, in dem er in Worten oder Zeichen oder aber durch seinen Herold antwortete. Die Forderungen des Volkes brauchten nicht nur Nebensächlichkeiten wie die Hinrichtung von Verbrechern, das Auftreten von Gladiatoren, die Freilassung eines Lieblingsschauspielers oder bloß, wie wir schon gesehen haben, die Erhaltung ihrer eigenen Privilegien betreffen. Es konnte auch eine Steuersenkung (nach Demonstrationen im Jahr 58 wurde die Tätigkeit der Steuereinnehmer streng überwacht) oder die Beendigung des Krieges fordern. Cassius Dio war im Jahr 196 Zeuge einer Demonstration im Circus, in der das Volk im Chor nach Beendigung des Bürgerkrieges rief.10 Es konnte mit Erfolg die Hinrichtung kaiserlicher Günstlinge verlangen, wie die Cleanders, eines Günstlings des Commodus, der nach einem Aufstand im Jahr 190 abgesetzt wurde. Darüber hinaus bedeutete die öffentliche Unterstützung zeitweise einen wirksamen Faktor bei der Frage, wer auf den kaiserlichen Thron erhoben werden sollte. Die Volkstümlichkeit seiner Familie und seiner Person spielte bei der Thronbesteigung des Caligula im Jahr 37 eine wichtige Rolle, und Agrippina buhlte um die Gunst des Volkes, ehe sie ihren Gatten Claudius im Jahre 54 ermordete und ihren jungen Sohn Nero auf den Thron setzte. Im Jahr 193 versammelte sich das Volk ganz spontan im Circus (der inzwischen zu seinem natürlichen Versammlungsort geworden war) und ergriff offen die Partei eines Prätendenten, des Pescennius Niger. Im Jahr 238 demonstrierte der bewaffnete Pöbel gegen die vom Senat gewählten Kaiser Maximus und Balbinus und erzwang die Ernennung eines dritten Kaisers, des jungen Gordian III. (238 bis 244). Im gleichen Jahr zeigte das Volk dann seine Stärke, indem es den Prätorianerkohorten eine regelrechte Schlacht lieferte. Gegen Ende der hier beschriebenen Periode wurde Probus (276 bis 282), wie berichtet wird, nicht nur von der Armee gestützt und vom Senat gewählt, sondern durch Akklamation des römischen Volkes als Kaiser gewünscht.

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II. Der Senat Die Bedeutung des Senats lag einmal in seinen Aufgaben als Körperschaft und zum anderen in der Rolle seiner Mitglieder als Individuen. Betrachtet man zunächst die körperschaftlichen Aufgaben, dann muß man sich vergegenwärtigen, daß der Senat keinerlei echte Entscheidungs- oder Neuerungsbefugnisse besaß. Wenn der Senat nicht schon bestanden hätte, hätte man ihn nicht zu erfinden brauchen; da er aber nun einmal nicht nur schon bestand, sondern dazu noch die Verkörperung der Traditionen des römischen Staates darstellte, waren seine Handlungen von großer Bedeutung. Zuallererst muß seine Rolle bei der Erhebung eines Kaisers genannt werden. Im Jahr 14 n. Chr., als es zum ersten Mal zu einem Machtwechsel kam, erwies sich diese Rolle als schwierig und verwirrend. Denn Tiberius verhielt sich in seinen Verhandlungen mit dem Senat zögernd und argwöhnisch, unternahm gleichzeitig aber Schritte, die auf eine Machtübernahme hinausliefen, und hatte keine Formel vorbereitet, die es gestattet hätte, seine Thronbesteigung huldvoll akzeptieren zu lassen. Die Konsuln stellten im Senat einen Antrag (dessen genaue Einzelheiten Tacitus nicht überliefert) auf Erhebung des neuen Kaisers. Der in der Sitzung anwesende Tiberius leistete zunächst dem Ansinnen einzelner unerschrockener Senatoren, die ihn zur Darlegung seiner Absichten zwingen wollten, Widerstand, erklärte sich schließlich aber nach langem Zögern dazu bereit.11 Wenn später ein Sohn seinem Vater nachfolgte oder ein erfolgreicher Staatsstreich stattgefunden hatte, stellte die Zuteilung von Befugnissen und Titeln durch den Senat an den Kaiser in den meisten Fällen einen bloß formalen Akt der Anerkennung dar, der nicht als der eigentliche Anfang der neuen Herrschaft zu gelten brauchte. Vespasian wurden zum Beispiel seine Titel vom Senat im Herbst des Jahres 69 verliehen, während er den Beginn seiner Regierung von der ersten Akklamation durch die Truppe am 1. Juli an rechnete. An einer bestimmten Stelle jedoch wurde gesetzlich festgelegt (was wir lediglich aus einer Inschrift auf einer in Rom gefundenen Bronzetafel wissen), daß Vespasian über gewisse spezifische Rechte verfügen sollte, über den Entscheid über Krieg und Frieden, das Recht auf Einberufung des Senats und so weiter. Das Dokument nennt sich selbst eine lex, hat aber die Form eines Beschlusses des Senats, der ihn wahrscheinlich auch verabschiedete.12 Im allgemeinen bestand die Funktion des Senats, wie wir gesagt haben, nur noch in der Verleihung der Kaisertitel. Über dieses Recht wurde denn auch eifersüchtig gewacht. Cassius Dio, der im Senat saß, als Macrinus’ erster Brief im Jahr 217 eintraf, beklagt sich bitterlich darüber, daß dieser die volle kaiserliche Titulatur verwandt habe, ohne die Verleihung durch den Senat abzuwarten. Es gab aber Gelegenheiten, bei denen der Senat eine aktivere, wenn auch nicht immer sehr erfolgreiche Rolle spielte. Im Jahr 41, nach der Ermordung Caligulas, wurde der Senat von den Konsuln berufen und debattierte über die

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Wiederherstellung der Republik. Einige prominente Senatoren spielten jedoch mit dem Gedanken, selbst auf den Thron zu steigen, das Volk verlangte lautstark nach einem Kaiser, und inzwischen wurde Claudius im Prätorianerlager auf den Schild gehoben. Im Jahr 68, als es in Gallien schon zu einem Aufstand gekommen war und die Prätorianerkohorten in Rom die Partei Galbas ergriffen hatten, erklärte der Senat den geflohenen Kaiser Nero zum Staatsfeind und rief Galba zum neuen Kaiser aus. Paradoxerweise erlebte der Senat im 3. Jahrhundert zweimal Augenblicke wirklicher Macht. Im Jahr 238 erkannte er Gordian I. an, der in Africa als Gegner des barbarischen Maximinus Thrax proklamiert worden war. Er trat sodann nach dem Tod des Gordian zusammen und wählte zwei Senatoren zu Kaisern, Maximus und Balbinus, in deren Regierungszeit er (zusammen mit dem jungen Gordian III., der zur Versöhnung der Massen ausgerufen worden war) einen Krieg gegen Maximinus führte, der mit dessen Tod bei Aquileia siegreich endete.13 Nach der Ermordung Aurelians im Jahr 275 kam es zu einem außergewöhnlichen Interregnum, als die Armee eine Gesandtschaft mit der Bitte an den Senat schickte, einen Kaiser zu bestimmen. Der Senat lehnte zunächst ab, wählte später dann Tacitus, einen wohlhabenden Senator italischer Herkunft. Tacitus hielt sich nur sechs Monate, aber es ist bezeichnend, daß der Senat bei all seiner tatsächlichen Schwäche selbst in dieser Spätzeit die Verkörperung der Legalität und Verfassung blieb. Die nach dem Tod eines Kaisers zu ergreifenden Maßnahmen stellen einen weiteren Aspekt der Rolle des Senats als Verkörperung der Legalität gegenüber den Kaisern dar. Wurde die Macht auf friedlichem Weg weitergeleitet, konnte man im allgemeinen mit Sicherheit damit rechnen, daß der Senat für die Vergöttlichung des Kaisers und den Einschluß seiner Regierungshandlungen (acta) in den am 1. Januar jeden Jahres abgelegten Loyalitätseid stimmte, der somit den regierenden Kaiser und alle bisherigen »guten« Kaiser erwähnte. Einmal jedoch, als die Macht auf friedlichem Weg weitergegeben wurde, nämlich beim Tod Hadrians (138), hatte sein Nachfolger Antoninus Pius die größten Schwierigkeiten, den Senat (der Hadrian wegen der Hinrichtung prominenter Personen haßte) zu bewegen, diesen zu vergöttlichen: »Dann«, so sagte er in einer Rede vor dem Senat, »will ich auch nicht euer Kaiser sein, wenn er ein böser Mensch und ein Staatsfeind war. Denn damit annulliert ihr seine Regierungsmaßnahmen, von denen eine meine Adoption darstellt.«14 Es konnte tatsächlich geschehen, daß, wie im Fall des Tiberius, weder die Vergöttlichung noch die »Verdammung der Erinnerung« an ihn – die damnatio (mit damit verbundener Annullierung der Regierungsmaßnahmen) – vollzogen wurde. Nach der Ermordung Caracallas (217) verurteilte der Senat aus Furcht vor der Armee, die dem Verstorbenen gewogen war, nicht die Erinnerung an ihn, mied aber seine Vergöttlichung bis zu einem späteren Zeitpunkt, als er dann von der ungestümen Soldateska dazu gezwungen wurde. Im allgemeinen pflegte auf die Ermordung eines verhaßten Kaisers die damnatio zu folgen, die gelegentlich von wilden Auftritten begleitet war. Nach der Ermordung Domitians (96) stürzten

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die Senatoren zum Senatsgebäude, verwünschten sein Andenken, rissen dort seine Bilder herunter und annullierten seine Verfügungen. Eine solche Abstimmung bedeutete nicht nur, wie wir von zahllosen Inschriften und Papyri wissen, die Tilgung des Kaisernamens, wo immer er auch verzeichnet war, und seine Auslassung bei späteren Eiden. Sie hatte auch praktische Konsequenzen: Claudius ging die Verfügungen Caligulas durch, die prinzipiell alle annulliert waren, und bestätigte nur einzelne, die wert waren fortzubestehen. Nerva bestätigte, um die Lage ganz klarzustellen, auf ähnliche Weise alle von Domitian gewährten Privilegien. Unter normalen Verhältnissen trat der Senat unter Leitung der Konsuln zweimal im Monat zusammen oder wenn immer er von den Konsuln, Prätoren, Volkstribunen oder dem Kaiser selbst einberufen wurde. Die Teilnahme an den Sitzungen war für alle, außer den in Staatsgeschäften abwesenden oder vom Kaiser beurlaubten Senatoren, obligatorisch; in den Monaten September und Oktober genügte jedoch eine durch das Los bestimmte Rumpfversammlung. Der Verpflichtung zur Teilnahme scheint in der Praxis nicht sehr streng Geltung verschafft worden zu sein. Die wenigen verfügbaren Zahlen weisen ein allmähliches Absinken der Anwesenheitszahlen aus – 405 bis 409 im Jahr 23 v. Chr., 383 im Jahr 45 n. Chr. und zwischen 250 und 299 im Jahr 138. Severus Alexander (222–235) soll nach einer zweifelhaften Quelle eine Mindestzahl von nur 70 Senatoren festgelegt haben. Die formalen Geschäfte des Senats wurden durch die relatio, bei der der Vorsitzende eine Angelegenheit zur Beschlußfassung vorlegte, und die interrogatio geführt, bei der er die Anwesenden um ihre Meinung (sententia) befragte. Damit fing er bei den für das folgende Jahr designierten Konsuln, den Prokonsuln und Proprätoren an; Magistratspersonen, die ein Amt bekleideten, wurden ausgelassen, außer wenn der Kaiser selbst den Vorsitz führte, konnten aber ohne Aufforderung in die Verhandlungen eingreifen. Nach Beendigung dieser Befragung, die bei den Proprätoren aufhörte, da die jüngeren Senatoren nicht gebeten wurden, das Wort zu ergreifen, stimmte der Senat ab (discessio). Die Gegenwart des Kaisers, der den Vorsitz führte, wenn er tatsächlich das Konsulat bekleidete, sonst bei den Konsuln saß und seine Begleiter, u.a. den Prätorianerpräfekten und eine Militäreskorte, bei sich hatte, verursachte unvermeidlich einige Hemmnisse sowohl im Hinblick auf die Geschäftsordnung als auch auf die freie Meinungsäußerung. Tiberius wurde durch die Frage eines Senators, wann er seine sententia abzugeben beabsichtige (da die überlieferte Ordnung für einen Kaiser natürlich keine Bestimmung enthielt), beunruhigt. Claudius beschwor die Senatoren in einer schwerfälligen Rede, die uns auf einem Papyrus erhalten ist, ihre Meinung in echter Verantwortung zu sagen, anstatt den designierten Konsul die relatio der Konsuln nur wörtlich wiederholen und die übrigen nicht mehr als »Ich bin der gleichen Meinung« sagen zu lassen. Diesem Vorgang ging zumeist ein informeller Teil voraus, der in der Kaiserzeit große Bedeutung erlangte. In dessen Verlauf erstatteten der den Vorsitz

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führende Beamte oder andere Senatoren, die das Wort zu ergreifen wünschten, Bericht oder reichten Gesuche über wichtige Dinge ein. Von den Kaisern wurden dem Senat dann auch Informationen übermittelt oder Gesetze unterbreitet, und zwar durch Briefe, die der kaiserliche Quaestor verlas, oder in einer Ansprache (oratio). Die oratio principis (Rede des Kaisers) legte naturgemäß die Abstimmung des Senats fest; nachdem Tacitus die Rede des Claudius im Jahr 48 über die Aufnahme einiger gallischer Notabeln in den Senat wiedergegeben hat, schließt er die kurze Bemerkung an: »Der Ansprache des Kaisers folgte der Senatsbeschluß.« Schließlich kam die Rede des Kaisers vor dem Senat einem legislativen Akt gleich. So führten Juristen die von Caracalla im Jahr 206, als er zusammen mit seinem Vater Septimius Severus Kaiser war, gehaltene Ansprache als Autorität für die gesetzliche Bestätigung von Geschenken zwischen Ehepartnern an. Im Lauf der Jahre kam es dann dahin, daß der Senat die Rede eines Kaisers (manchmal auch die relatio oder die Ansprache eines Senators) mit Akklamationen (acclamationes) begrüßte, die später einen geordneten und rhythmischen Charakter erhielten und als ein Teil der Senatsgeschäfte feierlich verzeichnet wurden. Uns ist jedoch die Rede eines Senatoren erhalten geblieben, in der er, ohne direkt Kritik zu üben, zu den Vorschlägen aus der kaiserlichen Ansprache Stellung nahm und Anregungen zu deren Verbesserung gab. Im Jahr 177 folgte auf die oratio des Marcus Aurelius und des Commodus, in der sie Maßnahmen zur Reduzierung des Preises von Gladiatoren vorschlugen, die in den Provinzen in Spielen auftraten, die von Priestern ausgerichtet wurden, die Rede eines Senators, die uns auf Inschriften aus Italica in Spanien und Sardes in Asia erhalten ist. Nachdem er seinen Ausführungen die Bemerkung vorausgeschickt hatte: »Obwohl viele glauben, daß wir zu allen uns von dem Kaiser vorgelegten Angelegenheiten eine einzige kurze sententia (der Zustimmung) abgeben sollten«, erörtert er darin freimütig und detailliert die einzelnen Punkte der kaiserlichen Ansprache.15 Dieser Vorgang beweist, wie sich im 2. Jahrhundert gesichertere Beziehungen zwischen Kaiser und Senat herausbildeten. Die vom Senat verabschiedeten Gesetze betrafen die verschiedensten Bereiche: zum Beispiel den Status von Frauen, die geschlechtliche Beziehungen zu Sklaven unterhielten, die Rechte eines Mündels, die Strafen für die Zerstörung von Gebäuden, den Verlauf von Kriminalprozessen oder die Bestrafung von Sklaven, die sich im Haus aufhielten, als ihr Herr ermordet wurde. Das letzte als Quelle des Zivilrechtes zitierte senatus consultum (Senatsbeschluß), das nicht im Zusammenhang mit einer oratio principis erwähnt wird, ist das senatus consultum Orfitianum des Jahres 178, das den Kindern einer Frau vor ihren Brüdern, Schwestern und anderen Verwandten den Vorrang in der Erbfolge gab. Sieht man von der Gesetzgebung ab, verblieb dem Senat noch die Beschlußfassung über eine große Zahl von Angelegenheiten. Er gab Triumphen und anderen Ehrungen der Kaiser und wieder anderen Ehrungen einzelner seine Zustimmung. So verfügte der Senat zum Beispiel im Jahr 52, Pallas, dem

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Freigelassenen des Claudius, die insignia (Ehrenzeichen) eines Prätors und eine ansehnliche Geldbelohnung zu geben. Der Senat empfing Gesandtschaften aus italischen Städten und den Provinzen; er stimmte über die Ausgabe von Geldern aus der Staatskasse für die Errichtung von Gebäuden oder die Abhaltung von Spielen in Rom ab; er gab die Erlaubnis zur Einrichtung von Märkten oder Festspielen in den Provinzen. So können wir beispielsweise auf Inschriften lesen, daß der Senat im Jahr 138 einem Senator gestattete, auf seinem Landgut in Africa regelmäßig Märkte abzuhalten, oder daß er in den Jahren 138 bis 160 die Gründung eines Klubs der neoi (jungen Männer) in Kyzikos (Asia) zuließ. Es muß jedoch festgehalten werden, daß es keine Geschäftsbereiche gegeben zu haben scheint, in denen ausschließlich der Senat zuständig war. In allen Bereichen entschied der Kaiser über eben dieselben Angelegenheiten. Ob die Angelegenheit vor den Kaiser oder den Senat kam, mag davon abgehangen haben, an wen sich die betreffenden Parteien wandten. So konnte es vorkommen, daß der Kaiser eine Angelegenheit dem Senat übertrug, wie es Tiberius tat, als er im Jahr 26 eine Reihe von Gesandtschaften aus griechischen Städten, die Anspruch auf das Asylrecht erhoben, an den Senat weiterleitete, oder daß der Senat dem Kaiser eine Sache übergab. Als im Jahr 59 eine Gesandtschaft aus Kyrene eintraf, die Klagen gegen einen Senator vorbrachte, der Jahre zuvor von Claudius zur Wiedergewinnung von Staatsbesitz dorthin geschickt worden war, gab der Senat an, in dieser Angelegenheit nicht Bescheid zu wissen, und verwies sie an Nero. Ob der Senat über Staatsgeschäfte von unmittelbarer Bedeutung debattieren durfte, hing vom Kaiser ab. Tiberius (14–37) erlaubte dem Senat als entschiedener Konstitutionalist, über die Staatsfinanzen, die öffentlichen Arbeiten, die Rekrutierung und Disziplin der Truppen, die Provinzkommandos und die Korrespondenz mit Klientelfürsten frei zu beraten. Vespasian (69–79) betrieb alle Staatsgeschäfte mit dem Senat gemeinsam, während Marcus Aurelius (161–180) den außergewöhnlichen Schritt unternahm, den Senat um Bewilligung der für den Krieg notwendigen Gelder zu bitten. Das waren jedoch Erweise der Gnade und des Respekts vor der konstitutionellen Präzedens – der Senat konnte sie nicht vom Kaiser erzwingen. Die einzige ernstzunehmende Funktion, die der Senat nicht in der Republik besessen, sondern in der Kaiserzeit übernommen hatte, war die der Kriminal Jurisdiktion, und zwar vornehmlich in Fällen der repetundae (d.h. wenn Provinzgouverneure und -beamte widerrechtlich Geld erwarben) und der maiestas, des Hochverrats oder Majestätsverbrechens. Der Ursprung der vollen Repetundae-Prozesse scheint in einem 4 v. Chr. eingerichteten Verfahren zu suchen zu sein, durch das Provinzbewohner, die lediglich die Rückgabe ihres Geldes forderten, weitere Klagen aber nicht vorbringen wollten, dem Senat ihren Fall vortragen und die Ernennung eines Ausschusses erwirken konnten, der die Höhe des Betrages feststellte. Daraus scheint der Senat die Berechtigung zur vollen Entscheidung solcher Fälle entwickelt zu haben. Die bekanntesten solcher

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Prozesse, die recht häufig vorkamen, sind die zwischen 98 und etwa 106, die Plinius der Jüngere in seinen Briefen beschrieb, unter ihnen besonders der im Jahr 100 abgeschlossene Prozeß, in dem er und der Historiker Tacitus gegen den Statthalter von Africa, Marius Priscus, auftraten. Der Senat behandelte zunächst die Frage, ob das Verfahren auf einfache Rückerstattung genüge oder ob das Ausmaß der Greueltaten des Priscus, wie Plinius und Tacitus argumentierten, einen regelrechten Strafprozeß verlangte. Dann begann der Prozeß. Plinius hielt seine Eröffnungsrede in Gegenwart Trajans, der als Konsul dieses Jahres den Vorsitz führte. Insgesamt sprachen vier Senatoren, von denen je zwei als advocati auf beiden Seiten auftraten. Das Verfahren nahm drei aufeinanderfolgende Tage ein, was Plinius freute, da damit etwas von dem inzwischen geschwundenen Ruhm des Senats beschworen wurde. Der Prozeß schloß mit den sententiae, in denen der Reihe nach die designierten Konsuln und die Prokonsuln verschiedene Strafen vorschlugen, um in einer Abstimmung entscheiden zu lassen.16 Die Ursprünge der Senatsrechtsprechung in Fällen des »Hochverrats« sind unbekannt; Belege für diese Form der Jurisdiktion lassen sich aber schon in der Regierungszeit des Tiberius (14–37) finden. Die Skala der Hochverratsverbrechen reichte von der bewaffneten Erhebung bis zur Erfragung eines Horoskops über den Tod des Kaisers oder der Mitnahme eines Geldstückes mit seinem Bildnis in ein Bordell. Diese Unbestimmtheit der Anwendung des Begriffes Hochverrat, die von einem Kaiser nichtsdestoweniger, wenn er wollte, eingeengt werden konnte, bedeutete besonders dann eine Gefahr, wenn sie die in den Reihen der Senatoren unvermeidlich vorhandenen Rivalitäten und Feindseligkeiten und die begründete Ungewißheit und das Mißtrauen, was im Verhalten gegenüber dem Kaiser überhaupt erlaubt sei, noch vermehrte. Daraus folgte, daß der Vorwurf des Hochverrats beinahe an jede andere Beschuldigung angeschlossen werden konnte und daß in Zeiten, in denen die Beziehungen zwischen Senat und Kaiser sich verschlechterten, wie in den letzten Regierungsjahren des Tiberius, Nero und Domitian, eine regelrechte Schreckensherrschaft entstehen konnte. Ja auch sonst konnte es zu derartigen Verfolgungen kommen. In Einzelheiten beschreibt Cassius Dio, wie der Senat um 206 einen Statthalter der Provinz Asia verurteilte und hinrichten ließ, weil seine Amme geträumt haben sollte, daß er Kaiser werden würde, und weil er magische Riten vollzogen hatte, um dies zustande zu bringen.17 Die letzte wichtige Funktion des Senats, die Besetzung der senatorischen Beamtenstellen in Rom, berührt den zweiten Aspekt dieses Abschnittes, die Karriere und die Funktionen einzelner Senatoren. Der Senat bestand hauptsächlich aus aristokratischen Grundbesitzern, denen durch Gesetz jegliche kommerzielle Betätigung verboten war, was weder die Geldinvestierung über Mittelsmänner noch die Einrichtung halbindustrieller Anlagen, wie Ziegeleien oder Backsteinbrennereien, innerhalb der Gutsbezirke ausschloß. Für die Erhebung in den Senat war ein Besitz im Wert von mindestens 1000000 oder

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1200000 Sesterzen Voraussetzung. War diese Voraussetzung erfüllt, legte sich der Sohn eines Senators den breiten Streifen (latus clavus) an der Toga zu, der den senatorischen Status beim formellen Eintritt des Mannesalters mit sechzehn oder siebzehn Jahren bezeichnete. Andere konnten den latus clavus nur durch Petition beim Kaiser erlangen. Der Senat war somit eine im Grund erbliche Körperschaft, die durch kaiserliche Protektion ständig ergänzt wurde. Das Bekleiden von Ämtern in einer regelmäßigen Abfolge (cursus), von denen in der Kaiserzeit die wenigsten wegen ihrer Funktionen als vielmehr wegen des mit ihnen verbundenen Status von Bedeutung waren, machte den wichtigsten Teil im Leben des einzelnen Senators aus. Zuerst gab es die beiden »präsenatorischen« Posten des Vigintiviren (weil diesen in jedem Jahr zwanzig Männer innehatten), den man mit achtzehn Jahren bekleidete, und den des Militärtribunen, die beide etwa in der Mitte des 3. Jahrhunderts verschwanden. Mit der Übernahme der ersten vollen Beamtenstellung im Alter von fünfundzwanzig Jahren, der Quästur, wurde der junge Mann in den Senat aufgenommen. Die insgesamt zwanzig Quästoren dienten zumeist in den Provinzen als Finanzbeamte der Prokonsuln, wenn auch zwei von ihnen in jedem Jahr Quästoren des Kaisers waren und seine Mitteilungen an den Senat verlasen. Seit dem Jahr 47 n. Chr. bestand die später von Severus Alexander (222–235) gemilderte Verpflichtung, auf eigene Kosten zum Amtseintritt Gladiatorenspiele zu geben. Damit ist ein wesentlicher Bestandteil jeder senatorischen Laufbahn berührt: Die Beamtenstellen in Rom waren nicht nur ehrenamtlich, sondern brachten überdies noch beträchtliche Ausgaben mit sich (der in den neunziger Jahren des 1. Jahrhunderts schreibende Satiriker Martial erzählt von einer Frau, die sich von ihrem Gatten aus Furcht vor dem Ruin scheiden ließ, als sie hörte, daß er Prätor werden sollte). Die nächste Station, im Alter von siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahren, war die des Volkstribunen (zehn pro Jahr) oder Ädilen (sechs). Die Volkstribunen besaßen bei Staatsgeschäften formell noch immer das Vetorecht, das sie in der Republik ausgeübt hatten. Es mutet wie Ironie an, daß das letzte uns überlieferte Veto im Jahr 69 eingelegt wurde, um den Senat an der Diskussion einer Angelegenheit in Abwesenheit des Kaisers zu hindern. Die Ädilen behielten begrenzte Befugnisse in bezug auf Straßen, Märkte und öffentliche Ordnung. In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts hörten beide Ämter auf zu existieren. Die im Alter von dreißig Jahren bekleidete Prätur war sodann der entscheidende Schritt, der einen Mann für die unbedeutenderen provinzialen Statthalterposten, das Kommando über eine Legion oder verschiedene (sich ständig vermehrende) Stellungen in Rom (wie die eines Präfekten des aerarium, der Staatskasse) und in den Provinzen qualifizierte. Zu den wichtigsten Amtsverpflichtungen der Prätoren gehörten richterliche Funktionen – der Vorsitz bei Gericht und die Ernennung von iudices (Schiedsmännern) für Zivilprozesse. Die Zahl der Prätoren stieg ständig, von zehn zu Lebzeiten des Augustus auf achtzehn in der Mitte des 2. Jahrhunderts. Als wesentliche

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Aufgabe gehörte zu ihrem Amt die ihnen im Jahr 22 v. Chr. übertragene Ausrichtung der öffentlichen Spiele in Rom. Obwohl ein Teil der Kosten der Staatskasse entnommen wurde, stellte dieses Amt für seinen Träger eine schwere Belastung dar, die gelegentlich Unterstützungen von Seiten des Kaisers notwendig machte. Auf die Prätur folgte gewöhnlich ein längerer Zeitraum, der mit den oben aufgezählten Ämtern ausgefüllt war, bis ein Mann etwa mit vierzig Jahren das Konsulat erreichte. Die Konsuln wurden von zwölf Dienern (Liktoren) begleitet, die die fasces trugen, sie führten im Senat und bei Wahlen den Vorsitz, hatten in gewissen Bereichen die Rechtsprechung inne und veranstalteten wichtige Spiele, was die Fortdauer dieses Amtes bis ins Jahr 541 sicherstellte. In republikanischer Zeit verwalteten zwei Konsuln ein ganzes Jahr lang dieses Amt; jetzt hießen die beiden Konsuln, die am 1. Januar eingesetzt wurden, ordinarii. Das Jahr wurde nach ihnen benannt. Nach zwei oder drei Monaten folgte ihnen aber eine unterschiedlich große Zahl von je zwei weiteren Konsuln (suffecti). Ihre Zahl flukturierte; in einem typischen Jahr hatten aber vielleicht zehn oder zwölf Männer das Konsulat inne. Auf diese Weise befriedigte man den senatorischen Ehrgeiz und setzte eine ausreichende Zahl von Beamten in die Lage, die wichtigsten Provinzen mit zwei oder drei Legionen zu verwalten und die beiden begehrten Prokonsulate zu erlangen, die der reichen und zivilisierten Provinzen Africa und Asia. Später war es möglich, auch ein zweites (beinahe immer als Ordinarius) und sogar, in seltenen Fällen, ein drittes Konsulat zu übernehmen. Mit einem zweiten Konsulat war sehr oft die kaiserliche Ernennung zum Stadtpräfekten verbunden, der die höchste senatorische Stellung innehatte. Die Ernennung der Beamten bis hinauf zum Prätor geschah seit 14 n. Chr. in der Weise, daß man dem Kaiser einzelne Kandidaten vorschlug, von denen dieser einige ablehnte und dem Senat eine Liste mit den übrigen Namen unterbreitete. Einige von diesen erhielten seine »Kommendation« und wurden als »Kandidaten des Caesar« automatisch gewählt. Die verbleibenden Stellen auf den Ämterlisten mußten vom Senat besetzt werden. Hier setzte dann in dem geschlossenen Kreis des Senats der wohlbekannte Vorgang der Protektion, der Beeinflussung und der Bestechung ein, wie er bei den öffentlichen Wahlen der Republik auch schon zu beobachten war. Trajan (98–117) verfügte darum, daß die Kandidaten keine Dinners veranstalten, Geschenke machen oder Geld verleihen durften. Ein hübsches Beispiel für die Praktiken der Protektion und der Einflußnahme auf den Kaiser findet sich in einem Brief, in dem Plinius der Jüngere, ein Zeitgenosse Trajans, einem Freund die Unterstützung der Kandidatur eines jungen Schützlings dringend ans Herz legt: »Ich erlangte den latus clavus für Sextus von Caesar und sodann die Quästur (nämlich als Kandidat des Caesar); durch meine Unterstützung erhielt er die Erlaubnis, sich um das Tribunat zu bewerben, und wenn er es jetzt nicht im Senat erhält, dann könnte das so aussehen, befürchte ich, als hätte ich Caesar betrogen.«18 Er beschreibt

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dann im folgenden, wie er die Häuser seiner Freunde aufsuchte und sie um ihre Unterstützung bat. Die Statthalter der »senatorischen« Provinzen (s. Kap. 4) wurden für ein Jahr durch das Los bestimmt; die Beamten in den »kaiserlichen« Provinzen und im Normalfall in den vom Kaiser abhängigen Stellungen in Rom wurden vom Kaiser eingesetzt. Auch die senatorischen Beamtenstellen scheinen, obgleich dies keineswegs sicher ist, vom 3. Jahrhundert an vom Kaiser besetzt worden zu sein. Als gesichert kann jedoch gelten, daß nach dem Tod des Augustus das Konsulat nicht mehr der freien Wahl offenstand, sondern immer vom Kaiser nach Belieben besetzt wurde. Es wurde zum Beispiel festgestellt, daß Claudius im Jahr 54 für die Zeit nach dem Oktober, seinem Todesmonat, keine Konsuln nominiert hatte. Unter solchen Umständen, bei einer solch ausgedehnten, wenn auch nicht allgemeinen Protektion des Kaisers und bei den sehr begrenzten Vollmachten der Ämter mochte manchem das ganze die Anstrengung, die Ausgaben und die mögliche Erniedrigung nicht wert gewesen sein. Das war denn auch die Ansicht wenigstens eines Zeitgenossen, das Philosophen Epictetus, der diese Umstände als Sklave eines kaiserlichen Freigelassenen hatte beobachten können. Im Jahr 108 schrieb er: »Wenn du Konsul werden willst, mußt du auf deinen Schlaf verzichten, herumrennen, anderen die Hand küssen ... vielen Geschenke und einigen täglich Gunsterweise schicken. Und was ist der Erfolg? Zwölf Rutenbündel und die Erlaubnis, drei- oder viermal auf dem Tribunal zu sitzen, im Circus Spiele zu geben und in kleinen Körbchen Mahlzeiten zu verteilen.«19 In der Tat gab es denn auch Männer, die einer senatorischen Laufbahn vorzogen, equites zu bleiben. Das eigentlich Erstaunliche ist aber das Gegenteil, daß nämlich der Senat Bewerber aus immer entfernteren Teilen des Reiches anzog (Einzelheiten sind in den Kapiteln über die einzelnen Provinzen aufgeführt), zunächst aus Südspanien und Gallien, dann, seit der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts, aus dem griechischen Osten und Africa und schließlich, seit der Mitte des 2. Jahrhunderts, aus Dalmatien und dem Donaugebiet. Nach ungefähren Schätzungen bestand der Senat im 3. Jahrhundert zu etwas mehr als der Hälfte aus Provinzialen, von denen wiederum mehr als die Hälfte Griechen waren. Die Erhebung in den Senat bedurfte kaiserlicher Zustimmung, entweder in Form einer Gewährung des latus clavus oder, seit der Regierung Vespasians (69–79), einer »Zuwahl« – der Verleihung des Status eines gewesenen Quästors, eines gewesenen Prätors oder anderen Beamten. Der Einfluß der Provinzialen resultierte aber weniger aus der kaiserlichen Politik als vielmehr aus dem Druck der wohlhabenden Schichten in den urbanisierten Teilen des Reiches. Plutarch, der um 100 n.Chr. schrieb, schildert, wie sich Griechen aus dem Osten lautstark um senatorische Ämter bewarben und eine jede Stufe in dem cursus als unter ihrer Würde betrachteten. Was der senatorische Status bedeutete, wird durch zahlreiche griechische Inschriften illustriert, in denen lokale Würdenträger

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erwähnen, daß sie mit Senatoren verwandt sind – es lassen sich sogar alte Damen finden, die sich »Großmutter« oder »Urgroßmutter eines Senatoren« nennen. Das hatte bis zu einem gewissen Grad zur Folge, daß der Senat aus einem Regierungselement, einer beratenden Versammlung zur angesehensten Bevölkerungsschicht des gesamten Reiches wurde. Trajan (98–117) versuchte, diesem Prozeß Einhalt zu gebieten, indem er anordnete, daß sämtliche Bewerber um ein senatorisches Amt ein Drittel ihres Vermögens in Grundbesitz auf der italischen Halbinsel anlegen müßten. Marcus Aurelius (161–180) verringerte diese Vorbedingung auf ein Viertel; die spärlichen Zeugnisse lassen es jedoch als wahrscheinlich erscheinen, daß man sich nicht einmal daran hielt. Die Entstehung einer senatorischen »Klasse« spiegelt sich in der im 2. Jahrhundert herausgebildeten förmlichen Anrede »clarissimus vir« (vornehmster Mann) wider, die bezeichnenderweise auch auf deren Frauen und Kinder ausgedehnt wurde – »clarissima femina«, »clarissimus puer«. Der Rechtsgelehrte Paulus schreibt im 3. Jahrhundert, daß die Senatoren zwei Wohnstätten haben, Rom und ihre Heimatstadt; am Ende desselben Jahrhunderts sagt sodann der Rechtsgelehrte Hermogenianus, daß die Senatoren von den munera (ehrenamtlichen mit Ausgaben verbundenen Funktionen) ausgenommen seien, aber in ihren Heimatstädten Ämter bekleideten. Ursprünglich war die Stellung eines Senators eine vollkommen persönliche Angelegenheit. Ein Senator war in keiner Weise der Repräsentant seines Heimatortes. Es ist jedoch bezeichnend für den Wandel, daß die Einwohner von Triest um die Mitte des 2. Jahrhunderts behaupten konnten, ein junger Mann aus ihrer Stadt sei hauptsächlich zum Schutz ihrer Interessen in den Senat eingetreten. Dieser Entwicklungsprozeß ist abgeschlossen, als sich nach unserer Kenntnis im Jahr 255 zum ersten Mal ein Senator der Gesandtschaft seiner Heimatstadt Philadelphia in Asia an den Kaiser, der sich gerade in Antiochia in Syrien aufhielt, anschloß.20 Dieser Wandel, obgleich bedeutsam, stellt jedoch nur einen Aspekt des Senats dar. Der Senat als Körperschaft mit seinem Kern aus Italikern bewahrte sich sogar im 4. Jahrhundert eine gewisse Unabhängigkeit, als sich die Kaiser endgültig anderswo aufhielten. Als Verkörperung der Tradition stellte er einen Mittelpunkt heidnischen Widerstandes gegen das Christentum dar. Als der letzte westliche Kaiser im Jahr 476 abtrat, bestand der Senat noch weiter. 3. Die Kaiser I. Das Amt und seine Umgebung Die Monarchie des Augustus war durch Sieg in einem Bürgerkrieg geschaffen worden. Sie wurde gesichert und gefestigt durch die sorgfältige Beachtung der Verfassungsformen und das geschickte Verhalten des Kaisers. Beides hatte den Sinn, die republikanischen Traditionen und die persönliche Empfindsamkeit des Senats nicht zu verletzen. Darin lag der Widerspruch im Kaisertum als einer

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politischen Institution. Von Anfang an fielen die Macht und Verantwortung dem Kaiser zu. Da jedoch die Erscheinung der Monarchie und all ihrer Äußerlichkeiten vermieden werden mußte, entwickelten die Kaiser nur sehr langsam eine leichte und praktikable Art der Machtübertragung von einem Kaiser auf dessen Nachfolger, einen eigenen Beamtenstab und eine auf den Kaiser zugeschnittene Regierungsmaschinerie (über die Sklaven und Freigelassenen des kaiserlichen Haushalts hinaus), einen eigenen Hofstaat und ein höfisches Zeremoniell. Die Regelung der Nachfolge war die schwierigste Angelegenheit. Die für den Kaiser vorgesehene verfassungsmäßige Stellung (im allgemeinen als die eines princeps, »ersten Bürgers«, gekennzeichnet) wurde aus Gewalten aufgebaut, die zuvor schon senatorische Beamte besessen hatten: der tribunicia potestas (der Erlaubnis, die Rechte eines Volkstribunen auszuüben), dem imperium proconsulare (der von einem Prokonsul als Provinzstatthalter innegehabten Befehlsgewalt, die vom Kaiser überall geübt werden konnte) und vielleicht (was sehr umstritten ist) dem imperium consulare, der Macht eines Konsuls. Der Kaiser hatte zumindest die äußerlichen Auszeichnungen eines Konsuls, da ihm zwölf Liktoren vorausgingen (fasces tragende Diener) und er mit den Konsuln auf dem Tribunal saß.1 Der Kaiser war gleichzeitig Pontifex Maximus, der oberste Priester der römischen Staatsreligion. Wenn der Kaiser es wünschte, konnte er auch consul ordinarius werden. Augustus, Claudius (in den Jahren 47–48), Vespasian mit seinem Sohn Titus (in den Jahren 73–74) und Domitian (81–96) nahmen alle auch das Amt eines Zensors ein, letzterer ständig bis zu seinem Tod. Nach Domitian übten alle Kaiser die Funktionen eines Zensors aus, deren wichtigste die Überprüfung der Senatorenliste war, ohne den Titel zu übernehmen. Neben diesen Vollmachten mit ihren Titeln gab es Ehrennamen wie Pater Patriae (»Vater des Vaterlandes«) oder Princeps Senatus (»Führer des Senats«), die von den Kaisern gelegentlich angenommen wurden. Wichtiger war der Titel »Imperator« (General), der manchmal, und zwar nur von den Kaisern, als Teil (praenomen oder Vorname) des tatsächlichen Namens, und »Augustus«, der als cognomen oder letzter Name gebraucht wurde. Ein gutes Beispiel für die kaiserliche Titulatur ist die des Titus in den Jahren 80–81: Imperator Titus Caesar divi filius (Sohn des vergöttlichten Vespasian) Vespasianus Augustus, pontifex maximus, tribunicia potestate X (im zehnten Jahr), Imperator XVII (von den Truppen siebzehnmal als General oder Sieger ausgerufen), consul VIII, pater patriae.2 Diese Vollmachten und Titel waren jedoch an die Person gebunden. Der Kaiser konnte, um damit seinen Nachfolger zu bestimmen, diesem vergleichbare Vollmachten verleihen lassen. Im Jahr 14 zum Beispiel besaß Tiberius seit 4 n. Chr. die tribunicia potestas und seit 13 n. Chr. das Imperium proconsulare. Die wichtigste Maßnahme war aber ganz anderer Natur gewesen, nämlich seine Adoption durch Augustus, der sein Stiefvater war, ebenfalls 4 n. Chr. Aus Gründen, die noch der Erklärung bedürfen, wurde das dynastische Prinzip

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sogleich, selbst noch zu Lebzeiten des Augustus, als wesentlicher Bestandteil des Prinzipats anerkannt. In Dokumenten aus der Regierungszeit des Augustus werden das kaiserliche »Haus« (domus) und seine Mitglieder erwähnt. Als die Bewohner Zyperns im Jahr 14 auf Tiberius den Treueid ablegten, taten sie es auf ihn »mit seinem ganzen Haus« und schworen, der Roma, dem Tiberius und »den Söhnen seines Blutes und sonst niemandem« göttliche Ehrungen zuteil werden zu lassen.3 Danach ist die Kaisergeschichte eine Geschichte der Dynastien, einiger langlebiger und einiger früh erloschener. Keinem Kaiser, der einen lebenden Sohn besaß, folgte jemals auf friedliche Weise ein anderer als dieser. Die Bedeutung des dynastischen Prinzips wird auch dadurch unterstrichen, daß immer dann, wenn ein Kaiser keinen Sohn hatte, er seinen Nachfolger durch Adoption designierte. Die erste Adoption außerhalb der kaiserlichen Familie erfolgte im Jahr 69, als Galba den Piso Licinianus adoptierte, kurz bevor sie beide ermordet wurden. Die zweite war erfolgreicher, als Nerva sein wankendes Regime im Jahr 97 durch Adoption des angesehenen Senators Ulpius Traianus (Trajan) stützte, der damals Statthalter des Oberen Germanien (Germania Superior) war. Adoption wurde im 2. Jahrhundert zur Regel, als kein Kaiser vor Marcus Aurelius (161–180) einen Sohn als Nachfolger besaß. Als Septimius Severus im Jahr 193 durch einen Staatsstreich auf den Thron kam, behauptete er – zumindest nahm er es als einen Bestandteil in seine Titulatur auf –, von allen Kaisern seit Nerva abzustammen. Die familiäre Herkunft, sei es durch Geburt oder Adoption, stellte so die Grundlage der Kontinuität dar. Dem designierten Nachfolger verblieb immer noch die Entgegennahme der Kaisertitel und -vollmachten. Im Jahr 14 verzögerten, wie schon in Kapitel 2 erwähnt wurde, die Albernheit, der Argwohn und vielleicht die echte Zurückhaltung des Tiberius den Vorgang, der aus nicht mehr als einem Senatsentscheid bestand, um etwa zwei Monate (die Zyprioten ließen inzwischen eine Aufzeichnung ihres Eides einmeißeln, in dem sie sorgsam ein freies Stück für das Wort Autokrator aussparten – die griechische Bezeichnung für Imperator –, das ausgefüllt werden sollte, wenn die Formalitäten abgeschlossen waren). Im allgemeinen stellte aber der Senatsentscheid eine einfache Formsache dar, wenn ein natürlicher oder ein adoptierter Sohn vorhanden war, der schon durch besondere Ehrungen ausgezeichnet war, wie im Fall von Titus, der während der Regierung seines Vaters Vespasian (69–79) siebenmal das Konsulat, die Zensur und die tribunicia potestas innegehabt hatte. Bei komplizierteren Fällen kam ein zweites Element hinzu, die Prätorianerkohorten. Im Jahr 41 wurde Claudius, der Onkel des ermordeten Caligula, von ihnen gefunden, zu ihrem Lager gebracht und zum Kaiser proklamiert. Im Jahr 54 ging Nero, sein Stiefsohn und Adoptivsohn, nach der Ermordung des Claudius zuerst in das Prätorianerlager, verteilte dort Geschenke und wurde zum Imperator ausgerufen. Der Senatsbeschluß folgte.

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Im 2. Jahrhundert bildete sich ein festeres System für die Bestimmung des Nachfolgers heraus. Zuerst wurde seit 136, als Hadrian den Senator L. Ceionius (der bald starb) unter dem Namen L. Aelius Caesar adoptierte, der Name »Caesar« als Titel benutzt, um den Thronerben zu designieren. Schließlich machten die Kaiser ihren Sohn in vollem Sinn zum Mitregenten. So regierten Marcus Aurelius und Commodus in den Jahren 177–180 gemeinsam. Nach dem Tod des Marcus Aurelius im Jahr 180 blieb Commodus einfach als einziger Kaiser übrig. Septimius Severus hatte genauso Caracalla von 198 bis 211 zum Kollegen und seinen jüngeren Sohn Geta als dritten Kaiser von 209 bis 211. Dieses System wurde im 3. Jahrhundert wiederholt angewandt (z.B. bei der gemeinsamen Herrschaft des Valerianus und des Gallienus in den Jahren 253–260). Die sich daraus ergebenden Hoffnungen auf Stabilität wurden aber dadurch zerstört, daß wegen der endlosen Kriege die Kaiser sich ständig im Feld befanden und darum ständig der Wildheit der Armee und den Angriffen der Rivalen ausgesetzt waren. Das Leben und die Geschäfte der Kaiser spielten sich – wie bei den Senatoren – vornehmlich in ihren Palästen in Rom und den Landhäusern in Latium und Kampanien ab. Diese waren Residenzen in Privatbesitz. Augustus lebte zunächst in einem Haus nahe dem Forum und später in einem Haus auf dem Palatin, das vorher dem Redner Hortensius gehört hatte. Nur dieses Haus hatte in etwa den Charakter eines königlichen Palastes (dieses Wort ist von »Palatium« abgeleitet). Im Jahr 36 hatte Augustus einen Teil desselben zum Bau eines neuen Apollotempels zur Verfügung gestellt. In der Bibliothek und in den an den Tempel angebauten Säulengängen konnte der Kaiser Gesandtschaften empfangen, und dort trat sogar manchmal der Senat zusammen. Als Augustus 12 v. Chr. Pontifex Maximus wurde, verwandelte er einen anderen Teil des Hauses als Residenz des Pontifex in Staatsbesitz und ließ auf dem Palatin einen neuen Vestatempel bauen. Im Lauf des 1. Jahrhunderts haben die Kaiser wohl den gesamten Palatin erworben, der ein bevorzugter Wohnsitz der republikanischen Nobilität gewesen war, und verwandelten ihn durch einen ausgedehnten Wiederaufbau in einen Komplex von Palästen. Nero schuf dabei wohl den extravagantesten Bau, als er nach dem Brand Roms im Jahr 64 sein »Goldenes Haus« bis hinüber zum Esquilin ausbreitete.4 Vespasian gab einen großen Teil dieses Grundstückes wieder zur öffentlichen Benutzung frei und begann auf anderen Teilen mit dem Bau des Kolosseums. Nach und nach erwarben die Kaiser durch Erbschaft oder Konfiskation noch andere Residenzen in Rom, die von Parks (horti – Gärten genannt) umgeben waren, wie die horti Sallustiani, in denen Vespasian Empfänge gab, Nerva 98 starb und Aurelian (270–275) am liebsten weilte, wenn er sich in Rom aufhielt. Außerhalb Roms gab es Landsitze wie die Insel Capri, die Augustus der Stadt Neapel abgekauft hatte und wo Tiberius von 27 bis zu seinem Tod im Jahr 37 lebte, oder wie Tibur, wo Claudius während des Sommers Gericht hielt und Hadrian seine berühmte Residenz erbauen ließ. Philo beschreibt, wie seine

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Delegation aus der alexandrinischen jüdischen Gemeinde im Frühjahr 40 Caligula erfolglos von einem Landhaus Kampaniens zum anderen folgte. Zu jedem Landhaus gehörte ein eigenes Sklavenpersonal. Phaedrus schildert in einem Gedicht, wie bei einem Besuch des Tiberius in seinem Landhaus in Misenum einer der Sklaven geschäftig das Gras sprengte und Staub wischte, als der Kaiser in seinem Park spazierenging, weil er hoffte, von ihm mit seiner Freilassung belohnt zu werden. Die Antoninen fanden mehr Geschmack an eigener ländlicher Beschäftigung als an Spaziergängen im Freien. Marcus Aurelius schildert, als er aus seinem Landhaus an Fronto schreibt, wie er nach der am Vormittag betriebenen Lektüre von Catos Werk Über die Landwirtschaft (De agricultura) sich Antoninus Pius (138–161) angeschlossen habe, um bei der Rebenlese zu helfen; danach hätten sie beide zusammen mit den Arbeitern im Ölpressenraum ihre Abendmahlzeit eingenommen.5 Anfangs stellte der Staat dem Kaiser außer den Liktoren, die ihn in der Öffentlichkeit umgaben, und einigen militärischen Einheiten keinerlei Personal. Die Prätorianerkohorten machten seine wichtigste persönliche Truppe aus. Sie entstanden aus den Einheiten, die im Hauptquartier (praetorium) eines republikanischen Oberbefehlshabers Dienst taten, waren anfänglich in mehreren Städten in der Nachbarschaft Roms untergebracht und wurden bald nach der Machtübernahme durch Tiberius in einem Lager zusammengezogen, dessen Mauern teilweise noch auf dem Viminal in Rom erhalten sind. Eine der neun, später zehn Kohorten, deren jede von einem Tribunen befehligt wurde, bewachte nachts die kaiserliche Residenz.6 Daneben stand dem Kaiser ein besonderes Korps berittener speculatores zur Verfügung, die zu seinem Schutz und als seine Boten dienten. Seit dem Ende des 1. Jahrhunderts scheinen die Aufgaben dieser Eskorte von Soldaten übernommen worden zu sein, die equites singulares Augusti hießen und hauptsächlich aus Germanien und Pannonien stammten. Ein wenig später, so scheint es, wurden weitere Soldaten, frumentarii genannt, in einem besonderen Lager in Rom stationiert, die beim Kaiser, wie die anderen frumentarii bei den Provinzstatthaltern, als Boten und, was viel wichtiger war, als Spitzel und Polizisten Dienst taten.7 Das gesamte übrige Personal bestand anfänglich aus Angestellten oder (als Sklaven) aus Eigentum des Kaisers. Die Kaiser von Augustus bis Galba (68–69) ergänzten die ihnen zur Verfügung stehenden Truppen sogar durch eine private Leibwache aus Germanen. Caracalla (211–217) stellte wiederum eine solche Leibwache auf, die sich aus Germanen und Skythen rekrutierte. Die Zahl der Sklaven und Freigelassenen im kaiserlichen Haushalt läßt sich nicht errechnen, muß sich aber auf viele Tausend belaufen haben. In Rom verrichteten die Sklaven in den Palästen alle Lakaiendienste. So weisen beispielsweise Grabinschriften auf einen Küchenchef, der das Grab für sich und seine Nachkommen erbauen ließ und es im Fall der Kinderlosigkeit der Kochgilde (collegium) im Palatium übereignete. Andere sprechen von einem leitenden Spiegelmacher, der in ähnlicher Weise für denselben Fall sein Grab den

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Spiegelmacherlehrlingen im Palast überläßt. Besondere Sklaven- und Freigelassenenhaushalte wurden für die einzelnen horti in Rom, die Landhäuser außerhalb Roms, die Güter in Italien und den Provinzen eingerichtet. Freigelassene und sogar Sklaven des Kaisers lebten gelegentlich in erstaunlichem Wohlstand und verschafften sich in den einzelnen Kommunen beträchtliches Ansehen, indem sie Spenden austeilten. Einige – allerdings nur Freigelassene – wurden durch ihre Ernennung zum Ehrenmitglied des Stadtrates geehrt. So wird in einer bekannten Inschrift von einem Sklaven des Schatzamtes der Provinz Gallia Lugdunensis gesprochen, der sechzehn ihm unterstellte Sklaven (vicarii) – Sekretäre, Köche, Lakaien, einen Kammerdiener, einen Arzt und andere – bei sich hatte, als er auf einer Besuchsreise in Rom zur Zeit des Tiberius starb.8 Als Flaccus, der Präfekt von Ägypten, im Jahr 38 verhaftet wurde, speiste er gerade im Haus eines kaiserlichen Freigelassenen in Alexandria. Im direkten Dienst des Kaisers ließen sich natürlich die besten Stellungen und der meiste Einfluß erwerben. Wir wissen von Fällen wie dem des Theoprepes, der als Sklave mit der Aufsicht über die Gläser im Palast, sodann über die kaiserlichen Schmuckbroschen (fibulae), später über einen Speiseraum begann und nachher Güter verwaltete, niedere Sekretärsposten beim Kaiser innehatte und unter Severus Alexander (222 bis 235) die kaiserlichen Färbereien in Griechenland, Epirus und Thessalien beaufsichtigte; oder dem des Ulpius Phaedimus, der anfangs die Verantwortung für Trajans Trinkbecher hatte, zum ersten Liktor aufstieg, die Listen der beneficia (kaiserlichen Spenden) führte und sich in der Nähe Trajans aufhielt, als dieser im Jahr 117 in Kilikien starb. Philo beschreibt bis in Einzelheiten, wie ein Ägypter namens Helicon als erster cubicularius (Kammerdiener) Caligulas und dadurch, daß er ständig um den Kaiser war, mit ihm sich in den Waffen übte, mit ihm badete und aß und ihm aufwartete, wenn er zu Bett ging, großen Einfluß auf den Herrscher gewann.9 Die wichtigsten mit Freigelassenen besetzten Stellen im kaiserlichen Haushalt waren mit den Staatsangelegenheiten des Prinzeps beschäftigt – mit seinen Briefen, Gesuchen und der Verwaltung von Staatsgeldern. Ihren größten Einfluß gewannen sie unter Claudius, als Pallas (Finanzen), Narcissus (Korrespondenz) und Polybius (Petitionen) das politische Leben am Hof beherrschten und ungeheure Vermögen anhäuften. Ihre Stellung und ihr Einfluß waren mehr als irgend etwas außer der Tatsache, daß es einen Kaiser gab, gegen die Konvention der römischen Gesellschaft gerichtet. Sueton, der Biograph der Kaiser, berichtet von Polybius nur, daß man ihn in Rom zwischen den Konsuln gehen sah. Mehr brauchte er nicht zu sagen. Gegen Ende des 1. Jahrhunderts wurden, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, die wichtigen Sekretärsstellen an equites vergeben, die von Verwaltungsposten aufgerückt waren, was ein Zeichen dafür ist, wie sehr die Männer in der Umgebung des Kaisers einen offiziellen und öffentlichen Status erlangten. Die niederen Schreiberposten aber, die mit diesen Sekretärsstellungen verbunden waren, blieben alle in den Händen kaiserlicher Freigelassener. Einige

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der wichtigsten Stellungen, die mit der griechischen Korrespondenz zu tun hatten, wurden sehr häufig griechischen Rednern oder Schriftstellern angetragen, die auf solche Weise einen Teil der zahlreichen Gruppe griechischer Literaten, Ärzte (wie der medizinische Schriftsteller Galen unter Marcus Aurelius), Lehrer und Philosophen ausmachten, die zu allen Zeiten den Hof umdrängte und beträchtlichen Einfluß ausüben konnte. Selbst wenn die wichtigsten Posten von nun an nicht mehr mit Männern aus dem kaiserlichen Haushalt besetzt wurden, konnten cubicularii, Eunuchen und andere immer noch große Macht ausüben. Der bekannteste war Cleander, der als Sklave von Phrygien nach Rom gebracht, für den kaiserlichen Haushalt gekauft, unter Commodus (180–192) zum cubicularius gemacht, zum Freigelassenen-Kollegen der Prätorianerpräfekten ernannt wurde und sich durch Patronage und Ämterverkauf ein riesiges Vermögen erwarb, das er teilweise durch Geschenke an einzelne und an Gemeinden vergab, ehe er im Jahre 190 angesichts eines Volksaufstandes hingerichtet wurde.10 Die literarischen und dokumentarischen Zeugnisse aus der Mitte des 3. Jahrhunderts (238–284) sind weit spärlicher. Mit einigermaßen Sicherheit ist aber anzunehmen, daß sich der Einfluß des Haushaltes, der Sklaven und Freigelassenen im Palast, in der Zeit, als sich die Kaiser hauptsächlich bei der Armee aufhielten, weitgehend verringert haben muß. Wir hören jedoch von cubicularii, die Carus (282–283) auf seinen Feldzügen begleiteten, und von einem gewissen Dorotheus, einem späteren Kirchenältesten in Antiochia, der als gebildeter Eunuche das Vertrauen des Kaisers erworben hatte und dann gegen Ende des 3. Jahrhunderts mit der Aufsicht über die kaiserlichen Färbereien in Tyrus betraut wurde. Erst mit den geordneteren Zuständen und den reichlicheren Zeugnissen der Zeit Diokletians und seiner Nachfolger gelangt der kaiserliche Haushalt wieder in das volle Licht der Geschichte. Der gleiche Mangel an Zeugnissen verdunkelt das Bild der Kaiser und ihrer Umgebung in dieser »militärischen« Phase der Kaisergeschichte. Erhalten ist aber die wertvolle Schilderung des zeitgenössischen Historikers Dexippus, wie Aurelian im Feld eine Gesandtschaft der Juthunger empfängt. »Als er hörte, daß die Gesandtschaft der Juthunger angekommen war, sagte er, er wolle die Angelegenheiten, um derentwillen sie gekommen wären, am folgenden Tag behandeln. Die Armee ließ er in Kampfordnung antreten, um so den Feind in Schrecken zu setzen. Als die Aufstellung vollendet war, bestieg er in purpurnem Mantel ein hohes Tribunal und formierte in ansteigender Linie die Armee um sich. Die Offiziere, denen ein Kommando anvertraut war, befanden sich in seiner Nähe, alle auf Pferden. Dem Kaiser gegenüber ließ er die Standarten der Elitetruppen – goldene Adler, Kaiserbilder und die mit goldenen Buchstaben verzierten Banner der Kerntruppen – auf silberüberzogenen Stangen aufpflanzen. Als alles so geordnet war, befahl er, man solle die Juthunger vorführen.«11

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Für die Frage nach dem Verhältnis des Kaisers zu den republikanischen Einrichtungen ist die Beschaffenheit des kaiserlichen Besitzes und Einkommens von entscheidender Bedeutung. Einiges davon ist fest belegt, anderes umstritten und gegenwärtig nicht endgültig zu klären. Die Kaiser scheinen keine regelmäßigen Zuwendungen aus Staatsgeldern erhalten zu haben. Sie stützten sich vielmehr auf ihr eigenes Einkommen, das sich aus Einnahmen aus Besitzungen, Legaten und Erbschaften von Freunden und anderen Bewohnern des Reiches (die Vergabe von Legaten und Erbschaften an Persönlichkeiten des staatlichen Lebens war eine republikanische Sitte, die, besonders unter einigen Herrschern, wenn es den Kaiser betraf, beinahe zu einer Verpflichtung wurde), der Kriegsbeute (manubiae) und dem von Städten und Provinzen gegebenen »Krongold« zusammensetzte, wobei die beiden letzten Einkünfte den Kaisern zufielen wie zuvor den republikanischen Generälen. Das übrige bleibt unklar, denn der gesetzliche Status der getrennten kaiserlichen Kasse, des fiscus, ist umstritten. Diese wird im Zusammenhang mit den kaiserlichen Besitzungen, den bona caduca (beim Tod ohne Erben frei werdenden Gütern), den konfiszierten Gütern verurteilter Personen – während des 1. Jahrhunderts kam es zu einer Aufteilung der beiden letzteren zwischen dem fiscus und der Staatskasse, dem aerarium – und verschiedenen Geldstrafen und außerordentlichen Steuern erwähnt. Der Autor dieses Buches hat an anderer Stelle dargelegt, daß alle »fiskalen« Fonds und Besitzungen in der Hauptsache Privateigentum des Kaisers waren und daß der Erwerb solcher Einnahmen darum eine Usurpation öffentlicher Gelder durch den Kaiser darstellte. Andere glauben, daß sich »fiscus« auf staatliche Mittel bezieht, die vom Kaiser in seiner Eigenschaft als Träger des Staates verwaltet wurden. Wo auch immer der Trennungsstrich zwischen »kaiserlichen« und »öffentlichen« Mitteln gezogen worden sein mag – im 3. Jahrhundert ist diese Trennung fast nicht mehr festzustellen –, entscheidend ist, daß sich die Kaiser, selbst schon in der julisch-claudischen Periode, eine große Zahl von Besitzungen (Paläste und Landhäuser in Rom und Italien, Güter in Italien und in den Provinzen) verschafft hatten, die sodann, obgleich der Theorie nach Privateigentum, automatisch auf ihre Nachfolger auf dem Thron übergingen, selbst wenn keine Familienverbindung bestand. Otho und Vitellius konnten daher während ihrer kurzen Regierung im Jahr 69 die Vorzüge der julisch- claudischen Paläste genießen, und die von einem Freund dem Tiberius (14–37) überlassenen »Gärten des Sallust« konnten als Musterbeispiel kaiserlichen Besitzes im frühen 3. Jahrhundert benutzt werden. Dieser Wandel zeigt an, wie schnell die Stellung des Kaisers eigenes Leben entwickelte, gleichgültig wer sie bekleidete. Die Lage wird durch eine Handlung des Pertinax (193) verdeutlicht, der es ablehnte, auf Gebäuden aus kaiserlichem Besitz seinen Namen einmeißeln zu lassen, weil sie, wie er sagte, dem Staat und nicht ihm gehörten.12 Außerhalb des Bereichs dieser verwickelten technischen Einzelheiten, die die Beziehung des Kaisers zu der noch vorhandenen Struktur des Stadtstaates

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kennzeichnete, kam seine Stellung einer persönlichen Monarchie gleich. Die Soldaten legten ihren Diensteid auf den Kaiser, nicht auf Senat und Volk von Rom ab. Über ihre Entlassung entschied der Kaiser persönlich. Die Reichsmünzen trugen den Namen und das Bild des Kaisers (als unter Tiberius zwei einfache Bewohner einer abgelegenen Provinz die Tributzahlung an Rom diskutierten, fragte einer den anderen: »Wessen Bild und Umschrift ist das?«). Verstorbene und divinisierte Kaiser – zu einem kleineren Teil auch lebende – erhielten in den Provinzen göttliche Ehren durch Tempelbauten und in kultischen Feiern, die von den Städten oder Provinzligen ausgeführt wurden, die den wichtigsten Treffpunkt für die einflußreichsten Persönlichkeiten der Gemeinden darstellten. Kaiserstatuen und vor ihnen dargebrachte Opfer gab es überall. Bildnisse der Kaiser wurden den Legionen vorangetragen und auf den Richterbänken der Provinzgouverneure aufgestellt. Asyl erlangte jeder, der sich an einer Kaiserstatue festklammerte; die Bedeutung solcher Bildnisse wird durch eine Inschrift eines örtlichen Beamten aus Lykien aus der Mitte des 3. Jahrhunderts illustriert, der zur Feier der Ankunft des »heiligen Bildes« (eikon) des Kaisers Spiele veranstaltete.13 Nicht nur Gemeinden, sondern auch einfache Menschen konnten sich zur Regelung von Streitigkeiten oder Gewährung von Privilegien persönlich an den Kaiser wenden und taten das auch. Der Satiriker Martial erwähnt gegen Ende des 1. Jahrhunderts einen Mann, der aus seiner Heimatstadt gekommen war, um den Kaiser um die Privilegien eines Vaters von drei Kindern zu bitten. Im 2. Jahrhundert berichtet Artemidorus, ein Traumdeuter, von einem Schiffseigentümer, der träumte, daß er von den Heroen auf den Inseln der Seligen gefangengesetzt und dann von Agamemnon gerettet worden wäre. Was der Traum ankündete, wurde enthüllt, als er von den kaiserlichen Prokuratoren zum Transportdienst gezwungen und auf Grund von Petitionen an den Kaiser davon entbunden wurde. Im 2. Jahrhundert entwickelte sich auch, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, ein reguläres System, wonach Beamte und Privatpersonen direkt an den Kaiser schrieben, in gesetzlichen Angelegenheiten seinen Rat einholten und durch Erlasse Antwort erhielten. Der Kaiser mochte sich ablehnend verhalten und Strafe ebenso wie Belohnungen austeilen, sich mit anderen Dingen beschäftigen, gleichgültig oder einfach faul sein, sich in einer fernen Provinz aufhalten oder in seinem Palast verbergen. Beziehungen und Bestechung schafften den Zutritt zu ihm. Trotz alledem läßt sich an Anekdoten, wie der von Hadrian überlieferten, ablesen, was der Kaiser seinen Untertanen bedeutete. Eine Frau wandte sich mit einer Bitte an ihn, als er auf einer Reise vorbeikam. Als er sagte, er hätte keine Zeit, rief sie: »Dann höre auf, Kaiser zu sein.« Darauf wandte er sich um und hörte sie an.14 II. Männer und Dynastien

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Das Kaisertum erhob sich aus den politischen Kämpfen zwischen den Mitgliedern der römischen Aristokratie, die in den Bürgerkriegen ihren Höhepunkt fanden. Die erste Dynastie auf dem Thron war fest in der Geschichte der Republik verwurzelt, da sie durch Augustus, den adoptierten Großneffen des Julius Caesar, von dem Patriziergeschlecht der Julier und durch Tiberius, den Stiefsohn und Adoptivsohn des Augustus, von dem Patriziergeschlecht der Claudier abstammte, die auf das Rom der Königszeit zurückgingen. In ihrer Persönlichkeit und in ihrem Lebensstil, die uns aus den Schilderungen des Tacitus und Sueton bekannt sind, trugen die julisch-claudischen Kaiser jeder auf seine Art Selbstverherrlichung, Brutalität, Prachtentfaltung und Exzentrizität der republikanischen Nobilität zur Schau, deren Endprodukt sie waren. Ihre Herrschaft wurde durch ständige Konflikte mit dem Senat gekennzeichnet. Einzelne Römer konnten noch von der Wiederherstellung der Republik träumen – und wie es einen Kaiser gab, so gab es andere ständig unter Verdacht und in Gefahr vor Verfolgung und Tod lebende Männer, die wegen ihrer Herkunft aus republikanischen Familien oder von Augustus selbst einen ebenso guten Anspruch auf den Thron hatten wie die Herrschenden.15 Nichts zeigte die Schnelligkeit, mit der sich die Welt wandelte, besser als die Ereignisse der Jahre von 68 bis 70. Als die regierende Klasse, über Neros Brutalität, seine sexuellen Entgleisungen und seinen Mangel an Würde entsetzt, auch noch von einer langen Reihe von Hinrichtungen erschreckt wurde, übernahm ein gallischer Senator aus Aquitanien, Julius Vindex, bei dessen Beseitigung die Führung. Julius Vindex war Senator in zweiter Generation und zu diesem Zeitpunkt (wahrscheinlich) Statthalter von Gallia Lugdunensis. Er und die von ihm geführte gallische Armee wurden zwar besiegt, bezeichnenderweise wandten er und der Senat von Rom sich aber an einen reichen, älteren Senator, dessen Vorfahre einst gegen Hannibal gekämpft hatte, an den Statthalter eines Teiles von Spanien, Sulpicus Galba. Nach kurzer Regentschaft (68–69) wurde er durch einen Staatsstreich in Rom gestürzt. Es folgte ihm auf dem Thron Salvius Otho, dessen Urgroßvater nur ein eques gewesen und dessen Großvater durch Patronage der Livia, der Frau des Augustus, in den Senat gelangt war. Er wurde wiederum verdrängt, als die Legionen vom Rhein in Italien einrückten und L. Vitellius auf den Thron setzten, dessen Großvater ein eques und Beauftragter des Augustus, dessen Vater aber dreimal Konsul und der wichtigste senatorische Verbündete des Claudius gewesen war. Flavius Vespasianus, der Kommandeur im Jüdischen Krieg, okkupierte schließlich den Thron und begründete eine neue Dynastie. Er war Senator in erster Generation, sein Vater hatte sich als Steuereinnehmer und Geldverleiher betätigt, sein Großvater mütterlicherseits war allerdings eques und ein Onkel mütterlicherseits Senator gewesen. Die Inbesitznahme des Thrones durch eine bescheidene italische Bürgerfamilie brachte, wie Tacitus bemerkte, einen bedeutsamen Wandel im sozialen Klima Roms. Vespasians altväterliche Strenge und Ablehnung von Luxus und

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Aufwand wirkten in der Gesellschaft beispielgebend. Darüber hinaus brachte Vespasian noch mehr Männer seines eigenen Typs aus den Städten Italiens und der Provinzen an die Macht, deren »häusliche Sparsamkeit« durch Erfolg und Ruhm nicht beeinflußt wurden.16 Im großen und ganzen unterhielt Vespasian leichte und ungezwungene Beziehungen zum Senat und kämpfte offenbar erfolgreich gegen das durch kaiserliche Extravaganz und Bürgerkrieg hervorgebrachte Finanzchaos an, erwarb sich dabei jedoch ein wenig den Ruf unwürdiger Habgier und Sparsamkeit. Der nach alter Sitte bei seiner Beerdigung die Rolle des Toten spielende Akteur fragte die Verantwortlichen nach den Kosten und antwortete: »Gebt mir das Geld und werft den Leichnam in den Tiber.« In der Regierungszeit des zweiten Sohnes des Vespasian aber, zur Zeit Domitians (81–96), verschlechterten sich die Beziehungen zum Senat ständig, was schließlich zu der Erhebung eines senatorischen Generals im Jahr 89, zur Austreibung von Philosophen, die er für umstürzlerisch hielt, um 92 und einer Orgie von Strafverfolgungen in den Jahren 93–96 führte. In den Jahren verfaßte Werke, wie Tacitus’ Biographie seines Schwiegervaters Agricola oder Plinius’ Panegyrikus auf Trajan, gedenken der Herrschaft Domitians als einer Periode der Erniedrigung und des Schreckens. Als Domitian im Jahr 96 durch Mitglieder seines Haushalts ermordet wurde, wandten sich die Verschwörer (wie sie es zumeist taten) an einen reichen älteren Senator ehrwürdiger Herkunft, an M. Cocceius Nerva, aus einer italischen Senatorenfamilie, die auf die Republik zurückging und zwei bekannte Juristen hervorgebracht hatte. Seine erfolgreichste Maßnahme in seiner kurzen Regierungszeit von zwei Jahren stellte die Adoption seines Nachfolgers, M. Ulpius Traianus, des Statthalters des Oberen Germanien, dar (nicht zufällig hatte dieser das Rom am nächsten gelegene größere militärische Kommando inne). Er war der Sohn eines senatorischen Generals mit gleichem Namen, der die Provinzen Syrien und Asia verwaltet hatte und von Vespasian in den Patrizierstand erhoben worden war. Seine Familie kam aus Italica in Spanien, das während des Zweiten Punischen Krieges mit römischen Veteranen besiedelt worden war. Er muß somit als der erste Kaiser mit provinzieller Abkunft gelten (obwohl er nicht unbedingt in Spanien geboren sein muß). Wenige Kaiser waren in ihren Beziehungen zum Senat erfolgreicher. Plinius der Jüngere, der während seiner Regierungszeit im Senat saß, hat nicht nur den Panegyricus (eine erweiterte Version der Dankesrede auf den Kaiser, die er zu Beginn seines Konsulats im Jahr 100 hielt), sondern auch seine Briefe hinterlassen, die zeigen, mit wieviel Takt Trajan den Senat und seine senatorischen Freunde behandelte, bei denen er Rat einholte. Trajan erwarb auch in zwei Kriegen (101/2 und 105/6) die neue und reiche Provinz Dakien hinzu, unternahm in den Jahren 113–117 einen Feldzug gegen Parthien (der am Ende erfolglos blieb, da seine Eroberungen nicht gehalten werden konnten) und starb im Jahr 117 in Kilikien.

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Sein Nachfolger Hadrian, sein Neffe und Mündel, kam ebenfalls aus einer senatorischen Familie in Italica, obwohl er in Rom geboren wurde. Als Trajan starb, bekleidete Hadrian das Amt eines Statthalters von Syrien. Erst nach dem Tod des Kaisers wurde bekanntgemacht, daß er als Erbe und Nachfolger adoptiert worden war. Das erweckte natürlich einigen Unglauben. Dem Historiker Cassius Dio wurde von seinem Vater, der einige Zeit später Kilikien verwaltete, erzählt, daß die Kaiserin Plotina und der Prätorianerpräfekt in Wirklichkeit Trajans Tod einige Zeit verborgen hätten, bis der Staatsstreich durchgeführt worden war. Die Atmosphäre wurde keineswegs verbessert, als vier Senatoren mit konsularem Rang wegen »staatsgefährdender Umtriebe« hingerichtet wurden, während Hadrian sich auf dem Weg nach Rom befand. Hadrian, der in mancherlei Hinsicht interessanteste unter allen Kaisern, personifiziert, so könnte man sagen, die Vielfalt und die Grenzen der klassischen Kultur. Einen Großteil seiner Regierungszeit verbrachte er auf Reisen durch das Reich. Diese führten ihn in den Jahren 121–123 durch die westlichen Provinzen nach Britannien und über Spanien zurück, in den Jahren 123–125 durch Syrien, Kleinasien, Pannonien, Griechenland (wo er den Winter 124 auf 125 in Athen verbrachte) und Sizilien, im Jahr 128 durch Africa und in den Jahren 129–131 durch Griechenland, Kleinasien, Syrien, Judäa und Ägypten. Hadrian dichtete Verse, dachte über Architektur nach und umgab sich mit Rednern und Künstlern. Bei einem Besuch Alexandrias diskutierte er mit Gelehrten des Museum. Auf seinen Reisen gründete er Städte: Antinoopolis in Ägypten, nach seinem Günstling Antinous benannt, der im Nil ertrank, Hadrianoutherai in Kleinasien und Aelia Capitolina auf den Trümmern Jerusalems, was zu dem letzten großen jüdischen Krieg, dem Aufstand Bar Kochbas in den Jahren 132–135, führte (die vielfältigen Sympathien Hadrians gingen nicht über den griechisch-römischen Kulturkreis hinaus). Er beschäftigte sich aktiv mit der Disziplin der Truppe – auf Inschriften ist der Teil einer aus Lob und Tadel bestehenden Rede erhalten, die er nach Beobachtung einiger Hilfstruppen bei Übungen in Africa hielt – und ließ mit dem Bau der großen Grenzbefestigung im Norden Englands beginnen, die nach ihm benannt ist. Der griechischen Welt galt seine größte Hingabe, besonders Athen, das er dreimal besuchte, wo er Tempel und andere Gebäude erbaute und das er zum Mittelpunkt eines neuen Panhellenischen Bundes machte. Sein komplexer, vielseitiger Charakter erregte aber Argwohn und Mißtrauen. Die letzten Jahre seiner Regierung wurden durch weitere Hinrichtungen getrübt. Der zur Adoption und Nachfolge erwählte L. Ceionius Commodus Verus starb 138. Hadrian behalf sich schließlich mit einem angesehenen Senator in mittleren Jahren, dessen Vater aus Nîmes stammte, T. Aurelius Fulvius Boionius Arrius Antoninus, der als Antoninus Pius (138–161) besser bekannt ist. Dieser wurde angewiesen, als seinen zukünftigen Nachfolger seinen Neffen M. Annius Verus – Marcus Aurelius (161–180) – und den Sohn des Ceionius Commodus, L. Verus (Mitkaiser 161–169), zu adoptieren. Antoninus Pius lebte bescheiden in Rom und

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auf seinen Gütern, blieb immer in Italien und unterhielt ausgezeichnete Beziehungen zum Senat. Über ihn als Menschen ist sehr wenig bekannt. Viel mehr offenbart sich von Marcus Aurelius in dessen Briefen an Cornelius Fronto und in dessen in griechischer Sprache geschriebenen Meditationen, einer Frucht der stoischen Philosophie, der er sich seit seiner Kindheit geweiht hatte. Nichts zeigt den bescheidenen und »häuslichen« Geist des Antoninenregimes besser als der Abschnitt in den Meditationen, in dem Aurelius all das aufzählt, was er von seinem Adoptivvater gelernt hat: »Milde und Unerschütterlichkeit bei Entscheidungen, die nach schicklicher Überlegung getroffen wurden; Gleichgültigkeit gegenüber scheinbaren Ehrungen; Fleiß und Ausdauer; Bereitwilligkeit zum Anhören derer, die etwas zum öffentlichen Nutzen beizutragen haben ... seinen Freunden zu gestatten, nicht immer mit ihm zu speisen oder gezwungen zu sein, ihn auf Reisen außerhalb Roms zu begleiten ... Beifallskundgebungen und allen Formen der Schmeichelei während seiner Regierung Einhalt zu gebieten; seine sorgfältige Beachtung der Bedürfnisse des Reiches, die Pflege der Geldquellen, die Geduld, Kritik über derlei Angelegenheiten zu ertragen.«17 Zumindest zwei der insgesamt zwölf Bücher der Meditationen wurden auf den Feldzügen gegen die Barbaren jenseits der Donau geschrieben. Denn Kriege beherrschten die Regierungszeit des Philosophen, im Osten der von L. Verus zwischen 161 und 166 geführte Partherkrieg, dessen zurückflutende Truppen eine schreckliche Pest einschleppten, und dann die Kriege gegen Invasoren aus dem Norden von 167 bis 175, die durch eine Erhebung im Osten beendet wurden. Schließlich hatten Marcus und sein Sohn Commodus während ihrer gemeinsamen Regierung (177–180) Feldzüge an der Donau zu führen. Commodus, der mit achtzehn Jahren die alleinige Macht erlangte, als sein Vater auf einem Feldzug starb, behauptete sofort seine Autorität, indem er den Ratschlag aller seiner Ratgeber, den Krieg fortzuführen, in den Wind schlug, Frieden schloß und zu den Vergnügungen Roms zurückkehrte. Das Vergnügen sollte nicht vom Senat geteilt werden (in einer bekannten Metapher kennzeichnet Cassius Dio, der in dessen Regierungszeit in den Senat eintrat, den Wechsel von Vater auf Sohn als ein Absteigen vom goldenen zu einem eisernen Zeitalter). Seine Herrschaft ähnelte in vielerlei Hinsicht der Neros – es gab Verschwörungen, den Wettstreit der Günstlinge, Selbstverherrlichung und Schaustellungen der kämpferischen Tapferkeit des Kaisers. Als Commodus in der letzten Nacht des Jahres 192 in seinem Bad erdrosselt wurde, wandten sich die Verschwörer, nach gewohnter Art, an einen italischen Senator in vorgerückten Jahren, an P. Helvius Pertinax. In seiner Herkunft spiegeln sich die veränderten Bedingungen des 2. Jahrhunderts: In Ligurien als Sohn eines Freigelassenen geboren, hatte er ritterliche Posten, vornehmlich militärischer Art, bekleidet, war dann in den Senat aufgenommen worden und hatte in der Regierungszeit des Marcus Aurelius und Commodus Militärkommandos inne. Zur Zeit seiner Nachfolge war er als höchster

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senatorischer Beamter, als Stadtpräfekt, tätig.18 Seine ganz in senatorischem Geist geführte Regierung dauerte nur drei Monate, bis er von den Prätorianerkohorten getötet wurde. Es folgte eine wilde Zeit, in der zwei Senatoren mit der Prätorianergarde um die Nominierung zum Kaiser verhandelten und in der der Sieger von Septimius Severus, dem Statthalter des Oberen Pannonien (Pannonia Superior), verdrängt wurde. Dieser führte sodann vier Jahre lang einen Bürgerkrieg, bis er schließlich den Thron gegen seine Rivalen, die Statthalter von Syrien und Britannien, gesichert hatte. Severus war ein Afrikaner aus der alten Phönikerstadt Lepcis Magna in Tripolitanien, der im Jahr 112 der Status einer römischen Kolonie verliehen worden war. Sein Großvater war damals zum Ritter ernannt worden. Seine Onkel, nicht aber sein Vater, waren römische Senatoren gewesen. Die ersten Regierungsjahre mit den Bürgerkriegen, die im Sieg bei Lugdunum (197) ihren Höhepunkt fanden, und mit der Verfolgung feindlicher Senatoren hinterließen einen ungünstigen Eindruck. Von 197 bis 202 weilte Severus im Osten, unternahm einen einigermaßen erfolgreichen Krieg gegen die Parther und durchreiste Syrien und Ägypten, bevor er über Kleinasien und den Balkan zurückkehrte.

� Abb. 2: Septimius Severus, seine Frau Julia Domna und seine Söhne Caracalla und Geta (ausgelöscht). Gemälde auf einer Holztafel aus Ägypten aus der Zeit ihres Aufenthaltes ebendort (199–201). Severus und Caracalla sind mit goldenen Girlanden

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geschmückt, die mit Edelsteinen besetzt sind. Geta wurde im Jahr 212 von Caracalla ermordet und sein ›Andenken verdammt‹ (Kap. 2). Darum wurden seine Gesichtszüge unkenntlich gemacht, wie man seinen Namen auch auf Inschriften und Papyri tilgte. Er führte danach ein relativ friedliches Leben in Rom, bis er sich im Jahr 208 mit seinen beiden Söhnen, Caracalla und Geta, auf einen Kriegszug nach Britannien begab. Als er 211 in York starb, kehrten die beiden als Mitkaiser eingesetzten Söhne nach Rom zurück, wo Caracalla seinen Bruder Geta ermordete (212). Die gewohnten Hinrichtungen folgten und wurden schließlich durch Caracallas Aufbruch zu einem Feldzug nach Osten unterbrochen, der den letzten Teil seiner Regierungszeit ausfüllte. Caracalla kostete, wenn man den feindlichen Quellen glauben darf, seine Kaiserstellung bis zur Neige aus, indem er sich als Alexander der Große kleidete und diese Rolle zu spielen suchte, indem er ein wüstes Blutbad unter den Alexandrinern hielt, die ihn wegen der Ermordung seines Bruders beleidigt hatten, und indem er die Senatoren in seiner Umgebung demütigte. Cassius Dio, der im Jahr 214 mit Caracalla in Nikomedeia weilte, schildert, wie der Kaiser anzukünden pflegte, er würde am Morgen mit der Anhörung besonderer Anliegen beginnen, und dann seine senatorischen Ratgeber bis zum Abend vor der Tür warten ließ, während er sich als Gladiator übte oder mit seiner Soldateneskorte trank.19 Als sich der Hof im Jahr 217 in Syrien aufhielt, ließ der Prätorianerpräfekt Macrinus, weil er um sein eigenes Leben bangte, Caracalla ermorden und proklamierte sich nach vier Tagen des Wartens als erster eques zum Kaiser. Severus hatte jedoch in eine syrische Familie geheiratet, die in dem syrischen Emesa die erbliche Priesterschaft innehatte. Der Großneffe der Gemahlin des Severus, Varius Avitus (weit besser bekannt als Elagabal, dem Namen des emesenischen Gottes), wurde jetzt von seiner ehrgeizigen Mutter und Großmutter in den Vordergrund gedrängt und den Truppen (fälschlicherweise) als unehelicher Sohn des Caracalla vorgestellt, womit die vierzehn Monate dauernde Herrschaft des Macrinus zu Ende ging. Die Darstellung der vierjährigen Herrschaft Elagabals (er war erst vierzehn Jahre alt, als sie begann) ist nichts weiter als ein Katalog von Immoralitäten und Tollheiten. Im Jahr 222 konnte ihn seine Familie durch seinen Vetter Alexianus ersetzen, der jetzt Severus Alexander hieß, vierzehn Jahre alt war, von seiner Mutter Mammaea und von dem Juristen Ulpian, dem Prätorianerpräfekten, beherrscht wurde und gezwungen war, genauestens auf den Senat zu achten. Obgleich der Vater Elagabals ein Senator und ein ritterlicher Prokurator des Alexander gewesen war, muß es doch als eine Fügung des Schicksals gelten, daß gerade diese beiden Jünglinge Kaiser wurden und nicht irgendwelche Senatoren aus dem wohlhabenden Bürgertum Kleinasiens, die die ersten Repräsentanten des griechischen Ostens waren. Als Severus Alexander am Rhein getötet wurde (235) und der aus den untersten Rängen aufgestiegene thrakische Soldat Maximinus an seine Stelle

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rückte, begann eine neue Ära. Die zeitgenössischen historischen Quellen versiegen, Cassius Dios Geschichte endet im Jahr 229, Herodians Kaisergeschichte, die mit Marcus Aurelius beginnt, schließt mit dem Tod des Maximinus in Aquileia (238). Es verbleiben uns die kurzen Geschichten aus dem 4. Jahrhundert, byzantinische Geschichten und die als Historia Augusta bekannte Sammlung kaiserlicher Biographien aus dem 4. Jahrhundert, die mit Ausschmückungen angefüllt ist und darüber hinaus für den Zeitraum von 244 bis 260 eine Lücke aufweist. Über die Kaiser dieser Periode ist darum weit weniger bekannt. Von einigen kennen wir nur die Namen; viele in der Historia Augusta kurz skizzierte Thronbewerber haben vielleicht niemals gelebt. Nicht alle Kaiser müssen darum erwähnt werden. Es wird ausreichen, über diejenigen zu sprechen, von denen etwas Bedeutsames bekannt ist. Die hervorstechenden Züge der Periode wurden schon genannt: das Überwiegen von Kriegen und Bürgerkriegen, die Einbeziehung des Kaisers aus einer vornehmlich »senatorischen« in eine »militärische« Umgebung, die wachsende Tendenz, daß die Kaiser aus der Armee und nicht mehr aus dem Senat kamen und (darum) aus den Donauländern stammten. Es waren aber auch andere Einflüsse am Werk: die Kaiserproklamation des Prokonsuls von Africa Gordian (I.) und seines Sohnes Gordian II. führte zu dem erfolgreichen Krieg des Senats gegen Maximinus und der sechsjährigen Herrschaft Gordians III. (238 bis 244). Gordians mit ständigen Kriegen angefüllte Herrschaft endete, als er, wie Caracalla, von den Truppen an der Ostfront ermordet wurde und sein in Transjordanien geborener Prätorianerpräfekt Julius Verus Philippus an seine Stelle rückte. Die soziale Entwicklung der römischen Welt wird sehr passend dadurch charakterisiert, daß es ihm vorbehalten blieb, im Jahr 248 mit großartigen Spielen in Rom die tausendjährige Wiederkehr der Gründung der Stadt zu feiern. An seine Stelle rückte der von der Donauarmee proklamierte Pannonier C. Messius Quintus Decius, der allerdings Senator war und in eine alte italische Familie einheiratete. Unter seiner Herrschaft wurde das erste allgemeine Edikt zur Christenverfolgung erlassen. Auf seinen Tod in der großen Schlacht bei Abrittus in der Dobrudscha folgte das kurze Regime (251–253) des Gallus und Volusianus und danach die gemeinsame Herrschaft des italischen Senators P. Licinius Valerianus und dessen Sohnes Gallienus. Ihre Herrschaft wurde von einer endlosen Serie von Unglücksfällen, Invasionen in West und Ost, der Schaffung eines unabhängigen, aber römischen Reiches in Gallien, das sich von Spanien bis Britannien erstreckte, der Entstehung eines unabhängigen Palmyra und der Gefangennahme und Demütigung Valerians (260) durch den persischen König Šāpūr I. gekennzeichnet. Von Gallienus (Alleinherrscher 260–268) wissen wir etwas mehr als von den anderen Kaisern der Zeit. Er beendete die von seinem Vater im Jahr 257 begonnene zweite Christenverfolgung, verbrachte, wenn es die Kriege zuließen, seine Zeit in Rom und zeigte kulturelle Neigungen, wie sie seit den Antoninen seine Vorgänger nicht mehr gekannt hatten. Er war der Mäzen des bedeutenden Philosophen Plotinus, dem er den

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Bau einer Philosophenstadt in Kampanien mit dem Namen Platonopolis versprach. Er soll auch (nach der Historia Augusta), wie Hadrian, archon – oberster Beamter von Athen – gewesen, in die Eleusinischen Mysterien eingeweiht worden sein und Verse in griechischer und lateinischer Sprache verfaßt haben. Als Gallienus im Jahr 268 im Verlauf einer innenpolitischen Auseinandersetzung in der Nähe Mailands getötet wurde, gewann Claudius II. (268–270) die Macht und inaugurierte die Serie balkanischer Kaiser – Aurelian (270–275) und Probus (276–282) –, die in langen Jahren des Kampfes die Einheit des Reiches wiederherstellten und eine Reihe barbarischer Einfälle zurückschlugen, wenn sie diese auch nicht verhindern konnten. Der in Dalmatien geborene Claudius und der wahrscheinlich aus Pannonien stammende Aurelian hatten ein Kavalleriekommando ritterlichen Rangs inne; Probus stammte auch aus Pannonien. Unsere spärlichen Quellen geben aber nicht einmal darüber Auskunft, welchen militärischen Posten er zum Zeitpunkt seiner Proklamation bekleidete. Die Herrschaft dieser Männer besaß fundamentale Bedeutung für die Wiederherstellung des Reiches bis zu dem Punkt, an dem die Reformen Diokletians (284–305) möglich wurden; man kann aber keineswegs behaupten, von ihnen viel mehr als die bloßen Fakten der von ihnen geführten Kriege zu kennen. Zwischen der Ermordung Aurelians (275) und der Proklamation des Probus (276) kam es zu dem letzten großen Augenblick des Senats, als die Armee ihn zur Nominierung des Kaisers aufforderte. Nach einigem Zögern handelten die Senatoren im Sinn der Tradition und akklamierten den hervorragenden Senator Tacitus, der wahrscheinlich in Italien geboren und 75 Jahre alt war. Schließlich proklamierte man den Prätorianerpräfekten Carus (282), der seine beiden Söhne zu »Caesaren« machte und nach einem erfolgreichen Einfall in Persien starb oder getötet wurde. Bald darauf hoben die Truppen einen dalmatischen Soldaten mit Namen Diocles auf den Schild, der als Kaiser M. Aurelius Valerius Diocletianus (Diokletian) eine neue Ära in der Geschichte des Reiches einleitete. 4. Regierung und Verwaltung Das römische Kaiserreich hatte keine Regierung. Das heißt, es gab keine förmlich gewählte oder ernannte Körperschaft von Personen, die Verantwortung für wirksame Entscheidungen getragen hätte. Es gab auch weder eine gewählte repräsentative Versammlung, vor der sich die »Regierung« hätte verantworten können, noch irgendeine souveräne Versammlung oder Wählerliste. Obwohl das Volk von Rom noch beträchtliche politische Macht und eine privilegierte Stellung besaß, wählte es doch nicht länger, wie wir gesehen haben, die Beamten von Rom und verabschiedete (soweit wir wissen) nicht einmal mehr formell einzelne Gesetze. Der römische Senat, in den man in der Regel auf Grund erblicher Ansprüche eintrat, dessen Mitglieder daneben auch durch kaiserliche Gunst ergänzt wurden, repräsentierte weder das römische Volk noch die

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einzelnen Gemeinden, als Männer aus den Provinzen in ihn Eingang fanden; denn obwohl oft ein Senator die Interessen seiner Gemeinde förderte, war er weder von ihr gewählt noch ihr verantwortlich. Auch der Senat kann, trotz seiner sehr wichtigen Rolle als Visavis des Kaisers und trotz der Tatsache, daß er sich mit einer Vielzahl legislativer und administrativer Geschäfte befaßte, keineswegs als die regierende Versammlung des Reiches angesehen werden. Das Reich wurde in Wahrheit vom Kaiser regiert, dem seine »Freunde« (amici) zur Seite standen. Nach alter Sitte hatte jeder römische Beamte und Statthalter, immer wenn er Entscheidungen traf oder zu Gericht saß, eine Gruppe von Ratgebern bei sich, die er selbst ausgewählt hatte und die er zu konsultieren pflegte. Die tatsächlichen Entscheidungen und Urteile blieben aber ihm vorbehalten; durch die Ansicht der Mehrheit seiner Ratgeber war er keineswegs gebunden. Nach dem gleichen Muster gingen die Kaiser vor. Augustus hatte eine Gruppe formalerer Art eingesetzt, um die Geschäfte für den Senat vorzubereiten, die sich aus den Konsuln, je einem Inhaber der anderen Ämter und fünfzehn durch das Los für sechs Monate bestimmten Senatoren zusammensetzte. Diese Einrichtung überlebte seine eigene Regierungszeit jedoch nicht, und spätere Kaiser griffen auf die frühere Sitte zurück. Der Grundzug des Systems einer Beratung mit Freunden war seine Ungezwungenheit. Erstens war es dem Kaiser (obgleich einige Stabilität, selbst von einer Herrschaft zur anderen, darin bestand, wer konsultiert wurde, und obgleich die Inhaber einiger Ämter, wie der Prätorianerpräfekt, jedesmal konsultiert wurden) immer freigestellt, wen er um Rat fragen wollte, und umgekehrt hatte er die Freiheit, jeden von seinen Ratsversammlungen auszuschließen, dessen Rat mißliebig war. Wenn der Kaiser zum Beispiel Rom verließ, um ins Feld zu ziehen oder durch eine Provinz zu reisen, nahm er die Männer mit, die er als seine »Gefährten« (comites) wünschte, und fragte sie um Rat. Zweitens war er, wie schon gesagt, nicht an ihre Ratschläge gebunden. Als Marcus Aurelius im Jahr 180 auf einem Feldzug in die Donauländer starb, vertraute er den achtzehnjährigen Commodus der Führung der ihn begleitenden Freunde an. Sie empfahlen, den Krieg fortzusetzen; Commodus schloß aber Frieden (mit recht gutem Erfolg) und ging nach Hause. Unter den Freunden des Kaisers hatte nur der Prätorianerpräfekt so etwas wie einen ex officio-Platz in den kaiserlichen Beratungen. Das kam teilweise daher, weil ein Präfekt, der das Vertrauen des Kaisers verlor, auch sehr schnell sein Amt verlor, gleichzeitig aber auch aus der Beschaffenheit dieses Postens, der ursprünglich – unter Augustus – die Befehlsgewalt über das kaiserliche praetorium (Hauptquartier) beinhaltete. Die Möglichkeiten dieses Amtes wurden sofort offenbar, als Aelius Seianus, nach der Versetzung seines Vaters in die Präfektur Ägypten im Jahre 14 alleiniger Präfekt, die Prätorianerkohorten in einem festen Lager zusammenzog und bis zu seinem Sturz im Jahr 31 bei Tiberius starken Einfluß ausübte, Mitglieder des kaiserlichen Hauses angriff, einzelne Senatoren begünstigte, öffentliche Standbilder, die Abzeichen eines Prätoren und schließlich (obgleich er ein eques war) das Konsulat selbst

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zugesprochen bekam. Danach pflegte die Rolle der Präfekten, im Normalfall gab es gleichzeitig zwei, bescheidener zu sein. Sie begleiteten den Kaiser die meiste Zeit und übernahmen von der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts an manchmal ein aktives Kommando im Feld, im allgemeinen auf Feldzügen, an denen der Kaiser teilnahm. Sie bewachten auch Gefangene und übten im 2. und 3. Jahrhundert in Italien außerhalb Roms die Gerichtsbarkeit aus, erhielten Gefangene aus den Provinzen zur Aburteilung oder behandelten, wenn sie vom Kaiser dazu delegiert waren, Urteile der Provinzstatthalter in zweiter Instanz. Einige Präfekten wie Perennis unter Commodus (180 bis 192) oder Fulvius Plautianus unter Severus (193–211) gingen in den Fußstapfen des Sejanus. Plautianus bekleidete im Jahr 203 das Konsulat und verheiratete seine Tochter mit Caracalla, ehe er im Jahr 205 hingerichtet wurde. Später, im 3. Jahrhundert, bestiegen, wie wir sahen, einige Prätorianerpräfekten den Thron. Ihre bleibende Bedeutung aber resultierte aus der Tatsache ihrer Nähe zum Kaiser: Von Marcius Turbo, dem Präfekten unter Hadrian, wurde berichtet, daß er niemals den Palast verließ, selbst nicht um zu Hause zu schlafen. Da die Rechtsprechung einen so großen Teil der Zeit des Kaisers in Anspruch nahm, wurde die richterliche Befähigung der Präfekten ebenso wichtig wie deren militärische Eigenschaften. Das frühe 3. Jahrhundert war die große Zeit der Präfektur, als die Juristen Papinian, Ulpian und möglicherweise Paulus diese bekleideten. Bis dahin hatten die Präfekten einen formalen Status erlangt, der mit dem der Senatoren vergleichbar, in mancherlei Hinsicht diesem sogar überlegen war: Zwei Protokolle aus der Regierungszeit des Caracalla (211–217) zeigen, daß der Kaiser, wenn er im Rat seinen Platz eingenommen hatte, zuerst vom Prätorianerpräfekten begrüßt wurde, sodann erst von seinen anderen »Freunden« und den Chefs der »Sekretariate«. Weitere Einzelheiten darüber, was der Kaiser und seine Ratgeber taten und wie sie es taten, sollen folgen, wenn sie in den Zusammenhang mit der Struktur des römischen Staates gestellt werden können. Der Grundzug dieser Struktur ist in dem Kompromiß zwischen der Regierungspraxis der Republik und der Tatsache zu sehen, daß alle wirkliche Macht und Verantwortung beim Kaiser lag. In republikanischer Zeit waren die Provinzstatthalter Senatoren gewesen, die gewöhnlich durch Los jeweils für ein einziges Jahr bestimmt wurden. Seit Errichtung des Triumvirats im Jahr 43 v. Chr. besaßen die Triumvirn die Macht, Statthalter einzusetzen, die Augustus bis zum Jahr 27 v. Chr. weiter ausgeübt zu haben scheint. Als er im Jahr 27 »die Republik wiederherstellte«, war eine wichtige Entscheidung die, daß er für einige Provinzen die Bestimmung der Statthalter (Prokonsuln genannt) für ein Jahr durch das Los wiedereinführte. Diese Provinzen wurden »öffentliche« oder »senatorische« Provinzen genannt. Für die übrigen, besonders diejenigen mit größeren Truppenkontingenten, bestand die direkte Ernennung durch den Kaiser weiter. Die Statthalter der »kaiserlichen« Provinzen waren ebenfalls alle Senatoren, wie die Prokonsuln entweder gewesene Prätoren oder Konsuln, je nach Bedeutung der Provinz,

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wurden legati Augusti (Delegierte des Augustus) genannt und blieben bis zur Abberufung durch den Kaiser im Amt. Die Legionskommandeure, die beinahe ausschließlich in kaiserlichen Provinzen stationiert waren, rekrutierten sich ebenfalls aus den Reihen der Senatoren, im allgemeinen aus gewesenen Prätoren. Sie wurden legati der Legion genannt und vom Kaiser eingesetzt. Die wichtigste Ausnahme stellte Ägypten dar, das seit seiner Eroberung im Jahr 30 v. Chr. immer ein Präfekt aus dem Ritterstand regiert hatte, obwohl ihm Legionen römischer Bürger unterstellt waren. Es gab auch weniger wichtige Provinzen wie Judäa, die Männer aus dem Ritterstand verwalteten (die zunächst den Titel eines »Präfekten« trugen, seit der Mitte des 1. Jahrhunderts aber »Prokuratoren« genannt wurden); sie befehligten jedoch nur Hilfstruppen aus Nicht- Bürgern. Mit diesen Ausnahmen hielt die Kaiserzeit jedoch das von Senatoren ausgeübte Monopol der Provinzstatthalterschaften aufrecht, wobei allerdings solche von militärischer Wichtigkeit in den Händen des Kaisers gelassen wurden. Die Aufteilung in »kaiserliche« und »senatorische« Provinzen sah man oft als eine administrative Teilung an, bei der der Kaiser die kaiserliche Hälfte und der Senat (indem er gelegentliche »Interventionen« des Kaisers zuließ) die senatorische Hälfte beherrschte. In Wirklichkeit aber bestand, abgesehen von der Methode der Ernennung, der einzige administrative Unterschied darin, daß der Kaiser bis ins frühe 2. Jahrhundert jedem seiner legati Instruktionen (mandata) mit auf den Weg gab, wenn sie in die Provinzen aufbrachen, es bei den Prokonsuln aber unterließ; etwa von der Regierungszeit Hadrians (117–138) an erhielten auch die Prokonsuln solche Anweisungen. Im übrigen trafen Kaiser und Senat (hauptsächlich natürlich der erstere) Regelungen, die überall anwendbar waren, und trafen Maßnahmen, die sich auf beide Provinztypen bezogen. In einer senatorischen Provinz war der oberste Finanzbeamte der Quästor, ein senatorischer Beamter, dem die jeweilige Provinz durch das Los zufiel und der dort ein Jahr lang sein Amt bekleidete. In einer kaiserlichen Provinz wurden dieselben Funktionen – die Aufsicht über die Steuererhebung und die Besoldung der Truppen und Beamten – von kaiserlichen Prokuratoren ausgeübt, die gewöhnlich aus dem Ritterstand stammten, manchmal aber kaiserliche Freigelassene waren. Dieses Amt stellt zusammen mit dem des Präfekten von Ägypten und dem des Präfekten (später »Prokurator«) kleinerer Provinzen den Beginn des ständigen Ausbaus von Posten dar, die der Kaiser besetzte und die Personen außerhalb des Senats innehatten. Darin bestand eine der grundlegenden Entwicklungen im Wesen des Staates der Kaiserzeit. Im ganzen Reich sind Sklaven und Freigelassene des Kaisers zu finden, die Aufgaben besonders in Verbindung mit kaiserlichen Gütern und Besitzungen (darunter Bergwerken und Steinbrüchen), später aber auch mit Steuern, der kaiserlichen Post (cursus publicus) und Straßen wahrnahmen. Manchmal hatten Freigelassene die wichtigeren der oben erwähnten Prokuratorstellen inne (Felix, der Bruder des Pallas, des bekannten Freigelassenen des Claudius, war zum Beispiel von 52

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bis 60 Prokurator von Judäa). Im allgemeinen waren diese Ämter aber das Reservat, später das Monopol von Männern aus dem Ritterstand. Dazu ist zu sagen, daß prinzipiell jeder römische Bürger mit freier Abkunft über zwei Generationen, dessen Kapital auf über 400000 Sesterzen (ein Drittel von dem, was von einem Senator verlangt wurde) geschätzt wurde, ein eques war. Equites trugen einen schmalen Purpurstreifen an der Toga und durften in Rom im Circus oder im Theater in einer der ersten vierzehn Reihen sitzen. Der Ritterstand besaß mit anderen Worten auf einer etwas niedereren Ebene und auf viel breiterer Grundlage die gleiche Funktion wie die Mitgliedschaft im Senat, nämlich einen spezifisch römischen Status zu bilden, nach dem die besitzenden Klassen in den Provinzstädten streben konnten.1 In der Kaiserzeit entwickelte sich allmählich aus kleinen Anfängen eine Folge ritterlicher Ämter, die ziemlich bald eine Hierarchie darstellte, die dem »cursus« der Senatoren recht ähnlich war. Zu allen Zeiten hatte die Mehrzahl der Inhaber ritterlicher Ämter zunächst in der Armee gedient; einige von ihnen traten schon als equites ein und dienten in der Regel als Präfekt einer Infanteriekohorte von Hilfstruppen, Tribun einer Legion und Präfekt einer berittenen Schwadron (ala) von Hilfstruppen. Andere waren Centurionen im Rang eines primus pilus (Senior-Centurionen) einer Legion, gingen dann als Tribun einer Prätorianerkohorte nach Rom, wurden primus pilus einer zweiten Legion und bekleideten danach zivile ritterliche Ämter. Während des 1. Jahrhunderts läßt sich die Herausbildung einer regelmäßigen Laufbahn beobachten, nach der diese Männer nach ihrem ersten »Primipilat« als Tribun der Reihe nach zu allen drei Einheiten in Rom gingen – den vigiles, städtischen Kohorten und Prätorianerkohorten – und dann nach ihrem zweiten »Primipilat« erwarten konnten, schnell zu den wichtigeren Ritterposten aufzusteigen. In der julisch-claudischen Periode (bis 68) wuchs die Zahl der Ritterämter ständig über die nur 25 unter Augustus bezeugten hinaus, hauptsächlich durch den Erwerb neuer kleiner Provinzen (den beiden Mauretanien und Thrakien), die von Prokuratoren verwaltet wurden, und die Monopolisierung der Präfektenposten für die verschiedenen Flottenverbände, die in der Frühzeit oft von kaiserlichen Freigelassenen bekleidet wurden. Seit der Regierung des Tiberius wurde es allmählich gebräuchlich und schließlich die Regel, die wichtigsten Präfekturen – der annona, der vigiles, Ägyptens und der Prätorianerkohorten – durch Promotion von Prokuratoren zu besetzen; zunächst wurden sie oft noch direkt mit kaiserlichen Günstlingen besetzt. Das wichtigste der noch ungenannt gebliebenen Ämter war das eines Prokurators in einer senatorischen Provinz, der alle kaiserlichen Besitzungen und Güter in ihrem Bereich beaufsichtigte. Die historische Bedeutung dieser Männer bestand darin, daß sie unweigerlich die Grenzen ihrer der Theorie nach privaten Stellung sprengten, eine halbamtliche Position usurpierten und die Autorität des senatorischen Prokonsuls herausforderten, weil sie die vertrauten Abgesandten des Kaisers waren und beträchtliche Einkünfte und einen Stab von

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Sklaven und Freigelassenen kontrollierten. Schon im Jahr 23 n. Chr., als Anklagen gegen einen Prokurator von Asia vorgebracht wurden, beteuerte Tiberius, daß er ihm lediglich die Gewalt über die kaiserlichen Sklaven und Gelder gegeben habe; wenn er die Vollmachten eines Statthalters usurpiert und die Dienste der Soldaten für sich beansprucht habe (wie er es offensichtlich getan hatte), dann habe er damit die Anordnungen des Kaisers mißachtet.2 Später führten solche Prokuratoren jedoch nicht nur politische Morde auf Geheiß des Kaisers aus, sondern übten amtliche Funktionen aus. So ließen sie zum Beispiel Straßen bauen oder strittige Ländereien vermessen. Schon im Jahr 88 begegnen wir darüber hinaus einer Maßnahme, die die Zukunft vorausnimmt, als der Prokurator von Asia nach Hinrichtung des senatorischen Statthalters durch Domitian als Provinzstatthalter fungierte. Seit der flavischen Periode, besonders im 2. Jahrhundert, läßt sich eine weitere Zunahme der Zahl der ritterlichen Ämter beobachten, die im allgemeinen einen niedrigeren Platz in der Hierarchie einnahmen als diejenigen, die schon bestanden. Diese Ämter hatten mit Erbschaften für den Kaiser, Steuern, Gladiatoren, dem cursus publicus, den Aquädukten und der Münze zu tun. Unter Hadrian (117–138) begegnet man dem neuen Juniorposten eines advocatus fisci (Advokaten der kaiserlichen Kasse), der als nicht-militärische Alternative zum Einstieg in den ritterlichen cursus diente. Einige Würdenträger aus den Provinzen oder griechische Redner hatten jedoch nur diesen Posten inne, ohne anschließend andere zu bekleiden. Aus einer Inschrift wissen wir zum Beispiel von einem Mann aus einer vornehmen Familie in Phrygien (Asia) und seinem Enkel, die beide dieses Amt, aber kein anderes bekleideten. Das ist mit anderen Worten ein Beispiel für die oben erwähnte Verschmelzung örtlicher und kaiserlicher Ämter. Eine ebenso wichtige Entwicklung, die auch auf die flavische Periode zurückgeht, ist die Besetzung der entscheidenden »Sekretärs«-Posten beim Kaiser, die zuvor kaiserliche Freigelassene innehatten, durch equites. Der erste Schritt wurde von Vitellius getan, als er im Januar 69 am Rhein zum Kaiser proklamiert wurde. Einer der Nutznießer seiner Verteilung solcher Posten an equites diente dort als Legionstribun und erhielt nun den Titel »Prokurator für patrimonium, Erbschaften und Bittschriften«3. Typischer noch ist zum Beispiel die Karriere des Vibius Lentulus, der nach ritterlichen Militärposten verschiedene Prokuraturen bekleidete und unter Trajan als a rationibus (Chef der Rechnungslegung) seine Laufbahn beendete. Diese Ämter wurden jetzt manchmal mit Männern besetzt, die man aus niederen Verwaltungspositionen nahm. Besonders solche, die mit Diplomatie und Korrespondenz befaßt waren, wurden oft direkt Intellektuellen oder Literaten, beinahe immer Griechen, übertragen. Das war gelegentlich schon früher geschehen, als zum Beispiel Claudius (41–54) seinem Arzt, Stertinius Xenophon von der Insel Kos, offenbar einen militärischen Ehrenrang verlieh – mitsamt militärischen Auszeichnungen, nachdem dieser ihn nach Britannien

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begleitet hatte – und ihn auch mit der Aufsicht über die in griechischer Sprache abgefaßten kaiserlichen Antwortschreiben betraute. Gegen Ende des 1. Jahrhunderts wurde dem alexandrinischen Grammatiker Dionysius, der zuvor Leiter des Museums in Alexandria gewesen war, die Verantwortung für die kaiserlichen Bibliotheken übertragen. Dieser war damit für die kaiserliche Korrespondenz, Gesandtschaften und Beantwortungen zuständig. Im 2. und frühen 3. Jahrhundert gelangte eine große Zahl griechischer Redner direkt zur Aufsicht über die kaiserliche Korrespondenz in griechischer Sprache.4 Zwei Karrieren mögen die beiden gegenläufigen Ströme in der Verwaltungsentwicklung des 2. Jahrhunderts beispielhaft zeigen. Zunächst der Professionelle, der aus der Armee aufgestiegene M. Bassaeus Rufus. Er wurde in armen, von der Kultur wenig berührten Verhältnissen geboren, diente als primus pilus, ging dann als Tribun zu den drei Einheiten in Rom, diente wiederum als primus pilus, war Prokurator in Spanien, anschließend Prokurator (Gouverneur) von Norikum, Prokurator (der Finanzen) der Belgica und Germaniens, a rationibus und nacheinander Präfekt der vigiles in Rom, Präfekt von Ägypten und der Prätorianerkohorten (169-etwa 177). In den Donaukriegen des Marcus Aurelius erwarb er sich militärische Auszeichnungen und die insignia eines Konsuls. Der Senat stimmte, auf Veranlassung der Kaiser Marcus Aurelius und Commodus, dafür, ihm an drei verschiedenen Stellen in Rom drei Statuen aufstellen zu lassen.5 Der Vater des Aelius Antipater aus Hierapolis in Phrygien war zunächst advocatus fisci für Phrygien, anschließend für die gesamte Provinz Asia gewesen, sein Großvater ein Hoherpriester des Kaiserkultes dieser Provinz. Nachdem Aelius Antipater in Athen studiert hatte, wurde er ein weithin bekannter Redner. Septimius Severus (193–211) betraute ihn mit der Oberaufsicht über die griechische Korrespondenz und mit der Erziehung seiner Söhne Caracalla und Geta. In einem zwischen 200 und 205 Ephesus gesandten Schreiben nennt ihn Caracalla »meinen Freund und Lehrer, der mit der Abfassung der griechischen Briefe betraut ist«. Philostratus berichtet in seinem Leben der Sophisten, daß Antipater eine Geschichte der Regierungszeit des Severus schrieb und daß er vor allem ein Meister des den kaiserlichen Briefen angemessenen Stils war. Später fand er im Rang eines gewesenen Konsuls Eingang in den Senat.6 Zwischen diesen beiden Extremen verlief eine andere Entwicklung, die hier kurz erwähnt werden muß, nämlich die Verwendung von Juristen in Ritterämtern und als bezahlte Ratgeber (consiliarii) des Kaisers. Die bekannten Juristen des 1. Jahrhunderts und bis zur ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts waren Senatoren, denen einzeln das »Recht (in gesetzlichen Angelegenheiten) Antworten zu geben« – das ius respondendi – verliehen wurde und die »Freunde« des Kaisers und seine Ratgeber sein konnten oder auch nicht. Von der Mitte des 2. Jahrhunderts an trat ein bedeutsamer Wandel ein, denn die bekannten Juristen waren jetzt in der Mehrzahl equites in kaiserlichen Diensten. Als erster avancierte der Militärtribun L. Volusius Maecianus. Er bearbeitete im Jahr 138 die

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Petitionen an Antoninus Pius zwischen dessen Adoption und Thronbesteigung, bekleidete dann, nach der Präfektur der vehicula (des Transportwesens) und der Bibliotheken, mehrere Sekretärsposten unter Pius, ehe er die Präfektur der annona und Ägyptens übernahm und schließlich zum Senator gemacht wurde. Er schrieb juristische Werke, führte Marcus Aurelius in die Jurisprudenz ein und diente den Kaisern Pius, Marcus Aurelius und Verus (161 bis 169) als juristischer Berater.7 Später stiegen die Rechtsgelehrten, wie schon erwähnt, selbst zur Prätorianerpräfektur auf. So sah die Struktur der wichtigen Posten aus, wie sie bis in die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts existierten. Ihre Hauptmerkmale bestanden darin, daß die Struktur der senatorischen Provinzkommandos intakt blieb, daß sie aber von einem vielfältigen Netz von Ritterämtern überlagert wurden, die für die stark ausgeweiteten Unternehmungen des Staates und die Interessen des Kaisers zuständig waren. In der letzten Hälfte des 3. Jahrhunderts brach die senatorische Struktur jedoch endgültig auseinander. Schon vorher, besonders seit Ende des 2. Jahrhunderts, geschah es häufig, daß Prokuratoren Provinzen vice praesidis (»an Stelle des Statthalters«) verwalteten. In einigen Fällen des 3. Jahrhunderts, besonders im Fall der langen Reihe von Ämtern, die Timesitheus, der spätere Schwiegervater und Prätorianerpräfekt Gordians III. (238–244), innehatte, scheinen nicht nur aus Tod oder Abwesenheit resultierende Ersatzlösungen vorgelegen zu haben, sondern spontane Einsetzungen. Gleichzeitig erwarben selbst einfache Prokuratoren, wie wir noch später sehen werden, ständig größere Macht und Unabhängigkeit gegenüber den senatorischen Statthaltern. Wie ein wichtiger Prokurator in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts seinen Untertanen erschien, kann man einem Brief entnehmen, der von der Synode von Antiochia im Jahr 268 wegen des häretischen Bischofs Paulus von Samosata nach Rom geschickt wurde. Unter anderem gebärdete er sich eher wie ein ducenarius (hochgestellter Prokurator) als ein Bischof – »stolzierte über die öffentlichen Plätze, las Briefe und beantwortete sie öffentlich beim Gehen, war von einer großen Leibwache umgeben, einige marschierten vor ihm, einige folgten ihm ...«; er besaß ein tribunal und einen erhöhten Thron und ein Büro (secretum) »wie die Herrscher dieser Welt«.8 Die Schlußphase dieser Entwicklung begann in der Mitte des 3. Jahrhunderts, vielleicht, wie spätere Quellen berichten, in der Regierungszeit des Gallienus (260–268), als die senatorischen Tribunen und Legionslegaten aus der Armee verschwanden. Zwischen 260 und 280 wurde sie fortgesetzt, als die meisten senatorischen Statthalter mit prätorischem, nicht mit konsularischem Rang auf Dauer von equites scheinen ersetzt worden zu sein. Dieser Prozeß wurde dann von Diokletian abgeschlossen, der nur zwei reguläre Senatsprovinzen bestehen ließ, die Prokonsulate von Africa und Asia. Das Verbindungsglied zwischen diesen Oberbeamten und deren Untertanen stellten die sich aus den verschiedenen Quellen rekrutierenden Mitarbeiterstäbe dar, die diesen in den Provinzen zur Verfügung standen. Zunächst gab es wie

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gewöhnlich aus der Republik tradierte Elemente, die Amtsdiener (apparitores) – Schreiber, Liktoren, Herolde, Boten und andere –, die römischen Beamten sowie Provinzgouverneuren beigegeben waren. Sie kamen aus einzelnen Abteilungen (decuriae), die nach Funktion und Amt getrennt waren, und wurden zumindest der Theorie nach für bestimmte Posten durch Los bestimmt. Trotz ihrer recht bescheidenen Funktionen mochten sie (besonders die scribae) einen verhältnismäßig hohen sozialen Status besitzen; einige gehörten dem Ritterstand an oder stiegen in diesen auf. In Inschriften werden viele von ihnen als Schutzherren und Wohltäter einzelner Gemeinden geehrt. Sie nehmen in unseren Quellen keinen wichtigen Platz ein; eine Inschrift aus Africa aber zählt unter den Ratgebern (consilium) des Prokonsuls beim Anhören eines Falles drei scribae und einen haruspex (Deuter von Vorzeichen) auf. Wichtiger als diese waren die zum Dienst im Stab der senatorischen Statthalter und der Prokuratoren abgeordneten Soldaten. Jeder senatorische Statthalter (ob Prokonsul oder legatus) scheint einen militärischen Stab gehabt zu haben, der aus einem Centurionen als princeps praetorii (Chef des Hauptquartiers), drei cornicularii (Adjutanten), drei commentarienses, speculatores (Spionen und Scharfrichtern) und niederen Graden (Sekretären, Folterern etc.) bestand, die beneficiarii hießen, weil sie ein beneficium (Privileg) besaßen und von den normalen Pflichten entbunden waren. Auch die Prokuratoren besaßen einen militärischen Stab, dessen Größe wir aber nicht kennen. Der »tägliche Report« (pridianum) einer Auxilienkohorte an der Donau erwähnt um 105 nicht nur als equites singulares (berittene Eskorte) des legatus abgeordnete Soldaten, sondern auch andere, die im officium (Stab) des Prokurators (d.h. des Finanzprokurators) der Provinz dienten. Soldaten bedienten und eskortierten sogar kleinere prokuratorische Beamte; als Plinius der Jüngere von 109 bis 111 Statthalter von Bithynien war, besaß der »Präfekt der Pontischen Küste« einen Centurionen, zwei Reiter und zehn beneficiarii, während der Provinzprokurator auch zehn beneficiarii beschäftigte. Die Soldaten im Stabsdienst unterschieden sich von den apparitores dadurch, daß ihre Stellungen verhältnismäßig dauerhaft waren und sie nicht bei jedem Statthalter wechselten. Im 3. Jahrhundert wurden diese officiales als eine von der eigentlichen Armee getrennte Klasse angesehen, was eine Annäherung an den noch militia genannten Beamtendienst des 4. Jahrhunderts bedeutete. Auf der höheren sozialen Ebene pflegten die Statthalter Freunde aus Rom mitzunehmen, die jene bei der Rechtsprechung berieten. Sie konnten auch von einigen Literaten begleitet werden (der Schriftsteller Valerius Maximus ging zum Beispiel um 27 n. Chr. mit dem Prokonsul Sextus Pompeius nach Asia). Der so entstehende Eindruck eines kleinen Hofstaates wurde dadurch verstärkt, daß der Statthalter, ebenso wie der Kaiser, auch Gelehrte beschäftigte, die ihm bei seiner Korrespondenz und anderen Angelegenheiten halfen. Das beste Beispiel dafür ist in dem Brief enthalten, in dem Cornelius Fronto dem Antoninus Pius seine Vorbereitungen vor Antritt seines Prokonsulats von Asia um 153/54 schildert (das schließlich Krankheit verhinderte): Er hatte Freunde und Verwandte von zu

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Hause (Cirta in Africa) gerufen, gelehrte Bekannte aus Alexandria, die seine griechische Korrespondenz (mit den Städten der Provinz) beaufsichtigen sollten, prominente Männer aus Kilikien, deren Interessen er früher vor dem Kaiser verteidigt hatte, und einen Mann (einen ritterlichen Tribunen?) aus Mauretanien, der Erfahrungen im Aufspüren von Räubern besaß.9 Solche Stellungen beim Statthalter fielen gelegentlich auch hervorragenden Männern aus der Provinz selbst zu; eine Inschrift des 1. Jahrhunderts aus Milet zeigt einen Mann, der dort nicht nur wichtige Gemeindeämter innehatte, sondern ein offizieller comes (Gefährte) eines Provinzstatthalters gewesen war und die Abfassung von dessen Briefen, gesetzlichen Erwiderungen und Edikten beaufsichtigt hatte. Philo beschreibt mit einiger Bitterkeit, wie ein prominenter Alexandriner, einer der Anführer des antijüdischen Pogroms von 38, die Gerichtsakten des Präfekten von Ägypten geführt und ein Vermögen durch Annahme von Bestechungsgeldern erworben hatte, die ihn zur Fälschung der Akten veranlassen sollten.10 Auch hier läßt sich die Verschmelzung von örtlichen und römischen Elementen in dem Regime beobachten. So sah die Struktur der Verwaltungshierarchie aus. Was wir an Details über ihr Funktionieren haben, wissen wir zumeist aus Provinzquellen, wie den Evangelien und den griechischen Rednern, oder aus Inschriften, die von einzelnen Städten angefertigt wurden, um Privilegien oder günstige Entscheidungen aufzuzeichnen, die ihnen von Statthaltern oder Kaisern gewährt wurden. Beide Arten von Zeugnissen sind natürlich auf diejenigen Gebiete des Reiches beschränkt – in der Hauptsache auf die griechischen Provinzen, Africa und Südspanien –, wo eine urbanisierte gebildete Gesellschaft bestand. Es muß betont werden, daß über die Arbeitsweise der Verwaltung beispielsweise in Britannien, Lusitanien, Norikum und dem Oberen Pannonien beinahe nichts bekannt ist. Mit dieser sehr großen Einschränkung wissen wir einigermaßen im Detail, wie ein Statthalter, ob nun Prokonsul, legatus oder Prokurator, machte nur wenig Unterschied, seine normalen Amtsgeschäfte führte (die Leitung militärischer Operationen gehört in einen anderen Zusammenhang). Wenn er in eine Provinz wie Asia oder Africa gehen wollte, deren angesehene Bürger in Rom Freunde hatten, pflegte er zunächst, noch vor seiner Abreise, Briefe zu empfangen, in denen einzelne Provinzbewohner seiner Aufmerksamkeit und Gunst empfohlen wurden. Als Marcus Aurelius in den Jahren 153/54 »Caesar« war, schrieb er an Fronto vor dessen bevorstehender Abreise nach Asia und empfahl einen Mann, der ihm in Rom vorgestellt worden war. Fronto schrieb an Aufidius Victorinus und bat ihn, in der von ihm verwalteten Provinz einem bestimmten Redner eine öffentliche Stellung als Lehrer zu geben. Im frühen 3. Jahrhundert, als Ulpian sein Werk Über das Amt des Prokonsuls schrieb, mußte ein Prokonsul (über legati ist nichts Ausdrückliches bekannt) in seine Provinz ein Edikt absenden, in dem er das Datum seiner Ankunft ankündigte, sich dem Volk empfahl und förmlich darum bat, bei seiner Begrüßung möglichst wenig Aufhebens zu machen. Der

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Ankunftsort lag durch Gewohnheit fest und war ein Privileg der betreffenden Stadt – Ephesus im Fall Asias. Solche diplomatischen Elemente in der Stellung eines Statthalters werden oft ignoriert. Aber ein Provinzgouverneur hatte oft nur sehr begrenzte Macht zu seiner unmittelbaren Verfügung. Seine Stellung erforderte daher mit Notwendigkeit erfolgreiche Beziehungen zu den wichtigen Männern und wichtigen Städten der Provinz. Nur dadurch, daß ein einheitliches Interesse zwischen Rom und seinen Abgesandten auf der einen Seite und der provinziellen Oberschicht auf der anderen geschaffen wurde, konnte das Kaiserreich Bestand haben. Man sieht das sehr deutlich im Neuen Testament. Sobald sich Pilatus sowohl dem persönlichen Druck der Hohenpriester und des Synhedrions als auch dem durch den Mob ausgeübten Druck des Volkes ausgesetzt sah, hatte er keine andere Wahl, als Christus hinrichten zu lassen (wenn er ernstliche Störungen vermeiden wollte). Ein anderes Beispiel für die provinzielle Politik und Diplomatie findet sich in der Apostelgeschichte. Als im Jahr 60 der neue Prokurator Festus ankam, hörte er die Anschuldigungen der Partei der Hohenpriester gegen Paulus. »Weil er ihnen eine Gunst erweisen wollte«, fragte er Paulus, ob er in Jerusalem vor Gericht gestellt werden wollte; daraufhin appellierte Paulus an den Kaiser. Einige Tage danach kamen Agrippa (der Urenkel des Herodes, der jetzt nur einige Bezirke in Syrien regierte, allerdings mit erblichen Rechten als Repräsentant der Juden) und seine Gemahlin Berenike, um dem neuen Prokurator ihre Reverenz zu erweisen. Er wurde eingeladen, den Verhandlungen gegen Paulus beizuwohnen. Festus, Agrippa, die Tribunen (der Auxiliarkohorten) und »die führenden Männer der Stadt« (Caesarea) hörten die Selbstverteidigung des Paulus im Empfangsraum des Prokurators an. Die Hauptaufgabe eines Statthalters bestand in der Aufrechterhaltung der Ordnung und seine Tätigkeit hauptsächlich darin, auf einer festgelegten Route in seiner Provinz umherzureisen und in jeder der fest dazu bestimmten Städte Gerichtssitzungen abzuhalten. Die Gerichtssitzung hieß conventus (weil man sich dazu aus dem weiten Umkreis versammelte), und der Status einer Conventus-Stadt (metropolis in einer griechischen Provinz) wurde hoch eingeschätzt. Als der Redner Dio Chrysostomos das Volk von Apameia in Asia um 100 n. Chr. ansprach und die Quellen ihres Reichtums aufzählte, sagte er: »Was noch wichtiger ist, die Gerichtssitzungen werden hier in jedem Jahr abgehalten, und eine riesige Volksmenge versammelt sich hier, Prozeßführende, Geschworene, Redner, Statthalter, Diener, Sklaven, Zuhälter, Maultiertreiber, Kaufleute, Prostituierte, Arbeiter. Darum können alle jene, die Waren verkaufen, höchste Preise erzielen, und in der Stadt bleibt nichts unbenutzt, weder Lasttiere noch Häuser noch Frauen.«11 Bei Ankunft des Statthalters in einer wichtigen Stadt pflegte er mit Reden begrüßt zu werden, in denen die Stadt seiner Gunst anempfohlen und er selbst gepriesen wurde. Ulpian meint, die Prokonsuln sollten solche Reden ohne Ungeduld hinnehmen. Dio Chrysostomos drängt die

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Bewohner seiner Heimatstadt Prusa in Bithynien, den Statthalter mit Beifall zu begrüßen, wenn er ihre Versammlung besucht, und ihn nicht mit gegenseitigen Beschuldigungen zu überfallen. Wenn eine Stadt dem Statthalter bestimmte Angelegenheiten vorlegen wollte, ohne auf seine Ankunft zu warten, schickte sie eine Gesandtschaft an ihn und erhielt zur Antwort einen Brief (ein Grundzug der römischen Verwaltung besteht darin, daß die Städte wie souveräne Staaten handelten und der Form nach ebenso behandelt wurden). So schreibt Tullius Geminus, von 47 bis 50 legatus von Moesia Inferior, an die »Beamten, den Rat und das Volk« von Histria: »Eure Gesandten (die er aufzählt) trafen mich in Tomoi an, überreichten mir Euer Dekret, gaben ihrer Loyalität gegenüber dem Kaiser und ihrer Freude über unsere Gesundheit und Anwesenheit hier Ausdruck und führten äußerst gewissenhaft mit mir die Gespräche über die Angelegenheiten, die Ihr ihnen aufgetragen hattet ...«12 Die Geschäfte eines Provinzstatthalters wurden erstens unter Bezug auf die lex provinciae geführt, das Provinzgesetz (wo es so etwas gab), auf die zur Zeit der Provinzgründung erlassenen Verfügungen, die die Verfassungen, den legalen Status, die Privilegien, Gesetze und Territorien der Städte festlegten (und durch spätere senatorische oder kaiserliche Entscheidungen verbessert sein mochten); und zweitens unter Bezug auf ein Edikt, das der Statthalter bei seiner Ankunft erlassen hatte und das eine Liste von Grundsätzen enthielt, nach denen er Recht sprechen wollte. Die Edikte, deren detaillierter Inhalt wenig bekannt ist, blieben wahrscheinlich von Statthalter zu Statthalter ziemlich unverändert. So pflegten sowohl Veränderungen im Status oder der Verfassung einer Stadt und Streitigkeiten über diese Dinge, als auch Differenzen zwischen einzelnen Städten wegen Privilegien oder (was am häufigsten vorkam) wegen Grenzen vor den Statthalter zu gelangen. Eine lange Inschrift aus Sardinien zeigt den dortigen Prokonsul, wie er im Jahr 69 in einem sich über Jahre hinziehenden Grenzstreit zwischen zwei Gemeinden das Urteil spricht. Die streitenden Parteien waren von einem früheren Statthalter angewiesen worden, das Land zu räumen, und hatten keine Folge geleistet; ein zweiter hatte ihnen eine Frist gesetzt, innerhalb derer sie sich von den kaiserlichen Archiven einen Lageplan einholen sollten, was sie wiederum nicht getan hatten. Darum befahl der Prokonsul wiederum ihre Abreise.13 Bei anderen Gelegenheiten bat man einen Statthalter, in die inneren Angelegenheiten einer Stadt einzugreifen, entweder um eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, wie die legalen Vollmachten der Beamten, oder um eine Krise zu beheben. So schrieben im Jahr 93 die Beamten der Kolonie Antiochia in Pisidien an den legatus von Kappadokien, schilderten ihren Kornmangel und baten ihn, dagegen Schritte zu unternehmen. Dieser ordnete daraufhin an, daß alle Einwohner sämtliche Kornvorräte, die über ihren Eigenbedarf hinausgingen, zur Verfügung stellen sollten, drohte Strafen gegen Hamsterer an und legte einen Höchstpreis fest.14

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Seit dem Ende des 1. Jahrhunderts nahmen die Provinzstatthalter, wie sich feststellen läßt, systematisch eine aktivere Rolle in den Angelegenheiten der Städte ein, besonders in deren Finanzangelegenheiten. In den Quellen erscheinen Statthalter, die neue Stiftungen billigen und die Verteilung von Münzen oder die Einrichtung von Festspielen genehmigen. Ulpian sagt, daß ein Statthalter während seines Aufenthaltes in einer Stadt die Tempel und öffentlichen Gebäude inspizieren und darauf sehen muß, ob sie reparaturbedürftig sind, und daß die Arbeiten ausgeführt werden, soweit die Finanzen der Stadt es erlauben; er sollte Männer einsetzen, die die Arbeiten beaufsichtigen, und im Notfall Soldaten abordnen, die jenen helfen. Die wachsende Verantwortung muß jedoch durch die zu dieser Zeit erfolgte Einsetzung von curatores für die Finanzen einzelner oder mehrerer Städte mit senatorischem, ritterlichem oder niedrigerem Status beschränkt worden sein, die vom Kaiser direkt ernannt wurden. Den Städten war es darüber hinaus möglich, mit dem Kaiser in Kontakt zu treten. Manchmal appellierte eine Stadt gegen eine Entscheidung des Statthalters; manchmal schrieb ein Statthalter spontan an den Kaiser, um ihn zu konsultieren. Im 1. Jahrhundert scheint das nur von kaiserlichen legati getan worden zu sein; aber von der Regierungszeit Hadrians an taten das auch Prokonsuln. So schrieb zum Beispiel der Prokonsul von Asia um 125/26 an Hadrian wegen eines Streites um heilige Ländereien in der Stadt Ephesus und der für sie zu erhebenden Pachtgelder. Hadrian traf in seinem Antwortbrief seine Entscheidung. Daraufhin schrieb der Prokonsul an die Stadt und fügte sowohl Hadrians Brief als auch seinen eigenen Brief an den kaiserlichen Prokurator (und des letzteren recht arrogante Antwort) bei, in dem er ihn bat, die Ländereien vermessen zu lassen.15 Es gab aber auch eine große Zahl von Fällen, in denen die Städte direkt zum Kaiser gingen, manchmal mit rein diplomatischen Gesandtschaften (Plinius fand heraus, daß Byzanz in jedem Jahr eine Gesandtschaft mit beträchtlichem Aufwand zum Kaiser schickte), oft aber wegen ernster Angelegenheiten. Die Provinzversammlungen taten das gleiche, zumindest im 2. Jahrhundert. Hadrian schickte an die Versammlung der Baetica eine Verfügung gegen Viehdiebe und Antoninus Pius an die Versammlung von Asia wegen der Immunität der Redner und anderen öffentlichen Lehrer. In den Kapiteln über die verschiedenen Teile des Reiches werden viele Beispiele für Gesandtschaften an den Kaiser gebracht. Weiter unten wird geschildert, wie der Kaiser mit ihnen verhandelte. Aus alledem ist zu ersehen, wie sehr die Macht eines Provinzstatthalters bei seinen Unterhandlungen mit den ihm unterstellten Gemeinden sowohl durch die Existenz des Kaisers als auch durch die Zunahme anderer Posten beschränkt wurde, deren vom Kaiser eingesetzte Inhaber in den Provinzen aktiv wurden. Recht ähnlich sah es mit der Rechtsprechung des Statthalters über einzelne aus. Von der Zivilrechtsprechung eines Statthalters (die sicher auf die wichtigeren Fälle beschränkt blieb) besitzen wir nicht viele direkte Zeugnisse. Unsere reichsten Quellen sind indirekter Art: Es sind die kaiserlichen Erlasse über

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Angelegenheiten des Privatrechts, die den ganzen Codex Iustinianus ausfüllen und gelegentlich in den Digesten zitiert werden. Diese sind sowohl an Privatpersonen als auch an die Statthalter gerichtet, die die Fälle übernahmen, und zeigen so wiederum, wie sehr der Kaiser die Beamten in den Schatten stellte. Zumindest seit dem Ende des 2. Jahrhunderts, wahrscheinlich schon früher, wurden Prozesse wegen Geldsummen (aus Strafen, Konfiskationen, Erbschaften oder Handelstransaktionen), die dem kaiserlichen fiscus geschuldet wurden, ganz unabhängig vom kaiserlichen Prokurator geführt. Die neue Lage wird in den Worten Ulpians zusammengefaßt: »In der Provinz gibt es nichts, wofür der Prokonsul nicht zuständig wäre. Wenn es sich aber um Geld handelt, das dem fiscus geschuldet wird, was den Prokurator des Kaisers angeht, hält er sich besser davon fern.«16 Darüber hinaus ist aus Inschriften des 2. und 3. Jahrhunderts von kaiserlichen Besitzungen (besonders in Africa) und Bergwerksbezirken bekannt, daß die Prokuratoren dort Polizeivollmachten besaßen und Streitfälle schlichteten. Selbst außerhalb des Bereiches der kaiserlichen Interessen und Besitzungen kennen wir Einzelheiten aus dem 2. und 3. Jahrhundert, wonach die Prokuratoren ordentliche Zivilfälle entschieden. Die Zeugnisse für die Strafgerichtsbarkeit sind reicher, besonders in den christlichen Quellen – den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Märtyrerakten. Auch hier fiel ein großer Teil der Strafgerichtsbarkeit aus den Provinzen dem Kaiser zu. Manchmal wurden Anklagen direkt vor ihn gebracht, ohne daß der Provinzstatthalter, so scheint es, damit etwas zu tun hatte. Als Trajan sich zum Beispiel in Rom aufhielt, übernahm er den Fall eines vornehmen Ephesers, der von seinen Feinden angeklagt wurde. Bei anderen Gelegenheiten schickte der Statthalter einzelne zur Gerichtsverhandlung vor dem Kaiser, besonders diejenigen, denen politische Verbrechen zur Last gelegt wurden. Als man in Bithynien Christen wegen ihres Glaubens anklagte, sonderte Plinius der Jüngere die römischen Bürger unter ihnen zum Transport nach Rom aus und ließ die anderen hinrichten. Der legatus von Gallien berichtete im Jahr 177 Marcus Aurelius nur von der Bestrafung der Christen. Bis zum Ende des 2. Jahrhunderts war es bezüglich der Klasse der decuriones (städtischen Ratsherren) und der über ihnen stehenden Klassen zur Regel geworden, den Rat des Kaisers einzuholen, statt ihm einen Gefangenen zu übergeben. Mit der seit Hadrian (117–138) einsetzenden Ausweitung des in Kapitel 1 erwähnten Systems, wonach angesehene Bürger von den harten Strafen, die den »plebei« reserviert blieben, exemt waren, wurde es für die Provinzstatthalter zur Pflicht, die Kaiser zu befragen, ehe sie solche Bürger mit der Deportation bestrafen konnten. Übrig bleibt die umstrittene Frage, ob römische Bürger das Recht hatten, an den Kaiser zu appellieren. Der bekannteste Fall, der des Paulus, erweist sich als recht unklar. Als der Centurio ihn verhaftete und ihn im Tempel schlagen wollte, gab Paulus seine Stellung als Bürger kund; seine Appellation an den Kaiser erfolgte erst, als Festus vorschlug, die Gerichtsverhandlung von Caesarea nach Jerusalem zu verlegen. Der zweite aus dem 1. Jahrhundert bekannte Fall hilft uns

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auch nicht weiter: Als ein Mann vor dem Tribunal des legatus von Germanien im Jahr 68 Berufung einlegte, spielte der legatus die Posse und ging zu einem höheren Tribunal (d.h. er spielte die Rolle des Kaisers), ließ jenen seine Sache verteidigen und ihn dann hinrichten. Die allgemein verbreitete Ansicht, daß das republikanische Recht einer Appellation an das Volk als Recht der Bürger, sich auf den Kaiser zu berufen, bestehenblieb, mag richtig sein, ist aber nur schlecht zu belegen. Weit mehr ist über die Praxis des 2. Jahrhunderts bekannt, nach der der Gefangene Berufung einlegte, sobald der Provinzstatthalter das Urteil gefällt hatte. Daraufhin sandte der Statthalter dem Kaiser eine Darstellung des Falles zusammen mit einem libellus (Bittschrift) des Appellanten. Wie bei der Deportation von decuriones wurde die Ausführung des Urteils dann aufgeschoben, bis die Antwort des Kaisers vorlag. Auch in der Kriminaljurisdiktion sollten die kaiserlichen Prokuratoren eine Rolle spielen, obwohl dies, mit zwei vorübergehenden Ausnahmen, eine unschickliche Usurpation darstellte und Thema einer Reihe kaiserlicher Erlasse war, die, offenbar ohne Erfolg, solches verhindern sollten. Schon in den sechziger Jahren des 1. Jahrhunderts gab es in der kaiserlichen Provinz Tarraconensis (Spanien) Prokuratoren, die Menschen aburteilten und ihre Güter konfiszierten, während der legatus hilflos zusehen mußte; und der Funke zum Aufstand von 238 in Africa, der zur Ausrufung des Prokonsuls Gordian zum Kaiser führte, rührte von Hinrichtungen und Aburteilungen durch einen Prokurator her. Für die kaiserlichen Erlasse ist der von Caracalla 212 versandte typisch: »Mein Prokurator konnte dich nicht, wenn er nicht anstelle des Statthalters handelte, (rechtmäßig) mit Verbannung bestrafen; darum brauchst du nicht ein Urteil zu fürchten, das keine gesetzliche Gültigkeit besitzt« (das nichtsdestoweniger aber ergangen war). Die zwei Ausnahmen betrafen Fälle von Entführung und Ehebruch, wofür Caracalla den Prokuratoren die Rechtsprechung zugestand, die sie schon lange usurpiert hatten; ein 239 verfaßter Erlaß Gordians III. stellt aber die Jurisdiktion der Prokuratoren in Fällen des Menschenraubs in Abrede. So war die Provinzverwaltung beschaffen, läßt man die Tätigkeit der Armee in Friedenszeiten und, was ebenso wichtig ist, die Finanzen außer acht. Die Finanzen werden, soweit es die vom einzelnen gezahlten Steuern und die Art ihrer Eintreibung anbelangt, im nächsten Kapitel über Staat und Bürger beschrieben werden. Was die nächst höhere Stufe anbelangt, nämlich die Frage, wie die Staatsgelder von den Provinzbeamten gehandhabt, welche Buchführungsmethoden benutzt, wie die Münzen transportiert und zur Besoldung der Truppen und Beamten verteilt und wie weit Verschiffungen von Münzen und Barren aus den Provinzen nach oder von Rom ausgeführt wurden, so tappen wir da noch völlig im dunkeln. Die schwachen Spuren verfügbarer Belege können am besten zusammen mit zwei Zweigen der »Zentralverwaltung« (diese Bezeichnung ist eine Übertreibung) betrachtet werden: der Schatzkammer (aerarium) in Rom und den

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Münzstätten in Rom und den Provinzen. Die Erforschung des aerarium wird durch den oben erwähnten Nachteil erschwert, durch den vollkommenen Mangel an Belegen für den Geldtransport zur und von der Staatskasse. Über das aerarium selbst ist aber einiges bekannt. Es befand sich im Tempel des Saturn am Hang des Kapitols, der seit den Tagen der Republik als Aufbewahrungsort des Staatsschatzes, der Münze und der Staatsdokumente diente. Unter den Dokumenten gab es Finanzaufstellungen, Staatsverträge und von den Provinzstatthaltern beim Verlassen ihrer Provinz deponierte Berichte. Die römischen Statthalter meldeten darüber hinaus ihre apparitores, comites und andere Mitarbeiter dem aerarium, wodurch sie diese auf die Besoldungsliste setzen ließen, und führten diese Praxis, wie es scheint, sogar bis ins 3. Jahrhundert fort. Die Beamten des aerarium – die Quästoren in der Republik und dann, nach vielen Änderungen, die vom Kaiser ausgewählten Präfekten im Rang eines gewesenen Prätors – benutzten diese Dokumente niemals, um größere Berechnungen vorzunehmen oder ein Budget aufzustellen. Ihre Funktionen beschränkten sich darauf, Geld und Dokumente aufzubewahren, im Namen des Senats oder des Kaisers Geld auszuzahlen und einige richterliche Entscheidungen in Schuldfällen zu treffen, wozu sie seit der Kaiserzeit berechtigt waren. Sie verwalteten die Finanzen des Reiches nicht und betrieben keine planende Finanzpolitik. Das aerarium ist damit eines der wichtigsten Beispiele für den Fortbestand der primitiven und der Kaiserzeit inadäquaten Einrichtungen des Stadtstaates bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts. Um diesen Mangel auszugleichen, wurden während des 1. Jahrhunderts fünf voneinander unabhängige Senatskommissionen gebildet, deren Aufgabe es war, Einkünfte abzurufen oder Ausgaben zu beschneiden. Von keiner von ihnen wissen wir, daß sie irgend etwas geleistet habe. Die Erledigung der Finanzgeschäfte des Staates wurde, soweit sie überhaupt erfolgte, dem Kaiser und seinen Helfern überlassen. Trotz des unermeßlichen Reichtums an Quellenaussagen, mit denen uns die vielen Tausend aus der Kaiserzeit erhaltenen Münzen versorgen, ist über die Münzstätten selbst sehr wenig bekannt und noch weniger über die Entscheidungen, die zur Ausgabe der Münzen führten. Auch hier gab es ein aus der Republik überkommenes Element, die tresviri monetales (Münzer), die die drei Posten niedrigsten senatorischen oder vielmehr vorsenatorischen Ranges, des Vigintivirats, einnahmen. Diese Posten sind bis in die Mitte des 3. Jahrhunderts belegt. Unter den Bronze- und Kupfermünzen, die in Rom geprägt wurden und hauptsächlich in Italien und im Westen in Umlauf waren (die in westlichen Provinzen des Reiches an Ort und Stelle geprägten Bronze- und Kupfermünzen verschwanden bis zur Mitte des 1. Jahrhunderts), ist die Mehrzahl mit S.C. (senatus consulto) – durch Senatsbeschluß – gekennzeichnet. Die Bildnisse auf den Münzen ähneln jedoch sehr denen kaiserlicher Münzen, einschließlich aller Gold- und (im Westen) beinahe aller Silbermünzen, die bis Caligula (37–41) in Lyon und danach in Rom geprägt wurden. Die Buchstaben S.C. weisen vielleicht darauf hin, daß vom Senat besondere Münzen beschlossen

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und von den monetales geprägt wurden. Es gibt jedoch keine Beweise für ein solches Vorgehen des Senats und ebenso keine Beweise für die Tätigkeit der monetales, sieht man von dem Erscheinen des Titels auf Inschriften ab. Über die Beamten der kaiserlichen Münze in Rom gibt es aus dem 1. Jahrhundert auch keinerlei Nachrichten. Unter Trajan (98–117) taucht jedoch ein Prokurator für die Münzprägung auf, und aus dem Jahr 115 besitzen wir einige Widmungen von Arbeitern, die mit der Herstellung beschäftigt waren – officinatores (?), signatores (Prägestempelschneider), suppostores (Setzer?), malliatores (Präger?) –, die alle kaiserliche Freigelassene waren und denen kaiserliche Sklaven zur Seite standen. Unter Aurelian (270–275) gab es so viele Arbeiter in der Münzstätte in Rom, daß sie einen gefährlichen Aufstand inszenieren konnten, zu dessen Unterdrückung Tausende von Soldaten notwendig wurden. In den griechischen Provinzen bestanden neben den örtlichen Münzstätten, die Bronze- und Kupfergeld fertigten, Provinz- und einige Stadtmünzanstalten, die nach einem von dem römischen Geld abweichenden Standard Silbermünzen prägten. Diese Münzanstalten werden trotz allem als »kaiserlich« angesehen, obwohl über sie außer den Münzen selbst überhaupt nichts bekannt ist. Die Frage, wer die Häufigkeit der Ausgaben, den Standard der Münzen (besonders die Silbermünzen wurden seit Nero ständig entwertet, was in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts zu einem völligen Zusammenbruch führte) oder den Typus und die Legende festlegte, bleibt völlig im dunkeln. Der Mangel an Nachrichten über den letzten Punkt ist besonders bedauerlich, da die kaiserlichen Münzen in den verschiedensten Formen für die Kaiser Propaganda machten – durch Darstellung kaiserlicher Bauten (wie des Hafens von Ostia), Geschenke oder Siege – und Schlagworte wie Aeternitas oder Providentia trugen. Vieles aus der Geschichte der Kaiserzeit spiegelt sich in den Münzen wider. Wir wissen aber weder, wer darüber entschied, was dargestellt werden sollte, noch an wen und unter welchen Umständen die neuen Münzen ausgegeben wurden (in Donationen an die Armee und congiaria an das römische Volk?). Diese Frage ist wichtig, denn die Münzen blieben lange Zeit nach ihrer Ausgabe im Umlauf; 64% der Münzen aus während der flavischen Periode vergrabenen Schätzen wurden vor 27 v. Chr. geprägt. Münzfunde beweisen auch, daß die in der Antoninenzeit (138–180) im Umlauf gewesenen Geldstücke durchschnittlich etwa 50 Jahre vorher ausgegeben wurden. Unser einziger Anhaltspunkt dafür, wer die Entscheidungen traf, besteht aus zwei Zeilen eines tröstenden Gedichtes von Statius anläßlich des Todes eines ehemaligen kaiserlichen Freigelassenen a rationibus (Chef der Rechnungsführung) in den neunziger Jahren; eine seiner Pflichten bestand darin, festzulegen, wieviel Metall »in dem Feuer der italischen (römischen) Münze geprägt werden sollte«.17 Daneben gibt es zwei Textstellen bei dem Historiker Cassius Dio, die sich auf die kaiserliche Münze beziehen. In der einen heißt es, Trajan habe alte Münzen eingezogen und neue ausgegeben (was Münzfunde ausreichend bestätigen); in

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der anderen wird gesagt, der zeitgenössische Kaiser Caracalla (211 bis 217) habe seinen Untertanen minderwertige Münzen gegeben, den Barbaren jenseits der Grenzen, von denen sich Rom zu dieser Zeit loskaufte, aber gute Münzen. In keinem der beiden Fälle erfährt man etwas darüber, wie dabei im einzelnen verfahren wurde. Weitere Einzelheiten über die kaiserliche Münze und ihren Verfall im 3. Jahrhundert sind in Kapitel 13 enthalten. In diesem Zusammenhang soll sie als Beispiel dafür stehen, wie wenig über die verschiedenen Aspekte des imperialen Systems bekannt ist. Wenn man sich mit der eigentlichen Tätigkeit des Kaisers, seiner Ratgeber und Helfer beschäftigt, muß man die gleiche Warnung aussprechen. Cassius Dio erklärt an einer bekannten Stelle, in der Geschichte der Republik könne man zur Wahrheit gelangen, weil die Angelegenheiten öffentlich diskutiert wurden, unterschiedliche Darstellungen in Geschichtswerken verglichen und staatliche Aufzeichnungen eingesehen werden könnten. Bei der Kaisergeschichte sei das aber nicht so: »Nach dieser Zeit fing man an, das meiste heimlich und in versteckter Weise zu tun; und wenn irgend etwas öffentlich getan wird, ist man mißtrauisch, da es unüberprüfbar bleibt. Denn es ist anzunehmen, daß alles auf Wunsch des Kaisers und der Leute gesagt und getan wird, die bei ihm Einfluß haben. Darum verbreiteten sich Gerüchte über Dinge, die sich niemals ereigneten, und sind beinahe alle öffentlichen Versionen der Vorkommnisse von der Wirklichkeit unterschieden.«18 Das stellt eine gute Einführung in den Stand unserer Kenntnisse über den Prozeß der zentralen Entscheidungen in der Kaiserzeit dar. Es gibt einige Gebiete, über die wir verhältnismäßig gut informiert sind. Die kaiserliche Rechtsprechung wurde häufig – teils aus Propagandagründen – in der Öffentlichkeit praktiziert. Prozeßberichte fanden deshalb Eingang in die literarischen Quellen. Günstige Entscheidungen, die den Delegationen aus den Städten in Briefform gewährt wurden, ließ man in Inschriften überliefern; die literarischen Zeugnisse enthalten auch Beschreibungen, wie Delegationen empfangen wurden. Auch Petitionen einzelner wurden in der Öffentlichkeit entgegengenommen. Darüber hinaus enthalten die literarischen Werke eine Reihe von Einzelheiten über das vom Kaiser abhängende Schicksal einzelner Menschen – in einigen Fällen über das der Schriftsteller selbst. Schließlich zitieren die Gesetzbücher (die Digesten und der Codex Iustinianus) eine große Zahl von Verfügungen über Angelegenheiten des Privatrechts, die an Statthalter, Beamte und Privatpersonen gerichtet waren und zumeist aus der Zeit seit Hadrian (117–138) stammen. Dagegen geben die Juristen, deren Werke die Digesten sind, gelegentlich Gesetzesdebatten im kaiserlichen Rat, in dem sie selbst saßen, wieder. Wir wissen mit anderen Worten hauptsächlich über die kaiserliche Tätigkeit Bescheid, die sich aus der Notlage und den Konflikten von Individuen und Gemeinden ergab. Man kann tatsächlich nicht leugnen, daß solche Aktivität einen Großteil der Arbeitszeit des Kaisers einnahm; davon wird im letzten Teil dieses Kapitels gehandelt. Darüber hinaus aber gibt es weite Gebiete, auf denen,

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bei aller dem System innewohnenden Trägheit, positive Entscheidungen gefällt werden mußten, über die beinahe nichts bekannt ist. Tiberius gestattete dem Senat zum Beweis seiner republikanischen Einstellung, über Einkünfte, öffentliche Arbeiten, Rekrutierung und Entlassung von Soldaten, Militärkommandos und Briefe an die Klientelfürsten zu debattieren. Daraus muß gefolgert werden, daß diese Dinge normalerweise vom Kaiser höchstwahrscheinlich mit seinen Freunden beschlossen wurden. Was wissen wir über die Entschlußfassung in solchen Fällen? Das beste Zeugnis einer Finanzdebatte besitzen wir in der Schilderung der Klage des Volkes über zu hohe Forderungen der publicani im Jahr 58. Nero dachte daran, wie gesagt wird, die indirekten Steuern ganz abzuschaffen. Davon brachten ihn seine Ratgeber ab, indem sie ausführten, wenn er jene abschaffe, werde das Reich zusammenbrechen und das Volk werde noch weitergehen und auch die Abschaffung der Tribute fordern.19 Sieht man von den Freunden des Kaisers ab, so gab es den für die Rechnungslegung verantwortlichen Freigelassenen (a rationibus), der am Ende des 1. Jahrhunderts durch einen Ritter ersetzt wurde (dessen Untergebene jedoch Freigelassene blieben). Einige dieser Untergebenen hatten reine Haushaltsfunktionen inne; ein von Galen erwähnter rationalis hatte die Aufgabe, aus den kaiserlichen Vorratskammern Kräuter herbeizuschaffen, die Galen täglich zu dem Antidot vermischte, das Marcus Aurelius (161–180) einnahm. Was die Funktionen des a rationibus selbst anbetrifft, so hinterließ Augustus im Jahr 14 eine allgemeine Finanzerklärung für das Reich und fügte die Namen der Sklaven und Freigelassenen hinzu, von denen man Einzelheiten erfahren konnte. Er, Tiberius (bevor er sich 26 nach Rom begab) und Caligula veröffentlichten auch Rechenschaftsberichte, was spätere Kaiser nicht mehr taten. Die Rechenschaftsberichte wurden vermutlich weitergeführt; der einzige Beleg dafür ist die oben erwähnte Stelle bei Statius, in der er mit poetischen Worten die Aufgaben eines verstorbenen a rationibus beschreibt: »Jetzt wurde ihm allein die Kontrolle des kaiserlichen Reichtums anvertraut (eine Liste der Einkünfte folgt) ... schnell berechnet er, was die römischen Waffen unter jedem Himmel bedürfen, was die Stämme (das Volk von Rom) und die Tempel, was die hochragenden Aquädukte, die Festungen an den Küsten und die weitgestreckten Straßenzüge ...«20 Von den Entscheidungen über öffentliche Arbeiten oder über Rekrutierungen und Entlassungen besitzen wir überhaupt keine Zeugnisse. Ähnlich ist es mit einem verwandten Gebiet, mit Kriegserklärungen und Friedensschlüssen. Das klarste Beispiel ist hier das schon erwähnte Ereignis, als Commodus seine Ratgeber ignorierte und im Jahr 180 Frieden schloß. Stellenbesetzungen sind aber weit besser belegt (d.h. die ›Kommendation‹ der Senatoren für einzelne Ämter, die Ernennung von Senatoren zu Präfekten, Kuratoren oder Statthaltern, bzw. der equites und Freigelassenen im kaiserlichen Dienst), woraus zu ersehen ist, daß der Kaiser selbst die Stellenbesetzung vornahm (Tacitus bemerkt, daß Tiberius einige Prokuratoren aufgrund ihres Rufes ernannte, ohne sie zu

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kennen), wobei er unvermeidlich von den Günstlingen des Augenblicks und durch Petitionen und Briefe von den Patronen der Kandidaten beeinflußt wurde. Plinius der Jüngere wendet sich an Trajan mit der Bitte, einem Freund die Prätur zu geben; Fronto schreibt an Antoninus Pius und bittet, einen kaiserlichen Freigelassenen als Prokurator einzusetzen (»Wenn du den Mann nicht persönlich kennst, erinnere dich daran, wenn du zu dem Namen Aridelus kommst, daß ich ihn dir empfohlen habe«) und einem eques, dem Historiker Appian, eine weitere Prokuratur zu übertragen. Es gab wahrscheinlich auch, zumindest für das niedere Personal, ein regelrechtes Berichtsystem. Plinius wenigstens sandte aus Bithynien kurze förmliche Berichte über die dortigen kaiserlichen Angestellten. In dem einzigen klaren Beleg für einen »Sekretär«, der mit Beförderungen zu tun hatte – es handelt sich wiederum um ein Gedicht von Statius, das an den ab epistulis (Leiter der Briefabteilung) gerichtet war –, heißt es, er habe herausgefunden, wer als primus pilus oder zur Bekleidung ritterlicher Militärposten geeignet sei.21 Die tatsächlichen Ernennungen wurden vom Kaiser vorgenommen (man hörte, wie Domitian seinen beliebtesten Hofnarren fragte: »Warum ernannte ich Mettius Rufus letztesmal zum Präfekten von Ägypten?«) und wurden durch ein »Kodizill« übermittelt, das von ihm diktiert, wenn nicht gar mit eigener Hand geschrieben wurde. Eine Inschrift enthält den Text eines solchen »Kodizills« des Kaisers Marcus Aurelius an einen Prokurator: »Da ich schon lange vorhatte, dir den Glanz einer Ducenariats-Prätur zu verschaffen, benutze ich jetzt dazu eine Gelegenheit, die sich jetzt gerade geboten hat. Folge darum dem Marius Pudens mit der Hoffnung auf meine andauernde Gunst, während du fortfährst, deine Rechtschaffenheit, deinen Fleiß und deine Geschicklichkeit zu beweisen.«22 Moderne Autoren neigen dazu, nach dem Muster heutiger Büropraxis anzunehmen, daß die an einen Kaiser gerichtete Korrespondenz von dem »Büro« des ab epistulis bearbeitet und eine Antwort abgefaßt wurde, die der Kaiser sodann unterzeichnete. Das trifft nicht zu. Erstens unterzeichnete man antike Briefe nicht; zweitens ist belegt, daß die Briefe direkt zum Kaiser gebracht wurden, der sie las und eine Antwort diktierte. Augustus entließ einen legatus, als er beim Lesen eines Briefes feststellte, daß dieser »ixi« statt »ipsi« geschrieben hatte. Philo beschreibt, wie Caligula einen Brief des Statthalters von Syrien las, beim Lesen immer aufgebrachter wurde und dann eine Antwort diktierte. Als Caracalla (211–217) auf einem Feldzug in Syrien weilte, wies er seine Mutter Julia Domna an (nicht, wie hervorgehoben werden muß, einen »Sekretär«), die allgemeine Korrespondenz zu lesen und zu bearbeiten. Das tat sie denn auch; eine kürzlich veröffentlichte Inschrift enthält einen Brief der Julia an Ephesus, das einzige Schreiben einer Kaiserin an eine Stadt.23 Das Lesen der Briefe und das Diktieren der Antworten stellte einen Teil der kaiserlichen Routine dar. Vespasian begann den Tag mit dem Lesen der Briefe und der Berichte der Sekretariate und ließ erst dann seine Freunde zur Begrüßung vor; als er alt wurde, pflegte sein Sohn Titus das Diktieren für ihn zu übernehmen.

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Die Staatsgeschäfte zwischen dem Kaiser und den Städten oder Provinzen wurden in der Hauptsache durch Delegationen abgewickelt. Wenn die Delegation einer Stadt in rein diplomatischer Mission kam oder um irgendeine Gunst bitten wollte, gegen die keine andere Partei Einspruch erhob, ließ man sie beim Kaiser vor, wo einer von ihnen (manchmal ein zu diesem Anlaß gemieteter Redner) eine Ansprache hielt und die Abordnung danach dem Kaiser das Dekret der Stadt aushändigte, das er manchmal an Ort und Stelle gelesen zu haben scheint. Traf eine Delegation ein, die Anschuldigungen erhob oder über eine Angelegenheit mit einer rivalisierenden Abordnung gegensätzlicher Meinung war, sprachen beide Seiten, und das Verfahren nahm die Form eines Gerichtsverhörs an. Viele Gesandtschaften kamen mit diplomatischen Aufträgen, um den Kaiser zur Thronbesteigung zu beglückwünschen, ihm anläßlich eines Triumphes Goldkronen zu überbringen oder ihm beim Tod eines Verwandten das Beileid auszusprechen. Der Kaiser hörte selbst diese Gesandtschaften an. Als eine Abordnung aus Ilium (Troja) ziemlich verspätet vor Tiberius anläßlich des Todes seines Sohnes Drusus im Jahr 23 eine tröstende Ansprache hielt, antwortete er sarkastisch: »Und ich spreche euch meinerseits mein Mitgefühl zum Tod eures Mitbürgers Hektor aus.« Audienzen beim Kaiser wurden zur Arena, in der Ruhm und Fortkommen zu gewinnen waren. Heliodor, ein Redner aus Arabien, scheute zum Beispiel die weite Reise bis zur germanischen Grenze nicht, um seine Heimatstadt vor Caracalla zu vertreten, und vermochte, als er durch den »Leiter der Audienzen« (a cognitionibus) vor den Kaiser gerufen wurde, ehe er fertig war, die Gelegenheit zu seinen Gunsten zu nutzen; er wurde vom Kaiser zu einer Rede aus dem Stegreif (über das Thema »Demosthenes verteidigt sich, nachdem er vor Philipp versagt hat, gegen den Vorwurf der Feigheit«) aufgefordert und dafür mit dem Posten eines advocatus fisci und dem Privileg belohnt, in der jährlichen Prozession der equites in Rom mitzureiten.24 Bei anderen Gelegenheiten wurde das Dekret einer Stadt vom Statthalter einer Provinz an den Kaiser geschickt. Auch dann pflegte der Kaiser den Brief zu lesen und eine Antwort in der Reihenfolge der Punkte des Originaldekrets zu diktieren, das im allgemeinen mit einem diplomatischen Anliegen begann und dann zu Angelegenheiten von Belang überging. So beschäftigt sich Claudius in seiner Antwort auf eine Gesandtschaft aus Thasos im Jahr 42 nacheinander mit ihrem Vorschlag, ihm einen Tempel zu erbauen, der Bestätigung der ihnen von Augustus gewährten Privilegien und mit Fragen über ihre Einkünfte und den Export von Getreide.25 Das letzte aus der uns hier beschäftigenden Epoche erhaltene kaiserliche Antwortschreiben auf eine Gesandtschaft (sie tauchen in der Periode Diokletians und Konstantins wieder auf) wurde von Valerian und Gallienus im Jahr 255 aus Antiochia nach Philadelphia in Asia geschrieben. Die Bewohner von Philadelphia hatten sich darüber beschwert, daß das koinon (Rat) von Asia kleinere Städte wie ihre eigene mit Ausgaben für den Hohenpriester und die Vorsteher der Feste belegt hatte, die die metropoleis zuvor allein getragen

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hatten. Die Kaiser kamen ihrer Bitte um Befreiung von den Zahlungen nach und gaben in moralisierenden Worten ihrer Hoffnung Ausdruck, daß sie diese Begünstigung nicht zum Schaden anderer Städte ausnutzen würden.26 Bei alledem bleibt unklar, was die kaiserlichen Sekretäre »für griechische Briefe« und »für lateinische Briefe« eigentlich taten. Nach dem, was Philostratus über Aelius Antipater sagt – daß er, wie oben schon erwähnt, kaiserliche Briefe in gefälligerem und angemessenerem Stil als irgend jemand sonst abfaßte –, scheint es, daß der griechische Sekretär die Briefe an die griechischen Städte in griechischer Sprache selbst formulierte, nachdem ihm wahrscheinlich ein Entwurf in lateinischer Sprache übergeben worden war. Alles weitere bleibt im dunkeln. So wurde in der Hauptsache der Verkehr zwischen dem Kaiser und den Städten abgewickelt. Einzelne Untertanen wandten sich mit geschriebenen libelli an den Kaiser, die ihre Bitten (oder gelegentlich auch ihre Anklagen gegen andere) enthielten. Es ist offensichtlich, daß die libelli, zumindest in der frühen Periode, dem Kaiser persönlich in einer der regelmäßigen Audienzen – Sitzungen (salutationes) – überreicht wurden. Augustus soll zu einem Mann, der ihm seinen libellus mit großer Ängstlichkeit überreichte, gesagt haben: »Du bist wie ein Mensch, der einem Elefanten eine Münze gibt.« Diese las der Kaiser (der Plan zur Ermordung Domitians bestand darin, daß man ihm einen libellus aushändigen und ihn dann beim Lesen erschlagen wollte), was er auch mit den libelli tat, die (wie die Briefe der Städte) die Provinzstatthalter an ihn weitergeleitet hatten. Als Plinius den libellus eines Auxiliarcenturio aus Bithynien an Trajan geschickt hatte, antwortete Trajan: »Ich habe den libellus ..., den du sandtest, gelesen; durch seine Bitte gerührt, habe ich seiner Tochter das römische Bürgerrecht gewährt. Ich habe dir den libellus mit der Verfügung geschickt, damit du ihm diesen aushändigst.«27 Die Formulierung »der libellus mit der Verfügung« ist offenbar ein Hinweis darauf, daß der Kaiser (ebenso wie die Beamten und Statthalter) normalerweise libelli durch Abfassung einer kurzen Antwort unter dem Schriftstück (subscriptio) beantwortete. So schrieb Commodus (180–192) in Beantwortung eines langen libellus der Pächter kaiserlicher Güter in Africa, die sich darüber beschwerten, daß ihnen von Mittelsmännern eine unzulässige Zahl von Tagen freier Arbeit abverlangt werde: »Die Prokuratoren, die meine Befehle und Instruktionen beachten, damit nicht mehr als zwei oder drei Tage Arbeit (gefordert werden sollen), werden darauf achten, daß von euch nichts in Widerspruch zu den bestehenden Abmachungen verlangt wird.«28 Ein libellus konnte so eine Bitte um alles mögliche sein (es gab keine Loslösung von gesetzlichen Verpflichtungen, keinen Status, keine Befreiung von einer Strafe, die der Kaiser nicht als reinen Gnadenakt gewähren konnte) – von Geldgaben bis zur Bürgerrechtsverleihung und dem Zurechtrücken von Fehlschritten. Das libellus-subscriptio-System geht damit unmerklich in das Verfügungssystem über, durch das der Kaiser geschriebene Antworten in

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Gesetzesdingen gab. Ehe wir aber dazu kommen, ist es notwendig, die Rolle der Kaiser in der Zivil- und Kriminalrechtsprechung zu betrachten. Die kaiserliche Rechtsprechung (deren formal-rechtliche Ursprünge nicht leicht zu erkennen sind) war in gewisser Hinsicht Teil seiner öffentlichen Rolle als Schlichter von Streitigkeiten und Bereiniger von Missetaten und hängt mit dem Anhören von Gesandtschaften (das in jedem Fall zivile oder kriminelle Verfolgung gegen einzelne einleiten konnte) und Beschwerden von Privatpersonen zusammen. Andererseits war sie bei Privatprozessen und Verurteilung prominenter der Staatsgefährdung verdächtiger Personen eine Waffe, die häufig gegen die oberen Klassen und mögliche Rivalen mißbraucht wurde und eine Quelle großer Bitterkeit und Spannung in den Beziehungen zwischen Kaiser und Senat darstellte. Diese letzteren Fälle wurden im allgemeinen innerhalb der Mauern des Palastes geheimgehalten. Bei der Routinerechtsprechung pflegten die Kaiser manchmal darauf zu bestehen, auf dem Forum zu Gericht zu sitzen (wobei sie wie immer von ihren Freunden beraten wurden), pflegten aber auch Prozesse in einem auditorium innerhalb ihres Palastes, ihrer Landhäuser in Italien oder auf Feldzügen abzuhalten. Es ist nur ein einziger unbestreitbar echter wörtlicher Bericht einer Verhandlung vor dem Kaiser erhalten geblieben. Das ist die von Caracalla im Jahr 216 in Antiochia geführte Verhandlung, in der syrische Dorfbewohner einen Mann verklagten, der die Priesterwürde ihres Tempels usurpiert hatte.29 Diese Verhandlung war nicht vom legatus von Syrien geführt, sondern in Erwiderung einer Petition als ein Gnadenakt vom Kaiser übernommen worden. Darin war sie keine Ausnahme. Der Kaiser stellte Rivalen und Verschwörer selbst vor Gericht. Einige Zivil- und Kriminalfälle kamen als Folge von Appellationen vor ihn; einige Gefangene gelangten aus den Provinzen zu ihm, um von ihm abgeurteilt zu werden; selbst einige Zivilsachen scheinen spontan von den Statthaltern an ihn verwiesen worden zu sein. Fronto hielt vor Antoninus Pius eine lange Ansprache, in der er gegen das Vorgehen eines Prokonsuls von Asia protestierte, der Verhandlungen über strittige Testamente an den Kaiser verwies, und hob die Verzögerungen und Unbequemlichkeiten hervor, die sich daraus ergaben. Sieht man von diesen Vorgängen ab, so scheint es überhaupt keinen Mechanismus gegeben zu haben, durch den darüber entschieden wurde, welche Fälle vor dem Kaiser verhandelt werden sollten. Angeklagte oder Kläger brachten ihren Fall vor ihn, und er hörte ihn an, wenn er wollte. Plinius der Jüngere wurde zum Beispiel zu dem consilium Trajans eingeladen, als der Kaiser um 106 eine Reihe von Fällen in seinem Landhaus in Centumcellae verhandelte. Dabei ging es um einen prominenten Epheser, der von seinen Feinden verklagt wurde, um die Frau eines Militärtribunen, die des Ehebruchs mit einem Centurio beschuldigt wurde (der legatus der Provinz hatte den Fall an Trajan verwiesen – und Trajan fügte seinem Urteil hinzu, daß er nicht alle Fälle von Ehebruch verhandeln wolle), und um einen Ritter und einen

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kaiserlichen Freigelassenen, die der Fälschung eines Testaments angeklagt waren (die Erben hatten einfach an Trajan geschrieben, als er in Dakien weilte, und ihn gebeten, den Fall zu übernehmen). Die Verhandlungen dauerten drei Tage. In diesem Zeitraum ließ der Kaiser seine Ratgeber im Landhaus unterhalten und nachher mit Geschenken belohnen.30 Obgleich, wie oben erwähnt, Berufsjuristen in den »Sekretärs«-Stellungen beim Kaiser beschäftigt wurden, in die Prätorianerpräfektur aufstiegen (was die Anwesenheit am Kaiserhof bedeutete) oder als bezahlte consiliarii – das früheste Beispiel ist das eines Rechtsberaters, der später auch ein a libellis und a cognitionibus war – angestellt waren, fällte der Kaiser das eigentliche Urteil immer selbst. Der Jurist Marcellus beschreibt, wie Marcus Aurelius bei der Entscheidung eines schwierigen Falles seine Ratgeber entließ, die Angelegenheit allein überdachte und den Gerichtshof dann wieder versammelte, um das Urteil zu verkünden. Der bedeutende juristische Schriftsteller Paulus berichtet, wie er Septimius Severus seine Meinung eindringlich vortrug, der zuhörte, aber eine gegenteilige Haltung einnahm. Für die letzte Jahrhunderthälfte unserer Epoche besitzen wir, wie in anderen Dingen, wenige Belege für das Wirken der kaiserlichen Rechtsprechung. Wir haben allerdings die Erlasse, die im Codex Iustinianus zitiert werden.31 Sie nehmen in dieser Periode auffällig an Zahl ab – von einer Gesamtzahl von 369 im Jahrzehnt 220–230 auf 67 zwischen 250 und 260, 26 zwischen 260 und 270 und 9 zwischen 270 und 280. Wenn der Umfang der Gesetzesentscheidungen in den unruhigsten Jahren der Kaiserzeit somit auch in dramatischer Weise abnahm, ist es doch bezeichnend, daß der Strom der Erlasse niemals ganz verebbte. Erlasse sind in großer Zahl seit Hadrian (117–138) bezeugt und wurden nicht nur an die Beamten und Statthalter gerichtet, sondern auch an Privatpersonen einschließlich einfacher Soldaten, Freigelassener und selbst Sklaven. Manchmal sind die Reskripte nicht mehr als Direktiven für den Adressaten, die zuständige Stelle anzurufen. So sagt der Jurist Salvius Julianus: »Ich habe Caesar (Antoninus Pius) oft in Verfügungen sagen hören, ›Du kannst dich an den Provinzstatthalter wenden‹« (dieser Satz beweist zweierlei: daß Reskripte diktiert wurden und Berater in Gesetzesdingen anwesend waren). Andere Verfügungen, die wie die Rechtsfälle und Gesandtschaften auch auf Reisen und Feldzügen behandelt wurden, stellten Antworten auf aktuelle Rechtsfragen dar. So schickten zum Beispiel Carus und seine Söhne im Jahr 283 von Emesa in Syrien eine Verfügung, um einen Mann damit zu bescheiden, daß die Übertragung von Besitz auf ihn illegal sei, da sie einem Senatsentscheid zuwiderlaufe. Diese an sich unbedeutende Einzelheit der kaiserlichen Geschäfte mag zum Hinweis auf die großen Entwicklungen der Periode dienen, auf das Fortbestehen des Senats bei ständig wachsendem Ausschluß desselben und seiner Mitglieder von einer aktiven Ausübung der Macht, auf die Entstehung einer »kaiserlichen« Verwaltung, die um den senatorischen Rahmen wuchs und schließlich in ihn

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eindrang, und vor allem auf die zunehmend unabhängige Rolle des Kaisers als der einzig wirklichen Quelle politischer Entscheidungen und des Rechts. 5. Staat und Untertan: die Städte Das Neue Testament stellt den besten Ausgangspunkt dar, wenn man die Beziehungen von Staat und Untertan in der Kaiserzeit beleuchten will. In den Evangelien wird von dem im Jahr 6 n. Chr. vorgenommenen Zensus berichtet, als Judäa römische Provinz wurde; wir lesen dort, wie Jesus und der Pharisäer über die Tributzahlung diskutierten, wie die Steuereinnehmer vorgingen, der Prokurator die Rechtsprechung ausübte und die römische Armee Ordnung hielt. Ein Wort Jesu bezieht sich direkt auf einen zentralen Punkt der Reibung zwischen Staat und Volk: »Und wenn dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei« (Matth. 5, 41). Jesus gebraucht das Wort angareuein, die konventionelle griechische Bezeichnung für Dienstforderungen der Soldaten und in Staatsgeschäften reisenden Personen. Genau die gleiche Situation spiegelt sich in Domitians (81–96) Instruktionen an den Prokurator von Syrien über das Verhalten der Soldaten, die in einer Inschrift enthalten sind: »Laß niemand einen Führer nehmen, der dazu nicht meine Vollmacht besitzt; denn wenn die Bauern weggeschleppt werden, bleiben die Felder ungepflügt.«1 Auf den in der Apostelgeschichte geschilderten Reisen des Paulus lernen wir eine andere Welt kennen, die der griechischen Städte oder römischen Kolonien von Philippi und Korinth. Hier war die römische Präsenz weniger unmittelbar und wurde die Hauptrolle von den städtischen Behörden selbst gespielt. Hier läßt sich auch der Status und der Schutz beobachten, die das römische Bürgerrecht in dieser frühen Zeit einbrachte, welche im Verlauf der hier behandelten Epoche verlorengehen sollten. Daß die jüdischen Vorgänge und die Reisen des Apostels Paulus ein unterschiedliches Bild vom römischen Staat vermitteln, ist kein Zufall. Denn die Art der Kontakte mit dem Staat war aufs engste mit dem Wesen der Gemeinde verbunden, zu der der einzelne gehörte. »Gemeinde« bedeutete normalerweise Stadt, worunter ein städtischer Mittelpunkt zu verstehen ist, der seine eigenen Beamten wählte oder zumindest hervorbrachte, der (in der Regel) einen Rat und ein »Territorium« mit Dörfern besaß, die seiner Rechtsprechung unterstanden. Die Grundzüge des Systems sind in einem kaiserlichen Brief vom Ende unserer Periode enthalten, in dem den Bewohnern von Tymandus in Pisidien (Kleinasien) der Status einer Stadt (civitas) gewährt wird: »Da wir wünschen, daß in unserer ganzen Welt die Würde und Zahl der Städte vermehrt werde, und da wir sehen, daß die Tymandener den Namen und den Status einer ›Stadt‹ zu erhalten begehren und fest versprechen, daß es unter ihnen eine ausreichende Zahl von decuriones (Stadträten) geben wird, glauben wir, daß der Bitte stattgegeben werden sollte ... sie mit unserer Genehmigung die Rechte besitzen sollen, die andere Städte innehaben, nämlich einen städtischen Rat zu bilden, Dekrete zu erlassen und andere Geschäfte zu erledigen, die das Gesetz zuläßt.

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Sie werden Ratsherren, Ädilen, Quästoren und alle anderen notwendigen Beauftragten ernennen müssen.«2 Dörfer konnten ihre eigenen Beamten und sogar Ratsversammlungen haben; der Unterschied zwischen Stadt und Dorf (im Lateinischen meist vicus, im Griechischen komē, aber auch in einer Vielzahl anderer Namen belegt) scheint darin bestanden zu haben, daß nach der Definition einer Stadt diese nicht auf dem Territorium einer anderen lag, während das bei Dörfern fast immer der Fall war. So bestrafte Septimius Severus (193 bis 211) Antiochia in Syrien wegen der Unterstützung seines Rivalen Pescennius Niger, indem er es in den Stand eines komē im Territorium von Laodikeia zurückversetzte. Was wir vom Leben und von den Funktionen der Städte wissen, bezieht sich zumeist auf die augenfälligeren staatlichen oder kommunalen Aspekte, die Errichtung von Gebäuden und Tempeln, die Ausrichtung von Festen und Spielen, den Erlaß von Dekreten und die Absendung von Gesandtschaften, die Verteilung von Öl, Getreide oder Getreidezuteilungen in Notzeiten. Präzisere Fragen über die Rolle der Städte sind oft nicht leicht zu beantworten. Die Einkünfte einer Stadt kamen aus den verschiedensten Quellen, aus der Verpachtung öffentlicher Ländereien (die außerhalb des Stadtgebietes liegen konnten) oder öffentlicher Gebäude, aus Zöllen, Erbschaften, von den Beamten verhängten Strafen, dem Verkauf von Priesterwürden und, was weit alltäglicher war, aus summae honorariae, Summen, die die Beamten und Stadträte bei Übernahme ihrer Ämter zahlten. Als Beispiel für die Einkünfte einer Stadt soll der Brief des Antoninus Pius (138–161) dienen, den er in Beantwortung einer Gesandtschaft an eine Stadt in Makedonien schrieb, die ihn gebeten hatte, ihr verschiedene Quellen des Einkommens zu erschließen (neue Formen städtischen Einkommens mußten normalerweise von dem Kaiser gebilligt werden). Er erwähnt Zölle und billigt offenbar ihre Erhebung auch von in der Stadt wohnenden Nicht-Bürgern, gestattet ihr, eine Steuer von einem denarius pro Kopf der freien Bevölkerung auszuschreiben (das ist das einzige Beispiel einer direkten Steuer, die in einer Stadt gezahlt wurde), und gesteht ihr einen Rat von achtzig Mitgliedern zu, die alle eine Eintrittsgebühr von 500 attischen Drachmen zu entrichten haben.3 Die regelmäßigen Einkünfte der Städte waren also sehr begrenzt. Kompensiert wurde diese Beschränktheit durch die traditionelle großzügige Freigebigkeit der führenden Männer in Form von Bauten, Schauspielen, Geschenken und unentgeltlichen Dienstleistungen, die durch den starken Druck der Volksmassen allerdings beeinflußt wurde. Antoninus Pius schloß seinen Brief mit der Bestimmung, daß Nicht-Bürger (ebenso wie Bürger?) als Ankläger und Verteidiger in Fällen mit einem Streitwert bis 250 denarii der Jurisdiktion der Stadtbeamten unterstellt sein sollten. Das ist einer der wenigen erhaltenen Belege über die Abgrenzung lokaler und provinzieller Rechtsprechung. Was die örtliche Rechtsprechung anbelangt, können wir nur auf Beispiele von Polizeiaktionen verweisen, wie die in verschiedenen Städten gegen den Apostel Paulus ergriffenen Maßnahmen, oder

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auf die Befugnis, Geldstrafen zu verhängen. Ein aus den Jahren 209 bis 211 datierendes Dokument aus Mylasa in Karien zeigt, wie die Beamten und der Rat der Stadt als Gerichtsversammlung zum Anhören von Personen fungierten, die als ungesetzliche Geldwechsler aufgetreten waren, wie sie Geldstrafen verhängten und Sklaven auspeitschen und gefangensetzen ließen.4 Noch weniger ist über die Beziehungen einer Stadt zu den Dörfern auf ihrem Territorium bekannt. Wir wissen in allgemeinen Zügen, daß die Städte von ihren Territorien den Tribut, der Rom geschuldet wurde, ihre eigenen indirekten Einkünfte und später die Rekruten für die Armee (oder eine Steuer an ihrer Stelle) einzogen. Direkte Belege für die Beziehungen besitzen wir zum Beispiel aber nur in einem Dekret aus Hierapolis in Asia, das den städtischen Polizeibeamten (paraphylaces) des Territoriums verbot, von den Dörfern mehr als Nahrungsmittel, Bett und Unterbringung zu fordern, oder die Bürgermeister in den Dörfern (komarchen) zu veranlassen, ihnen gegen ihren Willen Ehrenkronen anzubieten.5 Einige Dorfbewohner in Phrygien beschwerten sich in den Jahren 244 bis 247 über die Forderungen sowohl der durchreisenden kaiserlichen Beamten als auch »der mächtigen Männer in der Stadt«. Für das Phänomen der Unterdrückung findet sich auch ein Beispiel in dem Abschnitt (zitiert in Kap. 11), in dem Galen schildert, wie die Bauern verhungerten, nachdem ihre besten Ernteerträge in die Stadt gebracht worden waren. Wir wissen jedoch nicht, ob das in Form von Pachtzins, offiziellen Abgaben oder (vielleicht) von Ablieferungen geschah, die für römische Beamte bestimmt waren. Ein Jurist aus dem späten 3. Jahrhundert sagt jedoch, daß einige Städte das Privileg besaßen, in jedem Jahr von den Pächtern in ihrem Territorium (offenbar ohne Kompensation) eine gewisse Getreidemenge einzusammeln. Die in ihrer Art von der Eroberung bis zum Bündnis reichende allmähliche Ausweitung der römischen Herrschaft auf Gebiete mit sehr verschiedenen Kulturstufen schuf eine Vielfalt städtischer Formen und rechtlicher Stellungen, die den Grad der Selbstregierung, die Zahlung von Steuern und die Bürgerstellung ihrer Einwohner grundlegend berührte. In diesem Gefüge nahm Italien eine bevorzugte Stellung ein. Seine Einwohner zahlten keinen Tribut und waren alle römische Bürger. Die Städte in Italien waren alle entweder municipia oder coloniae (was von den historischen Umständen abhing). Das municipium war nach seiner Herkunft eine Stadt mit eigener Verfassung und eigenen Beamten, deren Bewohner sich mit den römischen Bürgern in gewisse Rechte, aber auch Pflichten (wie den Militärdienst) teilten; coloniae waren ursprünglich Kolonien römischer Bürger, denen eine Einheitsverfassung gegeben wurde. Seitdem alle Einwohner Italiens das Bürgerrecht besaßen, wurde die Unterscheidung weitgehend eine Formsache (obwohl das Volk von Praeneste Tiberius darum bat, ihren Status von dem einer colonia in den eines municipium umzuwandeln). Außerhalb Italiens gab es auch coloniae (die erste war Narbonne im Jahr 118 v. Chr.) und seit der späten Republik municipia. Die coloniae waren Siedlungen römischer Bürger, die sich gewöhnlich aus entlassenen Legionären, gelegentlich

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aber auch aus zivilen Bevölkerungskreisen rekrutierten und die durch einen formalen Staatsakt erhoben wurden, der die Zuweisung eines Landloses an jeden Siedler einschloß. Das geschah auf der Basis einer Centuriation, der Aufteilung des ganzen Territoriums in rechteckige Parzellen, die sich im allgemeinen an zwei Hauptstraßen aufreihten, die sich im Stadtzentrum rechtwinklig kreuzten. Inschriften aus Orange, das wahrscheinlich im Jahr 35 v. Chr. für Legionsveteranen gegründet wurde, bewahren die Karte der rechteckigen Parzellen, die im Jahr 77 auf Befehl Vespasians angelegt wurden.6 Der Boden der Kolonie gewann das sogenannte ius Italicum (italische Recht), aufgrund dessen kein Tribut gezahlt zu werden brauchte; alle Bürger einer Kolonie waren im Sinn der Definition römische Bürger. Bis in die Regierungszeit Hadrians entstanden neue Veteranenkolonien. Danach blieb nur die in der frühen Kaiserzeit entwickelte Sitte, schon bestehenden Städten den Titel einer colonia zu verleihen. Das mag manchmal, wie in dem Falle, als Hadrian seinen Geburtsort Italica in Spanien zur Kolonie erhob, von Ausdehnung und Neubauten begleitet worden sein, war zumeist aber nur eine Verleihung des Titels und der damit verbundenen Rechte. Selbst die Rechte folgten nicht immer in vollem Umfang: Vespasian machte Caesarea in Judäa zur Kolonie, erließ aber nur die Kopfsteuer (tributum capitis); das ius Italicum, das den Erlaß der Bodensteuer (tributum soli) beinhaltete, wurde von seinem Sohn Titus hinzugefügt. Einige Titularkolonien besaßen keines der beiden Rechte.7 Die provinziellen municipia werfen eine Reihe von Problemen auf, von denen einige unlösbar sind. Sie repräsentieren die Ausweitung einer romanisierten Form der Stadtverfassung auf die lateinischen Provinzen (in den griechischen Gebieten sind sie praktisch unbekannt). Diese scheint in jedem Fall durch eine besondere lex erfolgt zu sein, die die Pflichten der Beamten, die Qualifikation für das Amt der decuriones, die Regeln für die Abhaltung von Wahlen und so weiter umriß und die zu dieser Zeit einem ziemlich einheitlichen Muster gefolgt zu sein scheint. Der munizipale Status vermittelte in keinerlei Form Steuerfreiheit, diente aber zur Übertragung des Bürgerrechts. Hier setzen die Schwierigkeiten ein. Die Standardform eines municipium war durch das »geringere latinische Recht« (Latium minus) gekennzeichnet, durch das diejenigen Personen, die in ihnen zu Beamten gewählt wurden, und deren Nachkommen automatisch das römische Bürgerrecht erlangten. Im 2. Jahrhundert begegnet man auch dem »größeren latinischen Recht« (Latium maius), das aber nur in Dokumenten aus Africa belegt ist und durch das alle decuriones des municipium das Bürgerrecht erhielten. Die anderen Bewohner aller solcher municipia hießen »Latiner« (Latini); es scheint überhaupt kein Zeugnis dafür zu geben, wie sich deren Stellung von der einfacher Nicht-Bürger unterschied. Darüber hinaus gab es vielleicht provinzielle Munizipien, deren Einwohner (wie die italischer Munizipien) alle römische Bürger waren. Es ist aber neuerdings behauptet worden, daß solche Gemeinden nicht existiert hätten, und unsere Quellen enthalten zugegebenermaßen sehr wenig darüber. Plinius der

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Ältere erwähnt als einziger auch »Städte römischer Bürger« (oppida civium Romanorum) in den westlichen Provinzen. Aber wenn diese wirklich im Unterschied zu den municipia als gesetzliche Kategorie bestanden, wissen wir buchstäblich nichts von ihnen.8 Der Normaltyp eines municipium ist am besten aus zwei Dokumenten aus den frühen achtziger Jahren bekannt, den »Freibriefen« (leges) zweier spanischer Städte, Malaca und Salpensa, die im Gefolge der Verleihung des Latium minus an ganz Spanien durch Vespasian (69–79) zu municipia wurden.9 Die unversehrten Teile des Freibriefes von Salpensa enthalten Regelungen über die Erlangung des Bürgerrechts durch Beamte, über den von den Beamten zu schwörenden Eid und über ihre Rechte auf Sklavenbefreiung und Stellung von Vormunden; der Freibrief von Malaca, von dem weit mehr erhalten ist, handelt von der Ausführung der Wahlen, der Auswahl der Patrone für die Gemeinde, der Verpachtung der örtlichen Einkünfte und römischen Tribute an Unternehmer, der Verhängung von Geldstrafen durch die Beamten und der Überprüfung der munizipalen Budgets. Abgesehen von diesen Stadttypen mit spezifisch römischen Einrichtungen wurden alle anderen Städte einfach civitates genannt. In dem letzten Teil der Periode wird die Bezeichnung res publica, die in der Republik für den Stadtstaat Rom angewandt wurde, zur gebräuchlichsten Bezeichnung einer Stadt (jeglichen Typs) als Institution. Eine civitas konnte damals alles von einer großen Stadt wie Ephesus bis zu einer »kantonalen Hauptstadt« in Britannien wie Silchester, die Calleva Atrebatium – »Calleva (Hauptstadt) der Atrebaten« – sein. Über die innere Struktur der civitates im Westen ist sehr wenig bekannt. Es ist aber offensichtlich, daß sie, wenn sie genügend entwickelt waren, zu Einrichtungen tendierten, die denjenigen der Kolonien oder Munizipien nachgebildet waren. Wir wissen zum Beispiel von einem »Prätor« in Bordeaux unter Claudius. Vespasian adressierte im Jahr 74 als Antwort auf eine Delegation einen Brief an die »Beamten und Senatoren der Vanacini« auf Korsika.10 Bei den alten punischen Städten, wie Lepcis Magna, in Africa und noch mehr bei den Städten des griechischen Ostens ist die Situation eine ganz andere. Hier übernahm Rom lediglich ein schon bestehendes Netz von Städten. In einem weniger hellenisierten Gebiet wie Pontus (im zentralen Nordkleinasien) bestand die Notwendigkeit, ein Netz von Städten mit großen Territorien anzulegen. Anderswo wurden Veteranenkolonien begründet und neue griechische Städte eingerichtet, die sich gewöhnlich aus schon vorhandenen Dörfern entwickelten. Im allgemeinen bestand aber das soziale und städtische System fort. Der bemerkenswerteste Wandel, der diesesmal einer bewußten, seit dem frühen 2. Jahrhundert v. Chr. betriebenen Politik folgte, bestand in der Umwandlung der Stadträte (boulai) in Reservate der oberen Klassen, für die sich die Menschen durch Reichtum qualifizierten und in denen sie die Mitgliedschaft auf Lebenszeit erwarben. Die Befugnis, wirksame Entscheidungen zu treffen und die Beamten auszuwählen, kam mehr und mehr in die Hände dieser ständigen boulai, die sich

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aus den reicheren Bürgern zusammensetzten. Dieser Entwicklungsprozeß verlief natürlich unterschiedlich, und wir besitzen verstreute Belege für das Fortbestehen von Volksversammlungen. Ein Bild vom Stadtleben des griechischen Ostens wird nicht nur von den zeitgenössischen Autoren, wie Plutarch oder Philostratus, in großer Breite vermittelt, sondern auch von Tausenden von Inschriften, die Dekrete der Stadträte oder der Versammlungen festhalten, die Errichtung von Gebäuden, die von prominenten Bürgern innegehabten Ämter und geleisteten Dienste, die Absendung von Gesandtschaften an den Kaiser oder die Statthalter beschreiben und den Text kaiserlicher Briefe aufzeichnen. Eine Inschrift des 2. Jahrhunderts aus Thyatira in Asia mag zur Illustration der breiten Skala von Funktionen dienen, die die örtlichen Beamten ausübten: »Der Rat und das Volk ehrten P. Aelius Menogenes Pyrichus Marcianus (ein typischer Name eines vornehmen Griechen, da zur Kennzeichnung des erlangten Bürgerrechts römische Namen den griechischen beigefügt wurden), den Dichter, den strategos (›General‹ – Obersten Beamten), den agoranomos (Marktaufseher), den Sekretär des Rates und des Volkes, den ephebarchos (Führer eines Korps junger Männer – Epheben), den Verteiler von Getreide, den dekaprotos (einen von zehn Männern, die für das Tributaufkommen haften mußten – siehe unten), der die Errichtung wichtiger Gebäude beaufsichtigte, wegen der Vornehmheit seines Charakters und der Ehre, die er seiner Heimatstadt verschafft hatte.«11 Unter den civitates gab es einige privilegierte Kategorien, die hauptsächlich in den Kriegen der Republik geschaffen wurden. Die Rechte der civitates foederatae beruhten auf einem mit Rom geschlossenen foedus (Vertrag). Die civitates liberae (freien Städte) lagen im Provinzbereich, waren im Prinzip aber von den Besuchen und der Rechtsprechung des Provinzstatthalters exemt; die civitates liberae et immunes waren darüber hinaus noch von den Tributzahlungen befreit. In der Kaiserzeit wurden alle herkömmlichen Rechte als ein Gnadenakt des Kaisers beibehalten, konnten aber auch ganz nach seinem Belieben abgeschafft werden. Neue Privilegienverleihungen erfolgten selten. Nero proklamierte die Freiheit und Immunität aller Städte in Griechenland; Vespasian hob beides wieder auf. Die Bürger der civitates konnten, anders als die der municipia oder coloniae, das römische Bürgerrecht nur entweder durch Dienst in den Auxilien oder durch persönliche Verleihung erlangen (wenn sie nicht von Geburt an das Bürgerrecht besaßen). In seltenen Fällen scheinen die Provinzstatthalter im 1. Jahrhundert das traditionelle Recht der römischen Generäle auf Verleihung des Bürgerrechts an Provinzbewohner ausgeübt zu haben. Selbst in dieser Zeit waren die Verleihungen in der Hauptsache ein Monopol des Kaisers (später waren sie es ganz und gar), die – wie so viele andere Privilegien – als eine persönliche Gunstbezeugung gewährt wurden. Die neuen Bürger und deren Nachkommen nahmen den Namen ihres Wohltäters an. Die Namen der kaiserlichen Dynastien aus dem 1. und 2. Jahrhundert, Julius, Claudius, Flavius, Aelius, kehren in den

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Namen Tausender von Personen aus den Provinzstädten, besonders im griechischen Osten, wieder. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts ist es eine Ausnahme, wenn man einen vornehmen örtlichen Amtsträger findet, der kein Bürgerrecht besitzt. Wie zuvor erwähnt, wurde in wachsendem Maß aus dieser Klasse romanisierter örtlicher Notabeln der Ritterstand und der Senat aufgefüllt. Das Bürgerrecht stellte die entscheidende Voraussetzung für den Ritter- oder Senatorenrang dar. Für jemanden, der die Aufnahme in diese höheren Stände nicht anstrebte, blieben die mit dem Bürgerrecht verbundenen konkreten Vorteile bemerkenswert gering. Augustus hatte im Jahr 7 v. Chr. festgelegt, daß die Verleihung des Bürgerrechts die Befreiung von örtlichen Obligationen nicht einbeschloß, wenn sie nicht mit einer spezifischen Steuerbefreiung verbunden war. Die Unterscheidung wird im Fall des Historikers Josephus sichtbar, der das Bürgerrecht von Vespasian erhielt (daher sein Name Flavius Josephus), die Abgabenfreiheit für seinen Landbesitz in Judäa aber von Titus, dem Sohn Vespasians. Grundsätzlich erlangte ein römischer Bürger Abgabenfreiheit also nur, wenn sein Besitz in Italien oder in einer Kolonie mit »italischem Recht« lag. Darüber hinaus zahlten die Bürger Steuern bei Erbschaften von anderen Personen als nahen Verwandten (weil die Erbschaften von Nicht- Bürgern im römischen Recht nicht anerkannt wurden), was die Nicht-Bürger nicht zu tun brauchten. Als Nebenwirkung ergab sich daraus, daß Personen, denen das Bürgerrecht neu verliehen war, auf Erbschaften von ihren noch nicht-bürgerlichen Eltern (deren Stellung im römischen Recht auch nicht anerkannt wurde) Steuern zahlen mußten. In seinem Panegyricus diskutiert Plinius der Jüngere in Einzelheiten die von Nerva und Trajan zur Verbesserung der Situation ergriffenen Maßnahmen.12 Nach den Worten des dem Kaiser Caracalla feindlich gesinnten Zeitgenossen Cassius Dio kam es zur »universalen« Bürgerrechtsverleihung nur, weil der Kaiser die gesamte Bevölkerung in den Anwendungsbereich dieser Steuer bringen wollte. Am Anfang dieser Periode war das Bürgerrecht in den Provinzen noch eine Seltenheit, das Emigranten aus Italien oder einige wenige der vornehmeren Einheimischen besaßen. Welche Stellung und welchen Schutz es vermittelte, läßt sich am besten an den Erfahrungen des Apostels Paulus ablesen (der als römischer Bürger geboren wurde – es ist allerdings ein Geheimnis, wie seine Familie das Bürgerrecht erwarb). Nachdem er und Silas in Philippi von den Liktoren, die die obersten Beamten der Kolonie begleiteten, nur geschlagen worden waren, vermochte er die Beamten durch Enthüllung seines römischen Bürgerrechts dazu zu veranlassen, daß sie ihn selbst demütig aus der Stadt begleiteten. Später in Jerusalem sagte er zu dem Centurio: »Ist es dir erlaubt, einen noch nicht verurteilten römischen Bürger zu schlagen?« Das wurde dem Tribun der Kohorte erzählt, die Drohung mit Schlägen wurde aufgehoben, und der Tribun schrieb später an den Prokurator und schickte Paulus zu ihm. Es ist offensichtlich, daß römische Bürger vor summarischen Schlägen von niederen Beamten oder städtischen Bediensteten geschützt waren (es war auch bekannt,

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daß die civitates liberae ihre Freiheit zum Schlagen und Töten römischer Bürger verloren). Es besteht aber, wie im letzten Kapitel erwähnt, beträchtlicher Zweifel über die Frage, ob es für römische Bürger als solche irgendein wirksames Recht auf Appellation an den Kaiser gab. Aber noch im Jahr 177 schrieb Marcus Aurelius an den legatus von Gallien, daß die römischen Bürger unter den christlichen Märtyrern von Lyon geköpft, die Nicht-Bürger aber den wilden Tieren vorgeworfen werden sollten. Das ist der letzterhaltene konkrete Anhaltspunkt für eine besondere Behandlung römischer Bürger bei gesetzlichen Vorgängen. Beinahe ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 212 oder vielleicht ein oder zwei Jahre danach, verlieh Caracalla, wie unsere literarischen Quellen bezeugen, das Bürgerrecht an alle Bewohner des Reiches. Einen weiteren Beleg stellt ein ägyptischer Papyrus mit dem eigentlichen Text des Ediktes des Caracalla dar. Leider ist er aber so fragmentarisch, daß daraus nichts Konkretes hervorgeht – außer einer Erwähnung von dediticii (was entweder eine neuerlich besiegte und kapitulierende Bevölkerung oder Personen, die zu keiner bestimmten civitas gehören, oder Sklaven bezeichnet, die zuvor von ihrem Herrn gebrandmarkt wurden). Der Satz läßt sich jedoch so rekonstruieren, daß er entweder bedeutet, daß alle Kreise und Stände der Gesellschaft außer den dediticii das römische Bürgerrecht erhielten, oder aber, daß der Status der dediticii (allein) abgeschafft wurde.13 Dieser Status bestand jedoch, wenigstens für befreite Sklaven, bis zu seiner Abschaffung im Jahr 530 fort. Wenn man der ersten Rekonstruktion den Vorzug gibt, bleibt die Frage, ob die dediticii eine numerisch unbedeutende Kategorie von Menschen niederen Rechts darstellten oder ob die Bezeichnung im 3. Jahrhundert für die gesamte ländliche Bevölkerung zum Beispiel der Dörfer (komai) in Ägypten oder in den Balkanländern zutraf. Wir können mit Bestimmtheit nur sagen, daß auf Papyri ägyptische Bauern des 3. Jahrhunderts ohne römische Namen verzeichnet sind, daß Inschriften vom Rhein und der Donau römische Bürger im Gegensatz zu anderen Personen erwähnen und daß die an Veteranen der Prätorianerkohorten ausgegebenen diplomata ihre Verheiratung mit Frauen in Aussicht nehmen, die Nicht-Bürger waren, während die diplomata für die Veteranen der equites singulares und der Flotte auch besagen, das römische Bürgerrecht sei auch »denjenigen, die es nicht schon besaßen«, gewährt (aber alle vier Veteranen dieser Einheiten aus dem 3. Jahrhundert, deren diplomata erhalten blieben, waren selbst römische Bürger).14 So machen einzelne Belege wahrscheinlich, ohne es allerdings fest zu beweisen, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung das Bürgerrecht nicht erhielt. Was die Forderungen anbelangt, die der Staat an seine Untertanen stellte, so läßt sich beobachten, daß hier in starkem Maß die Städte als Vermittler auftraten. Die Hauptforderungen betrafen den Tribut und die indirekten Steuern, Verproviantierung und Unterbringung der Truppen und Beamten, die Instandhaltung der kaiserlichen Post (cursus publicus), Arbeiten besonders beim Straßenbau, und die Einstellung in die Armee.

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Von den indirekten Steuern waren zwei, die einprozentige Verkaufssteuer und die vierprozentige Sklavenverkaufssteuer, von Augustus eingeführt worden. Erstere wurde von Tiberius um die Hälfte herabgesetzt und von Caligula in Italien abgeschafft. Letztere scheint nicht länger als bis zum 1. Jahrhundert belegt. Die fünfprozentige Steuer, die von Sklaven auf die Summen gezahlt wurde, die sie ihren Herren für ihre Freilassung entrichteten, hatte seit der frühen Republik bestanden und ist bis ins frühe 3. Jahrhundert belegt, als sie von Caracalla auf zehn Prozent erhöht und von Macrinus (217–218) wieder auf fünf Prozent reduziert wurde. Angesichts der großen Zahl von Sklaven, die ihre Freiheit erlangten, muß diese Steuer wichtig gewesen sein. Wir wissen aber beinahe nichts darüber, wie sie erhoben wurde, außer daß die Einziehung ursprünglich in den Händen von Unternehmern (publicani) lag und daß seit Claudius bis etwa 200 sporadische Nachrichten von kaiserlichen Prokuratoren auftauchen, die mit der Steuer zu tun hatten. Viel mehr ist über die oben erwähnte fünfprozentige Erbschaftssteuer bekannt, die 6 n. Chr. eingeführt wurde, um Einkünfte für die Militärkasse zu haben, die für die Veteranen die Entlassungsgelder auszahlte, die von Caracalla und Macrinus genauso wie die Freiheitssteuer angehoben und gesenkt wurden und um 240 letztmals belegt sind. Hier lag die Einziehung auch bei den publicani und dann im 2. Jahrhundert bei den kaiserlichen Prokuratoren und ihren untergebenen kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen. Das Gesetz verlangte die formale Öffnung und Verlesung eines Testaments in Gegenwart von Zeugen. Auf einem Papyrus ist der auf 194 datierte letzte Wille eines Veteranen erhalten mit der Notiz »Geöffnet und verlesen in der metropolis Arsinoe auf dem Forum des Augustus im Büro (statio) für die fünfprozentige Steuer auf Erbschaften und Sklavenfreilassungen«. Ein anderer Papyrus, der letzte spezifische Beleg für diese Steuer, enthält eine im Jahr 237 in Oxyrhynchus abgegebene Erklärung, daß eine Erbschaft von der Steuer exemt ist (weil sie zwischen nahen Verwandten erfolgte); diese schließt mit einer offiziellen Bestätigung durch einen kaiserlichen Freigelassenen, einen tabularius (Schreiber), offenbar aus der statio in Oxyrhynchus.15 Beide in bar bezahlte Steuern scheinen in der Inflation des späteren 3. Jahrhunderts verschwunden zu sein und tauchen danach nicht wieder auf. Am meisten ist über das portorium, den Zoll auf Durchgangsgüter, bekannt, der in verschiedenen Teilen des Reiches geringe Abweichungen in der Höhe aufwies (normalerweise 2 oder 21/2% vom Wert einer Ware). In Gallien hieß das portorium zum Beispiel die quadragesima Galliarum – »das Vierzigstel (21/2%) der Gallier«. Diese Gebiete stellten in keiner Weise Zolleinheiten dar, und diese Abgabe hatte keinen anderen Zweck als den, die Einkünfte zu erhöhen. Nur an einigen Orten an der Ostgrenze – durch die der Handel mit Luxusgütern aus Indien lief – lassen sich Sätze bis zu 25% finden. Da der Goldabfluß nach Indien schon in der Regierungszeit des Tiberius Besorgnis auslöste, mag dieser hohe Satz vielleicht zur Einengung des Handelsvolumens gedient haben. Auch hier begegnet man einem Übergang von dem republikanischen System der

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Einziehung durch Unternehmer zu der direkten Einziehung durch kaiserliche Angestellte; allgemein gesprochen wurden die Gesellschaften der publicani im frühen 2. Jahrhundert durch Einzelunternehmer (conductores) ersetzt und diese wiederum im späten 2. Jahrhundert durch kaiserliche Prokuratoren. Die Grundlage des Systems waren wiederum Posten (stationes) an den Hauptstraßen, die zuletzt von kaiserlichen Sklaven und Freigelassenen besetzt waren. Reisende mußten ihre gesamten Waren verzollen, wurden aber von Zahlungen auf Güter (einschließlich Sklaven) befreit, die sie unterwegs benötigten. Eine aus dem Jahr 202 datierende Inschrift aus Zarai in Numidien ist das album einer dortigen statio, das offenbar eine Liste der üblichen Zölle für verschiedene Warengattungen enthielt, wie Sklaven, Pferde, Maultiere, verschiedenerlei Kleidungsstücke, eine Amphore mit Wein und so weiter. Wie dieses System funktionierte, wird durch eine Geschichte in Philostratus’ Roman über den heidnischen Heiligen Apollonius von Tyana illustriert; als Apollonius zu einem Übergang am Euphrat kam, führte ihn der Zöllner »zu der Tafel (offenbar zu einer wie der von Zarai) und fragte ihn, was er bei sich hätte«. »Sophrosyne (Mäßigkeit), Dikaiosyne (Gerechtigkeit) ... und so weiter«, erwiderte der Weise, was der unwissende Zolleinnehmer für die Namen weiblicher Sklaven hielt.16 Unsere Belege für das portorium hören um 240 auf; diese Abgabe erscheint aber wieder im 4. Jahrhundert, und es ist nicht bekannt, ob man ihre Erhebung im unruhigen 3. Jahrhundert einstellte. Es ist bedeutsam und keineswegs leicht zu erklären, daß von allen Formen des Kontakts zwischen Staat und Bürgern diese indirekten Steuern als einzige anscheinend niemals von den Städten als Mittlern erhoben wurden. Die wichtigsten Abgaben stellten jedoch die beiden Formen des Tributs dar, das tributum soli auf die Produkte des Bodens und das tributum capitis, die Kopfsteuer. Diese beruhten auf einem umfassenden Zensus, dessen ursprüngliche Auflage unter der Provinzbevölkerung Widerstand und öffentliche Unruhen auszulösen vermochte, wie es unter Augustus in Gallien geschehen war. Das Evangelium des Lukas bezieht sich auf den Zensus unter Quirinius, dem Statthalter von Syrien, als Judäa im Jahr 6 n. Chr. römische Provinz wurde. Dieser Zensus brachte die erste Wirksamkeit der Zeloten hervor, die das Volk aufforderten, sich der Zahlung an die fremde Macht zu widersetzen. Nur aus Ägypten (s. Kap. 10) haben wir Einzelheiten über die eigentlichen Zensuseinnahmen. Ulpian schreibt aber im 3. Jahrhundert: »In den Zensusbestimmungen ist festgelegt, daß der Grundbesitz für den Zensus in der folgenden Weise angezeigt werden soll: Name der einzelnen Höfe. Civitas und Dorf. Namen der beiden nächsten Nachbarn. Fläche des gepflügten Landes, das in den nächsten Jahren besät werden soll. Weingärten – Zahl der Rebstöcke. Olivenhaine – Fläche und Zahl der Bäume. Wiesen – Fläche, die in den nächsten zehn Jahren gemäht werden soll. Ungefähres Weideland. Ebenfalls Wälder zum Holzfällen.«17 Der Zensus schloß auch den Tierbestand ein, Häuser (eine von

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159 datierende Wachstafel aus Dakien enthält einen Kaufvertrag für ein halbes Haus mit der Auflage, daß der erste Besitzer bis zum nächsten Zensus den Tribut dafür zahlen sollte), Sklaven und womöglich Schiffe sowie die Zählung der freien Bevölkerung. Die Inschriften weisen Senatoren (manchmal die amtierenden Provinzstatthalter), ritterliche Beamte und später kaiserliche Freigelassene als Beauftragte aus, die mit der »Annahme des Zensus« der Provinzen oder kleineren Gebiete befaßt waren. Aber die Grundlagen des Zensus (für die, den Vierzehn-Jahres-Zyklus in Ägypten ausgenommen, keine regelmäßige Wiederholung nachgewiesen werden kann) scheinen nach und nach auf die Stadtbeamten übertragen worden zu sein. Aus Mesembria in Thrakien ist zum Beispiel ein Edikt der Beamten erhalten, die alle jene, die das Land bebauten, aufforderten, in die Stadt zu kommen und sich dort registrieren zu lassen. Gegen Ende der Periode war die Abnahme des Zensus bestimmt eine der regelmäßigen »Lasten«, die den örtlichen Beamten zufiel. Sie haben vermutlich dann die Berichte an die kaiserlichen Zensusbeamten weitergeleitet. Caligula konnte, als er 39 in Gallien weilte, die gallischen Zensuslisten einfordern und die reichsten Männer zur Hinrichtung und Konfiskation ihres Besitzes selbst auswählen. Daß die Städte nun die grundlegenden Zensusarbeiten auf sich nahmen, stand damit in Verbindung, daß sie jetzt, allgemein gesagt, für die Einziehung der festgesetzten Tributzahlungen und deren Entrichtung an die römischen Beamten verantwortlich waren. Das alte System mit Unternehmern (publicani), die ein Zehntel der Produkte als Sachtribute einzogen, begann schon in der späten Republik zu verschwinden und ist in der Kaiserzeit kaum mehr auszumachen. Eine Handvoll Inschriften scheint auf publicani hinzuweisen, die einen solchen Zehnten in den Getreidegegenden Africas und Siziliens einzogen. Anderswo gab es keine publicani mehr und zahlten die Städte ihren Tribut an die Provinzbeamten. Das tributum soli war, wie schon sein Name sagt, im wesentlichen eine Ertragssteuer. Die Aufgabe der Stadtbeamten bestand darin, in das Territorium der Stadt hinauszugehen und von den Dorfbewohnern den Tribut einzuziehen. Führende Juden taten das im Jahr 66, als sie sich Forderungen wegen rückständiger Tribute ausgesetzt sahen. Die Tributeintreibung wurde zu einer der regelmäßigen Lasten für die örtlichen Beamten (ein Privileg der Veteranen bestand darin, daß sie davon befreit waren). Da die Stadtbeamten weder angemessene Gewaltmittel noch angemessene gesetzliche Vollmachten besaßen, muß ihre Aufgabe oft schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen sein. Zu welchem Vorgehen sie gezwungen sein konnten, wird durch eine Verfügung des Kaisers Severus Alexander aus dem Jahr 231 illustriert, die einem Mann das Recht gab, gegen einen exactor von Tributen einen Prozeß anzustrengen, der eine seiner Sklavinnen ergriffen und verkauft hatte, um auf diese Weise die Zahlung durchzusetzen.

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In den griechischen Städten und in Ägypten brachte die Aufgabe der Tributeintreibung eine neue Klasse von Beamten hervor, die dekaprotoi (wörtlich »ersten zehn«). Mancherorts scheinen sie reguläre Beamte mit weiteren Funktionen gewesen zu sein, in der Hauptsache bestand ihre Aufgabe aber in der Einziehung und, was noch wichtiger war, in der Bürgschaft für die Tribute. Inschriften lassen erkennen, daß Personen unter 25 Jahren und sogar Frauen den Posten innehaben konnten; der Grund dafür ist, wie der Jurist Hermogenianus am Ende des 3. Jahrhunderts bestätigt, darin zu suchen, daß der Posten als Belastung auf das Besitztum der Einzelperson fiel. Während dieser Periode mußten sie auch für Steuerausfälle von Verstorbenen aufkommen. Daneben weisen einige Inschriften reiche Männer aus, die den Tribut für ihre Städte oder sogar für ganze Provinzen zahlten. Das läßt sich besonders beim tributum capitis beobachten, das von allen Freien gezahlt wurde; in Syrien zahlten die Frauen von dem 12., die Männer von dem 14. bis zu ihrem 65. Lebensjahr ein Prozent ihres Vermögenswertes (Einzelheiten für andere Gebiete sind nicht bekannt). Ein gewisser P. Popillius Python zahlte so zum Beispiel das gesamte tributum capitis für Makedonien, als er Hoherpriester der Provinz war; ein anderer hinterließ eine Geldsumme, mit deren Zinsen die jährliche Kopfsteuer von Tenos bezahlt werden sollte. Die Tributeintreibung und die Haftung in barem Geld wurden somit zu einer bedeutenden Belastung für die führenden Männer in den Städten, die Aurelian (270–275) noch vergrößerte, als er anordnete, die Stadträte müßten entweder Pächter für aufgegebene Ländereien finden oder für die betreffenden Tribute selbst aufkommen. In der Inflation des 3. Jahrhunderts muß der feste Tribut aber weitgehend an Wert verloren haben. Aus unseren Quellen läßt sich das Schicksal der Tribute in dieser Periode nicht ablesen. Es ist aber bekannt, daß sie als Gold- und Silberquelle für den Staat durch das sogenannte aurum coronarium (Krongold) ersetzt wurden, das sich zu einer regulären Steuer entwickelte. In den Reformen Diokletians verschwinden die Tribute als Art der Besteuerung der Reichtümer des Landes, um durch ein neues System ersetzt zu werden, das seinen Ursprung (wie es scheint) den unregelmäßigen Sachabgaben unserer Periode verdankte. Untertane Gemeinden machten Herrschern und Eroberern üblicherweise das aurum coronarium, Goldkronen, zum Geschenk. Republikanische Generäle hatten solche Geschenke erhalten; in der Kaiserzeit wurden sie aber zum alleinigen Privileg der Kaiser und zunächst anläßlich der Thronbesteigungen, der Siege und anderer Gelegenheiten überbracht und später sogar angefordert.18 Nach der Eroberung Britanniens unter Claudius wurden von der Tarraconensis im Jahr 43 Kronen in einem Gesamtgewicht von 7000 Pfund, von den gallischen Provinzen solche von 9000 Pfund dargebracht; auf einem Papyrus ist der Brief erhalten, den Claudius bei gleicher Gelegenheit an eine griechische Gemeinschaft von Athleten als Antwort auf ihre Delegation schrieb, die eine Goldkrone überbracht hatte. Einige Kaiser erließen – oft nur für Italien – das aurum coronarium, um damit ihre

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Gunst zu erzeigen. Ein anderer Papyrus enthält das etwas weitschweifige Edikt Severus Alexanders (222–235), in dem er verkündete, daß er allen Städten des Reiches die Summen erlasse, die ihm im Hinblick auf die Goldkronen geschuldet wurden. Aus ägyptischen Papyri ist zu ersehen, daß es am Ende des 2. Jahrhunderts eine reguläre Kronsteuer gab, die durch spezielle Bewilligungen von Goldkronen bei außergewöhnlichen Anlässen ergänzt wurde. Aus der Regierungszeit Aurelians wissen wir, daß der Stadtrat von Oxyrhynchus die Fertigung einer solchen Goldkrone für den Kaiser durch Handwerker erörterte. In der Geschichte des babylonischen Talmuds über die Erhebung der Steuer in Tiberias um 200 n. Chr. ist uns jedoch das lebendigste Bild des aurum coronarium erhalten. Das Volk forderte, daß die Rabbis einen Teil zahlten. Diese lehnten das ab. Darauf floh die Hälfte der Bevölkerung, und die Hälfte der Steuer wurde erlassen. Dann forderte das Volk wieder dazu auf und erhielt wiederum eine abschlägige Antwort. Jetzt flohen alle bis auf einen Walker. Man verlangte das Geld von ihm. Er floh, und man gab die Forderung nach dem Krongeld ganz auf.19 Das aurum coronarium existierte als Steuer bis ins 4. Jahrhundert. Die Besteuerung des 4. Jahrhunderts wurzelte in ihren wichtigsten Teilen aber in drei verschiedenen, eng miteinander verbundenen Arten der Abgabe, die der Staat in der frühen Kaiserzeit praktizierte. Die erste, die auf die Republik zurückging, bestand in der Praxis gewaltsamer Beschlagnahmungen von Getreide und anderen Vorräten für den Bedarf der Armee oder der Beamten zu einem von den Beamten festgesetzten Preis. Dieses System konnte sehr leicht Anlaß zu Mißbrauch geben. In den siebziger Jahren wurde von der Bevölkerung in Britannien Getreide requiriert. Wenn sie es nicht beschaffen konnte, mußte sie das schon in den Militärspeichern vorhandene Getreide aufkaufen und mit Verlust wieder verkaufen; umgekehrt wurde sie angewiesen, Getreide nicht an die nahegelegenen Lager, sondern an entferntere abzuliefern, und sie wurde so darauf vorbereitet, in bar zu zahlen.20 Plinius führt in seinem im Jahr 100 auf Trajan gehaltenen Panegyricus aus, daß die Provinzen jetzt (im Gegensatz zu den Verhältnissen unter Domitian) nicht mehr mit neuen Requisitionen (indictiones) bedrückt wurden, ehe sie den Tribut bezahlt hatten, und daß der Staat bezahlte, wozu er nach der Theorie verpflichtet war. Das System wurde natürlich nicht immer mißbraucht: Papyri bewahren zum Beispiel die von einem Stabssoldaten (duplicarius) einer Auxiliareinheit in Ägypten in den Jahren 185–186 aufgezeichneten Quittungen für Getreide, das von örtlichen Beamten abgeliefert worden war, und deren Quittungen für die erhaltenen Geldzahlungen. Aber seit dem Ende des 2. Jahrhunderts scheint festzustehen, daß die Lieferungen (annona) für die Armee in Ägypten in Form eines Steuerzuschlages in Naturalien (einschließlich Wein und Essig und Getreide) beschafft wurden, die örtliche Beamte ohne Bezahlung einzogen. Für die anderen Teile des Reiches im 3. Jahrhundert müssen wir uns auf Belege in Gesetzesquellen für indictiones oder

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intributiones stützen. Das waren gelegentliche Requisitionen (im Gegensatz zu dem regelmäßigen Tribut) bei Grundbesitzern, die offenbar nicht bezahlt wurden. Dann gab es die von Augustus eingerichtete kaiserliche Post (cursus publicus), einen Poststationendienst mit Fahrzeugen, die Boten (wahrscheinlich immer Soldaten) und in Staatsdiensten reisende Personen schnell und ohne Bezahlung, im Reich befördern konnten. An einigen Orten sind die Poststationen vielleicht vom Staat versorgt worden, wie im Fall der Straße, die Hadrian durch die Wüste von Antinoopolis am Nil nach Berenike am Roten Meer bauen und mit stationes und Forts ausstatten ließ. Grundsätzlich war aber auch dies eine Aufgabe, die den Magistraten der Städte aufgebürdet wurde. Theoretisch war die Inanspruchnahme des Postdienstes nur den mit diplomata (Ausweisen) ausgerüsteten Personen gestattet, die der Kaiser persönlich ausgab. Plinius schrieb im Jahr 110 aus Bithynien an Trajan, um festzustellen, ob abgelaufene diplomata weiter benutzt werden könnten. Trajan antwortete: »Abgelaufene diplomata sollten nicht benutzt werden. Darum unterziehe ich mich der wichtigen Verpflichtung, in die Provinzen neue diplomata abzusenden, bevor sie gebraucht werden.« Es erübrigt sich, davon zu sprechen, daß einzelne Quellen auf Personen hinweisen, die den Postdienst ohne diplomata benutzten, die diplomata fälschten oder als Privatleute diplomata erhielten. Ein einfacher assessor des Statthalters von Palästina konnte um 230, wie wir später sehen werden, seine beiden Schwäger abfertigen lassen, die ihn auf dem cursus auf der ganzen Strecke von Pontus in Nordkleinasien begleiteten. Plinius gab seiner Frau diplomata, als sie beim Tod ihres Großvaters nach Rom zurückkehrte, und es wurde ihm von Trajan verziehen, daß er das getan hatte. Was den cursus betrifft, ist die Hauptschwierigkeit die, daß wir nicht wissen, ob dieser Begriff nur eine Organisation bezeichnete, die nur für bestimmte Hauptstraßen bestand – im Gegensatz zu der allgemeinen Praxis der Dienstforderungen durchreisender Truppen und Beamter. Wenn es vielleicht auch in der frühen Kaiserzeit ein festes Verbindungsnetz für den cursus gab, so können wir davon doch keine Karte anfertigen. Daß es an einigen Orten einen regelmäßigen Postdienst gab, wissen wir am besten aus einer vor zehn Jahren veröffentlichten Inschrift aus Phrygien, die sich auf einen Streit bezieht, der sich über die ersten vierzig Jahre des 3. Jahrhunderts erstreckte und zwischen zwei Dörfern wegen deren Verpflichtung zur Beschaffung von Fahrzeugen und Zugtieren für den cursus ausgetragen wurde (sie hatten das Pech, in der Nähe einer wichtigen Straßenkreuzung zu liegen).21 Zunächst wird von einem Verhör berichtet, wahrscheinlich aus dem Jahr 208, in dem ein Prokurator, wahrscheinlich ein kaiserlicher Freigelassener, die Aussagen der Repräsentanten der beiden Dörfer anhörte (alle Parteien sprachen griechisch, aber das Protokoll wurde in Lateinisch angefertigt), diese prüfte und sein Urteil so fällte, daß jedes Dorf für die Beschaffung einer Hälfte der Transportmittel entlang der betreffenden Straßenstrecke aufkommen sollte. Seiner Entscheidung werde von

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einem optio (Unteroffizier) Geltung verschafft werden. Wir besitzen dann die Briefe des optio an die jeweiligen Dorfältesten, in denen er zur Einhaltung der Auflagen aufforderte. Ein zweiter Prokurator befahl 213, daß die Streitigkeiten wegen dieser Frage aufhören sollten, und gewährte einem der beiden Dörfer die Bitte, einen stationarius (Soldaten mit Polizeibefugnis) dort zu stationieren. Im Jahr 237 forderte schließlich ein dritter Prokurator zur Befolgung der Order auf. Kein Text illustriert mit größerer Klarheit das administrative Vorgehen der Zeit, die Rolle der kaiserlichen Prokuratoren (diese hier sind vielleicht diejenigen eines kaiserlichen Gutes), die Einsetzung von Soldaten, den Druck der Staatsnotwendigkeiten auf die Bevölkerung – und die Möglichkeit der Bevölkerung, Widerstand zu leisten. Neben dem cursus gab es weitere ständige Belastungen durch die Beschaffung von Vorräten für Reisende in Staatsdiensten, die ihren Höhepunkt erreichten, wenn eine Armee oder der Kaiser und sein Hof durchzogen. Aus ägyptischen Papyri wissen wir von Requisitionen für die Besuche des Germanicus im Jahr 19, Hadrians im Jahr 130, des Severus in den Jahren 199–200 und Caracallas in den Jahren 215–216. Inschriften aus griechischen Städten ehren Männer, die die Verproviantierung von Armeen oder des Hofes auf sich genommen hatten. Im frühen 3. Jahrhundert diskutiert der Rechtsgelehrte Ulpian den Fall eines Pächters, der beim Anmarsch einer Armee geflohen war und bei seiner Rückkehr feststellen mußte, daß die dort einquartierten Soldaten die Fenster und alles andere abmontiert hatten. Ähnliche Schwierigkeiten entstanden auch aus den Reisen einzelner Soldaten und Boten, die sich nicht nur in dem Matthäus-Evangelium widerspiegeln, sondern zum Beispiel auch in der von Epictetus um 108 gemachten Bemerkung: »Wenn eine Transportrequisition (angareia) stattfindet und ein Soldat deinen Esel ergreift, leiste keinen Widerstand und murre nicht; denn sonst bekommst du Schläge und verlierst doch deinen Esel.«22 Eine Reihe von Dokumenten aus Thrakien und Kleinasien aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts enthalten Beschwerden über Erpressungen vorbeiziehender Soldaten, officiales und kaiserlicher Sklaven und Freigelassener. Diese Periode scheint die Entwicklung einiger stationes entlang den Hauptstraßen erlebt zu haben. Der zeitgenössische Historiker Cassius Dio klagt, daß Caracalla (211–217) für sich Halteplätze auch an Straßen bauen ließ, auf denen er niemals zu reisen beabsichtigte. Eine Inschrift aus Thrakien (Näheres in Kap. 12) zeigt, wie im Jahr 202 eine statio in ein sogenanntes emporion mit einer Garnison und einer Einwohnerschaft verwandelt wurde, die aus dem umliegenden Bezirk abgezogen wurde. Betrachtet man das zusammen mit dem Auftauchen der annona als einer Steuer in Ägypten und den Gesetzesbelegen für indictiones oder intributiones als ständigen Belastungen anderswo im 3. Jahrhundert, so zeigt diese Erscheinung vielleicht den Ursprung des Steuersystems unter Diokletian an. Diokletian richtete einen Zensus auf einer neuen Grundlage ein, nahm regelmäßig (fünfjährlich, später fünfzehnjährlich) indictiones (Steuerveranlagungen) vor und machte die Lieferung von

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Sachabgaben (annona) zur Grundform der Besteuerung. Die Vorräte wurden an die stationes an den Hauptstraßen abgeliefert und wurden von vorüberziehenden Truppen oder Beamten verbraucht oder von den schweren Wagen des cursus publicus zu den Armeen gebracht. Die Tendenz, bei der Sicherstellung der staatlichen Bedürfnisse die Lasten auf die Städte abzuschieben, läßt sich auch bei der Rekrutierung für die Armee beobachten. Zu allen Zeiten scheint es freiwillige Rekrutierung in großem Umfang gegeben zu haben; die Verpflichtung zum Militärdienst verschwand aber niemals, und von Zeit zu Zeit fanden in Italien und den Provinzen Zwangsaushebungen statt. In Trajans Antwort auf einen Brief des Plinius aus Bithynien über zwei Rekruten (tirones), von denen sich herausstellte, daß sie Sklaven waren und darum nach dem Gesetz vom Heeresdienst ausgeschlossen waren, erscheinen ganz klar die drei Methoden der Rekrutierung: »Es besteht ein Unterschied, ob sie sich als Freiwillige anboten, ausgehoben oder als Ersatzmänner (vicarii) eingesetzt wurden.« Der Ursprung des Prozesses, durch den das Angebot von vicarii zu einem System wurde, nach dem die Städte zur Stellung einer gewissen Zahl von Rekruten, falls nötig, gezwungen waren, bleibt im dunkeln. Aber selbst im 2. Jahrhundert wird gesagt, daß eine Stadt einen Landbezirk als Teil ihres Territoriums beanspruchen durfte, aus dem sie Rekruten entnehmen konnte, während die »Produktion von tirones« im 3. Jahrhundert eine regelmäßige örtliche Verpflichtung war. Wir haben auch von einem Dorf in Asia aus dem 3. Jahrhundert Kunde, daß es eine Geldsumme »für die Rekrutensteuer« verwandte.23 Das sind offenbar die Vorstufen des Systems aus dem 4. Jahrhundert, in dem die Städte die Verpflichtung hatten, entweder jährlich eine Zahl von Rekruten oder, in einigen Gebieten, an ihrer Stelle Geld- das »Rekrutengold« (aurum tironicum) – zu liefern. Die breite Skala der von den Städten übernommenen Aufgaben wurde von den Magistraten und Stadträten mit ihren ungenügenden Hilfen und Diensten oder von anderen Einzelpersonen ausgeführt, denen örtliche munera (Verpflichtungen) auferlegt waren. Da die Aufgaben für den Staat äußerst wichtig, für die, die sie erfüllen mußten, aber äußerst beschwerlich waren, wurde in wachsendem Maß das Augenmerk darauf gerichtet (was sich in den juristischen Werken des 2. und frühen 3. Jahrhunderts spiegelt, die in vielen Einzelheiten den Status und den Beruf erörtern, die Freistellung von solchen Aufgaben mit sich brachten), wer für die Ämter und munera in Frage kam, da doch allgemein die Bereitschaft zur Übernahme derselben abnahm. Bis zum 3. Jahrhundert hatte sich die Methode der örtlichen Stellenbesetzung gewandelt; an die Stelle der Wahl durch das Volk trat die Ernennung durch die Ratsversammlung und sogar die Nominierung durch andere auf eigene Gefahr. Ein Mitglied der Ratsversammlung oder ein ehemaliger Träger des betreffenden Amtes pflegte dann im allgemeinen einen anderen zu nominieren, wodurch er aber sein Bürge wurde und für Fehlbeträge aufkommen mußte, wenn sich der andere unfähig erwies, die Kosten seines Postens zu tragen. Während des ganzen

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3. Jahrhunderts (und nur dann) war einer nominierten Person ein Ausweichen möglich, wenn sie zwei Drittel ihres Besitzes dem, der sie ernannte, abtrat. Jener mußte die Aufgabe dann selbst übernehmen. Die Provinzstatthalter, die selbst Personen zur Ernennung durch die Ratsversammlungen angeben konnten, beobachteten diese Vorgänge genau, wurden in Streitfällen angerufen und nahmen oft an Versammlungen des Stadtrates teil, in denen die Ämter vergeben wurden. Der Druck der Umstände hatte mit anderen Worten bis zu einem gewissen Grad die führenden Männer der Städte in zurückhaltende Diener des Staates verwandelt. Die Furcht vor öffentlichen Ämtern spiegelt sich sogar im Talmud in der Aussage eines palästinensischen Rabbi am Ende des 3. Jahrhunderts: »Wenn sie dich für die boulē nominiert haben, laß den Jordan deine Grenze sein.« Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß der Druck des Staates auf die Bevölkerung in der hier behandelten Epoche und besonders an deren Ende zunahm. Neben diesen wirtschaftlichen und persönlichen Diensten verlangte der Staat von seinen einzelnen Untertanen auch einen persönlichen Ausdruck der Loyalität. Die Einrichtungen der Kaiserverehrung waren denn auch kommunaler Art und wurden von den Städten und Provinzen begründet. Nur in Gallien und Britannien (die Altäre in Lugdunum, Ara Ubii – später Köln – und der Tempel des Claudius in Camulodunum) ging die Initiative zu ihrer Begründung von Rom aus. Sie schlossen Riten und Zeremonien ein, die die führenden Männer ausführten; es weist aber nichts darauf hin, daß man von allen Bewohnern die Teilnahme verlangte. Die uns bekannten Loyalitätseide (aus den Jahren 3 v. Chr., 14 n. Chr. und die beiden aus dem Jahr 37 n. Chr.), bei denen die Götter und (im Jahr 3 v. Chr.) Augustus beschworen wurden (später »der vergottete Augustus«), scheinen jedoch einzeln vorgenommen worden zu sein. Wir wissen aber nicht, ob sie nach 37 weiter abgelegt wurden. Die städtischen Magistrate legten unter Anrufung des Jupiter, des vergotteten Kaisers und des »Genius« des herrschenden Kaisers einen Eid ab, und eine große Zahl von Rechtsverfahren brachte Eide unter Anrufung des Kaisers, seines »Genius« oder seiner »Fortuna« mit sich. Damit waren die Voraussetzungen für einen möglichen direkten Konflikt zwischen dem Staat und den Christen gegeben. Wenn es auch zum Konflikt kam, so lagen seine Gründe doch tiefer, nämlich darin, daß die Bevölkerung den Christen deren Ablehnung des gesamten Komplexes von Göttern, Tempeln, Kulten und traditionellen Ritualen übelnahm, die in allen Gebieten des kommunalen Lebens der Antike verwurzelt waren.24 Mit ähnlichen Ressentiments trug man sich gegen die Juden, obgleich man ihre Religionspraxis als die eines seit langem bestehenden kommunalen Glaubens offiziell akzeptierte (nur unter Hadrian finden wir ein Verbot jüdischer Sitten wie der Beschneidung). Das Ressentiment bestand aber weiter, und die zum Beispiel von einem alexandrinischen Grammatiker, Apion, vertretene Haltung – »Warum beanspruchen die Juden, Bürger von Alexandria zu sein, wenn sie nicht den

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gleichen Göttern huldigen wollen wie wir?« – trug in dem Vorgang des Jahres 70 n. Chr. in Antiochia ihre Früchte, als die von einem hellenisierten Juden geführte Bevölkerung die jüdische Gemeinde mit Gewalt zu zwingen suchte, »in der Art der Griechen« zu opfern. Das Christentum kam mit römischen Beamten erstmals in der Person Christi und des Paulus in Berührung, die Konflikte und mögliche Unruhen zwischen den jüdischen Gemeinden und ihren Anhängern provozierten. Das Christentum übte aber schon seine Wirkung auf die heidnische Welt aus. Die Silberschmiede in Ephesus, die gegen Paulus rebellierten, hatten mehr Anlaß zur Furcht, als sie ahnten. Der Bericht des Tacitus verdeutlicht, daß es der Haß des Volkes Nero gestattete, die Christen in Rom als die Prügelknaben für den großen Brand im Jahr 64 zu benutzen. Dieser Vorgang wurde in den Provinzen zu der Zeit jedoch nicht nachgeahmt. Ihm folgte kein allgemeines Gesetz gegen die Christen. Als Plinius der Jüngere 110 in Pontus des Christentums angeklagte Personen vorfand, schrieb er an Trajan, um zu erfragen, ob der Name der »Christen« selbst oder aber die mit dem Glauben angeblich verbundenen Verbrechen Bestrafung verdienten. Bedeutsam ist, daß das von Plinius gewählte Vorgehen, das auch bei späteren Verfolgungen Anwendung fand (wie der christliche Apologetiker Tertullian herausstellen sollte), kein ordentliches Kriminalverfahren war. Die Angeklagten wurden statt dessen aufgefordert, ihr Christ-Sein zu verleugnen, die Götter anzurufen, vor einem Bild des Kaisers zu opfern und Christus zu verfluchen. Wer nachgab, wurde freigelassen (es sei denn, er wäre römischer Bürger), ohne daß eine ernstliche Überprüfung seiner früheren Praktiken eingeleitet worden wäre. Das Vorgehen war mit anderen Worten ein Versuch, die Christen in den Rahmen der heidnischen Gesellschaft zwangsweise wiedereinzufügen. Nur bei den Christenverfolgungen in Lyon im Jahr 177 (s. Kap. 8), die mit Volksunruhen und nachfolgenden Denunziationen bei den Behörden begannen, wurden durch Folterung von Sklaven Beweise für obszöne Riten und widernatürlichen Geschlechtsverkehr gesammelt, die als Grundlage zur Bestrafung selbst derjenigen benutzt wurden, die ihrem Christentum abschworen. Aber trotz des allgemeinen Hasses auf das Christentum, der von Tacitus, Fronto und Marcus Aurelius gleichermaßen geteilt wurde, hielten die Behörden an ihrer relativ passiven Rolle fest und versuchten, oft durch öffentliche Folterung vor großen Menschenmengen, Widerrufungen von den Angeklagten zu erlangen. Das erste allgemein gültige Edikt erschien im Jahr 202, als Septimius Severus den Übertritt zum Christentum (und Judentum) verbot; eine weitverbreitete Verfolgung begann. Dann gab Maximinus (235 bis 238) den Anstoß zu einer Verfolgung, die sich aber nur gegen die Kirchenführer richtete. Die erste große allgemeine Christenverfolgung geschah unter der Herrschaft des Decius (249–251); zumindest in Alexandria waren ihr ein Jahr zuvor gewaltsame Volksunruhen gegen die Christen vorausgegangen. Die Verfolgung führender Kirchenmänner war von dem Befehl für alle Bewohner des Reiches, den Göttern

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zu opfern, Trankopfer auszugießen und von dem Opferfleisch zu essen, begleitet. Ägyptische Papyri (vgl. Kap. 10) bewahren den Text einiger Zeugnisse, die denjenigen ausgestellt wurden, die erklärt hatten, daß sie immer den Göttern geopfert und, wie von Zeugen bescheinigt, die notwendigen Rituale befolgt hätten. Viele Christen unterwarfen sich und verursachten damit eine schwere Krise in der Geschichte der Kirche; alle diejenigen, die die Unterwerfung ablehnten, wurden hingerichtet. Die Ausbreitung des Christentums und die von ihm in der heidnischen Gesellschaft verursachten starken Spannungen mußten unvermeidlich Maßnahmen von seiten des Staates auslösen. Es war jedoch kein Zufall, daß sporadische örtliche Verfolgungen, die von der Bevölkerung ausgingen, im 3. Jahrhundert von dem universalen Befehl ersetzt wurden, wenigstens durch einen symbolischen Akt zur Verehrung der alten Götter zurückzukehren. Der verzweifelte militärische Kampf um die Mitte des 3. Jahrhunderts brachte den Versuch hervor, die Einheit der Gesellschaft unter den traditionellen Riten wiederherzustellen, und beschleunigte das ständige Anwachsen der Aufgaben des Staates und den Druck auf die Bevölkerung. 6. Die Armee und die Grenzen Das Zeitalter des Augustus war die letzte große Epoche römischer Eroberungen. Als er starb, hinterließ er Tiberius den Rat, die Grenzen des Reiches nicht weiter auszudehnen. Danach gab es nur zwei größere Kriege, die zu dauerhaften Erwerbungen führten, zu der Britanniens im Jahr 43 und der Dakiens in den Jahren 105–106. Die Eroberungen Trajans in Mesopotamien hinunter bis zum Persischen Golf im Krieg von 113–117 zerrannen schon vor seinem Tod wieder und wurden sofort danach in aller Form aufgegeben. Die Partherkriege des Mitkaisers des Marcus Aurelius, Lucius Verus, von 161–165 und des Septimius Severus von 195–198 brachten jedoch die neue Provinz Mesopotamien hinzu und weiteten die römische Macht bis zum Tigris aus. Aber selbst die verhältnismäßig friedliche Periode bis in die zwanziger Jahre des 3. Jahrhunderts war von ständigen Veränderungen und Entwicklungen in der Disposition und den Funktionen der Armee und der Beschaffenheit der Grenzen erfüllt. Man kann nur schwerlich behaupten, daß zu Beginn der Epoche erkennbare Grenzen existierten. Im Westen standen noch drei Legionen im Inneren Spaniens, das erst in den Jahren 26–19 v- Chr. endgültig erobert wurde. Am Rhein standen einzelne Legionslager verstreut, jenseits des Flusses waren jedoch noch keine Kastelle errichtet. Das Land zwischen den Oberläufen von Rhein und Donau war noch nicht besetzt, während das erste Legionslager an der Donau selbst – Carnuntum in Pannonien – erst um 15 n. Chr. entstand. An der unteren Donau übten die Römer in der Nachbarschaft des Schwarzen Meeres in den ersten Jahren des Tiberius nur zeitweise die Kontrolle aus. Die wichtigste Entwicklung der Epoche in diesem Gebiet besteht in einem Vorschieben von Kastellen und Verbindungslinien vom oberen Rhein und der Donau und in der

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anschließenden Anlage einer befestigten Linie mit Kastellen, Aussichtsposten, einer Palisade oder einem Steinwall und einem Graben – mit anderen Worten in der Schaffung einer festen sichtbaren Grenze. Hier, wie bei ähnlichen Anlagen in Britannien – dem Hadrianswall und dem Antoninenwall –, hängt die Militärgeschichte im wesentlichen von der Archäologie ab. Besonders seit dem Zweiten Weltkrieg sind die »Grenzstudien« zu einem selbständigen Zweig der Geschichtswissenschaft geworden, die sich nicht nur mit der physikalischen Struktur der Grenzen beschäftigen, sondern auch mit der Geschichte und Verteilung der dort dienenden Militäreinheiten, der Sozialentwicklung der hinter den Grenzen entstandenen Gemeinden und den Vorkehrungen, die zur Kontrolle der jenseits der Grenzen lebenden Barbaren getroffen waren. An der unteren Donau und in Dakien ist viel weniger von den Grenzanlagen bekannt. Luftaufnahmen haben in Africa aber ein verwickeltes System von Straßen, Kastellen und Siedlungen enthüllt, die mit dem »Fossatum« in Verbindung stehen, einem Graben und einer befestigten Linie, die sich durch die Wüste Südalgeriens erstrecken.1 Die Sozialentwicklung des römischen Africa, d.h. im wesentlichen die Ausdehnung der Siedlungskultur, hing, wie wir in Kap. 9 sehen werden, in der Hauptsache von dem stetigen Vordringen der Legion III Augusta nach Südwesten, ihren Straßenbauten und ihrer Einkreisung von Gebirgsregionen ab. Das Datum (oder die Daten) für den Bau des »Fossatum« sind jedoch noch unbekannt und bedürfen archäologischer Forschungen an Ort und Stelle. Weiter im Osten, in Tripolitanien, wurden in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts die drei entferntesten römischen Kastelle gebaut. Dieses Gebiet gibt dem Forscher eine heilsame Warnung. In Verbindung mit diesen guterhaltenen römischen Kastellen in der Wüste stehen in weitem Umkreis die Überreste von Bauernhäusern, die offenbar befestigt waren. Früher glaubte man, daß es sich hierbei um Siedlungen von limitanei handele (die in Wirklichkeit erst seit dem frühen 5. Jahrhundert sicher belegt sind) – sogenannten »Soldaten-Bauern«, die vom Staat auf Grundstücken im Grenzgebiet angesiedelt wurden mit der Verpflichtung, zu ihrer Verteidigung zu kämpfen. Nähere Nachforschungen haben aber ergeben, daß dieses Gebiet, das jetzt Wüste ist, im wesentlichen von einem wohlhabenden punischsprechenden Bauernvolk besiedelt wurde, noch ehe die römischen Kastelle entstanden.2 Die Schimäre der »Soldaten-Bauern« hat die Erforschung der römischen Grenzen in Verwirrung gebracht; sie haben in Wahrheit keinen Platz in dieser Periode.

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� Abb. 3: Das römische Reich im Jahr 14 n. Chr.

� Abb. 4: Das römische Reich im Jahr 214 n. Chr. Im Osten stand Rom bis in die zwanziger Jahre des 3. Jahrhunderts der sinkenden und im ganzen bewegungslosen Macht Parthiens gegenüber. Die

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beiden Mächte stritten um die Vorherrschaft in Armenien und lagen etwa jedes halbe Jahrhundert miteinander im Krieg. Wichtig war die stetige Absorption der hellenisierten Klientel-Königreiche: Kappadokien im Jahr 17, Gesamt-Judäa endgültig im Jahr 44, Kommagene im Jahr 72 und Nabatäa im Jahr 106. Der reiche Stadtstaat Palmyra wurde im 2. Jahrhundert ganz absorbiert, ebenso wie das Königreich Osroene mit seiner Hauptstadt Edessa, die Caracalla (211–217) zur römischen colonia machte. Zu Beginn der Periode waren alle vier Legionen des Ostens im Inneren Syriens stationiert. So etwas wie eine Grenze entstand, als Vespasian zwei Legionen unter einem konsularischen Statthalter nach Kappadokien verlegte und eine weitere Legion bei Jerusalem aufstellte. Der Absorption Nabatäas im Jahr 106 folgten die Stationierung einer Legion in Bostra und der Bau einer Straße von Damaskus durch Transjordanien nach Eilat am Roten Meer. Um 160 wurde diese Grenze weiter den Euphrat hinunter ausgedehnt und um 200 bis zum Tigris. Hier stützte sich die Verteidigung, im Unterschied zu anderswo, vornehmlich auf befestigte Städte: Nisibis, Singara und später Hatra.3 Aber auch hier haben Luftaufnahmen ein dichtes Netz römischer Kastelle in der syrischen Wüste und in Mesopotamien erkennen lassen; wiederum kann über die Entwicklung des Systems nichts Sicheres gesagt werden, ehe nicht ausgedehnte Grabungen näheren Aufschluß geben.4 Die breiten Entwicklungslinien der römischen Grenzregelung sind damit sichtbar geworden. In den ersten beiden Jahrhunderten der Periode verlagert sich das Gewicht von Legionen, die (zumindest im Prinzip) zum Angriff gruppiert sind, auf Legionen und Hilfstruppen, die in ständigen befestigten Positionen entlang den tatsächlichen Grenzen verteilt sind. Man hat oft auf die Schwächen dieses Systems hingewiesen. Es diente vor allem der Verhinderung kleinerer Raubzüge und unerlaubter Grenzübertritte, reichte aber nicht dazu aus, mit größeren Durchbrüchen an einzelnen Punkten fertig zu werden. Bis zum frühen 3. Jahrhundert waren keine Legionen an strategisch günstigen Stellen hinter den Grenzen stationiert. Eine ganz neue Phase der römischen Militärgeschichte begann in den zwanziger Jahren des 3. Jahrhunderts mit dem Sturz der Parther durch die neue persische Dynastie der Sassaniden, die bald in Mesopotamien und Syrien einfielen. Etwa zehn Jahre später setzte die Reihe barbarischer Angriffe an der Rhein- und Donaugrenze in voller Wucht ein, die bis zum Ende der Epoche weitergehen sollte. So entscheidend die Periode war, lassen sich über den Verlauf der Feldzüge – und noch mehr über die Strukturentwicklung der Armee – nur in groben Zügen Aussagen machen, und manchmal nicht einmal das. Dieses Kapitel wird sich im folgenden mit der Grenzentwicklung bis zum frühen 3. Jahrhundert in den am besten bekannten Teilen des Reiches befassen – in Britannien, am Rhein, an der Donau und im Osten – und wird dann die innere Struktur der Legionen und Auxiliareinheiten, ihre Rekrutierung und Dienstbedingungen, das Leben der Soldaten, die Entlassung und so weiter behandeln. Diese Einzelheiten sind nicht nur von militärischer Bedeutung. Die

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gut belegte Sozialgeschichte der Armee ist allein schon von Interesse. Aus Gründen, die im ersten Kapitel genannt wurden, stellte die Armee einen bedeutsamen Faktor im Rahmen der Sozialgeschichte der Kaiserzeit dar. Schließlich wird etwas über die wichtigen militärischen Entwicklungsvorgänge in dem kritischen halben Jahrhundert zwischen 230 und 284 gesagt werden. Die Einzelheiten dazu gehören aber zur Geschichte der einzelnen Gebiete, da die Invasionen die Sozialgeschichte der Provinzen fundamental berührten. Der Invasion Britanniens im Jahr 43 mit drei Legionen vom Rhein und einer von der Donau folgte die schnelle Unterwerfung Süd- und Mittelenglands (die nur von dem Aufstand der Boudicca in den Jahren 60–61 ernstlich unterbrochen wurde). In Wales, Nordengland und Schottland war das anders. Das Klientel-Königreich der Brigantes in Nordengland, das sich zuletzt vielleicht auf die riesige Fliehburg von Stanwick in Yorkshire stützte, die eine Fläche von 600 Morgen bedeckte, bestand bis 69, als innere Unstimmigkeiten die Königin Cartimandua zwangen, die Hilfe römischer Auxiliartruppen zu suchen. Die Brigantes wurden schließlich im Jahr 71 unterworfen. Damit ging die Möglichkeit verloren, sie als Pufferstaat zur Vermeidung weiterer Kämpfe im Norden zu benutzen.5 Im Westen waren Legionslager am Severn errichtet und in den vierziger und fünfziger Jahren Angriffe gegen die Bergstämme geführt worden, die Spuren von mindestens einem Kastell aus der Claudischen Periode hinterließen und mit der Einnahme des druidischen Zentralheiligtums auf der Insel Anglesey in den Jahren 60–61 ihren Höhepunkt fanden. Die endgültige Eroberung der walisischen Halbinsel folgte 74–78, als eine Legion in Südwales in Caerleon und eine zweite in Chester in Nordwestengland nahe der walisischen Grenze stationiert wurden. In Wales selbst haben archäologische Arbeiten eine Reihe von Auxiliar-Kastellen an Flußmündungen oder strategischen Punkten in den Bergtälern ausgewiesen, die mit Straßen verbunden waren. Die spätere Geschichte dieser Kastelle ist umstritten; die verbreitete Ansicht, daß viele von ihnen im 2. Jahrhundert (als nicht mehr notwendig) aufgegeben wurden, ist vielleicht unzutreffend.6 Es gibt auf jeden Fall Spuren der Zerstörung am Ende des 1. Jahrhunderts und wieder ein Jahrhundert später. Abgesehen von der militärischen Besetzung machte die Romanisierung in Wales keine echten Fortschritte. Im Norden brachten die Feldzüge des Schwiegervaters des Tacitus, Agricola, in den Jahren 78–84 ein Netz römischer Kastelle bis zum Rande des Hochlands. Hier haben jüngste Ausgrabungen den gesamten Grundriß eines Legionskastells enthüllt, das am Nordufer des Tay, am Torweg zum Hochland, nicht vor 83 gebaut und um 90 systematisch abgerissen wurde. Das von einem Steinwall umgebene Lager war sicherlich als Dauerstellung gedacht, wurde aber niemals fertiggestellt. Die Tore waren noch aus Holz, nicht aus Stein, das Haus des legatus der Legion wurde nie gebaut, und die Schürlöcher der Badehäuser wurden niemals beheizt. Als das Lager abgebrochen wurde und die Balken offenbar zu den weiter südlich gelegenen Basen verschifft wurden, vergruben

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die Soldaten sorgfältig eine dreiviertel Million Nägel aller Größen, die bis vor wenigen Jahren unentdeckt blieben. Das weist ganz deutlich auf eine Änderung des Planes hin, die ohne Zweifel mit dem Abzug einer der vier britischen Legionen in den achtziger Jahren zusammenhängt. Den Mittelpunkt der nördlichen Verteidigung bildete jetzt das Kastell von Newstead im Tiefland, das mit Hilfstruppen und Legionsabteilungen besetzt war. Um 100 wurden dieses und alle anderen Tieflandkastelle offenbar durch Feindeinwirkung niedergebrannt. Danach bleibt das Bild bis zum Bau des Hadrianswalles im dunkeln (obgleich durch das Verschwinden der neunten Legion aus York bis 122 eine weitere Niederlage wahrscheinlich scheint).7 Bald nach Hadrians Besuch in Britannien im Jahr 122 wurde wahrscheinlich mit dem Bau des Walls begonnen, der eine 120 km lange Verbindung zwischen Tyne und Solway darstellte, etwa 5 m hoch war, einen vorgelagerten Graben, alle 500 m Wachttürme und im Abstand von 1,5 km Tortürme hatte. Während der Bauzeit wurden die hinter dem Wall gelegenen Auxiliarlager, viele von ihnen für die Reiterei, näher an den Wall herangebracht. Im Westen bildeten Kastelle weiterhin die Verteidigungslinie entlang der Küste. Drei andere Kastelle lagen vor dem Wall, und die größte Einheit in diesem Gebiet, eine Schwadron (ala) von 1000 Reitern, war auf dem Wall selbst stationiert. Hinter den Kastellen lag das sogenannte »Vallum«, ein breiter Graben mit Dämmen und scharf bewachten Übergängen, der der ganzen Länge des Walls folgte; sein Zweck ist noch nicht geklärt. Unter Hadrians Nachfolger Antoninus Pius (138–161) wandelte man den ganzen Plan ab. Man verschob die Grenze auf die Forth-Clyde-Linie, wo auf ein Steinfundament ein Rasenwall mit einem vorgelagerten Graben und Kastellen in gewissen Abständen gebaut wurde. Die Wachttürme auf dem Hadrianswall ließ man unbesetzt; man durchbrach das »Vallum« an mehreren Stellen und entfernte die Türen in den Tortürmen. Zivile Siedlungen begannen sich um die Kastelle zu entwickeln. Der Antoninenwall zeigt Spuren der Zerstörung von wahrscheinlich zwei getrennten Angriffen und wurde schließlich überrannt und um 166–167 aufgegeben.8 Zehn Jahre später entfesselte eine zweite Invasion, die weit nach Süden vordrang, große Kräfte, um den Hadrianswall und seine Kastelle zu zerstören. Wiederaufbau und Strafexpeditionen folgten, die in den von Severus und seinen beiden Söhnen zwischen 208 und 211 befehligten Zügen ihren Höhepunkt fanden. Zu dieser Zeit machte man den Hadrianswall wieder zur wichtigsten Grenze mit einer verstärkten Garnison. Die Grundlage des severischen Systems bildeten jedoch die stark besetzten Vorposten jenseits des Walls, die mit halbberittenen Kohorten und irregulären Einheiten der exploratores bemannt waren. Dieses System brachte den Frieden. In der Nähe des Walls und um die Vorposten entwickelten sich zivile Ansiedlungen. Wenn es auch nur geringe Spuren einer Romanisierung der Menschen in Südschottland gibt, so wird doch für den Rest der Periode von keinen weiteren Kämpfen berichtet.

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Die große Katastrophe von 9 n. Chr., durch die drei Legionen unter Varus verlorengingen, überschattete die römische Aktivität am Rhein und der oberen Donau und machte die Hoffnung zunichte, Germanien bis zur Elbe als römische Provinz einzurichten. Tiberius’ Neffe und Adoptivsohn Germanicus führte in den Jahren 14–16 ergebnislose Feldzüge. Danach verließ man sich in der Hauptsache auf Diplomatie, Unterstützung romanisierter Führer der freien Germanen und gelegentliche Machtdemonstrationen. Am Niederrhein (die Militärbezirke am Nieder- und Oberrhein wurden unter Domitian die Provinzen Germania Inferior und Superior) blieb während der gesamten Epoche die Flußlinie die Grenze. Die Besatzung von vier Legionen, die von Auxiliareinheiten in Kastellen am Rhein unterstützt wurde, reduzierte Domitian auf drei und Trajan auf zwei Legionen, als das nördlichste Legionslager, Noviomagus (Nimwegen), das seit dem batavischen Aufstand (69–70) besetzt war, ein Auxiliarkastell wurde. Im 2. Jahrhundert bestanden dauernde Legionslager in Bonn und Vetera (Xanten). Neben den Auxiliarlagern gab es am Rhein die römischen Veteranenkolonien in Köln, das 50 n. Chr. begründet wurde, und Xanten (Colonia Ulpia Traiana), das unter Trajan begründet wurde. In Holland entstanden im Gebiet der Bataver und Canninefaten wahrscheinlich im 2. Jahrhundert zwei municipia. Diese sind vermutlich durch die fränkische Okkupation um 260 verschwunden. Die beiden Kolonien weiter stromaufwärts blieben jedoch bis ins 4. Jahrhundert von Truppen besetzt. Am Oberrhein traten im späten 1. und im 2. Jahrhundert grundlegende Veränderungen ein. Aus der Zeit Vespasians (69 bis 79) hören wir von Kämpfen, der Vorverlegung von Kastellen über den Strom und dem Bau einer Straße von Straßburg zur oberen Donau. Erstmals drangen die Römer im Krieg Domitians gegen die Chatten im Jahr 83, den die Zeitgenossen als eine Posse ansahen, weiter vor; er führte jedoch im Main- und Taunusgebiet zur Einrichtung einer Grenzlinie mit hölzernen Wachttürmen und Steinkastellen. In der folgenden Jahrhunderthälfte schob man vom Oberrhein und der Donau Auxiliarkastelle vor, so daß Tacitus um 100 das Gebiet zwischen den beiden Flüssen als Provinz beschreiben konnte. Unter Hadrian (117–138) kam es zu drei bedeutsamen Entwicklungen: der Verlegung aller Auxiliareinheiten entlang der Grenzlinie, dem Ausbau einer sichtbaren Grenze in Form einer Holzpalisade und dem Auftauchen irregulärer Einheiten, die numeri hießen. In der Mitte des 2. Jahrhunderts verlegte man die obergermanische Grenze (limes) 30 km vor, damit sie von Wörth bis Lorch, wo sie auf den Rätischen Limes stieß, eine gerade Linie bildete. Die rätische Grenze, eine Palisadenbefestigung (im frühen 3. Jahrhundert als Steinwall neu aufgeführt), die von Auxiliarkastellen gestützt wurde, lief in etwa ostwärts und traf südwestlich von Regensburg auf die Donau; hier wurde nach den Kriegen gegen die Markomannen in den Jahren 179–180 eine Legion stationiert. Bis zum 2. Jahrhundert wurden zwei der vier Legionen, die vor 70 den Oberrhein bewacht hatten, nach Mainz und Straßburg verlegt.

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In der ganzen Periode kam es nur zu wenigen Kampfhandlungen am Rhein, obwohl kurze Einfälle um 162 und 174 erwähnt werden. Größere Kämpfe ereigneten sich nicht vor 213, als Caracalla von Rätien und Obergermanien einen Doppelangriff auf die Alemannen unternahm, die jetzt erstmals in der Nähe der römischen Grenze auftauchten. An der mittleren und unteren Donau, an den Provinzgrenzen Pannoniens und Mösiens, war die römische Kontrolle 14 n. Chr. noch unvollkommen. Die drei pannonischen Legionen waren im Südwesten der Provinz, unweit der italischen Grenze stationiert. Auxiliareinheiten hielten die Kastelle von Aquincum (Budapest) und Arrabona an der Donau besetzt, das erste Legionslager, in Carnuntum, wurde dort aber erst 14–15 eingerichtet. Danach kam es bis zu den Kriegen Domitians (81–96) zu keiner Stärkung der pannonischen Donaufront. Man stützte sich hier wie am Rhein auf Klientelfürstentümer. Als der markomannische König Maroboduus im Jahr 19 bei den Römern Zuflucht suchte, ging die Kontrolle über die Gebiete nördlich der oberen Donau auf die Sueben über. Ein ihnen von Rom vorgesetzter König hielt sich bis 50 und seine Nachfolger (einer hieß Italicus) erwiesen sich noch 69–70 loyal. Auch in Mösien scheinen die Legionen anfangs weit südlich der Donau stationiert gewesen zu sein. Hier folgten dem ersten, im Jahr 15 errichteten Legionslager an der Donau aber bis zur Mitte des Jahrhunderts drei weitere nach. Größere militärische Veränderungen traten erst unter Domitian ein und waren eine Folge des Anwachsens des dakischen Königreiches (s. Kap. 15) als einer feindlichen Militärmacht. Die Kämpfe begannen im Jahr 85 mit einer dakischen Invasion Mösiens, in deren Verlauf der Statthalter getötet wurde. Im folgenden Jahr wurde Mösien in zwei Provinzen (Moesia Inferior und Superior) mit je zwei Legionen geteilt; Domitian kam selbst nach Mösien, und der Prätorianerpräfekt Cornelius Fuscus wurde auf Feldzügen nach Dakien getötet. Zum ersten größeren Erfolg kam es erst im Jahr 88 durch den großen Sieg von Tapae in Dakien. Mit Dakien, dessen König ein Diadem, Geld und technische Hilfe von Rom erhielt, wurde jetzt Frieden geschlossen. Die Kämpfe mußten aber gegen die Sueben und auch die sarmatischen Jazygen (die sich jetzt in dem mittleren, von Nord nach Süd sich erstreckenden Teil der großen Ebene zwischen Dakien und Donau niedergelassen hatten) weitergeführt werden. Im Jahr 92 überquerten sie die Donau und vernichteten eine Legion, wurden von Domitian aber im gleichen Jahr geschlagen. In dieser Epoche wurde ein zweites Legionslager an der pannonischen Donau in Aquincum gebaut. Ansonsten bleiben unsere Kenntnisse von Truppenbewegungen bis nach den beiden Dakerkriegen Trajans (101–102 und 105–106) und der Einrichtung Dakiens als einer Provinz im Jahr 106 unvollständig. Über den Verlauf der beiden Kriege ist wenig bekannt. Der erste endete mit der Okkupation des ganzen Südteils Dakiens einschließlich der Hauptstadt Sarmizegethusa durch vielleicht mehr als eine Legion. Als dann nach Verletzung des Friedensvertrags durch den dakischen König Decebalus der

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Krieg erneuert wurde, fiel der Kommandeur der römischen Besatzungstruppen in dakische Hände. Heftige Auseinandersetzungen folgten, ehe aller Widerstand überwunden war. Am lebendigsten geben die Reliefs auf der Trajansäule in Rom Zeugnis von den Kämpfen (wenn auch nicht für eine Erzählung über die Feldzüge). Dort ist beispielsweise zu sehen, wie die große Brücke über die Donau gebaut wird, die Armee ihr Lager aufschlägt, Kämpfe gefochten werden, der Sturm auf Sarmizegethusa durchgeführt, dakische Gefangene ins Lager kommen oder ein römischer Legionär den Haarschopf eines abgeschlagenen Dakerkopfes zwischen den Zähnen hält.9 Die Erfolge dieses Feldzuges begründeten die Dauerform römischer Verteidigung an der mittleren und unteren Donau. Pannonien wurde jetzt aufgeteilt: in Ober-(West-)Pannonien standen drei Legionen an der Donau (in Vindobona [Wien], Carnuntum und Brigetio), in Unter-Pannonien eine in Aquincum. Zwischen den Legionen waren an der Donau 23 Auxiliareinheiten verteilt. Zwei Legionen blieben an der Donau in Ober-Mösien. Im unteren Mösien blieb eine Legion in Novae; eine zweite kam vom Rhein nach Durostorum, wo sich die Donau wieder nach Norden wendet, und eine dritte wurde von Oescus nach Troesmis in der Nähe des nördlichsten Punktes des Flußlaufs verlegt, wo sich die Donau endgültig zum Schwarzen Meer hinwendet. In Dakien standen eine Legion im zentral gelegenen Apulum und zwölf Auxiliareinheiten. Die große Ebene im Westen und die Walachei im Osten und Südosten der Provinz blieben unbesetzt, aber scharf bewacht. Im Westen liefen römische Straßen von Aquincum und im Osten nahe der Stadt Troesmis nach Dakien. Innerhalb eines halben Jahrhunderts kam es so zur entscheidenden Verschiebung des militärischen Gewichts vom Rhein zur Donau, wo jetzt mehr als ein Drittel der Legionen des Reiches lag. Außer in Dakien wurden alle Einheiten einschließlich des größten Teils der Hilfstruppen an der Grenze selbst stationiert. Obwohl es zu gelegentlichen Kämpfen kam, gab es in diesem Abschnitt des Reiches bis zu den Markomannenkriegen von 166/67–175 und 177–180 keinen größeren Krieg. Rom hielt den engen Kontakt zu den Stämmen jenseits der Grenze aufrecht, indem es zum Beispiel Subventionen an die Roxolanen in der Walachei vergab und den König der Quaden zwischen 140 und 142 krönte. In den sechziger Jahren des 2. Jahrhunderts zog aber Lucius Verus beträchtliche Kräfte für den Partherkrieg ab (s. unten). Der »Markomannische« Krieg (- der Einfachheit halber so benannt – viele verschiedene Stämme nahmen an ihm teil) begann mit der Invasion Ober-Pannoniens durch Langobarden und Ubier in den Jahren 166–167. Diese konnte zurückgeschlagen werden. Es folgte aber eine weit größere Invasion der Markomannen, Quaden und Jazygen, die ganz Pannonien und Norikum traf und selbst Norditalien erreichte. Die Einzelheiten der Kämpfe bleiben wiederum im dunkeln. Bis zum Jahr 171 übernahmen die Römer wieder die Initiative, und zwischen 172 und 175 (der auf der Säule des Marcus Aurelius in Rom porträtierten Periode)10 gelang es dem Kaiser, diese Stämme zu

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besiegen. Entsprechend den Friedensbestimmungen gaben sie Zehntausende von Kriegsgefangenen und Deserteuren zurück, siedelte sich eine große Zahl ihrer eigenen Völker in den Provinzen und in Italien an und stellten sie eigene Truppenverbände. 5500 sarmatische Reiter wurden nach Britannien geschickt. Markomannische, quadische und naristische Kavallerie kämpfte bei der Niederwerfung des Aufstandes des Avidius Cassius in Syrien im Jahr 175. Das Grenzsystem wurde durch Stationierung zweier neu rekrutierter Legionen an der Donau in Rätien und Norikum und Verlegung einer Legion von Troesmis in Moesia Inferior nach Potaissa in Norddakien gesichert. Die wichtigen feindlichen Stämme wurden gezwungen, das an die Donau angrenzende Gebiet zu evakuieren; die Jazygen durften sich nur unter Aufsicht versammeln und konnten ihre eigenen Schiffe und das Land auf den Donauinseln nicht nutzen. Zwischen 177 und 180 kam es zu weiteren Kämpfen, in deren Verlauf römische Truppen bis Trenčin in der heutigen Tschechoslowakei vordrangen und dort den Winter von 179 auf 180 verbrachten. Die Auseinandersetzungen endeten eigentlich (obwohl es einige weitere Konflikte in den achtziger Jahren des 2. Jahrhunderts gab), als Commodus Alleinkaiser wurde und 180 Frieden schloß. Die Bedingungen lauteten ganz ähnlich und betrafen die Rückgabe der Gefangenen und Flüchtlinge, die Stellung von Soldaten, das Abhalten von Versammlungen unter römischer Militäraufsicht und die Evakuierung der befestigten Plätze innerhalb der demilitarisierten Zone. In den folgenden fünfzig Jahren kam es weiter im Osten, in Dakien und Moesia Inferior, zu Zusammenstößen mit den Barbaren. Die Verteidigungsanlagen wurden wiederaufgebaut und verstärkt. Im Grund aber blieb das Verteidigungssystem, wie es nach den Markomannenkriegen gewesen war, bis in den späten dreißiger Jahren des 3. Jahrhunderts ernstlichere Invasionen einsetzten.11 Im Osten gab es, wie oben erwähnt, zu Beginn der Periode keine römische Grenze, obwohl man einen Abschnitt des Euphrat nördlich von Syrien als Grenze zwischen Rom und Parthien annahm. Im übrigen gab es Klientelfürstentümer und im Norden das Königreich Armenien, dessen Kontrolle zwischen Parthern und Römern umstritten war. Eine verwickelte Reihe diplomatischer Notenwechsel wegen Armenien im 1. Jahrhundert endete mit einer entscheidenden Demonstration der römischen Vorherrschaft über Armenien im Jahr 63 und mit einem Kompromiß, durch den ein Mitglied des parthischen Königshauses als Klientelfürst von Armenien gekrönt wurde, was man in Rom im Jahr 66 mit großem Glanz feierte. Wichtiger noch waren die Maßnahmen Vespasians (69–79), der einer vorübergehenden Anordnung für den Armenischen Krieg Bestand verlieh, indem er Kappadokien (ein Klientelfürstentum, das im Jahr 17 an Rom gefallen und in der Folge eine von Hilfstruppen bewachte prokuratorische Provinz geworden war) und einige Nachbargebiete zu einem Hauptmilitärbezirk unter einem Senator konsularischen Rangs machte, der zwei Legionen am Euphrat befehligte.

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Gleichzeitig wurde die Provinz Syrien am Euphratufer im Jahr 72 durch Annexion des Klientelstaates Kommagene, der an Kappadokien angrenzte, nach Norden ausgedehnt. Schließlich verlor Judäa nach dem großen Aufstand von 66–70 den Status einer prokuratorischen Provinz und erhielt einen in Jerusalem residierenden senatorischen Statthalter mit einer Legion aus Syrien. Im Jahr 106, unter Trajan, folgte die Annexion des Klientelstaates Nabatäa mit der Hauptstadt Petra. Auch Nabatäa wurde zur Provinz mit einer Legion, die in Bostra in Transjordanien stationiert war. Der erste Statthalter Claudius Severus ließ von Eilat über Bostra zur Grenze Syriens bei Damaskus eine Straße bauen. Die Arbeiten wurden von Soldaten ausgeführt. Im Februar 107 schrieb ein Legionär nach Hause an seine Mutter in Ägypten: »Ich bin dankbar ... daß, während alle den ganzen Tag arbeiten und Steine brechen, ich als principalis (Unteroffizier) den ganzen Tag umhergehe und nichts tue.«12 Die Bildung einer ständigen Grenze am Euphrat (die von ausgedehntem Straßenbau in Kleinasien gestützt wurde) und deren Fortsetzung durch die syrische Wüste an Palmyra vorbei – von wo ein römischer Meilenstein aus dem Jahr 75 erhalten ist – bis zum Roten Meer bedeuteten, zusammen mit der gleichzeitigen Stärkung der Donaufront, daß die Donau-Euphrat-Achse hinfort zum Rückgrat der militärischen Struktur des Kaiserreiches wurde. Damit war der erste Schritt in Richtung auf eine Verlegung der Hauptstadt von Rom zum Angelpunkt dieser Achse, nach Byzanz, getan. Zunächst führte Trajan jedoch einen größeren, wenn auch ergebnislosen römischen Feldzug, den Parthischen Krieg von 113 bis 117.13 Den Anlaß dazu gab die Besetzung des Thrones von Armenien durch den parthischen König mit einem eigenen Kandidaten. Die Einzelheiten der Feldzüge sind sehr umstritten. Es scheint aber, daß Trajan Armenien eroberte und es 114, ebenso wie Mesopotamien im Winter 115, zur Provinz machte, die parthische Hauptstadt Ktesiphon einnahm, im Jahr 116 den Persischen Golf erreichte und zwischen dem unteren Tigris und Euphrat eine dritte Provinz, Assyria, einrichtete.14 In den Jahren 116–117 kam es in den nördlichen eroberten Gebieten zu einem Aufstand, der auf Kosten der Königskrönungen in Armenien und Parthien unterdrückt wurde. Ob Trajan eine ernsthafte Rückeroberung angestrebt hätte, läßt sich schwer sagen, denn Krankheit zwang ihn, sich auf römisches Gebiet zurückzuziehen, wo er im Jahr 117 starb. Sein Nachfolger Hadrian gab sofort alle Ansprüche auf dessen Eroberungen auf. Der römische Kandidat auf dem parthischen Thron wurde abgesetzt und ihm das kleinere Königreich Osroene übertragen, das er ein paar Jahre später sogar auch verlor. Danach herrschte Frieden bei geringfügigem diplomatischem Verkehr (römische Münzen erwähnen einen in den frühen vierziger Jahren des 2. Jahrhunderts »den Armeniern gegebenen« König), bis der parthische König bei der Thronbesteigung des Marcus Aurelius und des L. Veras im Jahr 161 den Krieg erklärte und beträchtliche Erfolge errang. Der Feldzug des L. Verus in den Jahren 162–166 führte aber zur Wiederaufrichtung Armeniens als

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Klientelfürstentum, der Plünderung Ktesiphons und (wie es scheint) der Besetzung ganz Nordmesopotamiens bis zum Tigris. L. Veras hat offenbar noch keine reguläre Provinz eingerichtet, und die spätere Position bleibt unklar. Der mesopotamische König von Osroene ließ aber jetzt Münzen mit den Bildern der Mitglieder des Kaiserhauses prägen, und von dem neuen südlichsten Ort am Euphrat unter römischer Kontrolle, Dura-Europos (s. Kap. n), ist ein lebendiges Bild der römischen Besetzung erhalten. Die beiden Auxiliareinheiten (eine kam aus Palmyra), die in den ersten Jahren die Stadt besetzt hielten, wurden im frühen 3. Jahrhundert verstärkt, als ein Viertel der Stadt durch eine Mauer als Lager abgegrenzt wurde, ein Hauptquartier und eine Palastresidenz für den kommandierenden Offizier gebaut und ein Teil eines Tempels als Militärarchiv benutzt wurde. In den Bürgerkriegen von 193–194 entglitt Mesopotamien vorübergehend der römischen Kontrolle. Septimius Severus gewann das Gebiet im Jahr 195 zurück, machte Nisibis zur römischen »Kolonie«, legte eine Garnison dorthin und benutzte es also als Grenzbollwerk. Während er mit weiteren Bürgerkriegen beschäftigt war, die mit dem Sieg von Lyon im Jahr 197 endeten, belagerten die Parther Nisibis. Severus kehrte 197–198 zurück. Wiederum marschierten Römer den Euphrat hinunter und plünderten Ktesiphon. Entweder diesmal oder im Jahr 195 wurde Mesopotamien zur Provinz mit zwei neu ausgehobenen Legionen, die jedoch einem Präfekten aus den Reihen der equites unterstanden. In den Jahren 215–217 fiel Caracalla schließlich, getreu seiner Personifikation Alexanders des Großen, in Parthien ein, wurde auf dem Feldzug ermordet und überließ es seinem Nachfolger Macrinus (217–218), einem parthischen Gegenangriff Widerstand entgegenzusetzen und Frieden zu schließen. Innerhalb zweier Jahrhunderte vereinzelter Kämpfe war es somit zu einer sehr beträchtlichen Ausweitung und Konsolidierung der römischen Kontrolle im Nahen Osten gekommen – zu einer viel größeren Ausweitung (wenn die Absorption der Klientelfürstentümer eingeschlossen wird) als in irgendeinem anderen Bereich. Es ist bezeichnend, daß die Kaiser hier und an der Donau persönlich ihre Armeen führten. Zwei Kaiser, Claudius im Jahr 43 und Septimius Severus in den Jahren 208–211, hatten in Britannien gekämpft. Seit Domitian (im Jahr 83) weilte aber kein Mitglied des Kaiserhauses an der Rheingrenze, bis Caracalla dort 213 einen kurzen Feldzug führte. So sahen in Umrissen die Kriege und die Entwicklungen an den Grenzen bis ins frühe 3. Jahrhundert aus. Wenn man die Organisation und das Leben der Armee selbst betrachtet, so lag die wichtigste Entwicklung der Periode in der Verwandlung der Hilfstruppen in reguläre Einheiten und in deren vorherrschender Rolle bei der Bemannung der neuen festen Grenzen. Damit hängt die wachsende Bedeutung der neuen regulären Schwadronen (alae) der Auxiliarreiterei aus 500 oder 1000 Mann zusammen, für die Rom aus der angeborenen Gewandtheit der Gallier und Spanier und später vornehmlich der Thraker Nutzen zog, aber auch die Techniken der Barbaren, besonders der

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sarmatischen und parteiischen Kavallerie, übernahm. Ein höchst wichtiges Dokument für diesen Entwicklungsprozeß stellt die im Jahr 136 verfaßte Taktik des Arrian dar, die die Kavallerieübungen der Zeit beschreibt und mit der Erwähnung der von den Kaisern ausgegebenen Instruktionen zur Beherrschung der Kampftechnik der Parther, Armenier, Sarmaten, Kelten, Skythen und Räter endet.15 Das Herz der Armee blieben jedoch die Legionen. Bis 215 waren die 25 Legionen der Armee des Tiberius auf 33 angewachsen, die in ständigen Steinlagern oder vielmehr Festungen untergebracht waren. Eine Legion bestand im allgemeinen aus 5000 Infanteristen und 120 Kavalleristen, die in 10 Kohorten und 60 Zenturien gegliedert waren, die jeweils von einem Centurio befehligt wurden. Für die Centurionen gab es ein kompliziertes Beförderungssystem, das auf der Kampfordnung der Jahrhunderte basierte und bis zum höchsten Posten, dem des primus pilus, führte. Über ihnen standen sechs Legionstribunen im Rang eines eques, bis auf einen, der ein junger Mann senatorischer Herkunft zu sein pflegte und in den Senat eintreten wollte. Der Legionskommandeur war ein senatorischer legatus mit Proprätor- (in der frühen Zeit manchmal Proquästor-) Status. Dort, wo es nur eine Legion in einer Provinz gab, war derselbe Mann zugleich legatus der Legion und der Provinz. Die Legionäre, die grundsätzlich römische Bürger sein mußten, wurden, wie in Kap. 5 erwähnt, teils durch zwangsweise Aushebung und teils durch Freiwilligenmeldung gewonnen. Einer der am deutlichsten erkennbaren Züge der Periode besteht darin, daß sich die Legionen anfangs (vor etwa 70 n. Chr.) aus Italien oder der romanisierten Narbonensis und Baetica rekrutierten und schließlich aus den Provinzen, in denen sie stationiert waren, aufgefüllt wurden, besonders mit Soldatensöhnen, die in den Lagern geboren waren. Es ist jedoch bezeichnend, daß immer, wenn vollkommen neue Legionen aufgestellt wurden, diese während der ganzen Periode durch Aushebungen in Italien entstanden.16 Anfangs dauerte die Dienstzeit zwanzig Jahre, auf die fünf Jahre »unter den Standarten« (sub vexillis) folgten, in denen der einzelne an das Lager gebunden, aber von den Routinepflichten entbunden war. Vom 2. Jahrhundert an waren fünfundzwanzig Dienstjahre die Regel. Die Bedingungen des Dienstes werden am umfassendsten durch die Beschwerden der Legionäre illustriert, die beim Tod des Augustus in Pannonien meuterten: Die Dienstzeit wurde bis auf dreißig und vierzig Jahre ausgedehnt, und sogar die Entlassung in aller Form folgte auf die gleichen Pflichten sub vexillis; die Überlebenden erhielten Sümpfe und unkultivierte Abhänge als Landlose; sie wurden mit bloßen zehn asses pro Tag besoldet, womit sie ihre Kleidung, Waffen und Zelte bezahlen und die Centurionen für Entlastungen vom Dienst bestechen mußten. Zehn asses pro Tag ergaben 225 denarii pro Jahr (ein denarius entsprach vier sesterces oder sechzehn asses), die in drei Teilzahlungen von je 75 denarii ausgehändigt wurden. Unter Domitian (81–96) stieg der Sold auf 300 denarii an und wurde durch Septimius Severus (193–211) und seinen Sohn Caracalla (211–217) wiederum angehoben.

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Ein Papyrus ganz vom Ende des 3. Jahrhunderts zeigt, daß die Legionäre später etwa 600 denarii im Jahr erhielten, die noch immer in drei Abschlägen gezahlt wurden. Ein Papyrus aus den achtziger Jahren erweist, daß Soldaten, offenbar Legionäre, drei stipendia pro Jahr von je 248 ägyptischen drachmae erhielten, wovon für Unterkunft, Ernährung, Stiefel, Bankette und Kleidung feste Beträge abgezogen wurden. Kavalleristen scheinen sogar auch für ihre Pferde bezahlt zu haben; aus Dura-Europos sind eine Reihe von Briefen des syrischen Statthalters aus dem Jahr 208 an den Tribun einer Auxiliarkohorte erhalten, in denen einzelnen Kavalleristen Pferde zugewiesen und Preise angegeben werden. Die Abzüge für Verpflegung wurden vielleicht unter Caracalla abgeschafft, die Belege sind jedoch unklar. Es ist aber erwiesen, daß zumindest die Soldaten der Hilfstruppen am Ende des 3. Jahrhunderts einen Barzuschuß von 200 denarii im Jahr für Verpflegung erhielten. Die reguläre Besoldung gab also wenig Möglichkeiten zu größeren Ersparnissen. Sie wurde aber durch Bargeschenke aus Anlaß der Thronbesteigung des Kaisers (zuerst durch Claudius im Jahr 41) und aller großen zeremoniellen Ereignisse und Jahrestage ergänzt. Die Prätorianerkohorten erhielten die höchsten Donative; im Jahr 202 feierte Severus das zehnte Jahr seiner Regierung, indem er jedem Prätorianer (und dem Volk von Rom) 2500 denarii gab, was der Besoldung mehrerer Jahre gleichkam. Die donativa wurden aber für alle Soldaten zu einem regelmäßigen Element ihrer Besoldung. Während der ersten beiden Jahrhunderte verbesserten sich die Lebensbedingungen der Soldaten ganz wesentlich, als die Legionäre zumeist längere Zeit in den gleichen Lagern blieben, die jetzt alle aus Stein gebaut wurden und um die bürgerliche Siedlungen (canabae) zu entstehen pflegten, manchmal in einiger Entfernung und manchmal in unmittelbarer Nachbarschaft der Wälle. Fast überall lassen sich in der Nähe der Lager Bäder und Amphitheater finden. Den Legionen gehörten eigene »Territorien«, die die Legionäre offenbar als Weideland verpachten konnten. Es gibt eine Vielzahl von Belegen dafür, daß Soldaten Sklaven kauften und verkauften; der Gesetzeskodex legte sogar fest, daß ein Soldat milde beurteilt werden sollte, wenn er seinen Urlaub überschritt, um einen entlaufenen Sklaven zu verfolgen. Der Soldat konnte ein Haus in der Provinz kaufen, in der er diente, aber keinen Grund und Boden, da er sonst gegebenenfalls durch die Bestellung desselben seine militärischen Pflichten vernachlässigte; er konnte aber Grund und Boden in anderen Provinzen erwerben. Die schwerwiegendste Rechtsunfähigkeit eines Soldaten bestand darin, daß eine von ihm geschlossene Heirat gesetzlich ungültig war. Diese Regelung war ein archaischer Überrest ohne moralische Nebenabsichten, traf aber in großem Maße die gesetzlichen Rechte ihrer de facto Ehefrauen und ihrer Kinder. Hadrian gestattete den Kindern der Soldaten jedoch, um die Übernahme des väterlichen Besitzes zu petitionieren, auf den sie keinerlei gesetzliche Ansprüche hatten. Die Nichtanerkennung der Ehen bestand bis in die Regierungszeit des Septimius

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Severus fort. Auf einem ägyptischen Papyrus ist zum Beispiel zu lesen, daß der Präfekt von Ägypten in den Jahren 113–117 den Anspruch einer Frau auf Wiedererlangung eines Geldbetrages zurückwies, der ihrem verstorbenen Gatten laut Heiratsvertrag gegeben worden war: »Bei solchem Anspruch kann ich keinen iudex einsetzen: denn es ist einem Soldaten gesetzlich nicht möglich zu heiraten.« Es wird damit stillschweigend jedoch anerkannt, daß die normalen »Formen« einer gesetzlichen Verbindung von Mann und Frau oft beachtet wurden. Es war deshalb eine Konzession an die bestehende soziale Praxis, als Septimius Severus (193–211) die Soldatenehen legalisierte. Bei seiner Entlassung erhielt der Legionär entweder ein Stück Land – entweder für sich allein oder gelegentlich, bis zur Regierungszeit Hadrians, in einer regelrechten Veteranenkolonie – oder ein Entlassungsgeschenk, das auf 3000 denarii festgesetzt war. Die Frage, die in der Republik große Schwierigkeiten verursacht hatte, wie man nämlich Soldaten ansiedeln sollte, wurde zuerst durch persönliche Gewährung von Grundstücken oder Bargeld durch Augustus gelöst und dann im Jahr 6 n. Chr. durch Einrichtung einer speziellen Militärkasse zur Bereitstellung der Geldmittel. Von Tiberius und Nero wird berichtet, daß sie die Entlassung der Soldaten verschoben, um Zahlungen aus dem Weg zu gehen; danach scheint das System aber glatt gelaufen zu sein. Die Veteranen stellten eine privilegierte Klasse dar. Ein Erlaß Domitians (81–96) befreite sie von der Zahlung der portoria und offenbar davon, in Staatsdiensten reisende Personen zu versorgen. Die Juristen des späten 2. und frühen 3. Jahrhunderts stellen fest, daß jene die gleiche Freiheit von den härteren Formen der Strafe wie die decuriones (Stadtratsmitglieder) besaßen und einige örtliche Lasten nicht auf sich zu nehmen brauchten. Unsere Quellen, besonders die von der syrischen und der pannonischen Front, weisen Veteranen als Führer der örtlichen Gemeinschaften aus. Die verhältnismäßig gute soziale Stellung der Veteranen und der Zusammenhalt zwischen ihnen werden in einem vor wenigen Jahren veröffentlichten Papyrus veranschaulicht. Ein kurz vor seiner Entlassung stehender Soldat schreibt an seinen Bruder in Karanis in Ägypten: »Ich bitte dich, mit meiner Rekommendation den entlassenen Soldaten Terentianus zu empfangen, der dir diesen Brief überbringt ... Da er ein vermögender Mann ist und dort wohnen möchte, habe ich ihm angetragen, daß er für mein Haus im laufenden Jahr (136) 60 Drachmen zahlt und daß er mein Feld für das kommende Jahr für 60 Drachmen pachtet ...«17 Die wichtigste Entwicklung der Periode stellte die Formierung regulärer Hilfstruppen dar, die bei der Bemannung der Kastelle an den sich herausbildenden festen Grenzen eine große Rolle spielten und mobile Truppen, besonders natürlich die alae der Kavallerie, gegen barbarische Einfälle abgaben. Zu Beginn der Periode scheinen die Hilfstruppen noch überwiegend örtliche Verbände behelfsmäßiger Natur gewesen zu sein, die von ihren eigenen Häuptlingen befehligt wurden. Die nationalen Verbände von jenseits der Grenzen wurden auch weiter verwendet: die Mauren unter Lucius Quietus, der

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in den Kriegen Trajans kämpfte, die Sarmaten, die Marcus Aurelius nach Britannien schickte, und andere, numeri genannte Barbareneinheiten, die die auxilia in den Grenzstellungen ergänzten.18 Aber selbst unter Augustus hatte es nationale Einheiten aus dem Reichsinneren gegeben, die von römischen Offizieren befehligt wurden; bis zu den siebziger Jahren hatten sich die auxilia zu regulären, einheitlich bewaffneten Einheiten entwickelt, die in ihren Reihen Unteroffiziere hatten, die entweder aus den Rängen befördert oder von den Legionen abkommandiert waren, die Präfekten oder Tribunen mit Ritterrang an ihrer Spitze hatten und die überall im Reich eingesetzt werden konnten. Der Wandel wird durch das Auftauchen von diplomata angezeigt, von Urkunden, die aus zwei aneinandergebundenen beschrifteten Bronzetafeln bestanden, die an Einzelpersonen ausgegeben wurden und angaben, daß diese anläßlich ihrer ehrenhaften Entlassung, nach einer Dienstzeit im Normalfall von 25 Jahren, für sich und ihre Kinder das Bürgerrecht und das Recht zu einer anerkannten römischen Heirat mit ihren Frauen (die Frauen selbst erhielten das Bürgerrecht nicht) erworben hätten. Das war die Formel bis zum Jahr 140; danach erhielten aus unbekannten Gründen nur anschließend geborene Kinder das Bürgerrecht. Die Rechtsunfähigkeit in bezug auf die Heirat betraf die Hilfstruppensoldaten genauso wie die Legionäre; und selbst die Bürgerrechtsverleihung vor 140 an die schon vorhandenen Kinder legitimierte diese nicht. Die Hilfstruppensoldaten scheinen von der Legalisierung der Heiraten durch Severus jedoch auch profitiert zu haben.

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� Abb. 5: Eine Bürgerrechtsurkunde und Berechtigung zum Abschluß einer gesetzlichen römischen Heirat mit einem Nichtbürger (diploma), die bei der Entlassung nach 25 Dienstjahren in der Auxiliartruppe oder Flotte ausgestellt wurde. Die hier abgebildete Urkunde wurde 71 n. Chr. für einen Centurio der Flotte in Ravenna ausgefertigt. Die beiden Bronzetafeln wurden zusammengebunden, und der Text wurde sowohl auf die Außen- als auch auf die Innenseite geschrieben. Mit der Einführung eines regulären Dienstes und der Verlegung der Einheiten in entfernte Provinzen behielten diese Einheiten ihre nationalen Bezeichnungen bei, nicht aber (mit einigen Ausnahmen) ihre nationale Rekrutierungsbasis. Seit dem frühen 2. Jahrhundert ergänzte man die Hilfstruppen an den Grenzen vorwiegend durch Rekrutierung in nahegelegenen Gebieten, in einer einzigen Provinz oder einer Gruppe von Provinzen. Thraker wurden auch weiter besonders für die alae der Kavallerie ausgehoben und an entfernte Grenzen geschickt; aus dem Osten stammende und an Rhein und Donau stationierte Einheiten wurden bis ins 3. Jahrhundert hinein aus ihren Heimatgebieten ständig neu aufgefüllt. So hatte zum Beispiel die cohors I milliaria Hemesenorum civium Romanorum (die erste Tausend-Mann-Kohorte aus Emesenern, römischen Bürgern) Soldaten mit orientalischen Namen in ihren Reihen, die ihren heimischen Göttern von der Mitte des 2. bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts Weihegaben darbrachten. Die Einheit nannte sich, wie auch andere es in dieser Periode taten, in aller Form »römische Bürger«. Aber innerhalb der Auxilien, die sich zunächst aus Nicht-Bürgern zusammensetzten, wurden die Bürgerrekruten im Gefolge der Ausbreitung des Bürgerrechts in den Provinzen immer mehr die Regel. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts bestand die große Mehrheit der uns bekannten Auxiliaren aus Bürgern.19 Zufällig wissen wir über das Leben der Hilfstruppen-Einheiten in der Kaiserzeit mehr als über die Legionen. Es ist beispielsweise der Brief des Präfekten von Ägypten vom Jahr 103 erhalten, in dem er den Präfekten einer Kohorte anweist, sechs Rekruten – sämtlich römische Bürger – einzustellen, deren besondere Kennzeichen aufgeführt werden (für Erkennungszwecke, falls sie desertieren sollten). Ein anderer Papyrus von 150 gibt in ganzer Vollständigkeit die Liste einer halb-berittenen Kohorte in Ägypten: sechs Centurionen, drei decuriones (Unteroffiziere), 94 Kavalleristen, 19 Kamelreiter, 363 Infanteristen. Aus Moesia Inferior sind aus den Jahren 105–108 (das heißt aus genau oder etwa der Zeit der endgültigen Eroberung Dakiens) die täglichen Meldungen einer anderen halb-berittenen Kohorte erhalten. Darin wird erwähnt, daß Männer zur mösischen Flotte oder zur Armee in Pannonien geschickt wurden, daß ein Soldat ertrank und ein anderer von Banditen getötet wurde, daß andere zur Beschlagnahme von Kleidungsstücken (offenbar nach Gallien) gesandt wurden, daß einige Pferde besorgen, wieder andere die Steinbrüche bewachen sollten, daß Soldaten den Statthalter eskortierten oder im officium des

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Prokurators standen, auf Wachtposten stationiert, auf Expeditionen über die Donau eingesetzt wurden, die Kornvorräte begleiteten oder das Vieh bewachten.20 Dieses Dokument wird an Bedeutung und Lebendigkeit durch die Archive der 20. Kohorte der Palmyraner (einer teilweise berittenen Kohorte von 1000 Mann) aus Dura-Europos weit übertroffen, die aus dem Zeitraum zwischen 208 und 251 stammen.21 Sie enthalten u.a. die schon erwähnten Briefe, durch die Pferde zugeteilt wurden, tägliche Meldungen – die das Einsammeln von Gerste, die Beförderung von Briefen an die Provinzstatthalter, die Holzbeschaffung für die Badehäuser oder ohne Urlaub abwesende Soldaten betreffen – und gesetzliche Entscheidungen der Tribunen. Die wichtigste Quelle ist jedoch das sogenannte Feriale Duranum, ein Kalender der offiziellen römischen Feste und Opfer, die von der gleichen Kohorte in den zwanziger Jahren des 2. Jahrhunderts beachtet wurden. Auf dieser Liste, die offenbar in der ganzen Armee Beachtung fand, überwiegen die Jahrestage, die sich auf die Kaiser selbst beziehen, auf Thronbesteigungen, Apotheosen, Siege oder Geburtstage. Zur Ergänzung der schriftlichen Quellen kann sodann das wundervolle Fresko aus dem Tempel der palmyrischen Götter in Dura-Europos dienen, auf dem der Tribun einer Kohorte gezeigt wird, wie er den Göttern opfert, den Standartenträger, der das vexillum hält, neben und die niederen Offiziere der Kohorte hinter sich. Will man sich ein Bild von dem täglichen Leben einer Hilfstruppen-Kohorte machen, die an der Grenze am anderen Ende des Kaiserreiches eingesetzt war, so kann man zur Saalburg im Taunus gehen, die erbaut wurde, als Domitian die Rheingrenze vorschob, und die man teilweise so rekonstruierte, wie sie im frühen 3. Jahrhundert in Stein aufgeführt worden war. Die steinerne, von Zinnen überragte Mauer umschloß Unterkünfte, Magazine, ein Badehaus und ein Gebäude für den Befehlshaber mit einem von Kolonnaden umschlossenen Hof. Draußen lagen große Bäder mit Zentralheizung, Tempel und ein Dorf an der Straße, die zum Haupttor führte. Der Limes verlief etwa 200 Meter nördlich davon.22 Nichts zeigt deutlicher die Stärke und die gefestigten Verhältnisse an den römischen Grenzen unmittelbar vor der Katastrophe des 3. Jahrhunderts. Die römische Armee war so im wesentlichen für Aufgaben der Grenzkontrolle und zur Eindämmung und zur Rückdrängung barbarischer Bewegungen in Zonen jenseits der Grenzen stationiert und organisiert. Es stellten sich darum ganz andere Probleme, zuerst als um 220 die aggressive Sassaniden-Dynastie die parthische ersetzte und sofort Mesopotamien, Armenien und Syrien angriff und als dann um 230 die Alemannen gegen die Rhein- und Donaugrenze und die Goten und andere Völker gegen die untere Donau vordrängten. Um die Mitte des Jahrhunderts kam es zu weiteren barbarischen Angriffen – von Süden gegen Africa und Ägypten –, die naturgegeben von geringerer Bedeutung waren. Die Einzelheiten der Kämpfe werden, soweit das möglich ist, in den Kapiteln über die einzelnen Teile des Reiches besprochen. Hier soll lediglich die Frage erörtert werden, wie sich die Armee in einem halben Jahrhundert von Kriegen wandelte,

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die weitgehend innerhalb der Reichsgrenzen geführt wurden. Aber auch darüber wissen wir sehr wenig. Es scheint jedoch, daß die Einrichtung einer comitatus (von comes – »Gefährte«) – einer Gruppe von Einheiten, die den Kaiser in die Schlacht begleiteten – um die Mitte des 3. Jahrhunderts, vielleicht unter Gallienus (260–268), entstand. Spätere Autoren erwähnen auf den Feldzügen der Kaiser Claudius II. (268–270) und Aurelian (270–275) Reitertruppen aus Dalmatinern und Mauren; ein vom Prokonsul von Africa im Jahr 320 verhörter Christ sagte aus, daß sein Großvater, ein Maure, als Soldat in der comitatus gedient habe. Aus Dura-Europos ist wiederum das erste Beispiel einer weiteren charakteristischen Neueinrichtung des 4. Jahrhunderts bekannt: der dux ripae (Befehlshaber des Flußufers – des Euphrat), der vor 240 im Amt war. Schließlich fiel, wie in Kap. 4 schon gesagt, in die Jahrzehnte 260–280 der Ausschluß der Senatoren von allen militärischen Befehlsstellen außer den konsularischen. Wenn sich im 3. Jahrhundert auch eine reguläre Feldtruppe herausbildete, so wurde diese Entwicklung unter Diokletian nicht wesentlich fortgeführt, denn seine Regierungszeit wird auf militärischem Gebiet hauptsächlich durch den Bau noch stärker befestigter Verteidigungsanlagen an den ausgedehnten Grenzen gekennzeichnet. Wenn wir tatsächlich auch in Einzelheiten Unkenntnis über die Armee des 3. Jahrhunderts eingestehen müssen, können wir doch bedeutsame Wesenszüge der Reichsverteidigung unterscheiden. Hauptsächlich die Ost- und die Donaugrenze nahmen die Aufmerksamkeit der Kaiser in Anspruch. Severus Alexander zog von 231–234, Gordian 242, Valerian von 256/57–260 (als er von Šāpūr gefangengesetzt wurde) und dann, nach der Vorherrschaft Palmyras im Osten, von 262–272, Aurelian vielleicht im Jahr 272 und Carus 282–283 gegen Persien ins Feld. Dagegen kam Severus Alexander im Jahr 235 an den Rhein und wurde dort ermordet; sein Nachfolger Maximinus führte einen Feldzug gegen die Alemannen und nahm seine Armee dann nach Pannonien mit. In der Regierungszeit Valerians befehligte dessen Sohn Gallienus von 254–258 an der Rheinfront, verließ diese aber 258, um Italien zu verteidigen. 259 wurde dessen jüngerer Bruder Saloninus, der in Köln zurückgelassen worden war, getötet. Mit Postumus setzte die Reihe gallischer Kaiser ein, die bis 274 dauerte. Schließlich kämpfte Probus 277 erfolgreich gegen germanische Invasoren in Gallien. Gallien wurde nicht aufgegeben, obwohl es mehr als andere Gebiete zu leiden hatte. Die militärische Aktivität der Kaiser weist ganz deutlich darauf hin, wie sehr sich das Gewicht des Reiches zugunsten der Donau- und Ostprovinzen verschoben hatte. Der Zusammenbruch des römischen Reiches im 5. Jahrhundert war in Wirklichkeit nur der Zusammenbruch der westlichen Provinzen und Italiens. 7. Italien Die Geschichte Italiens in der Kaiserzeit wird vor allem durch den allmählichen Verlust der überragenden Stellung charakterisiert, die es zu deren Beginn noch

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einnahm. In der frühen Kaiserzeit hatte Italien das Privileg der Exemtion von der direkten Besteuerung inne, das nur von wenigen Städten in den Provinzen geteilt wurde. Im frühen 3. Jahrhundert konnte aber der Historiker Cassius Dio vorschlagen, was Diokletian ein Jahrhundert später verwirklichte, daß Italien ebenso wie die Provinzen besteuert werden sollte. Italien war zum anderen von der direkten Herrschaft durch römische Beamte ausgenommen (bis 44 wurden lediglich drei der jährlichen Quästoren mit ziemlich unbekannten Funktionen in Distrikten Italiens eingesetzt); im 2. und 3. Jahrhundert tauchten dann aber römische Beamte in den einzelnen Städten, Bezirken und schließlich in ganz Italien auf. Zu Beginn der Periode breitete sich das für Italien allgemeine Bürgerrecht ganz allmählich in die Provinzen aus. Daher wurde der Großteil der Bürgerlegionäre in Italien ausgehoben, besonders in seinem blühendsten Teil, in der Poebene. Aber schon gegen Ende des 1. Jahrhunderts sank die Zahl der Italiker in den Legionen so schnell, daß man früher glaubte, Vespasian (69–79) habe die Rekrutierung aus diesem Gebiet in aller Form eingestellt. Tatsächlich wurden Italiker auch weiter ausgehoben, und wenn neue Legionen aufgestellt wurden, wie um 160, füllte man diese ganz durch Aushebungen in Italien. Die Ausbreitung des Bürgerrechts ermöglichte aber die allgemeine Praxis, nach der die Rekrutierung für die Legionen in den Provinzen oder Gebieten erfolgte, in denen sie dienten. Den gleichen Prozeß kann man bei der Bekleidung von Ämtern durch equites beobachten, von denen im 3. Jahrhundert (nach sehr ungenauen Zahlen) offenbar nur ein Fünftel Italiker innehatten. Nur im römischen Senat waren selbst im 3. Jahrhundert beinahe die Hälfte der Mitglieder, deren Herkunft uns bekannt ist, Italiker. Mit der Abwesenheit des Kaisers und des Hofes, die durch die Gründung Konstantinopels im Jahr 330 vollendet wurde, sollte der Senat in Rom mit seinem Herzstück aus italischen Grundbesitzern beträchtliche Macht und Privilegien zurückgewinnen. Mit diesem Prozeß lief der im Vergleich mit anderen Gebieten des Reiches relative Zerfall der wirtschaftlichen Position parallel. Die Auswanderung der Italiker in die Provinzen, die ein Charakterzug der späten Republik und der frühen Kaiserzeit gewesen war, scheint zu Beginn des 2. Jahrhunderts aufgehört zu haben. Die rot glasierte italische Töpferware, nach ihrem wichtigsten Produktionszentrum, Arezzo in der Toskana, als »Aretinische Ware« bekannt, wurde als Luxusware für den Export im 1. Jahrhundert durch gallische Tonwaren ersetzt. Die Bruchstücke der etwa 40000000 Amphoren, die heute den Monte Testaccio in Rom bilden, zur Aufbewahrung von Wein und Olivenöl, die zwischen 150 und 220 in der Hauptsache aus Spanien importiert wurden, machen den relativen Zerfall der italischen Landwirtschaft und das Ende der Vorherrschaft italischer Weine deutlich. Domitian (81–96) versuchte denn auch, die Kultivierung von Rebstöcken in den Provinzen (nicht aber in Italien) zu beschränken; sein ausschließliches Ziel bestand darin, den Getreideanbau zu fördern. Dahinter mag sich aber vielleicht der Wunsch verborgen haben, die italische Landwirtschaft zu schützen.

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Darüber hinaus stellten die Zeitgenossen fest, daß die Menschenzahl Italiens abnahm. Nero (54–68) versuchte, einige süditalische Städte mit Veteranen zu bevölkern. Nerva (96–98) begann (wir wissen nicht, mit welchem Erfolg), Land für die Armen in Rom zu kaufen. Trajan (98–117) richtete das einzige ausgedehnte Sozialprogramm ein, das ein Kaiser einführte, mit dem Projekt der alimenta, das für den Lebensunterhalt der Waisen in den italischen Städten gedacht war. Die Besorgnisse der Zeitgenossen spiegeln sich in dem Panegyricus des Plinius auf Trajan, in dem er von einer Geldverteilung in Rom spricht, in die im besonderen Kinder einbeschlossen wurden: »Durch deine Fürsorge werden sie zu deinem Militärdienst heranwachsen ... sie werden ernährt zu unserer Stärkung im Krieg ... zu unserem Schmuck im Frieden ... mit ihnen werden die Feldlager, mit ihnen die Stämme (römischer Bürger) wieder aufgefüllt werden.«1 Ein absoluter – im Gegensatz zu einem relativen – Niedergang des Wohlstandes in Italien läßt sich nicht nachweisen. Für Teile des Südens ist jedoch bekannt, daß einige, wenn auch nicht alle Städte an Prosperität verloren und große Gebiete sich ständig wiederholenden Unruhen und Banditenüberfällen, hauptsächlich durch entlaufene Sklaven, ausgesetzt waren. Die äußeren Gefahren berührten Italien wenig. Nur im Bürgerkrieg des Jahres 69, für kurze Zeit im Jahr 168 und wiederum im Bürgerkrieg von 238 kam es zu ernsthaften Kämpfen, bis dann die Überfälle und Bürgerkriege um die Mitte des 3. Jahrhunderts einsetzten. Selbst diese scheinen aber nur den Norden der Halbinsel betroffen zu haben. Soweit wir wissen, wurden in dieser Periode keine italischen Städte zerstört und kam es zu keiner Verkleinerung der ursprünglichen Stadtgebiete, wie sich das im 3. Jahrhundert bei vielen gallischen Städten beobachten läßt. Die Archäologie scheint zu beweisen, daß Italien einem Muster folgte, das für viele andere Teile des Reiches einigermaßen charakteristisch ist: Danach nahmen städtischer Wohlstand und städtische Pracht bis zum 3. Jahrhundert zu, um dann im 3. Jahrhundert zu stagnieren. Wenn dieser Vorgang in Italien nicht so stark hervortrat, dann teilweise deshalb, weil nach der Regierung des Augustus keine neuen Städte gegründet wurden und eine Großzahl der schon bestehenden Städte ihre volle städtische Entwicklung erreicht hatte. Man könnte als Beispiel Verona wählen, wo das großartige, bis heute erhaltene Amphitheater, das Theater und die Straßenanordnung, die heute noch dem Zentrum der Stadt ihre Gestalt geben, schon zur Zeit des Augustus bestanden. Wenn später auch nur kleinere Verschönerungen vorgenommen wurden, so kam es andererseits auch zu keiner Verkleinerung und zu keinem Zerfall. Als Gallienus im Jahr 265 den Wiederaufbau der Stadtbefestigungen anordnete, verliefen die neuen Mauern etwas weiter draußen als die alten und wurden sogar noch ausgedehnt, um das Amphitheater mit einzuschließen.2 Italien hat somit noch weniger als die Provinzen eine »Geschichte«. Es kann weder die sozialen Veränderungen vorweisen, die die Romanisierung und die Entwicklung des städtischen Lebens begleiteten, noch, bis auf kleine Ausschnitte, die gedrängte Militärgeschichte des 3. Jahrhunderts, die beinahe alle anderen

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Teile des Reiches kennzeichnet. Statt dessen sind uns, besonders für die frühe Periode, weit mehr Informationen über Ackerbau und Grundbesitz erhalten, als sie uns aus anderen Gebieten zur Verfügung stehen. Vor allem aber liegen auf italischem Boden die beiden Städte Pompeji und Ostia, die von allen Städten des Altertums in ihren Einzelheiten bekanntesten; die erstere sehen wir so, wie sie in dem Augenblick aussah, als der Vesuv im Jahr 79 ausbrach, die andere ist in ihrem heutigen Erscheinungsbild weitgehend das Produkt des Wiederaufbaus und der Entwicklung in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Vom Beginn unserer Periode ist eine vollständige Beschreibung Italiens im fünften und sechsten Buch der Geographie Strabos erhalten, die mit dem wohlhabenden Po-Tal anfängt, das Getreide, Eicheln (zur Schweinefütterung), Pech, Wein und Wolle hervorbrachte und reiche Städte besaß, von denen Patavium (Padua) mehr als 500 Männer beherbergte, deren Besitz groß genug war, um sie unter die römischen equites einzureihen. Strabo beschreibt dann das gebirgige Ligurien mit seiner in Dörfern zerstreuten Bevölkerung; das sabinische Land von Rom tiberaufwärts mit seinen Oliven, Weinen, Eicheln, Vieh und den berühmten Maultieren von Reate; Rom selbst und im Süden davon Latium und Kampanien, wo sich vornehmlich die Gutshäuser und Villen der römischen Aristokratie befanden. Die griechischen Städte des Südens hatten inzwischen weitgehend ihre griechischen Einrichtungen und ihre eigene Kultur verloren und waren von den Italikern absorbiert worden (was Strabo »Barbarisierung« nennt). Besonders Neapel aber behielt seine gymnasia und Festspiele bei und wurde häufig von Römern besucht, die Geschmack am griechischen Leben gefunden hatten. Unter ihnen war auch Augustus, der kurz vor seinem Tode im Jahr 14 dort weilte, um den dort zu seinen Ehren eingerichteten Spielen beizuwohnen. Das 1. Jahrhundert scheint im großen und ganzen eine Periode des Friedens und der Prosperität gewesen zu sein. Aus dem Norden, von den Ausläufern der Alpen, sind uns Zeugnisse für die Ausweitung der Romanisierung auf einige Bergstämme erhalten, die noch kein Bürgerrecht besaßen. Denn durch ein von seiner Villa in Baiae (Kampanien) ausgestelltes Edikt verlieh Claudius einigen Alpenstämmen das Bürgerrecht, die zuvor dem municipium Tridentum (Trient) »zugeteilt« (für Zwecke der Rechtsprechung) waren oder in anderer Abhängigkeit standen; ihre Volksangehörigen hatten sich nicht nur unlöslich mit den Tridentinern vermischt, sondern waren, gleich anderen Bürgern, in die Prätorianerkohorten aufgenommen worden, stiegen zum Centurio auf und dienten in einigen Fällen sogar als ritterliche Geschworene in Rom. Claudius verkündete, obgleich ihr Anspruch auf Bürgerrecht keine legale Basis besäße, wäre es am besten, dieses als Tatsache anzuerkennen.3 Eine Vorstellung von dem Zustand des Ackerbaus in Mittelitalien vermittelt Junius Columella, ein Einwanderer aus Gades, der an drei Orten in Latium und wahrscheinlich an einem weiteren in Etrurien Besitzungen hatte und der gegen 60 ein Lehrbuch über Ackerbau schrieb. Darin gibt er Ratschläge für die einzelnen Aspekte der Bewirtschaftung eines nicht zu kleinen gemischten Gutes

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mit Geflügel, Vieh, Getreide-, Oliven- und Weinbau. Er beweist, daß die Ausbeutung der Arbeitskraft von Sklaven, die von ihrem Besitzer oder einem Sklavenaufseher (vilicus) überwacht wurden, am rentabelsten war, und beschreibt beispielsweise, wie man einen Keller ausrüsten mußte, um darin Sklaven zur Strafe einzusperren. Das Alternativsystem der Verpachtung des Landes an coloni wird nicht empfohlen, es sei denn für abseits liegende Besitzungen. An einer Stelle des Buches erwähnt er die außergewöhnliche Produktivität der Weingärten in Nomentum, die Seneca, dem Philosophen und Ratgeber Neros, gehörten. Die Geschichte dieser Weingärten wird in Einzelheiten in der Naturgeschichte Plinius’ des Älteren, eines jüngeren Zeitgenossen des Columella, erzählt. Ein Grammatiker zur Zeit des Claudius, Remmius Palaemon, hatte das Land für 600000 Sesterzen gekauft. Auf Anraten eines Fachmannes hatte er den Boden neu dränieren lassen und verkaufte nach acht Jahren eine einzige Weinernte für 400 000 Sesterzen. Dieser Gewinn weckte das Interesse des reichen Seneca, der die Weingärten einige Jahre später für etwa 2 400 000 Sesterzen kaufte. Seneca selbst betonte eine andere Funktion dieses Besitztums, wenn er beschrieb, wie er nach Nomentum hinausging, um sich von den Mühen des Stadtlebens zu erholen. Den lebendigsten Eindruck vom Wirtschaftsleben Italiens im 1. Jahrhundert vermittelt eine dichterische Quelle, das Porträt des reichen Freigelassenen Trimalchio, das im Satyricon des Petronius enthalten ist. Die drei Helden des Romans werden zum Mahl in das Haus des Trimalchio in einer Stadt Kampaniens geladen. Bei Tisch erzählt Trimalchio, wie er als junger Sklave aus Asia gekommen war, nach vielen Jahren als Günstling seines Herrn freigelassen und später zusammen mit dem Kaiser als Erbe eingesetzt wurde. Mit diesem Geld rüstete er eine Flotte von fünf Schiffen für den Handel mit der Stadt Rom aus, verlor sie allesamt in einem Sturm, ließ neue bauen und verdiente (wie er sagte) mit einer einzigen Fahrt zehn Millionen, was ihn in die Lage setzte, den anderen Teil des früheren Besitztums seines Herrn zu kaufen. Während des Mahles verliest ein Schreiber einen Bericht (die Zahlen können übertrieben sein, das Bild ist aber authentisch): »26. Juli. Auf dem Gut in Cumae, das dem Trimalchio gehört, 30 (Sklaven-)Jungen und 40 Mädchen geboren. Vom Dreschboden 500000 Viertelscheffel Weizen weggenommen. 500 Ochsen abgerichtet. Am gleichen Tag wurde der Sklave Mithridates gekreuzigt, weil er den genius unseres Herrn Gaius verfluchte ...« Später gibt Trimalchio genaue Anweisung für das Grab, das er für sich erbauen lassen wollte: »Ich bitte dich, Schiffe in vollen Segeln auf den Grabstein zu setzen und mich selbst, wie ich in meiner toga praetexta (in der Eigenschaft als sevir augustalis – Gemeindepriester für den Kaiserkult) auf dem Tribunal sitze, mit fünf Goldringen, und wie ich aus einem Sack Münzen an die Bevölkerung verteile ...« Die Inschrift sollte folgendermaßen lauten: »Hier ruht C. Pompeius Trimalchio. Das Amt eines sevir augustalis wurde ihm in seiner Abwesenheit übertragen. Obgleich er auf jeder Liste (der Magistratsdiener) in Rom hätte stehen können, hat er dies nicht

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gewollt. Fromm, tapfer und wahrheitsliebend fing er mit sehr wenig an, hinterließ dreißig Millionen und ging niemals hin, um einen Philosophen anzuhören.« Wenn es auch Möglichkeiten zum Erwerb von Reichtum und Status gab, bestand gleichzeitig doch noch immer soziale Unzufriedenheit, besonders in dem weniger wohlhabenden Süden. Im Jahr 24 hielt z.B. ein aus den Prätorianerkohorten entlassener Soldat im Gebiet von Brundisium heimliche Versammlungen ab und schlug Aufrufe an die Sklaven, die auf dem ausgedehnten Weideland arbeiteten, an, in denen er sie aufforderte, für die Freiheit zu kämpfen; der Aufstand wurde aber schnell niedergeworfen. Dreißig Jahre später, im Jahr 53, wurde gegen eine Frau senatorischer Abkunft Anklage erhoben, weil sie ihren Sklaven in Kalabrien gestattet hatte, den Frieden Italiens zu stören. Die gleichen Unruhen sollten sich im frühen 3. Jahrhundert wiederholen. Der daneben gelegentlich stattfindende Aufruhr in den Städten bedrohte die Ordnung nicht ernstlich. Unter Tiberius (14–37) verhinderte z.B. das Volk von Pollentia, daß der Leichenzug eines Centurio das forum verließ, bis die Erben die Abhaltung von Leichenspielen versprachen, und wurde durch Truppen, die der Kaiser dorthin sandte, erbarmungslos bestraft. Im Jahr 59 brach während einer Gladiatorenvorführung in Pompeji ein Kampf zwischen den Einheimischen und dem Volk von Nuceria aus (dargestellt auf einem pompejanischen Fresko) und entwickelte sich zu einer regelrechten Feldschlacht mit Steinen und Waffen. Der Senat schickte die Anführer in die Verbannung, löste die illegalen Gilden (collegia) in Pompeji auf und verbot für einen Zeitraum von zehn Jahren die Abhaltung von Spielen. Aufgrund seiner Nähe, seiner historischen Privilegien und der Bedürfnisse der Stadt Rom widmeten die Kaiser ihre Aufmerksamkeit in größerem Maß Italien als den anderen Teilen des Reiches. Am auffälligsten beweisen das die beiden Häfen von Ostia; den ersten erbaute Claudius und vollendete Nero, den zweiten (inneren) Trajan. Vor Claudius mußten für Rom bestimmte Schiffe vor Ostia ankern. Ihre Ladung mußte entweder ganz in kleinere Boote umgeladen werden oder mit halber Fracht nach Rom fahren. Der Grundriß des 42 begonnenen und 62 vollendeten Hafens ist erst neuerlich durch Ausgrabungen enthüllt worden. Dieser Hafen war an der weitesten Stelle über 1000 Meter breit und wurde von zwei Molen mit einer Länge von 760 und 600 Metern geschützt, die aus Marmorblöcken und Zement gefertigt waren. Am Ende der Nordmole hatte man ein 95 Meter langes, mit Zement gefülltes Schiff versenkt, das als Fundament für einen Leuchtturm diente. Auf der anderen Mole standen Hafengebäude. Im Jahr 64 gab Nero eine wunderschöne Münze heraus, auf der der Hafen mit seinen beiden Molen und vielen Schiffen zu sehen ist, die in seinem Schutz vor Anker liegen.4 Nero begann auch den Bau eines Kanals von Terracina nach Ostia, der die Schiffahrt auf dem letzten Teil der Reise nach Rom die Küste entlang schützen

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sollte, ohne ihn fertigzustellen. Er versuchte, die Bevölkerung Antiums an der Küste Latiums und der alten griechischen Kolonie Tarentum mit Veteranen zu vermehren; der Großteil der Legionäre ließ sich aber nicht nieder und entwich in die Provinzen, in denen sie gedient hatten. Vespasian unternahm einen ähnlichen Versuch, als er Veteranen der misenischen Flotte in Paestum ansiedelte. Wir wissen davon aus diplomata, die fünf Männern gegeben wurden; da zwei derselben in Bulgarien, eines in Jugoslawien, eines in Korsika und nur eines in der Nähe von Neapel gefunden wurden, kann man annehmen, daß auch in diesem Fall die Kolonisten es vorzogen, sich in aller Stille heimwärts in ihre eigenen Provinzen aufzumachen. Ehe Vespasian die Macht übernahm, hatte Italien im Jahr 69, »dem Jahr der vier Kaiser«, die ersten ernstlichen Kämpfe seit mehr als hundert Jahren zu bestehen. Nach dem Tod Neros im Jahr 68 war Galbas Marsch von Spanien nach Rom von keinen größeren Kampfhandlungen begleitet gewesen. Im Januar 69 proklamierten die germanischen Legionen ihren Befehlshaber Vitellius als Kaiser und brachen in Norditalien ein, wo sie auf die Truppen aus Rom trafen, die Otho stützten, der Galba ermordet und sich an seine Stelle gesetzt hatte. Selbst Othos Truppen sollen, wie Tacitus sagt, auf ihrem Weg nach Norden weite Gebiete verwüstet haben. Den größten Schaden richteten aber die Truppen des Vitellius an, der Placentia (Piacenza) belagerte, das Amphitheater außerhalb der Mauern zerstörte und nach seinem Sieg von Bedriacum bei Cremona die Kolonien und Munizipien Norditaliens verheerte. Tacitus beschreibt, wie die ansässige Bevölkerung die Gelegenheit benutzte, unter dem Deckmantel der Soldaten alte Rechnungen zu begleichen, und wie diejenigen Soldaten, die aus diesem Gebiet stammten (ihre Zahl war noch recht groß) und es genau kannten, die Truppen den Weg zu den reichsten Gütern und Besitzungen führten. Die zweite Hälfte des Jahres 69 brachte noch schlimmeres Gemetzel und vermehrte Zerstörung, als sich die Truppen des Vitellius ihrerseits den Legionen aus Mösien und Pannonien gegenübersahen, die zur Unterstützung Vespasians in Italien eingefallen waren. Bei Bedriacum kam es zu einer zweiten Schlacht, in der die Invasoren Sieger blieben. Sie belagerten dann Cremona, in dem sich viele Menschen aus allen Teilen Italiens, die zum Besuch eines Marktes gekommen waren, aufhielten, nahmen es ein und plünderten es. Auf diese Weise wurde, wie Tacitus berichtet, eine schöne Stadt zerstört, die 285 Jahre zuvor zur Verteidigung gegen Hannibal als Militärkolonie begründet worden war und in der Zwischenzeit dank seiner fruchtbaren Felder und günstigen strategischen Lage am Po zur Blüte gelangt war. Tacitus beschließt seine Schilderung jedoch mit den Worten: »Bald kehrte die noch lebende Bevölkerung nach Cremona zurück; die Plätze und die Tempel wurden durch die Freigebigkeit der Bürger wiederhergestellt, und Vespasian lieh ihnen seine Unterstützung.«5 Es ist bezeichnend für den neuen Kaiser, der von Natur geizig war und die finanziellen Verluste der Bürgerkriege auszugleichen suchte, daß er weniger freigebig als darauf bedacht war, seine Einkünfte zu mehren. Er versuchte

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darum, Landlose (subseciva), die einen Teil der Kolonien in Italien darstellten, aber bei der Landzuteilung nicht den ursprünglichen Kolonisten zugewiesen worden waren, für den Staat zurückzufordern. Man hatte diese allesamt erst später okkupiert, und die Rückforderung wird normalerweise so erfolgt sein, daß der Kaiser von den Inhabern für eine Übertragung in vollen Besitz als Gegenleistung Geld verlangte. In der Folge entstanden in Italien weit verbreitete Unruhen und machten sich eine Reihe von Stadtdelegationen zu Vespasian auf. Er brach darum die Aktion ab, Titus (79–81) führte sie in geringerem Umfang weiter, und Domitian erließ dann ein Edikt, in dem er in aller Form die Ansprüche des Staates aufgab (diese Episode ist ein gutes Beispiel für die Grenzen der Staatsmacht in der alten Welt). Das Edikt Domitians scheint sofort bei seiner Thronbesteigung im Jahr 81 ausgegeben worden zu sein, denn in einer Inschrift aus dem Jahr 82 erscheint er als Schlichter in einem Streit wegen der Inbesitznahme solcher Ländereien zwischen dem Volk von Firmum (einer von Augustus eingerichteten Veteranenkolonie) und von Falerii, in dem keine kaiserlichen Ansprüche geltend gemacht werden. Der Versuch, die subseciva zurückzugewinnen, war mit einem parallel laufenden Programm verbunden, durch das den Städten ihre eigenen öffentlichen Ländereien zurückgegeben werden sollten, die Privatpersonen an sich gerissen hatten. Wir hören davon in einem der jüngsten Dokumente aus Pompeji, einer Inschrift, die darüber Auskunft gibt, daß ein Tribun der Prätorianerkohorten, Suedius Clemens, auf Geheiß Vespasians Verhöre anstellte und Landvermessungen vornahm und dann öffentlichen Besitz der Stadt zurückgab. Nach wenigen Jahren folgte jedoch der Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79, der Pompeji unter einer dicken Aschenschicht begrub, unter der es verborgen blieb, bis seine Lage durch die Entdeckung der Inschrift des Suedius Clemens im Jahr 1763 offenbar wurde. Die seither vorgenommenen Ausgrabungen, besonders dieses Jahrhunderts, gaben in vielerlei Einzelheiten Auskunft über das Leben in dieser alten oskischen Stadt, das von der griechischen Kolonisation Süditaliens beeinflußt und in den beiden letzten Jahrhunderten von Rom beherrscht wurde. Pompeji stand (wie die wenige Kilometer entfernte Zwillingsstadt Herculaneum) auf einer Stufe städtischer Entwicklung, auf der das einstöckige »Atrium«- Haus – d.h. ein um einen gedeckten zentralen Hof gruppiertes Gebäude mit einer Dachöffnung, durch die Regenwasser in ein Becken (impluvium) fiel – noch die Grundeinheit darstellte, obwohl Säulenhöfe, weitere Zimmerfluchten und Gärten in wachsendem Maß angefügt wurden. Seit dem 1. vorchristlichen Jahrhundert hatte man darüber hinaus oft ein zweites Stockwerk aufgesetzt. Keinerlei Spuren verweisen aber auf die vielstöckigen Mietskasernen, die für das Ostia des 2. Jahrhunderts und Rom selbst charakteristisch sind. Aus der späteren Periode des städtischen Lebens erhielten sich Spuren vom Umbau der Stadthäuser zu Handels- und Manufakturzwecken (die Reichen tendierten offenbar dazu, in die Villen der Vororte umzuziehen). Beide Tendenzen werden

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an einem Haus des 1. nachchristlichen Jahrhunderts sichtbar, bei dem der normalerweise von einem Säulenhof eingenommene Raum von einer Bäckerei ausgefüllt wird und sich die Wohnräume im ersten Stock befinden, die dort um eine vom Atrium über eine Treppe erreichbare Galerie gruppiert sind. Eine Variante dazu stellt das »Haus des Menander« dar (das seinen Namen nach einer darin gefundenen Statue trägt), ein weitläufiges Gebäude, dessen Kern aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. stammt und allmählich erweitert wurde. An seiner Rückseite befinden sich ein Hof mit Stallungen, einer Tränke und zwei leichten Wagen, eine Reihe amphorae, die zur Abfüllung bereitstehen, ein Raum für den Sklavenaufseher (vilicus) und eine Reihe von Räumen für Sklaven. Das ist mit anderen Worten ein Beispiel für eine Form, die in den Kleinstädten des Reiches wahrscheinlich häufig vorkam: ein Stadthaus, das gleichzeitig ein Bauernhaus war, von dem aus die nahegelegenen Felder bearbeitet wurden. Von unmittelbarerer Anziehungskraft und unmittelbarerem Interesse sind Häuser wie das der Vertier, zweier Kaufleute und Brüder, mit seinen wundervollen Fresken, die aus den letzten Jahrzehnten der Stadt datieren, oder die Villa der Geheimnisse an einer Vorortstraße – die nach ihren dionysische Rituale darstellenden Wandgemälden aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. so benannt ist. Dieses prächtige und luxuriöse Haus wurde von dem Erdbeben zerstört, das Pompeji im Jahr 62 heimsuchte, und ging anschließend in die Hände eines Freigelassenen über, der es gerade mit Weinpressen und einem Weinkeller ausstattete, als der Vesuv ausbrach. Auch im Umkreis Pompejis standen einige Villen. Eine von ihnen beherbergte Wohnräume für Sklaven und ein Sklavengefängnis mit eisernen Stöcken, das dem von Columella empfohlenen ähnelt. Das kommunale Leben der Stadt wird durch das Amphitheater beleuchtet, das um 80 v. Chr. gebaut wurde, durch das Forum, das von einer Kolonnade umgeben ist, die die sich darum gruppierenden Tempel verdeckt, durch eine Basilika und ein Gebäude für die Walkergilde, vor allem aber durch eine allein aus Pompeji erhaltene Einzelheit, nämlich die Hunderte von Inschriften an den Wänden, die Kandidaten für die Gemeindewahlen anpreisen. Eine typische Inschrift lautet: »Ich bitte euch, Nachbar, wählt L. Statius Receptus zum duovir, der des Amtes würdig ist. Aemilius Celer, euer Nachbar, schrieb dies. Wenn irgendein Gegner das wegwischt, soll er krank werden.«6 Unmittelbar nach der Verschüttung der Stadt kehrten einige Einwohner zurück, gruben sich durch die dünneren Aschenschichten und bargen Wertgegenstände aus den Häusern. Kaiser Titus (79–81) stellte Geldmittel zum Wiederaufbau dieses Gebietes zur Verfügung. Es wurde aber nichts Bedeutsames erreicht. Außer in einer einzigen Inschrift und einer Andeutung in einem Brief des Plinius lassen sich auch keinerlei Spuren des Projekts finden, für das Nerva (96–98) 60000000 sesterces zum Kauf von Landlosen für die Armen Roms zur Verfügung stellte. Ganz anders ist dies bei dem »Alimenten«-Programm Trajans (98–117), durch das Geldsummen für den Unterhalt von

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Kindern in den italischen Städten eingesetzt wurden. Der Kaiser gab dabei eine Pauschalsumme für jede Gemeinde aus, die dann unter die örtlichen Grundbesitzer im Verhältnis (das etwa durchschnittlich bei 8 Prozent lag) zu dem Geldwert ihres Grundbesitzes verteilt wurde, den sie bei den Behörden hatten eintragen lassen. Für diese Summe zahlten sie jährliche Zinsen von fünf Prozent für den Unterhalt der Kinder. Einige Kommentatoren glauben, dem Projekt habe eine doppelte Absicht zugrunde gelegen; die zweite sei die Förderung der italischen Landwirtschaft durch diese Kapitalzuwendungen gewesen. Tatsächlich sind in unseren Quellen dafür aber keinerlei Hinweise zu finden und entspricht das System lediglich dem Vorgang der obligatio praediorum (der Angabe von Grundbesitz als einer Sicherheit), durch den die Geldmittel der Gemeinden geschützt wurden, wenn man sie an Privatpersonen weitergab. Es gibt keine klaren Beweise dafür, daß die »Anleihen« den Empfängern willkommen waren oder die Annahme auf Freiwilligkeit beruhte. Das Projekt scheint, zumindest vereinzelt, bis in das frühe 3. Jahrhundert fortbestanden zu haben. Diesbezügliche Inschriften sind aus 46 der etwa 400 italischen Städte erhalten. Am meisten wissen wir darüber aus zwei langen Inschriften aus der Regierungszeit Trajans – der einen von 101 aus dem Gebiet der Ligures Baebiani bei Beneventum und der anderen von 103–113 aus Veleia in Norditalien. Die letztere gibt eine frühere Stufe innerhalb der Vorgänge an, da sie eine detaillierte Liste der Besitzungen (wie sie von den Eigentümern angegeben wurden), die als Sicherheiten für die auszugebenden Gelder diente, und Angaben über die Höhe der Anleihen in den jeweiligen Fällen enthält. Für die Eigentumsstruktur ist charakteristisch, daß von den 49 Grundbesitzern, die über ihre Besitztumsverhältnisse Meldung machten (über hundert weitere Personen werden bei Angabe der Einzelheiten der Lage erwähnt), beinahe alle eine Reihe getrennter Besitzungen – kultiviertes Land, unkultivierten Boden, Wälder – mit verschiedener Lage aufführen. Darüber hinaus werden Besitzungen erwähnt, die dem Kaiser, dem römischen Staat und Nachbarstädten gehörten. Die erste Zeile der Inschrift gibt die Gesamtsumme (1 044 000 sesterces) an, die zu Veleia »durch die Gnade des Kaisers« verliehen wurde, die Zahl der Kinder, die man damit unterstützte – 245 Jungen legitimer Herkunft mit monatlich 16 sesterces, ein illegitimer Junge und 34 legitime Mädchen mit 12 und ein illegitimes Mädchen mit 10 sesterces – und die zu zahlenden Zinsen, nämlich 5 Prozent. Die Inschrift aus dem Gebiet der Ligures Baebiani erfüllte einen anderen Zweck, indem sie in wenigen Einzelheiten die Besitzungen, deren Wert und die damit gesicherten Beträge aufführt, daneben aber die halbjährlich zu zahlenden Zinsen festhält. Sie stellt also ein Verzeichnis der durch dieses Projekt entstehenden Einkünfte dar. Die auf dieser Inschrift erwähnten Grundbesitzer kommen einem guten Querschnitt durch die besitzende Klasse gleich, von Privatpersonen bis zu den Mitgliedern der örtlichen Aristokratie und des römischen Senats.7

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Eine weitere Inschrift enthält das Dekret des Stadtrates von Ferentinum, das Pomponius Bassus belobigt (einen der beiden Senatoren, die in der Inschrift aus Veleia als Begründer des Programms genannt werden), weil er sich der Aufgabe in solcher Weise entledigte, daß er ewigen Dank verdiente, und das die Absendung einer Gesandtschaft genehmigte, die ihn bitten sollte, patronus der Stadt zu werden. Damit ist es für einen Aspekt der Politik und Diplomatie der Kaiserzeit typisch. Diese Dokumente verdienen deshalb in Einzelheiten erwähnt zu werden, weil sie beinahe das einzige Beispiel eines größeren Sozialprogramms darstellen, das in der Kaiserzeit zur Ausführung gelangte. Es kann kein Zweifel über den großen Umfang und die große Komplexität der Unternehmungen bestehen; leider besitzen wir aber keinerlei Unterlagen darüber, wie weit sie die Bevölkerungsdichte Italiens beeinflußten. Dieses Programm brachte damals und in der Folge mit Notwendigkeit die Aktivität regionaler Beamter in den Städten mit sich, die vom Kaiser ernannt wurden. Beinahe aus der gleichen Zeit sind uns die ersten Beispiele aus Italien für einen neuen Typ des kaiserlichen Beamten erhalten, des curator (Aufsehers) einer Stadt, eines Mannes, der gewöhnlich senatorischen oder ritterlichen Rang hatte und die öffentlichen Mittel überprüfen und kontrollieren sollte. Als zum Beispiel der Stadtrat von Caere im Jahr 114 einem kaiserlichen Freigelassenen ein Stück Gemeindeland zuweisen wollte, auf dem er auf eigene Kosten ein Gebäude für die Augustales errichten sollte, schrieben sie an den curator und baten um seine Erlaubnis. Curatores sind in ganz Italien für das 2., 3. und 4. Jahrhundert bezeugt. Während des 2. Jahrhunderts tauchten kaiserliche Beamte mit einem größeren Aufgabenbereich auf, zuerst die vier von Hadrian (117–138) eingesetzten Prokonsuln, die in Italien die Gerichtsbarkeit ausübten, und dann unter Marcus Aurelius (161–180) eine Reihe von iuridici (Richter), die gewöhnlich Senatoren im Rang eines Proprätors waren. Der erste iuridicus der Transpadana (dem Gebiet nördlich des Po) war Arrius Antoninus in den sechziger Jahren des 2. Jahrhunderts, der von der Stadt Concordia geehrt wurde, weil er bei ihrer Kornversorgung geholfen hatte (römische Beamte hielten sich selten an ihre genau begrenzte Aufgabensphäre). Cornelius Fronto, der Redner und Freund des Marcus Aurelius, schrieb ebenfalls an Arrius Antoninus und unterstützte die Forderungen eines Mannes, der vor ihn kommen sollte, um sein Recht als decurio von Concordia zu verteidigen. Das erste Beispiel für ein Amt, dessen Inhaber für ganz Italien zuständig war, stammt aus dem Jahr 215, als ein Senator, der zuvor sowohl curator als auch iuridicus in Italien gewesen war, ernannt wurde, »um die Lage Italiens zu verbessern«. In den sechziger oder siebziger Jahren des 3. Jahrhunderts wurde ein anderer Senator mit dem Titel eines corrector für Italien eingesetzt. Zur gleichen Zeit verschwand das Amt des iuridicus. So entwickelte sich die direkte kaiserliche Kontrolle über Italien. Will man sich ein Bild von dem sozialen und wirtschaftlichen Leben Italiens machen, muß man

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sich wiederum auf die Regierungszeit Trajans beziehen, und zwar auf die Briefe Plinius’ des Jüngeren, eines Senators aus Como in Norditalien.8 Plinius hatte in Como Eigentum, das er von seiner Mutter geerbt hatte, und besaß eine Reihe von Villen am Seeufer. Bei seinem Freund Calvisius, einem decurio der Stadt Como, fragte er beispielsweise brieflich an, ob er Grundstücke – Felder, Weingärten und Wälder –, die an sein Besitztum grenzten, erwerben sollte oder nicht. Daraus würde sich die Einsparung von Haus- und Gartensklaven, Tischlern und Jagdausrüstung ergeben und der Vorteil, nur ein Landhaus in vollem Betrieb halten zu müssen; der Nachteil bestände darin, daß die Ländereien von ihrem früheren Besitzer sehr vernachlässigt worden seien, denn dieser habe Verzögerungen bei der Entrichtung der Pachtgelder damit beantwortet, daß er die Gerätschaften seiner Pächter verkaufte, wodurch er deren Leistungsfähigkeit weiter herabsetzte. Der Preis war darum von 5 auf 3000000 sesterces gesunken. An anderer Stelle beschreibt er voller Genugtuung, wie er Kaufleuten einen Preisnachlaß für seinen Weinberg gewährt habe, die, nachdem sie diesen gekauft hatten, herausfanden, daß sie ihn nicht so günstig wiederverkaufen konnten, wie sie gehofft hatten. Als einer der angesehensten Bürger gab Plinius nicht nur Geschenke an die Stadt Como – er kam z.B. für ein Drittel der Kosten einer Schule auf und stellte Ländereien zur Verfügung, aus deren Erträgen für zahlreiche Kinder alimenta gezahlt wurden –, sondern unterhielt einen großen Bekanntenkreis mit Leuten aus Como und anderen Orten im Norden, die ein erkennbares Zusammengehörigkeitsgefühl und Stolz auf die Pflege der altehrwürdigen Tugenden verband. So schildert Plinius in einem Empfehlungsschreiben einen zukünftigen Schwiegersohn mit den Worten »Seine Heimatstadt ist Brixia (Brescia) in diesem unserem Italien, das immer noch so viel Frömmigkeit, Sparsamkeit und sogar altväterliche ländliche Einfachheit bewahrt ... Seine Großmutter mütterlicherseits heißt Serrana Procula und stammt aus Patavium (Padua). Du kennst die Lebensweise in jenem Landstrich; Serrana ist selbst den Patavinen ein Muster der Strenge«. Plinius gehörten auch Besitzungen in Tifernum Tiberinum in der Toskana, die er vielleicht von seinem Onkel mütterlicherseits, dem Enzyklopädisten Plinius dem Älteren, geerbt hatte. Im Jahr 98 schrieb er an Trajan und bat um die Erlaubnis, seinen Posten verlassen zu dürfen, um diese Güter zu besuchen (die ihm pro Jahr 400000 sesterces einbrachten). Dort machte der Beginn einer neuen Fünfjahresperiode seine Anwesenheit notwendig, denn er mußte mit neuen Pächtern verhandeln. Er wollte gleichzeitig auf eigene Kosten einen Tempel für die Kaiserstatuen errichten lassen. Das Bauwerk wird in der Stadt Tifernum entstanden sein, dessen patronus er schon seit seiner Jugend war. Die Einwohner feierten, wie er sagt, seine Ankunft, trauerten bei seiner Abreise und frohlockten über die Erfolge seiner Karriere. Er beschreibt dann auch, wie er seine Güter aufsuchte, zu Pferde eine Inspektionsreise unternahm und die nicht enden wollenden Beschwerden und Streitigkeiten seiner Pächter anhörte. In einem anderen Brief, der keine Ortsangabe enthält, erklärt er, daß er sein bisheriges

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System, nach dem ein Pachtgeld in bestimmter Höhe erhoben würde, ändern wollte. Dieses System habe die Pächter häufig veranlaßt, alles, was sie produziert hätten, für sich zu behalten und zu verzehren, da sie, wenn sie erst einmal in Zahlungsverzug geraten wären, nicht hoffen könnten, mit ihren Zahlungen nachzukommen. In Zukunft wollte er einen Anteil an den Erträgen verlangen, was gerechter sein sollte, andererseits aber bedeutete, daß er einige seiner Sklaven zur Aufsicht einsetzen müßte, die die Erträge kontrollierten und seine Anteile einforderten. Schließlich besaß Plinius, wie andere Mitglieder der römischen Gesellschaft, eine Villa außerhalb Roms an der Küste von Laurentum. Er beschreibt die Vorzüge seines Landhauses in einem langen Brief, die Säulengänge, die Speisezimmer, das Bad mit der Heißwasseranlage, die Turmzimmer mit Blick auf das Meer und die von Villen gesäumte Küste, die Gärten und Pavillons. Plinius pflegte sich dorthin zurückzuziehen, wenn er von den Mühen seiner Amtsgeschäfte ausruhen und sich der Schriftstellerei widmen wollte. Unter den vielen Schilderungen über seine Amtstätigkeit findet sich Plinius’ Beschreibung eines Besuchs in dem Landhaus Trajans in Centumcellae (Civitavecchia), wo der Kaiser den Bau eines Hafens beaufsichtigte. Dieser ist bisher unerforscht geblieben. Dafür ist aber der große sechseckige Hafen gut bekannt (mit einer Seitenlänge von jeweils nicht ganz 400 m), der unter Trajan nördlich des Tiber vom claudischen Hafen landeinwärts gegraben wurde und mit diesem und dem Fluß verbunden war. Der Hafen war von Lagerhäusern umgeben und diente offenbar dem Hauptimport von Nahrungsmitteln für Rom. Rings um die beiden Häfen wuchs eine Stadt (die noch nicht vollständig ausgegraben ist), die so bedeutend war, daß dort im frühen 4. Jahrhundert ein Bischof residierte. Das Wachstum dieser Stadt – einfach Portus, der Hafen, genannt – führte zu dem schließlich eingetretenen Niedergang Ostias, das zwischen dem Südufer des Tiber und der Küste lag.9 Ostia war im 4. Jahrhundert v. Chr. als römische Kolonie gegründet worden. Sein rechtwinkliger Grundriß bestimmte das Aussehen des Stadtkerns auch weiter. Der Ausdehnung und Renovierung besonders im 2. vorchristlichen Jahrhundert und in der augusteischen Periode folgte, vielleicht seit Domitian (81–96), ein umfassender Neuaufbau der Stadt, der bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts fortdauerte. Der Baugrund wurde um etwa einen Meter angehoben, und die »Atrium«-Häuser, die wahrscheinlich denjenigen Pompejis ähnelten, wurden weitgehend durch Wohnblocks ersetzt, die in Backstein drei, vier und sogar fünf Stockwerke hochgemauert wurden und im Erdgeschoß zur Straße hin Läden hatten. In den gleichen Zeitraum fällt die Errichtung eines neuen Jupiter-, Juno- und Minervatempels am Forum, die Vergrößerung des Forums, dem man eine neue basilica (Markthalle) und ein neues Versammlungshaus (curia) für den Rat anfügte, und der Bau von mindestens acht neuen öffentlichen Bädern. Die Inschriften weisen einen gleichlaufenden Wechsel in der Zusammensetzung der herrschenden Klasse von

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Ostia aus. Die örtlichen Ämter, die im 1. Jahrhundert weitgehend das Reservat einiger weniger alteingesessener Familien waren, wurden auch für neu Eingewanderte zugänglich, für solche, die durch die Gilden (collegia) aufgestiegen waren, und selbst für die Söhne und Abkömmlinge von Freigelassenen.

� Abb. 6: Eine Straße in Ostia mit einem Häuserblock (insula) aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, der ursprünglich mindestens drei, möglicherweise vier oder fünf Stockwerke hatte. Im Erdgeschoß befanden sich Geschäfte. Die Wohnungen erreichte man über Treppen durch getrennte Eingänge, von denen einer die kleine Tür in der Mitte des Bildes ist. Die kleinen Fenster auf dem Bild zeigen Zwischengeschosse, in die man direkt aus den Läden gelangte. Die neue soziale Ordnung findet in der Inschrift eines gewissen Marcus Licinius Privatus aus dem späten 2. Jahrhundert ihren typischen Ausdruck, eines Freigelassenen, der Ämter in den Gilden der Bäcker und Maurer bekleidete, als Schreiber der städtischen Magistrate fungierte, mit den insignia eines Ratsherrn und einem Ehrensitz bei öffentlichen Veranstaltungen ausgezeichnet wurde (er hatte 50 000 sesterces für die Stadtkasse gestiftet) und dessen Söhne Ratsherren und sogar römische equites waren. Zu dieser Zeit fand der Neuaufbau Ostias praktisch ein Ende. Im 3. Jahrhundert trifft man sogar auf Anzeichen, daß einzelne Grundstücke ganz aufgegeben wurden und daß man z.B. nach dem

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Brand einer Bäckerei durch deren Ruinen einen Pfad laufen ließ. Unsere Belege aus dem 3. Jahrhundert lassen keinen plötzlichen Zusammenbruch erkennen; sie deuten aber auf mehr als eine bloße Bevölkerungsverschiebung zugunsten von Portus hin und machen deutlich, daß Ostia, das von Invasionen verschont blieb, durch den in allen Teilen des Reiches zu beobachtenden Zerfall städtischer Aktivität getroffen wurde. Die Ruinen von Ostia lassen erkennen, wie sehr beliebt die östlichen Kulte im römischen Westen in der Kaiserzeit waren. Man grub einen Tempel der Kybele, der Großen Mutter, aus, der in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts gebaut worden war und an den sich Tempel der assoziierten Gottheiten, des Attis und der Bellona, angeschlossen hatten. Inschriften verzeichnen die Opferung von Stieren und Widdern und die jährliche Prozession, in der eine Pinie als Symbol des toten Attis zum Tempel der Kybele geleitet wurde. Dieser Kult und diejenigen der Isis und des Serapis scheinen um die Mitte des 3. Jahrhunderts durch das Vordringen der Mithrasverehrung an Bedeutung verloren zu haben; man hat in Ostia die recht beträchtliche Zahl von 15 Schreinen dieses Kults aufgefunden. Ausgrabungen seit 1961 haben auch eine Synagoge zutage gefördert, die außerhalb der Stadt nahe der Küste lag. Die erhaltenen Reste des Baus entstammen in der Hauptsache dem vierten Jahrhundert; darunter fand man aber Spuren einer früheren Synagoge, die in das 1. nachchristliche Jahrhundert gehört und somit (zusammen mit der in Masada entdeckten) die älteste Synagoge darstellt, die uns bekannt ist.10 Die Hinweise auf die Stellung des Christentums sind nicht so eindeutig; einige Gegenstände von christlichen Friedhöfen in Ostia und Portus stammen vielleicht aus dem 3. Jahrhundert, aus beiden Orten gibt es Nachrichten über Märtyrer, und in beiden Städten lebten zu Beginn des 4. Jahrhunderts Bischöfe. Für das Italien im übrigen Teil unserer Periode, für das Italien des 2. und noch mehr des 3. Jahrhunderts, sind sehr wenige zusammenhängende Berichte erhalten, in denen teilweise zum Ausdruck kommt, wie wenige große Vertreter die lateinische Literatur nach Plinius in Italien hatte. Spärliche Nachrichten beleuchten die Vorgänge. Eine Inschrift aus Triest ehrt z.B. einen jungen Einwohner der Stadt, der in den römischen Senat, wie gesagt wird, vor allem deshalb eintrat, weil er die Interessen seiner Heimatstadt schützen wollte, der Triest häufig vor Antoninus Pius (138–161) vertrat und schließlich die kaiserliche Erlaubnis dafür erlangte, daß die Mitglieder zweier Stämme, die der Stadt unterstellt waren, Stadträte und Gemeindebeamte werden durften. Sie sollten nach ihrer Wahl für sich selbst das Bürgerrecht erwerben und, was noch wichtiger war, die Belastungen durch die Gemeindeämter mit deren ursprünglichen Inhabern teilen. Wenn die Gemeindeämter auch eine Belastung darstellten, konnten die Inhaber derselben ihrerseits jedoch die ihnen unterstellten Personen bedrücken. Ein Fall dieser Art wurde um 170 bekannt, als die Stadtbeamten von Saepinum und Bovianum anfingen, die Schäfer zu belästigen, die Herden über die Abruzzen brachten. Sie warfen diesen vor, die

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Herden seien gestohlen und die Schäfer seien entlaufene Sklaven. Ihre Schwierigkeiten wurden nur deshalb abgestellt, weil ein Teil der Herden kaiserlicher Besitz war und kaiserliche Beamte sich bei den Prätorianerpräfekten beschwerten, die gegenüber den Stadtmagistraten eine scharfe Verwarnung aussprachen. Die vorausgehenden Jahre wurden jedoch von weit verhängnisvolleren Ereignissen gekennzeichnet: von der Aushebung zweier neuer Legionen in Italien um 160, von der Ausbreitung der Pest, die im Jahr 166 von den Truppen des Kaisers Lucius Verus eingeschleppt wurde, und dann (vielleicht im Jahr 168) von einer Invasion wilder Stämme von jenseits der Donau, die Aquileia belagerten und Opitergium niederbrannten, ehe sie sich wieder zurückzogen (es war die erste ausländische Invasion Italiens seit mehr als 250 Jahren). Nachdem diese Gefahren vorüber waren, wurde Italien (wenn wir dem griechischen Historiker Herodian glauben können) wieder in den achtziger Jahren des 2. Jahrhunderts von Aufständischen aus Gallien und Spanien unter Maternus (s. Kap. 8) in Unruhe versetzt, die sich nach Rom aufmachten und entdeckt wurden, ehe sie Commodus beseitigen konnten. Im Jahr 193 folgten die Ermordung des Pertinax, die Proklamation des Didius Julianus und der Marsch des legatus von Pannonia Superior, Septimius Severus (193–211), auf Rom. Er brach mit der Tradition, indem er eine Legion in der Nähe des kaiserlichen Palastes in Alba südlich Roms stationierte, und besetzte die bestehenden Prätorianerkohorten, die sich bisher in der Hauptsache aus Italikern rekrutierten, mit Männern aus den Donau-Legionen und zwang damit die Jugend Italiens, wie der Zeitgenosse Cassius Dio feststellt, als Gladiatoren oder Banditen zu leben. Die folgenden Jahre brachten tatsächlich einen berüchtigten Banditen, Felix Bulla, hervor. Dieser plünderte mit einer Schar von 600 Männern Süditalien aus, befreite zwei seiner Männer aus dem Gefängnis, indem er vorgab, ein Gemeindebeamter zu sein, der diese bei Spielen den wilden Tieren vorwerfen wollte, nahm einen Centurio gefangen und schickte ihn mit der Botschaft an Severus zurück, er solle seine Sklaven gut verpflegen, damit sie nicht zu Räubern würden. Um 206 wurde er gefangen und selbst den wilden Tieren vorgeworfen.11 Weitere Unruhe entstand 238, als Maximinus, der 235 von den Legionen am Rhein zum Kaiser ausgerufen worden war, nach Norditalien marschierte und Aquileia belagerte, das zum Senat und zu den Kaisern Pupienus, Balbinus und Gordian III. hielt. Herodians Bericht dieser Operationen enthüllt uns den andauernden Wohlstand dieses Gebietes, der auf den Weinbergen beruhte, die sich rund um die Stadt ausbreiteten und Wein für den Export produzierten. Die Truppen des Maximinus fanden große hölzerne Fässer, die auf den Feldern zur Abfüllung bereitstanden, und benutzten sie zur Überquerung des Flusses. Die Bevölkerung aus den umliegenden Dörfern und Weilern floh nach Aquileia, reparierte die Mauern, die an vielen Stellen eingefallen waren, weil sie schon lange nicht mehr gebraucht worden waren, und hielt der Belagerung erfolgreich stand. Sie konnte aufgrund der innerhalb der Mauern reichlich vorhandenen

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Lebensmittel Widerstand so lange leisten, bis die Soldaten des Maximinus, von Hunger getrieben, diesen töteten und so den Krieg beendeten. Die kargen und wenig informativen Erzählungen aus der Mitte des 3. Jahrhunderts enthalten nur dürftige Einzelheiten über die Vorgänge in Italien. Aus ihnen läßt sich entnehmen, daß der Norden der Halbinsel, nicht jedoch der übrige Teil, wiederholt Invasionen und Bürgerkriegen ausgesetzt war. Kaiser Philippus Arabs wurde im Jahr 249 von Decius in der Nähe von Verona besiegt und getötet; der Einbruch der Alemannen des Jahres 258 endete mit Gallienus’ Sieg bei Mailand; Claudius II. hielt die große Invasion der Goten von 268 beim Gardasee auf; zwei Jahre danach blieben die Juthunger bei Placentia (Piacenza) über Aurelian siegreich, wurden dann aber bei Fanum Fortunae und Pavia überwunden. Damals begann Aurelian mit dem Bau seiner großen Verteidigungsanlagen für die Stadt Rom. Die Kämpfe in Italien finden dann in der Regierungszeit des Kaisers Carus (282–284) mit der blutigen Niederlage eines Thronprätendenten in der Nähe Veronas zunächst ein Ende. Diese Vorgänge scheinen im allgemeinen den gewohnten Gang der Dinge in Italien nicht gestört zu haben (obwohl sich in Italien ebenso wie in den anderen Teilen des Reiches eine Verringerung der Zahl der erhaltenen Inschriften beobachten läßt). Zumindest in Mittelitalien war es möglich, ein friedvolles Leben zu führen, das von den Unruhen andernorts unberührt blieb. Ein solches Dasein wird beispielsweise in dem Leben des Plotinus gezeichnet, des großen neuplatonischen Philosophen, das sein Schüler Porphyrius aufschrieb. Plotinus wurde um 203 in Ägypten geboren und kam um 244 nach Rom. Dort weilte er bis zu seinem Tod im Jahr 269–270 als Lehrer und Schriftsteller und zog sich bei Gelegenheit auf die Güter seiner Freunde und Bewunderer in Kampanien zurück. Porphyrius zeigt ihn im Kreis seiner Anhänger aus den griechischen Provinzen – Syrien, Arabien, Ägypten – und aus der Nobilität der Stadt Rom. Ein senatorischer Freund, der sich dem philosophischen Leben zuwandte, verschenkte sein Hab und Gut, entließ als Prätor seine Liktoren und weigerte sich, das Tribunal zu besteigen. Man vertraute Plotinus oft Waisenkinder aus adligen Familien an, die er in sein Haus aufnahm und für die er sorgfältig die Abrechnungen über deren Besitzungen und Einkünfte durchsah, wenn diese von ihren gesetzlichen Vormündern vorgelegt wurden. Er stand auch bei Gallienus (253–268) in Gunst, und lediglich Obstruktionen bei Hofe hinderten, wie Porphyrius meint, den Kaiser daran, in Kampanien für Plotinus eine Philosophenstadt zu gründen, die Platonopolis genannt werden sollte. In Italien verlief die Entwicklung immer langsamer und kam dann gänzlich zum Stillstand, als es unter Diokletian den Status einer Provinz erlangte. Das traditionelle Übergewicht Roms und des Senats und das Leben der italischen Städte erhielten sich aber wie zuvor. Es fällt schwer, sich der Kämpfe des 3. Jahrhunderts zu erinnern, wenn man auf einer Inschrift das im Jahr 289 ausgegebene Dekret der decuriones der Kolonie Cumae in Kampanien liest, durch das einem Mann eine Priesterwürde übertragen wurde, und den Brief, durch den

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das senatorische Priesterkollegium in Rom die Ernennung billigte und dem neuen Priester gestattete, seine Gewänder zu tragen, wenn er sich innerhalb des Territoriums der Kolonie aufhielt. 8. Die westlichen Provinzen: Gallien, Spanien und Britannien Im Jahr 14 n. Chr. war in Gallien und in Spanien die Periode der römischen Eroberung endgültig abgeschlossen. Südfrankreich war an manchen Orten schon sechs Jahrhunderte zuvor von den Griechen kolonisiert und 121 v. Chr. als römische Provinz (daher »Provence«) eingerichtet und romanisiert worden – als solche nach den Worten Plinius’ des Älteren »eher Italien als eine Provinz«1. Die stolzen Bauwerke der römischen Städte in Südfrankreich – wie Nîmes, Arles, Orange – stammen in der Hauptsache aus dem augusteischen Zeitalter. Zahlreiche Redner und Senatoren aus dem südlichen Gallien spielten im 1. nachchristlichen Jahrhundert im römischen Leben eine Rolle. Die Eroberung des restlichen Gallien – der »drei Gallien«: Lugdunensis, Aquitania und Belgica – war das Werk des Julius Caesar in den Jahren 58–51 gewesen. Seitdem hatten lediglich Unruhen bei der Einführung des römischen Zensus unter Augustus den Frieden eines Landes unterbrochen, in dem die Romanisierung ständig fortschritt und weitgehend selbst die barbarischen Niederlassungen des 5. Jahrhunderts überdauern sollte. Es bleibt jedoch ein Geheimnis, warum die drei Gallien mit ihrer auffälligen Prosperität so wenige Männer für den Ritter- und Senatorenstand in Rom stellten. Auch in Spanien hatten sich an der Küste des Mittelmeeres und weiter südlich Griechen und hier auch Karthager angesiedelt. Die römische Eroberung hatte im späten 3. Jahrhundert in den Punischen Kriegen eingesetzt. Sie war aber erst mit der Unterwerfung der kantabrischen und asturischen Stämme des gebirgigen Nordwestens zwischen 26 und 19 v. Chr. beendet. Die Romanisierung war in der sehr wohlhabenden südlichen Provinz Baetica (Andalusien) damals abgeschlossen und an der urbanisierten Mittelmeerküste der Tarraconensis weit verbreitet. Männer aus diesen Gebieten hatten eine feste Stellung im römischen Leben erlangt; die Baetica hatte so schon den ersten Konsul provinzialer Herkunft, Cornelius Balbus aus Gades (Cadiz) im Jahr 40 v. Chr., hervorgebracht und sollte den ersten Kaiser provinzialer Herkunft, Trajan (98–117), stellen, dessen Familie aus Italica stammte. In der mittleren und nördlichen Tarraconensis und in Lusitania lagen einige Veteranenkolonien, die Augustus eingerichtet hatte. Im übrigen müssen diese Gebiete aber wenig romanisiert gewesen sein. Daß friedliche Verhältnisse einkehrten, läßt sich an der Tatsache ablesen, daß die im Jahr 14 noch in der Tarraconensis stationierten drei Legionen bis zum Jahr 70 auf eine verringert wurden. Unsere Kenntnisse von den sozialen Gegebenheiten in den einzelnen Teilen Spaniens, besonders in den weniger romanisierten Gebieten, sind darum beschränkt, weil die Archäologie dort im Vergleich zu Gallien und Britannien nur sehr geringe Fortschritte macht.

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� Abb. 7: Dianatempel in Nîmes Britannien blieb, auch nach den Invasionen Caesars in den Jahren 55 und 54, frei, dabei aber in engem Kontakt mit der römischen Welt. Der Geograph Strabo erwähnt den Export von Getreide, Vieh, Gold, Silber, Eisen, Häuten, Sklaven und Jagdhunden, und der Handel in umgekehrter Richtung wird in Funden gallischer und römischer Tonwaren aus der Zeit vor der Eroberung Britanniens sichtbar. Britische Stammeshäuptlinge unterhielten politische Beziehungen nach Rom. Der bei Colchester (Camulodunum) entdeckte tumulus eines Anführers barg nicht nur eine Reihe kleiner Bronzefiguren, die aus Italien und vielleicht Gallien importiert waren, sondern auch ein Medaillon des Augustus, das durch Herausschneiden und Einfassen des Kopfes von einer Silbermünze des Jahres 17 v. Chr. gefertigt war. Andere prägten Münzen nach römischen Vorbildern, von denen einige den lateinischen Titel rex tragen. Die Eroberung selbst erfolgte erst 43; die Geschichte des römischen Britannien gehört darum in den letzten Teil dieses Kapitels. In Gallien lebte die Südprovinz Narbonensis, die weitgehend romanisiert war, noch weiter unter dem Einfluß der griechischen Besiedlung. Das reizvoll gelegene Glanum (St. Rémy de Provence), das im 2. vorchristlichen Jahrhundert eine blühende griechische Stadt gewesen war, war später romanisiert und im augusteischen Zeitalter mit römischen Bauwerken, z.B. einem Triumphbogen,

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ausgestattet worden. Dagegen bewahrte besonders Massilia seinen griechischen Charakter. Julius Agricola, 40 n. Chr. in der colonia Forum Julii (Fréjus) geboren, der Sohn eines römischen Senators und Enkel zweier kaiserlicher Prokuratoren, studierte in Massilia, das durch eine Kombination »griechischen Charmes und provinzieller Bescheidenheit« gekennzeichnet war. Es gab noch weitere römische Kolonien: Narbonne, das schon 118 v. Chr. gegründet wurde, oder Arles, das Caesar im Jahr 46 v. Chr. anlegte; das dortige Theater wurde wahrscheinlich in der Regierungszeit des Augustus vollendet, das gut erhaltene Amphitheater am Ende des 1. Jahrhunderts. Das Forum von Arles hatte einen sonst seltenen cryptoporticus, einen gewölbten, unterirdischen Gang, der unterhalb der ihn umgebenden Kolonnade verlief. Da Arles an der Rhône liegt, trat es als geschäftliches Zentrum dieses Gebietes an die Stelle Massilias. Nîmes (die Colonia Augusta Nemausus) beherbergte den schönen Augustustempel, der heute Maison Carrée genannt wird. Gleich dem weiter rhôneaufwärts gelegenen Vienne besaß es den in dieser Zeit seltenen Status einer »latinischen« Kolonie; Strabo erwähnt, daß Nîmes 24 Dörfer unter eigener Jurisdiktion hatte und das »latinische« Recht besaß, aufgrund dessen die Stadtmagistrate das römische Bürgerrecht erlangten (s. Kap. 5). Er erwähnt auch, daß Vienne jetzt den politischen Mittelpunkt für die Allobrigen darstellte und daß die führenden Männer des Stammes dort ihre Wohnung genommen hatten. Der Wohlstand dieser Städte spiegelt sich in dem Aufstieg ihrer ersten Bürger in den römischen Senat, unter denen Domitius Afer, ein Redner aus Nîmes, der im Jahr 25 Prätor, im Jahr 39 Konsul war und in der Nähe Roms wertvolle Besitzungen hatte, und Valerius Asiaticus aus Vienne, der in den Jahren 35 und 46 das Konsulat bekleidete, die ersten waren. Von dort kamen auch bedeutende equites, wie Afranius Burrus aus Vaison, der im Jahr 51 zum Prätorianerpräfekten aufstieg. Dieser Entwicklungsprozeß erreichte 138 seinen Höhepunkt, als Antoninus Pius, der Enkel eines Senators aus Nîmes, Kaiser wurde. Der Mittelpunkt der römischen Institutionen für die drei gallischen Provinzen lag in Lugdunum (Lyon). Im Jahr 12 v. Chr. hatte der Bruder des Tiberius, Drusus, dort einen Altar und einen Tempel der Roma und des Augustus errichten lassen, die auf einer freien Fläche von 400x100 Meter standen. Dieser war mit Statuen geschmückt, die von den 60 gallischen Gemeinden aufgestellt waren, deren Vertreter sich dort versammelten. Der erste Hohepriester des Kultes war der Häduer Julius Vercondaridubnus, dessen gallisch-römischer Name die neue Ära treffend symbolisiert. Unter Tiberius ließ ein anderer Hoherpriester, Gaius Julius Rufus von den Santonen (Saintes), in der Nähe des Tempels das Amphitheater für die jährlichen Spiele am 1. August errichten. In Samtes selbst ließ er im Jahr 19 einen Triumphbogen bauen und auf demselben seinen Stammbaum einmeißeln, den er bis auf die Stammesaristokratie des vorrömischen Gallien zurückführte – »Gaius Julius Rufus, Sohn des C. Julius Otuaneunus, Enkel des C. Julius Gedemo, Urenkel des Epotsiorovidus«.

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Sowohl der Fortschritt der Romanisierung als auch die dadurch hervorgerufenen Spannungen werden durch die Rebellion beleuchtet, die im Jahr 21 ausbrach, als die Bewohner Galliens (wahrscheinlich gegenüber italischen Kaufleuten) verschuldet waren und deshalb die Tributzahlungen erhöht wurden. Die führende Rolle spielten zwei Männer, die selbst das römische Bürgerrecht besaßen, Julius Sacrovir von den Häduern und Julius Indus von den Treverern. Es ist bezeichnend, daß Sacrovir zuallererst Autun einnahm und die Söhne des gallischen Adels als Geiseln ergreifen ließ, die dort weilten, um in die griechisch-römische Kultur eingeführt zu werden. Der Aufstand wurde jedoch sehr bald von einer einzigen römischen Kohorte aus Lugdunum erstickt, die durch zwei Legionen vom Rhein verstärkt war. Um die Mitte des 1. Jahrhunderts beauftragten die Arverner (aus der Auvergne) einen griechischen Bildhauer – den Nero später einstellte – mit der Schaffung einer Kolossalstatue des Merkur. Noch bezeichnender ist, daß die führenden Persönlichkeiten der Häduer und anderer Stämme im Jahr 48 an Claudius herantraten und ihn baten, für den römischen Senat kandidieren zu dürfen. Ein großer Teil der Senatsrede, in der Claudius für ihre Wünsche eintrat, ist auf der berühmten Bronzetafel von Lyon erhalten geblieben, die man im Jahr 1528 entdeckte. Doch obgleich der Senat, wenn auch nur zögernd, dem Vorschlag des Kaisers zustimmte, gibt es weder aus der gleichen noch aus späterer Zeit zahlreiche Belege für Senatoren aus den drei gallischen Provinzen. Julius Vindex, der Sproß eines Königsgeschlechts aus Aquitanien, dessen Vater schon, wie behauptet wird, Senator gewesen war und der als legatus von Gallia Lugdunensis im Jahr 68 den Aufstand gegen Nero anzettelte, ist eines der wenigen Beispiele. Wir erfahren nur von einer kleinen Zahl von Senatoren oder equites aus Gallien bis zur Zeit der gallischen Kaiser von 258–274 (und selbst diese waren römische Beamte, von deren Namen man lediglich auf ihre gallische Herkunft schließen konnte). Der kulturell hochstehende Adel der Großgrundbesitzer, der im Gallien des 4. und 5. Jahrhunderts im römischen Senat saß, konnte sich nicht von senatorischen Ahnen aus der uns hier beschäftigenden Periode herleiten. Archäologische Funde beweisen nichtsdestoweniger in reichem Maß, wie sehr die Romanisierung in Gallien voranschritt. Für die Städte kann die urbane Entwicklung Amiens’ im Norden als klassisches Beispiel gelten.2 An die Stelle der gallischen Stadt Samarobriva trat im 1. Jahrhundert eine römische Stadt mit der charakteristischen rechtwinkligen Straßenführung. Die Straßen begrenzten einzelne insulae (Häuserblocks) von 147x110 Metern. An das bebaute Gelände schloß sich ein Amphitheater unmittelbar an. Im 2. Jahrhundert wurde die Zahl der insulae mehr als verdoppelt, in die man jetzt das Amphitheater und Bäder eingliederte. Man erbaute zugleich Häuser auf einem Friedhof, der zuvor außerhalb der Stadt lag. Dann folgten die Invasionen des 3. Jahrhunderts. Die Stadt schrumpfte auf einen winzigen, befestigten Kern um das Amphitheater zusammen, das jetzt als Festung diente.

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Man kann Amiens mit Trier (Augusta Treverorum) vergleichen, dessen Anfänge auf eine zivile Siedlung in der Nachbarschaft eines Auxiliarpostens zurückgehen und das in den ersten Regierungsjahren des Kaisers Claudius (41–54) zur römischen Kolonie erhoben und mit den üblichen rechtwinkligen Straßen ausgestattet wurde. Im frühen 2. Jahrhundert kamen ein Amphitheater und die riesigen öffentlichen Bäder (die »Barbarathermen«) mit mindestens drei Stockwerken hinzu. Die in der ersten Hälfte oder um die Mitte des 3. Jahrhunderts erbauten Stadtmauern scheinen einen Bereich umschlossen zu haben, der mehr als dreimal so groß war wie die claudische Kolonie. Mit den gallischen Kaisern, die in Trier eine Münzstätte und schließlich ihre Hauptstadt hatten, begann die blühendste Periode der Stadt, denn sie stellte das politische und christliche Zentrum Galliens dar. Aus dem 4. Jahrhundert stammen z.B. das bis heute erhaltene Tor, die »Porta Nigra«, und ein kaiserlicher Palast, der um die Mitte des Jahrhunderts durch eine Kathedrale ersetzt wurde. Nur gelegentlich läßt sich die Entwicklung eines Bauernhofes von den ursprünglichen Hütten zur gallisch-römischen Villa verfolgen. Die Villen gehören häufig dem als »Flügel-Korridor«-Haus bekannten Typ an. Ein inzwischen klassisches Beispiel ist der in Mayen bei Koblenz ausgegrabene Hof. Hier wurde eine keltische Holzhütte mit ihrem Balkengerüst rekonstruiert, die in früher römischer Zeit steinerne Mauern, im 1. nachchristlichen Jahrhundert sodann den üblichen äußeren Korridor und die vorspringenden Flügel mit je einem Raum erhielt; bis zum Ende des Jahrhunderts wurden die tragenden Wände aus Mauerwerk gebaut und ein Bad und ein Kornspeicher hinzugefügt. Vom anderen Ende Galliens ist die Villa von Chiragan bei Toulouse bekannt, die sich aus einem einzigen Bauernhaus mit Reihen von Nebengebäuden für die Arbeiter im 1. Jahrhundert zu einem weitläufigen Komplex von Höfen mit Galerien, Säulengängen und sogar einem cryptoporticus (Säulengang im Kellergeschoß) im späten 2. Jahrhundert entwickelte, der insgesamt 40 Hektar einnahm. Der Wohlstand Galliens spiegelt sich auch im Fortschritt der einheimischen Tonwarenherstellung (wobei vorausgesetzt wird, daß wir das Gewicht der Industrie, das wahrscheinlich nicht sehr groß war, in der überwiegend agrarischen Wirtschaft der Antike nie werden richtig einschätzen können). Zu Beginn unserer Periode fingen die Töpfer von La Graufesenque bei Toulouse an, den rotgebrannten Tonwaren aus Arezzo in der Toskana Konkurrenz zu machen, die in Gallien wie anderswo in großem Umfang importiert wurden. In den siebziger Jahren hatten sie den Markt in Gallien, im Rheinland und in Britannien erobert und exportierten ihre Waren auch nach Italien. Ein Behälter mit 90 verzierten Schalen und 20 Lampen aus La Graufesenque war im Jahr 79 in Pompeji angekommen und noch nicht ausgepackt worden, als der Vesuv ausbrach. Ein zweites, sogar größeres Zentrum der Tonwarenproduktion in Lezoux (Puys de Dôme) stellte schon vor der römischen Eroberung solche Waren her, exportierte in größerem Umfang aber erst seit der zweiten Hälfte des 1.

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Jahrhunderts. Im 2. Jahrhundert sind die Erzeugnisse dieser Töpfer, die mit deren Namen gestempelt waren, in Gallien, im Rheinland und in Britannien zu finden; die Produktion scheint am Ende des Jahrhunderts eingestellt worden zu sein.3 Zu dieser Zeit lagen in Nordostgallien einschließlich Trier die wichtigsten Herstellungszentren, die ihre Produktion bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts fortsetzten. Die gallischen Tonwaren verweisen somit, neben einer ständigen Qualitätsminderung, auf eine allmähliche Verschiebung des Schwergewichtes dieser Industrie zu dem jetzt wichtigsten Markt, dem Militärbezirk am Rhein. Über die politische Struktur Galliens und das Ausmaß seiner Integration in das römische Kaiserreich wird an den Vorgängen von 68–69 vieles sichtbar. Der Sturz Neros im Jahr 68 wurde durch den Aquitanier Julius Vindex ausgelöst, der als Statthalter der Gallia Lugdunensis eine Versammlung der Gallier einberief, nicht um eine Revolte, sondern um eine Aktion gegen Nero auszulösen, weil dieser des Thrones unwürdig war. Während er aber Botschaften an andere Provinzstatthalter schickte und Münzen mit republikanischen römischen Parolen ausgab, wurde die von ihm aufgestellte Armee von den Rheinlegionen vernichtet. Im folgenden Jahr erwiesen sich das Fortbestehen lokaler Treueverhältnisse und die Unterschiede zwischen den Stämmen Galliens noch als sehr stark. Die Treverer und Lingonen, die Galba (68–69) m seinen Gunstbezeugungen gegenüber anderen Stämmen vernachlässigte, unterstützten darum die Rheinlegionen auf ihrem Marsch nach Rom, durch den Vitellius für kurze Zeit den Thron gewann. Durch den Marsch wurde die bittere Feindschaft zwischen Lyon, das sich auf die Seite des Vitellius schlug, und dem benachbarten Vienne, das für Otho Partei ergriff und nur mit knapper Not der Plünderung entging, offenbar. Später im Jahr 69 erhoben sich die halb-romanisierten Bataver, denen sich die Treverer und Lingonen und germanische Stämme von jenseits des Rheins anschlossen, und riefen die übrigen gallischen Völkerschaften auf, ein »Imperium der Gallier« zu bilden. Die Führer des Aufstandes, die die am Rhein gebliebenen römischen Truppen besiegten und sogar zur Ablegung eines Treueschwurs zwangen, waren Stammesführer, die einheimische Einheiten in römischen Diensten befehligt hatten und römische Namen (Julius Classicus, Julius Sabinus) trugen und das römische Bürgerrecht besaßen; auf der Höhe ihrer Macht nahmen sie die Titel und Abzeichen der römischen Kaiser an. Auf einer von den Remern in Durocortorum (Reims) einberufenen Versammlung beschlossen die Delegierten des übrigen Gallien, loyal zu bleiben, und halfen den von Vespasian abgesandten Legionen bei der Unterdrückung des Aufstandes. Inmitten dieser großen Ereignisse ist eine kleine lokale Unruhe von besonderer Bedeutung. Ein gewisser Mariccus aus dem kleinen Stamm der Boier, von dem die Menschen glaubten, er sei ihr göttlicher Vorkämpfer, sammelte eine Gefolgschaft von 8000 Mann aus den benachbarten Dörfern der Häduer um sich. Der Aufstand wurde von Miliztruppen mit römischer Hilfe niedergeschlagen und Mariccus’ Anspruch auf Unsterblichkeit durch seine Hinrichtung zunichte

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gemacht. Wir wissen darüber aus einem kurzen Abschnitt bei Tacitus; im übrigen ist es höchst selten, daß wir in unseren Quellen für den westlichen Teil des Reiches auch nur Andeutungen über die Hoffnungen und den Glauben des einfachen Volkes finden. Diese Vorgänge berechtigen zu der Frage, wie weit die Romanisierung fortgeschritten oder (was in gewissem Sinn etwas anderes ist) wie weit die Verschmelzung zweier Kulturen zu einer eigenen gallisch-römischen Kultur gediehen war. Nur wenige Spuren keltischer Bauwerke eines bestimmten architektonischen Typs sind aus vorrömischer Zeit erhalten, obgleich Ausgrabungen – z.B. in Bibracte und Gergovia – beweisen, daß keltische Städte bis in das frühe 1. Jahrhundert fortbestanden, ohne daß sie von der römischen Bauweise beeinflußt wurden. Auffallend ist aber, daß in der blühendsten Periode des römischen Gallien, vom späten 1. bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts, Bauwerke eines besonderen gallisch-römischen Typs entstanden.4 Da sind zuerst das »Flügel-Korridor«-Haus zu nennen und Tempel einer Art, wie man sie nur in den drei gallischen Provinzen und in Britannien antrifft. Diese bestehen aus einem hohen Mittelraum, der quadratisch, rund oder unregelmäßig ist (aber kein langgestrecktes Rechteck wie in den griechisch-römischen Tempeln darstellt), der in Bodenhöhe mit einem gedeckten Gang umgeben ist und dessen Dach von Säulen, die auf einer niedrigen Mauer stehen, getragen wird. Dieser Gang wurde offenbar für Zeremonien benutzt, in denen die Gläubigen in langer Prozession um den Gott im Mittelraum herumgingen. Für Gallien ist eine Kombination von Theater und Amphitheater ebenfalls charakteristisch, bei der eine Bühne für Aufführungen und gleichzeitig eine Arena für Gladiatorenkämpfe und Schaustellungen wilder Tiere vorhanden war. Die gallisch-römischen Privathäuser besaßen im Unterschied zu den Häusern in den Mittelmeerländern große gemauerte Keller und (wie aus einer Reihe plastischer Darstellungen bekannt ist) hohe, stark geneigte Dächer. Der Nordosten brachte auch einen besonderen Bautyp in den großartigen Grabmälern hervor, den rechtwinkligen Säulen, die mit Reliefs über das Leben der Verstorbenen verziert waren. Am bekanntesten ist die Grabsäule von Igel bei Trier, die aus dem frühen 3. Jahrhundert stammt. Sie wurde für eine Familie reicher Tuchhändler errichtet. Ihre Darstellungen enthalten beispielsweise eine Szene in deren Laden, Pächter ihrer Ländereien, die Geschenke überbringen, und Lasttiere, die Tuchballen über einen Berg tragen.

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� Abb. 8: Zwei der 190 Holzfiguren, die im Jahr 1963 von Professor R. Martin bei dem gallisch-römischen Heiligtum von Sequana an der Seinequelle ausgegraben wurden. Diese Figuren, die man um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. bei dem Heiligtum niederlegte, sind unter dem bislang verfügbaren Material die schönsten Beispiele der volkstümlichen Kunst und Religion im römischen Gallien. Erster Bericht von R. Martin in: Revue Archéologique de l’Est et du Centre-Est XIV (1963), S. 7; Antiquity XXXIX (1965), S. 247. In der Ornamentik und der Tonkunst, deren Details hier nicht aufgezeigt werden können, scheint seit dem 2. Jahrhundert eine Wiederbelebung keltischer Formen eingetreten zu sein.5 Das Schicksal der keltischen Sprache ist ebenfalls nur schwerlich zu verfolgen; die keltischen Dokumente verschwinden im 1. Jahrhundert, das einzig ausführlichere Schriftstück ist der Kalender von Coligny, dessen Keltisch in lateinischen Buchstaben erscheint und der aus dem 1. Jahrhundert stammt. Das Lateinische war ganz offensichtlich weit verbreitet; selbst in den Töpferzeichen wurde beispielsweise das keltische avot im 1. Jahrhundert durch fecit (»machte«) ersetzt. Es bestehen aber Anzeichen dafür, daß das Keltische weiterlebte: das keltische Wort leuga (»Meile«) erscheint im 3. Jahrhundert selbst auf offiziellen Meilensteinen; Irenaeus, Bischof von Lyon im späten 2. Jahrhundert, sagte, er müsse Keltisch in seinem Werk benutzen, und Septimius Severus (193–211) gestattete, daß Testamente in keltischer Sprache abgefaßt werden dürften.

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Mit der Sprache lebte auch die einheimische Religion fort. Das Druidentum, dessen mächtige Priesterkaste Julius Caesar beschrieben hatte, wurde den römischen Bürgern von Augustus verboten und nach Aussage römischer Quellen von Tiberius und Claudius ganz unterdrückt. Es waren jedoch Druiden, die ein weltbeherrschendes Reich der Gallier prophezeiten, als das Kapitol in den Bürgerkriegen des Jahres 69 brannte; sie erschienen dann wieder im 3. Jahrhundert. Dann gab es die einheimischen Götter: Teutates, der mit Merkur identifiziert wurde und dem man früher Menschenopfer dargebracht hatte; Esus oder Cernunnos, der auf Darstellungen als x-beiniger Gott mit Bart und Geweih erscheint; Taranis, der mit Jupiter identifiziert wurde und den man auf reliefgeschmückten Säulen, die in ganz Gallien, besonders aber im Nordosten gefunden wurden, darstellte, wie er einen Drachen erschlägt. Über die Geschichte der gallischen und der anderen Religionen gibt es eine Vielzahl von Theorien und umstrittenen Interpretationen; in einer kürzlich veröffentlichten Studie wird behauptet, das 3. Jahrhundert habe das Heraustreten der keltischen Götter aus ihren griechisch-römischen Verkleidungen erlebt.6 Dort wurden, wie anderswo, die Götter des griechisch-römischen Pantheons importiert, insbesondere die offizielle Trias Roms, Jupiter, Juno und Minerva. Diesen folgten die Kulte des Ostens nach, Isis, Kybele und Mithras (der letztere besonders am Rhein, wo die Legionen standen). Unter die östlichen Kulte zählt auch das Christentum, das mit dramatischer Plötzlichkeit in den Verfolgungen von Lyon im Jahr 177 in Erscheinung trat; der lange, in griechischer Sprache abgefaßte Brief, in dem die Christen aus Lyon und Vienne von diesen Vorgängen an ihre Glaubensgefährten in Asia und Phrygien berichteten, ist in Eusebius’ Kirchengeschichte erhalten. Dem Bericht ist zu entnehmen, daß es in Lyon schon einen Bischof und in Vienne einen Diakon gab. Die gallische Kirche hatte, wie man aus dem Brief folgern kann, ihre Wurzeln in Kleinasien. Einer der Märtyrer war ein römischer Bürger aus Pergamon, ein anderer ein Arzt aus Phrygien, der schon lange Zeit in Gallien seßhaft war. Die Martyrien begannen mit der wachsenden Feindseligkeit der Bevölkerung (die im Brief als »wilde und barbarische Stämme« erscheint), die zum Ausschluß von öffentlichen Ämtern, Einkerkerung durch die städtischen Behörden und Anklagen vor dem legatus führte und mit öffentlichen Folterungen und Hinrichtungen endete, von denen einige Teil der Spiele waren, die aus Anlaß der jährlichen Versammlung am 1. August im Amphitheater der drei gallischen Provinzen gegeben wurden. Das Bistum von Lyon ging dann auf einen anderen Immigranten aus Asia über, auf Irenaeus, dessen in griechischer Sprache verfaßte theologische Werke sehr wenige Hinweise auf die gallischen Christen enthalten; in seiner Exposition und Refutation der falschen Gnosis erwähnt er lediglich, daß die gnostische Häresie sogar unter den Christen, besonders den Frauen, im Rhônetal Anhänger fand. Bis auf den kurzen Hinweis bei Irenaeus auf christliche Gemeinden in den germanischen Provinzen und eine griechische christliche Inschrift in Versen aus Autun aus dem 2. oder frühen 3. Jahrhundert sind keine weiteren Belege bis zum

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Jahr 254 erhalten, als Faustinus, der Bischof von Lyon, an die Bischöfe von Rom und Karthago schrieb (an Cyprian, aus dessen Korrespondenz dieser Beleg stammt) und über die starre Haltung berichtete, die der Bischof von Arles bei der Wiederaufnahme der Personen in die Kirche einnahm, die bei den Verfolgungen des Decius (250–251) abgefallen waren. Etwa in die gleiche Zeit fällt der Märtyrertod des Saturninus, des ersten Bischofs von Toulouse, über den in einem wahrscheinlich zuverlässigen Text des 5. Jahrhunderts berichtet wird. Auf seinem Weg zur Kirche kam Saturninus täglich am Kapitol (dem Tempel des Jupiter, der Juno und Minerva) vorbei, und seine Anwesenheit »machte die Statuen stumm« (d.h., aus den Opfern ließen sich keine Vorzeichen ablesen). Schließlich ergriff eine Menschenmenge den vorübergehenden Saturninus, als sie auf die Opferung eines Stiers wartete, und tötete ihn, indem sie ihn an den Stier band und diesen den Hügel hinabtrieb. Eine Anzahl weiterer, aber weniger zuverlässiger Märtyrerberichte bezieht sich auf die gleiche Periode. Es steht jedoch fest, daß es bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts auch zumindest in Paris, Reims, Vienne und Tours Bischöfe gab. In der zweiten Hälfte des 2, Jahrhunderts kam es zu Kriegen und Bürgerkriegen der Art, wie sie im 3. Jahrhundert folgen sollten. In den Jahren 162 und 174 (zur Zeit der großen Donaukriege) scheinen germanische Heere Raubzüge nach Gallien unternommen zu haben; Ausgrabungen haben Spuren der Zerstörung in Straßburg ans Licht gebracht. Dann kam es zu Aufständen im Inneren, der Erhebung des Maternus in den achtziger Jahren des 2. Jahrhunderts (s.u.) und zur Auseinandersetzung zwischen Septimius Severus und seinem Rivalen Clodius Albinus, dem Statthalter Britanniens. Letztere fand in Severus’ blutigem Sieg bei Lyon im Jahr 197 ihren Höhepunkt und zog ausgedehnte Konfiskationen in Gallien und Spanien nach sich. Danach herrschte etwa bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts Frieden. Über die Einrichtungen Galliens, die Rolle seiner führenden romanisierten Bürger und ihre Verbindungen zu den römischen Statthaltern gibt eine lange Inschrift aus dem Jahr 238 Auskunft, die auf Anweisung des Kongresses der drei gallischen Provinzen in der colonia der Viducassen (in der Nähe von Caen) angebracht wurde.7 Darin wird Titus Sennius Solemnis geehrt, der sämtliche Ämter in der Kolonie innegehabt und Bäder für die Bürger errichtet hatte, für deren Instandhaltung er Gelder hinterließ; außerdem war er Priester der Roma und des Augustus beim Altar von Lyon gewesen und hatte in dieser Funktion 32 Gladiatorenkampfspiele veranstaltet. Er war auch ein Freund des Claudius Paulinus gewesen, des legatus von Gallia Lugdunensis, und dessen Ratgeber, als dieser (um 220) als legatus von Britannia Inferior eingesetzt wurde. In der Inschrift wird wörtlich ein Brief zitiert, den Paulinus aus Britannien schrieb und in dem er ihm ein Tribunat versprach, für das er ein Gehalt von 25 000 sesterces in Gold erhalten sollte, und der von Kleidergeschenken begleitet war. Solemnis wurde dann auch der Gefolgsmann des nächsten Statthalters von Gallien, der seinerseits aus Rom einen Brief an seinen Nachfolger schrieb, in dem er Solemnis

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empfahl (der nach Rom gekommen war, um ihn aufzusuchen) und ihm mitteilte, daß Solemnis den gallischen Kongreß daran gehindert hatte, gegen Paulinus Anklage zu erheben. Ein solches Dokument, zu dem es viele Parallelen aus den griechischen Provinzen gibt, macht deutlich, wie sehr die gallische Oberschicht in die griechisch-römische Welt integriert wurde. Ehe nun von den Stürmen berichtet werden soll, die über Gallien und den Westen hereinbrachen, müssen wir zu der Entwicklung Spaniens und Britanniens zurückkehren. Der Geograph Strabo gibt eine wertvolle Schilderung Spaniens zu Beginn der Periode. Im Süden lag die Baetica (etwa das heutige Andalusien), aus deren reichen Ebenen Nahrungsmittel nach Italien exportiert wurden. Die Einwohner hatten ihre einheimische Sprache und ihre Lebensgewohnheiten aufgegeben, das Lateinische und die römische Lebensweise angenommen und weitgehend das »latinische« Recht erworben (s. Kap. 5). Einige Teile waren sogar noch weiter fortgeschritten; die reiche Handelsstadt Gades konnte 500 Männer im Status römischer equites vorweisen, eine Zahl, die nur Padua erreichte. In den beiden anderen Provinzen, Lusitania und Tarraconensis, die beide von kaiserlichen legati regiert wurden, stellten die von Augustus gegründeten Veteranenkolonien, die manchmal Einheimische miteinschlossen, abgesehen von der Mittelmeerküste die einzigen Inseln städtischen Lebens dar. In ganz Mittel-, Nord- und Westspanien bestanden einheimische Sitten und einheimische Stammeseinheiten fort. Eine Illustration dazu gibt eine Inschrift aus dem Jahr 27 n. Chr., in der ein Vertrag zwischen zwei gentilitates (Geschlechtsverbänden) des Stammes der Zoelae in Asturien aufgezeichnet ist; alle genannten Personen tragen einheimische Namen, z.B. Turraion, Sohn des Cloutus. Außer der Tatsache, daß die Inschrift als öffentliches Dokument in lateinischer Sprache abgefaßt ist, enthält sie kein Anzeichen für eine Romanisierung. Das Volk scheint weiterhin Iberisch gesprochen zu haben, wie ein Einwohner der Tarraconensis, als er nach der Ermordung des Statthalters dieser Provinz im Jahr 26 vernommen wurde. Aus der Baetica kamen einige der bedeutendsten lateinischen Schriftsteller des 1. Jahrhunderts, z.B. der Redner L. Annaeus Seneca, der um die Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts in Cordoba geboren wurde. Sein Sohn, der Philosoph Seneca, der auch in Cordoba zur Welt gekommen war, ging als junger Mann in den ersten Regierungsjahren des Tiberius nach Rom und war später der wichtigste Ratgeber Neros. Sein Neffe, der Dichter Lukan, stammte ebenfalls aus Cordoba und kam schon als Kind nach Rom. Junius Columella aus Gades, der nach Italien einwanderte (s. Kap. 7), beschreibt in seinen Schriften über den Ackerbau, wie sein Onkel Marcus Columella, der in der Baetica Landwirtschaft betrieb, den Boden für den Anbau von Getreide oder Wein vorzubereiten pflegte, wie dieser den Wein konservierte oder zu Zuchtzwecken wilde Widder kaufte, die aus Africa gebracht wurden, um sie in den von den einheimischen Magistraten veranstalteten Spielen vorführen zu lassen. Aus der östlichen Tarraconensis kam der Redner Quintilian, der, zwischen 35 und 40 n. Chr. in

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Calagurris geboren, in Rom erzogen wurde und von Vespasian als Lehrer der Beredsamkeit eine staatliche Besoldung erhielt, und der Dichter Martial, der zwischen 38 und 41 in Bilbillis zur Welt kam. Auch er ging nach Rom, ertrug einige Jahre der Armut, besaß am Ende aber ein Haus in der Stadt und eine Villa im mondänen Nomentum. Später zog er sich trotz seines Ruhmes und kaiserlicher Gunstbeweise im Jahr 98 nach Bilbillis zurück. Von dort schrieb er einmal über das Fehlen einer gebildeten Zuhörerschaft, über den Verlust der Bibliotheken und Theater von Rom und über den Neid seiner Mitbürger. Ein andermal rühmte er den tiefen Frieden und das einfache Leben von Bilbillis nach den Beunruhigungen Roms. Unter Vespasian wurde die Romanisierung Spaniens durch die Gewährung des »latinischen« Rechts für ganz Spanien anerkannt (die in einem einzigen Satz der Naturgeschichte des Plinius erwähnt wird). Eine Reihe von Dokumenten – sie entstammen jedoch alle der Baetica – illustriert das städtische Leben dieser Zeit. Zuerst muß das Antwortschreiben Vespasians auf eine Delegation aus Sabora im Jahr 77 erwähnt werden, das den Wiederaufbau ihrer Stadt in der Ebene zuließ – sie sollte jetzt nach ihm (Municipium Flavium Saborense) benannt werden –, die von Augustus gewährten Einkünfte bestätigte und die Frage neuer Einkünfte dem zuständigen Prokonsul überließ. Erhalten ist sodann ein Brief des Titus (79–81) an das municipium von Munigua, der 1958 entdeckt wurde.8 Die Gemeinde hatte, nach Titus’ Meinung ungerechtfertigterweise, gegen ein Urteil des Prokonsuls Berufung eingelegt, das einen Streit über die Zahlungen an einen Mann betraf, der die Einziehung der dortigen öffentlichen Einnahmen übernommen hatte. Titus erließ einige der fälligen Gelder und verlangte, daß der Rest gezahlt wurde. Aus der Regierungszeit Domitians (81–96) stammen die in Kapitel 5 erwähnten Stadturkunden von Salpensa und Malaca. Die Lebenskraft des spanischen kommunalen Lebens dieser Periode wird weiterhin durch ein Bauwerk aus Lusitanien illustriert, die große Brücke (Alcantara), die noch immer den oberen Tajo überspannt. Sie wurde mit Kontributionen aus zwölf Gemeinden erbaut und um 105–106 fertiggestellt. Die Gemeinden warben dazu einen literarisch gebildeten Architekten an, der in das Mauerwerk ein Gedicht einmeißeln ließ – zum Preis seiner eigenen Leistung beim Bau einer Brücke, die ewig bestehen bleiben sollte. Mit dem Bau dieser Brücke war die Errichtung eines Altars für den Kaiserkult verbunden. Wie in anderen Teilen des Reiches stellte auch hier der Kaiserkult die einzige Verbindung zwischen den Gemeinden der einzelnen Provinzen dar. Die Tarraconensis erlangte 25 den provinziellen Kaiserkult, als eine Delegation nach Rom ging, um die Erlaubnis für den Bau eines Tempels für Tiberius und seine Mutter Livia einzuholen, Lusitanien irgendwann im 1. Jahrhundert, die Baetica erst unter Vespasian (69–79). Die provinzielle Hohepriesterwürde – ihr Träger wurde jährlich vom Kongreß (consilium) der Provinz gewählt – war die angesehenste Stellung, die der munizipale Adel erlangen konnte; die meisten der uns bekannten Hohenpriester hatten Ämter in ihren Heimatstädten bekleidet;

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viele von ihnen gelangten auch in den römischen Ritter- oder Senatorenstand. Ein gutes Beispiel ist Voconius Romanus, der, wie wir aus den Briefen Plinius’ des Jüngeren wissen, als Sohn einer reichen Ritterfamilie in Sagunt geboren wurde, in Rom mit Plinius (in den siebziger und achtziger Jahren) studierte und Hoherpriester (flamen) der Tarraconensis war; »Du weißt, wie gewichtig das Urteil dieser Provinz ist«, schrieb Plinius, als er Romanus einem Freund empfahl. Plinius erlangte von Trajan für ihn die gesetzlichen Privilegien eines Vaters von drei Kindern und bat Nerva und Trajan, ihn in den Senat aufzunehmen. Als klassische Beispiele für das Aufsteigen von Spaniern in den Senat und ihre Rolle sowohl zu Hause als auch im Reich können L. Minicius Natalis aus Barcelona, der 106 Konsul und um 121 Prokonsul von Africa war, und sein Sohn L. Minicius Natalis Quadronius Verus gelten, der auch das Konsulat und im Jahr 139 das Prokonsulat von Africa bekleidete. Nach 120 ließen beide für die Bürger Barcelonas ein Bad und Säulengänge auf ihrem eigenen Grund und Boden bauen und einen Aquädukt, der dorthin führte; im Jahr 129 gewann der Sohn (der den philhellenischen Neigungen eines Hadrian folgte) das Wagenrennen bei den Olympischen Spielen in Griechenland. Zehn Jahre später wurde er vom Volk von Tibur bei Rom als Patron der Gemeinde geehrt, wo ohne Zweifel seine Villa stand. Eine Inschrift spricht von einem Mann auf sozial niedrigerer Ebene, der Centurio in zwei Legionen gewesen und unter Marcus Aurelius und Verus (161–169) ehrenvoll entlassen worden war. Nach Barcelona zurückgekehrt, hatte er verschiedene zivile Funktionen und das städtische Priesteramt der Roma und der Kaiser inne. Er vermachte der Stadt eine Summe, aus der jährlich die Ausrichtung von Boxkämpfen und eine kostenlose Verteilung von Öl in den öffentlichen Bädern bestritten werden sollten – unter der Bedingung, daß seine Freigelassenen und deren Nachkommen von den Belastungen des Sevirats (eines niederen Grades der munizipalen Priesterwürde) befreit wurden. Diese Inschrift verdeutlicht viele wichtige Aspekte des städtischen Lebens in der Provinz, die Verbindung von kaiserlichem Dienst und kommunaler Verantwortung, die Rolle der Freigebigkeit und die ersten Anfänge, Ämter zu meiden, da diese eine wachsende Belastung darstellten. Wenn wir unseren Quellen glauben dürfen, scheinen der Wohlstand Spaniens und die Rolle der Spanier im Reich in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Danach sehen wir uns, wie im Fall Galliens, der unerklärlichen Tatsache gegenüber, daß nicht mehr als eine Handvoll aus Spanien stammender Männer im Ritter- oder Senatorenstand zu finden ist. Aus der Zeit des Wohlstandes besitzen wir das einzige Beispiel einer spanischen Stadt, die weitgehend ausgegraben wurde, Italica in der Baetica.9 Seit 205 v. Chr. eine italische Siedlung, gewann es erst unter Augustus den Rang eines municipium und den einer colonia durch Petition an Hadrian, der aus diesem Ort stammte. Hadrian tat noch mehr: Er vergrößerte die Stadt und schmückte sie mit großartigen öffentlichen Gebäuden (es handelt sich um das hadrianische Italica,

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das Ausgrabungen ans Licht gebracht haben). Die neue Stadt wurde nach dem klassischen rechtwinkligen Muster angelegt mit 16 Meter breiten Hauptstraßen (8 Meter für den Verkehr, 4 Meter auf jeder Seite für die Fußgänger); alle Straßen in dem ausgegrabenen Teil der Stadt wurden von Säulengängen gesäumt, die vor Sonne und Regen schützten. Die Ausgrabungen haben einige schöne Häuser des Atrium-Typs nach reinem italischem Vorbild zutage gefördert; unter ihnen befindet sich das »Haus der Vögel« (nach seinen Mosaikböden so genannt), das um einen Innenhof von 22,40x18,30 Metern mit zwei Brunnen gebaut ist und einen großen Speisesaal enthält, neben dem ein Zierteich für Fische liegt. Innerhalb der Mauern Italicas standen zwei öffentliche Bäder und außerhalb ein Theater, das noch nicht ausgegraben ist, und ein Amphitheater, das 25 000 Zuschauer faßte – eines der größten im Reich, das in seinen Ausmaßen etwa in der Mitte zwischen den Amphitheatern von Nîmes und Arles und dem Kolosseum von Rom lag. Über die ländlichen Bauten ist weniger bekannt. Erhalten ist aber z.B. eine bei Numantia in der Tarraconensis ausgegrabene Villa des Atrium-Typs mit etwa 30 Räumen, Bädern, die mit Fußbodenheizung versehen sind, und Mosaikböden; diese wurde um die Mitte des 2. Jahrhunderts gebaut und war offenbar bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts ständig bewohnt. Bekannt sind uns andererseits die primitiven Dorfbehausungen, die bei Arguedas (Navarra) ausgegraben wurden, mit ihren Fußböden aus gestampfter Erde und ihren reisiggedeckten Dächern. Der Wohlstand Spaniens beruhte auf einer breiten Skala leistungsfähiger Unternehmungen. Die Viehzucht war hochentwickelt; das concilium von Baetica schrieb an Hadrian, um zu erfragen, wie Viehdiebe zu bestrafen seien; Ölkrüge aus Italica sind nicht nur in Rom, sondern auch in Nordfrankreich und am Rhein zu finden; entlang der Ufer des Baetis (Guadalquevir) hat man über weite Strecken Brennöfen für Tonwaren ausgegraben. Von der Atlantik- und der Mittelmeerküste Südspaniens wurde, wie aus Marokko, die vielgepriesene Fischsauce exportiert, die als garum bekannt war; Untersuchungen der Bassins, in denen die Fische eingesalzen wurden, haben ergeben, daß diese zum Großteil im augusteischen Zeitalter gebaut worden waren und daß man im 3. Jahrhundert aufhörte, in ihnen Fische einzusalzen.10 Die wichtigsten Produkte Spaniens waren vielleicht seine Mineralien – Gold, Kupfer, Silber, Blei und Eisen. Zwei Inschriften, die Bestimmungen für den Bergbau enthalten und die aus Vipasca (Aljustrel) aus dem südlichen Lusitanien (aus dem frühen 2. Jahrhundert) stammen, geben ein lebendiges Bild der dortigen Verhältnisse. Die Bergwerksschächte wurden getrennt an einzelne Unternehmer oder Unternehmergruppen verpachtet, die sie unter strengen Bedingungen in Betrieb hielten, z.B. gezwungen waren, die Abstützungen in guten Zustand zu setzen oder Erz nur zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang abzutransportieren. Sämtliche Versorgungsbetriebe im Bergwerksbezirk – Badehäuser, Schuhmacherwerkstätten, Barbierläden, Walkereien, Auktionslokale – wurden als Konzessionen an einzelne Unternehmer verpachtet. Der

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Badehauspächter mußte z.B. das Bad von der Morgendämmerung bis zum Mittag für Frauen und von ein Uhr bis acht Uhr abends für Männer offenhalten, einen festgelegten Eintritt erheben, an jedem Tag das Bad öffnen und die Heizanlage in einwandfreiem Zustand halten. Die religiösen Verhältnisse waren denen in den übrigen westlichen Provinzen ähnlich: Einige einheimische Gottheiten lebten weiter fort (sie sind lediglich durch ihre Namen auf Inschriften bekannt, die in der Hauptsache auf die nördliche Tarraconensis beschränkt und für die romanisierte Baetica nicht bezeugt sind), römische Gottheiten wurden eingeführt (ein bemerkenswertes Beispiel stellt der dreifache Tempel des Jupiter, der Juno und der Minerva dar, der die ausgegrabenen Überreste von Belo an der Küste der Baetica beherrscht), und es sind Spuren östlicher Kulte, beispielsweise des Serapis, des Mithras und der Kybele, festzustellen. Aus dem Jahr 287 besitzen wir in den Märtyrerakten der Heiligen Justa und Rufinus die Beschreibung einer Prozession zu Ehren von Adonis und Salambo in Hispalis. Wir wissen nicht, wann das Christentum in Spanien eingeführt wurde. Paulus beabsichtigte, nach Spanien zu reisen, es gibt aber für eine Verwirklichung dieses Vorhabens keinerlei Beweise. Nimmt man Legenden aus, so stammen die ersten zuverlässigen Nachrichten erst aus den Jahren 254–257, als Cyprian, der Bischof von Karthago, einen Brief an die christlichen Gemeinden von Leon (Ad Legionem), Asturica und Emerita schrieb, um auf die Klage, die Bischöfe von Leon und Emerita wären in den Decischen Christenverfolgungen ihrem Glauben untreu geworden, zu antworten. Die Kirche stand damals offenbar auf festen Füßen – die spanischen Bischöfe wurden gemeinsam von ihrer eigenen Gemeinde und einem Kongreß der anderen Bischöfe gewählt. Wenige Jahre später starben Bischof Fructuosus und seine beiden Diakone den Märtyrertod – sie wurden 259 im Amphitheater von Tarraco verbrannt. Auf dem Konzil von Iliberris im frühen 4. Jahrhundert waren Vertreter aus 23 Gemeinden der Baetica und aus 14 der weniger zivilisierten Teile Spaniens zugegen. Bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts scheint (sieht man von der einzigen Notiz über Kämpfe unter Nero gegen die Asturier des Nordwestens ab) der Friede Spaniens nicht gestört worden zu sein. Im Jahr 70 stand nur noch eine Legion im ganzen Land. Unter Marcus Aurelius aber, wahrscheinlich im Jahr 168, fielen Mauren aus Nordafrika in die Baetica ein. Die Provinz wurde dem legatus der Tarraconensis unterstellt, und der Prokurator von Mauretania Tingitana kämpfte ebenfalls dort. Eine Inschrift aus Italica ehrt ihn, weil er die Feinde erschlug und den Frieden der Provinz wiederherstellte; eine andere aus Singilia Barba bekundet, daß er den Ort von langer Belagerung durch die Mauren errettete. In den achtziger Jahren des 2. Jahrhunderts folgte der Aufstand des Maternus, eines Deserteurs, der eine Schar von Banditen um sich sammelte, die zu einer regelrechten Armee anwuchs, Gallien und Spanien überrannte, Städte belagerte und sogar versuchte, den Kaiser in Rom anzugreifen. Leider ist unsere einzige Quelle über diese Ereignisse, Herodian, äußerst vage in ihren Aussagen über

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Maternus’ örtliche Herkunft, die sozialen Ursachen des Aufstandes und das geographische Ausmaß seiner Operationen. Spanien litt dann, wie schon erwähnt, unter den Nachwirkungen des Bürgerkrieges von 196–197. Ein General des Severus kämpfte (wie auf einer Inschrift zu lesen ist) als Statthalter der Tarraconensis gegen »Rebellen«. Die Konfiskationen in Gallien und Spanien scheinen sich darin widerzuspiegeln, daß von nun an das Abzeichen des kaiserlichen Patrimoniums auf den Überresten der Tonwaren aus der Baetica in Rom erscheint. Die Zivilisation des römischen Spanien ist ein noch weitgehend unerforschtes Feld, das reiche Ergebnisse hervorbringen wird, wenn ihm die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Hier kann ein kurzer Bericht noch weniger als für einen anderen Teil des Reiches mehr als ein Aufzeigen einiger isolierter Wesenszüge sein. Das römische Britannien ist archäologisch auf militärischem und zivilem Gebiet intensiv erforscht, die erhaltenen Bauten sind im Vergleich zu Gallien und Spanien auch weit geringer an Zahl. Die Militärgeschichte der Provinz – in der vier und später drei Legionen stationiert waren, eine Zahl, die zur Größe der Provinz in keinem Verhältnis stand – ist in Kapitel 6 skizziert worden. Im folgenden wollen wir uns nicht mit den Spuren der Romanisierung in den Grenzbezirken beschäftigen,11 sondern mit der Kultur des weitgehend romanisierten Teils, d.h. der südlichen zwei Drittel Englands.

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� Abb. 9: Die römische Armee in Britannien in der frühen Periode. Auf diesem Grabstein aus Camulodunum (Colchester) ist ein Centurio der Legion XX Augusta in voller Uniform abgebildet. Seine linke Hand ruht auf dem Schwertknauf, in seiner rechten hält er den Stock (vitis), das Symbol der Gewalt eines Centurio. Der Grabstein wurde umgestürzt, als Camulodunum im Jahr 60 während des Aufstands der Boudicca zerstört wurde. Die Unterwerfung Englands begann mit der Invasion von 43, die zur Einnahme von Camulodunum (Colchester), der Hauptstadt des mächtigsten Stammes, der Trinovanten, und zum Vorrücken einer Legion unter dem künftigen Kaiser Vespasian nach Südwesten führte. Neuere Ausgrabungen in Fishbourne bei Chichester haben Holzbauten aus dieser Periode erkennen lassen, die militärische Vorratshäuser gewesen zu sein scheinen. Auf diese folgte eine zivile Hafensiedlung, die ein Bad und möglicherweise Kaufläden umfaßte und ihrerseits dann um 75 n. Chr. durch einen riesigen Palast ersetzt wurde, der aus Steinen gemauert war (Marmor wurde dazu aus dem weit entfernten Italien herbeigebracht); in drei Flügeln um einen mit Säulengängen umgebenen Hof gebaut, bedeckte er eine Fläche von mindestens fünfeinhalb Morgen. Sein Besitzer ist unbekannt. Er könnte vielleicht der Klientelkönig Cogidubnus gewesen sein, den das collegium fabrum (die Metallarbeiter-Gilde) in Colchester auf einer lateinischen Inschrift als rex et legatus (König und Beauftragter des Kaisers) ehrte.12 Ein anderer Klientelkönig der frühen Periode war Prasutagus von den Icenern in Ostanglia. Als er um 60 starb, wurde sein Besitz eingezogen, und seine Witwe, Boudicca, übernahm in einem Aufstand die Führung, den die Römer nur mit äußerster Anstrengung niederzuschlagen vermochten. Tacitus’ Bericht spiegelt eine frühe Entwicklungsstufe des romanisierten städtischen Lebens in Britannien wider. Die Aufständischen plünderten Camulodunum, das im Jahr 49 als eine colonia für Legionsveteranen angelegt worden war. Es standen damals dort schon ein Tempel des Claudius, der für den Provinzkult gedacht war, ein Senatsgebäude für die Ratsherren der Kolonie und ein Theater. Die Stadtmauern waren jedoch noch nicht gebaut, und der Ort wurde deshalb geplündert; unter den Steinbauten der späteren römischen Stadt befinden sich Anzeichen für niedergebrannte Holzbauten und an zwei Stellen für Vorräte an Ton- und Glaswaren. Verulamium (St. Albans) erging es ähnlich. Ausgrabungen haben dort eine Reihe von Geschäftsbauten aus Holzbalken entlang der Hauptstraße erkennen lassen, die vor 60 entstanden und ohne Zweifel das Werk römischer Bauleute, vielleicht römischer Pioniere, sind. Auch hier deuten Spuren auf einen Brand, und erst zwischen 75 und 80 wurde dieses Gelände wieder bebaut. In diesen beiden Orten und in London, wo eine große Zahl von Kaufleuten lebte, sollen 70 000 Menschen getötet worden sein. Die letzten dreißig Jahre des 1. Jahrhunderts sind von der Ausbreitung der römischen Macht nach Wales und nach dem Norden (der Absorption des Klientel-Königreiches der Briganten und der Stationierung einer Legion in York)

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und dem Fortschreiten der Romanisierung gekennzeichnet. Tacitus schildert, wie sein Schwiegervater Agricola, Statthalter von 78–84, die Eingeborenen dazu ermutigte, Foren, Tempel und Häuser zu bauen und den Häuptlingssöhnen eine literarische Erziehung angedeihen zu lassen. Wir kennen den Namen eines griechischen Grammatikers, eines Freundes des Plutarch, Demetrius von Tarsos, der damals nach Britannien kam und in York zwei griechische Inschriften hinterließ. Archäologische Forschungen haben bestätigt, daß in dieser Zeit Städte in Britannien entstanden. Das Forum von Verulamium wurde im Jahr 79 feierlich eingeweiht; die Stadt besaß zu diesem Zeitpunkt einen Tempel und eine Markthalle aus Stein, die Privathäuser waren allerdings nach wie vor Fachwerkbauten. Bis zum frühen 2. Jahrhundert wuchs die Stadt über die Erdwälle hinaus, die zuvor ihrer Verteidigung gedient hatten. Mit dem ersten Theater und den ersten Häusern aus Stein, die wahrscheinlich nach einem Brand um 155 entstanden, wurde die Bautätigkeit fortgesetzt. Die zu Beginn des 3. Jahrhunderts errichtete Stadtmauer umschloß dann etwa eine Fläche von 200 Morgen.13 Drei weitere coloniae wurden gegründet, Lincoln und Gloucester in den neunziger Jahren und York vielleicht nicht vor dem frühen 3. Jahrhundert. Die meisten römisch-britischen Städte waren »kantonale Hauptstädte«, städtische Mittelpunkte einzelner Stämme, Calleva Atrebatum – der Atrebaten – oder Corinium Dobunnorum. Calleva (Silchester) ist am besten bekannt, und man kann seine mutmaßliche Entwicklung von seinen Anfängen als einheimische Stadt an verfolgen, deren verstreute Hütten von einem Erdwall umschlossen wurden. Im 1. Jahrhundert erfolgte der Bau eines Forums, einer basilica und sogar öffentlicher Bäder, während die Privathäuser immer noch in unregelmäßigem Abstand voneinander stehende Holzhütten waren. Sodann, vielleicht in der Regierungszeit Hadrians (117 bis 138), wurde ein regelmäßiges Straßennetz angelegt und, vielleicht zur gleichen Zeit, ein weit längerer Erdwall – ein zu langer, wie sich herausstellte –, der 290 Morgen einschloß. Schließlich wurde am Ende des 2. Jahrhunderts eine Mauer mit Graben gebaut, die etwa 175 Morgen umfaßten. Die Ausbreitung der literarischen Kultur spiegelt sich in einer winzigen Einzelheit, einem Ziegel, in den ein Zitat aus zwei Wörtern aus der Äneis des Vergil eingekratzt ist. Die ländlichen Siedlungen wurden ebenfalls von der Romanisierung erfaßt (wenn auch selbst in den niedrig gelegenen Gebieten Hütten des einheimischen Typs in der römischen Zeit noch weit verbreitet waren). Ein klassisches Beispiel stellt die Ausgrabung in Lockleys bei Welwyn dar, die eine Rundhütte aus dem frühen 1. Jahrhundert erkennen läßt, die in der Folge durch eine große Hütte ersetzt wurde, die in der Zeit vor der Besetzung bis etwa 60–70 bewohnt war (römische Tonwaren wurden immer dominierender) und ihrerseits dann von einem rechteckigen Haus mit fünf Räumen, einer Veranda, Mauern aus Feuerstein und Mörtel ersetzt wurde, das in der oberen Hälfte wahrscheinlich in Fachwerk gebaut und mit bemaltem Verputz versehen war. An seine Stelle trat

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schließlich im späten 2. Jahrhundert ein Steinhaus mit zwei Flügeln, das mehr als dreimal so groß war und bis zu einem Brand im frühen 4. Jahrhundert bewohnt wurde. Den verbreitetsten Typ eines romanisierten Bauernhauses in Britannien stellt ein ansehnliches Gebäude von 15 bis 30 Metern Länge dar, das oft zwei Flügel hatte und dessen Sockel aus Zement und Stein Fachwerkwände trug. Es war noch alles andere als luxuriös ausgestattet und besaß im allgemeinen keine Warmluftheizung, keine Mosaikböden und kein Bad. In der bekannten Villa von Lullingstone in Kent findet sich ein Bad, das etwa aus dem Jahr 180 stammt. Aber selbst hier gehören die eindrucksvollen Mosaiken, die Warmluftanlagen und anderen Besonderheiten ins frühe 4. Jahrhundert, als in Britannien eine Reihe luxuriöser römischer Villen entstand. Das religiöse Leben Britanniens wird von der allgemeinen, ungeheuer komplizierten Vermischung einheimischer Kulte und Gottheiten mit den Göttern des griechisch-römischen Pantheons und der östlichen Religionen gekennzeichnet, wobei die letzteren weitgehend in den Auxiliareinheiten verehrt wurden. In Woodeaton (Oxfordshire) stand z.B. ein quadratischer Tempel, der von einem gedeckten Wandelgang umgeben war (und damit ganz dem normalen keltischen Typ entspricht) und in einer quadratischen Einfriedigung lag. Erbaut wurde er im 1. Jahrhundert; eine große Zahl dort gefundener Münzen beweist, daß er bis ins 4. Jahrhundert benutzt wurde, und läßt vermuten, daß man dort vielleicht einen Markt abhielt. Daneben gab es die Kulte aus dem Osten, deren auffälligstes Bauwerk der Mithrastempel in London ist. Der Tempel, etwa 20x8 Meter groß, wird durch eine Säulenreihe in ein Mittelschiff, in dem die Rituale vorgenommen wurden, und zwei Nebenschiffe mit Sitzbänken geteilt. Am westlichen Ende wird auf einer erhöhten Plattform, auf die man über Stufen gelangte, die Reliefskulptur des Mithras (dessen Kopf man in der Nähe fand) gestanden haben. Sie zeigt ihn, wie er gerade den heiligen Stier erschlägt. Die Einrichtungen des Kaiserkults werden durch eine Inschrift aus Bordeaux beleuchtet, die ein britischer Schiffseigentümer, der sich als sevir augustalis der Kolonien York und Lincoln bezeichnet, nach einer Reise im Jahr 237 anfertigen ließ. Das Christentum muß im 3. Jahrhundert auch nach Britannien vorgedrungen sein, wenn wir dafür auch keine Belege haben; auf der Synode von Arles im Jahr 314 waren nämlich Bischöfe aus London, York und Lincoln zugegen, die ein Presbyter und ein Diakon begleiteten. Britannien blieb ein Grenzgebiet. Um 150 kam es zu einem ernstlichen Aufstand im Norden und um 180 und 200 zu barbarischen Angriffen aus Schottland. Es ist möglich, daß viele der kantonalen Hauptstädte in der Mitte des 2. Jahrhunderts Erdwälle erhielten, und es ist bekannt, daß sie alle am Ende des Jahrhunderts Steinmauern bauen ließen. Die Störungen des 3. Jahrhunderts gingen aber, zumindest bis zum Ende, an Britannien vorüber.

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Gallien litt am stärksten unter den barbarischen Invasionen. Münzschätze und Spuren der Zerstörung in Selts im Elsaß lassen vermuten, daß die Einfälle um 240 begannen. Die erste große Invasion erfolgte aber erst im Jahr 253, als Valerian (253–260) die Legionen von Rhein und Donau nach Italien abkommandierte, um seinen Thron zu sichern. Die Alemannen überquerten den Rhein in der Nähe des heutigen Mannheim und rückten in das Rheinland und die Pfalz vor, während die Franken vielleicht über Metz und Reims auf Paris vorstießen. Aus dieser Zeit scheinen die ersten Münzschätze und ersten Zeichen der Zerstörung in Paris zu stammen, die sich bis zur großen Invasion von 276 fortsetzen und mit der fast vollständigen Aufgabe menschlicher Ansiedlungen außerhalb der Île de la Cité enden. Diese wurde um 280 schnell mit Materialien befestigt, die man von den Stadtgebäuden auf dem linken Flußufer holte.14 Valerian schickte seinen Sohn Gallienus nach Gallien, der die Rheinübergänge zurückzugewinnen vermochte, nicht aber den Limes östlich davon (s. Kap. 6), der jetzt fast ganz verloren war; auf Münzen, die in den Jahren 257–258 in Köln geschlagen wurden, wird Gallienus der »Wiederhersteller der Gallien« genannt. Als er aber um 259 wieder wegzog und seinen jungen Bruder Saloninus am Rhein zurückließ, breitete sich eine neue fränkische und alemannische Invasion über Gallien aus; eine Karte der Münzschätze dieser Periode läßt erkennen, daß nur Westfrankreich von ihr verschont blieb. Einige Barbaren gingen nach Spanien hinüber, plünderten Tarraco (das noch in Ruinen lag, als der christliche Historiker Orosius im frühen 5. Jahrhundert schrieb) und gelangten sogar nach Africa. Um diese Zeit wurden in verschiedenen Orten der Tarraconensis starke Stadtmauern gebaut; in Lucus Augusti (Luyo) ist der gesamte Mauerring erhalten. Um diese Zeit belagerte der römische General Postumus, der wahrscheinlich gallischer Herkunft war, Saloninus in Köln, tötete ihn und inaugurierte das gallische Kaiserreich, das unter ihm und drei weiteren Herrschern fortdauerte, bis Aurelian es im Jahr 274 zurückeroberte. Postumus’ Macht reichte bis Britannien, Spanien und sogar Norditalien. Die Einzelheiten der Herrschaft dieser gallischen Kaiser, der Grenzen ihrer Regierung und die Details ihrer offenbar erfolgreich ausgefochtenen Kämpfe mit den Barbaren und den römischen Kaisern können hier nicht geschildert werden. Bedeutsam ist einmal aber die von Postumus von 266–267 geführte Kampagne gegen die ersten barbarischen Überfälle vom Meer her (die von einer großen Konzentration von Münzhorten an der Nordküste Galliens bezeichnet werden), zum zweiten der Aufstand der Stadt Autun gegen den dritten gallischen Kaiser, Victorinus, im Jahr 269. Der Aufstand kann vernünftigerweise nur so gedeutet werden, daß sich hier die Teilung zwischen den mittelgallischen Gemeinden und denen des Nordostens auswirkte, die schon in der Krise genau zwei Jahrhunderte vorher sichtbar geworden war. Unsere Kenntnisse von der Belagerung, die nach sieben Monaten mit der Einnahme und der Zerstörung der Stadt endete, stammen aus einer im Jahr 298 gehaltenen Ansprache, in der sich der Redner für die

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Wiederherstellung der dortigen großen Schule einsetzte (deren Anfänge durch die oben geschilderte Gefangennahme der jungen gallischen Adligen im Jahr 21 n. Chr. bekannt sind). Der Redner, der Enkel eines Lehrers der Rhetorik aus Athen, der in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts zunächst nach Rom und dann nach Autun auswanderte, schildert, wie der Ort angegriffen und »durch die Banditen der batavischen Rebellion« belagert wurde. Die batavischen Einheiten waren also offenbar wie im Jahr 69 die Vorkämpfer der gallischen Streitmacht. Es gelang den gallischen Kaisern, von ihrer Hauptstadt Trier aus die barbarischen Invasoren niederzukämpfen, bis der letzte von ihnen, Tetricus, von Aurelian 274 besiegt und gefangengenommen wurde. Bald darauf folgte der bis dahin schwerste Einbruch der Germanen, der seine Spuren in ganz Gallien hinterließ und vielleicht auch Spanien in Mitleidenschaft zog (der archäologische Befund ist unklar).15 Diese Invasion führte zur Schrumpfung zahlreicher gallischer Städte (z.B. Amiens und Paris) auf einen kleineren befestigten Kern; unter den massiven gallischen Befestigungsmauern dieser Zeit, für die zumeist Baumaterial von älteren Gebäuden verwandt wurde, sind die von Le Mans die am besten erhaltenen.16 Probus (276–282) machte der Invasion endgültig ein Ende, indem er, wie es scheint, die Invasoren vor sich her nach Mittel- und Westgallien trieb und sie dort niedermetzelte oder gefangennahm; nach Auskunft einer Quelle sollen 400 000 Germanen getötet und 60 000 auf gallischem Boden angesiedelt worden sein. Schließlich folgte im letzten Jahr der in diesem Band behandelten Epoche die erste große Volkserhebung im Westen des Reiches, der Bauernaufstand der sogenannten Bagauden, der bis ins 5. Jahrhundert von Zeit zu Zeit neu ausbrach. Im letzten Viertel des 3. Jahrhunderts scheint man in Britannien auch mit dem Bau von Kastellen an der »Sächsischen Küste« gegen Überfälle von seefahrenden Plünderern begonnen zu haben. Der Westen des Reiches lebte am Ende der Epoche somit in Unsicherheit. Man hatte die Barbaren aber zurückgedrängt. Erst im 5. Jahrhundert kam es zu weiteren großen Gebietsverlusten. 9. Afrika Afrika (Africa) zeigt deutlicher als jeder andere Teil des römischen Reiches die schöpferische Kraft römischer Kultur. Die literarischen Hinweise bei Apuleius aus Madaurus, dem Autor der Metamorphosen und der Apologia, die eine der schönsten Dokumente des römischen Provinziallebens im 2. Jahrhundert darstellt, bei Cornelius Fronto aus Cirta, dem Freund und Lehrer Marcus Aurelius’, oder den christlichen Schriftstellern Tertullian und Cyprian, dem Bischof von Karthago in den Jahren 249–258, würden ausreichen, um die großartige Fortentwicklung der römisch- afrikanischen Kultur zu belegen. Darüber hinaus hat aber der langsame Verfall der folgenden Jahrhunderte die herrlichen Überreste der dichtbevölkerten Städte in den Küstenebenen Tunesiens, an der weiter ostwärts nach Tripolitanien und, wenn auch

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verstreuter, westwärts zur Atlantikküste Mauretaniens verlaufenden Küste verhältnismäßig unberührt gelassen. Im Inneren des Landes liegen an der Militärstraße, die die Aurès-Berge durchschnitt, die Ruinen Thamugadis (Timgads), wie es einst nach geometrischem Plan 100 n. Chr. als Kolonie angelegt wurde. Im allgemeinen konnten sich in den Bergregionen Numidiens und Mauretaniens nicht solche Städte entwickeln wie in den Ebenen Tunesiens. Es lassen sich aber die Überreste Hunderter von Dörfern und Tausender von Olivenpressen finden, die die Quelle ihres Wohlstandes anzeigen, der bis ins 3. Jahrhundert dauerte. Die Römer hatten das städtische Leben in Afrika keineswegs als erste gefördert. Die von den phönikischen Siedlungen und ihrer Hauptstadt Karthago ausgehende punische Kultur blühte noch im 1. nachchristlichen Jahrhundert. Das punische Heiligtum in Hadrumetum z.B. wurde vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum frühen 2. Jahrhundert n. Chr. benutzt, und auf Skulpturen des 1. Jahrhunderts n. Chr. aus dem Heiligtum in Thysdrus sind Menschen in karthagischer Kleidung beim Opfer zu sehen, unter denen die Frauen den typischen hohen konischen Hut tragen. Aus dem 1. Jahrhundert ist eine größere Zahl von Inschriften in Punisch (einer semitischen Sprache) erhalten, dagegen eine geringere Zahl aus dem 2. und 3. Jahrhundert. Aus Tripolitanien besitzen wir auch spätere punische Inschriften, die mit lateinischen Buchstaben geschrieben sind. Darüber hinaus ist Augustinus zu entnehmen, daß im frühen 5. Jahrhundert das Punische in Numidien noch allgemein gesprochen wurde. Ebenso wie das Punische lebte auch das Libysche weiter fort, das aus weit mehr als tausend Inschriften verschiedenen Datums bekannt ist, die hauptsächlich in Tunesien und Ostalgerien gefunden wurden. Das libysche Alphabet ist mit dem der heutigen Tuareg verwandt und die libysche Sprache offenbar mit der der heutigen Berber in Nordafrika.1 Dieses schon recht komplexe kulturelle Gefüge wurde dann – seit der Eroberung der ursprünglichen Provinz Africa (die etwa dem heutigen Tunesien entsprach) im Jahr 146 – durch eine starke römische oder vielmehr italische Einwanderung in Form von regulären Kolonien und Gruppen von Privatpersonen, wie den italischen Kaufleuten, die Julius Caesar 46 v. Chr. in Hadrumetum vorfand, weiter kompliziert. In Africa bestanden somit nebeneinander römische coloniae, latinische municipia, punische civitates – von denen einige von Tributzahlungen befreit waren, weil sie Julius Caesar geholfen hatten –, Eingeborenendörfer und nomadisierende Stämme. Das ursprüngliche Africa umschloß die späteren Provinzen Africa und Numidia, und der zuständige Prokonsul mit Sitz in Karthago befehligte im Gegensatz zu den meisten anderen Prokonsuln eine Legion, die III Augusta; 37 wurde ein kaiserlicher legatus eingesetzt, der das Kommando dieser Legion übernahm, und um 200 entstand aus dem westlichen Teil der Provinz (in dem die Legion stationiert war) die neue kaiserliche Provinz Numidia, die dem legatus unterstellt wurde.

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Mauretania war 14 n. Chr. noch ein Klientelfürstentum, in dem Juba herrschte, ein Gelehrter, der in seiner Hauptstadt Jol, die er in Caesaraea umbenannte und die er in eine griechisch-römische Stadt verwandelte, nach hellenistischem Muster hofhielt. Der römische Einfluß wurde durch die elf oder zwölf römischen Kolonien weiter ausgebreitet, die Augustus in Mauretania gegründet hatte. Der Wohlstand des römischen Africa beruhte weitgehend auf den Leistungen der römischen Armee, ihrer Tätigkeit der Zenturiation – der Aufteilung und Zuweisung des Landes in rechteckigen Losen, die an den Hauptstraßen lagen –, deren Spuren auf Luftaufnahmen über Hunderte von Kilometern in Tunesien zu entdecken sind, und dem Bau von Militärstraßen, von denen eine wichtige südöstlich von Karthago verlief und die Aurès-Berge umging und eine andere von Tacape auf einem riesigen Umweg ins Innere des Landes in östlicher Richtung nach Lepcis Magna (Leptis Magna) in Tripolitanien führte. Damit war die fortschreitende Ansiedlung nomadisierender Stämme verbunden und, schließlich – vielleicht seit der Regierungszeit Hadrians (117–138) – der Bau eines Verteidigungssystems, das sich von Tripolitanien bis Süd- Numidia erstreckte. Aus einer Inschrift des Jahres 14 erfahren wir, daß die Legion III Augusta eine Straße baute, die von ihrem Lager, das sich wahrscheinlich in Ammaedara befand, in südöstlicher Richtung zur Küste bei Tacape führte. Die Rückwirkungen des römischen Vordringens zeigten sich drei Jahre später, als Tacfarinas, der Anführer der Musulamii, einen siebenjährigen Krieg begann. Tacfarinas, der in der römischen Hilfstruppe gedient hatte, stellte aus den Angehörigen seines Volkes, der Nomaden Zentral-Numidias, reguläre Formationen nach römischem Muster auf. Nachdem er mehrere Jahre lang Dörfer geplündert und die verstreuten Kastelle des römischen Africa belagert hatte, schickte er 22 eine Gesandtschaft an Tiberius, die ihn um Land bat, auf dem sich die Soldaten ansiedeln konnten. Die Bitte wurde abgelehnt und Tacfarinas durch den Bau einiger Befestigungslinien zurückgedrängt. Zwei Jahre später konnte er jedoch die Stadt Thubursicu in Zentral-Numidia angreifen, wurde aber mit Hilfe der von Jubas Sohn und Nachfolger, Ptolemäus, gesandten Truppen besiegt und getötet. Dieser Sieg stellte eine wesentliche Etappe in der Entwicklung der Provinz dar. Aus dem frühen 2. Jahrhundert sind Inschriften erhalten, auf denen das Land der Musulamii von dem ihrer Nachbarn abgegrenzt wird und auf denen als Haupt des Stammes der »Präfekt des Stammes der Musulamii« erscheint. Inzwischen hatte die Legion auch ihren Standort über 150 Kilometer weiter westsüdwestlich nach Lambaesis verlegt und die Musulamii im Norden der Militärstraße abgeschnitten.2 Im Jahr 40 ließ Caligula Ptolemäus hinrichten und annektierte sein Königreich. Dabei stieß er auf erbitterten Widerstand, den ein Freigelassener des Ptolemäus, Aedemon, leitete. Als der Aufstand niedergeschlagen war, wurde Mauretania in zwei Provinzen geteilt, die Caesariensis im Osten und die Tingitana im Westen, die beide einem ritterlichen Prokurator unterstanden. Nicht alle mauretanischen Gemeinden schlossen sich dem Aufstand an; eine Inschrift aus der Stadt

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Volubilis ehrte Valerius Severus, den Sohn Bostars, der sufes (eine punische Bezeichnung für Beamter), duovir und der erste Priester des dortigen Kaiserkultes war und im Kampf gegen Aedemon Hilfstruppen befehligt hatte. Er war dann als Gesandter zu Claudius (41–54) gegangen und hatte von ihm für seine Gemeinde das römische Bürgerrecht (was offenbar mit dem Status eines municipiums gleichzusetzen ist) und für zehn Jahre die Befreiung von Tributzahlungen erlangt. Die in ihrem Umfang beträchtlichen Ruinen von Volubilis, die man teilweise ausgegraben hat, lassen den Anfang griechisch-römischer Bauweise unter Juba erkennen und die allmähliche Entwicklung der Stadt bis in ihre Glanzzeit im frühen 3. Jahrhundert, als unter Caracalla (211–217) ein Triumphbogen gebaut, ein Forum angelegt und eine schöne basilica errichtet wurde. Im letzten Teil der Julisch-Claudischen Periode wurde Africa nur von kleineren Barbareneinfällen und inneren Unruhen heimgesucht – wie z.B. in den frühen sechziger Jahren, als Vespasian, damals Prokonsul, auf dem Marktplatz von Hadrumetum mit Rüben beworfen wurde. Während in den Jahren 68–70 dann einige Kaiser anderswo um den Thron stritten, ließ Clodius Macer, der legatus der Legion, im Jahre 68 aus eigenem Recht Münzen prägen, eine neue Legion ausheben und das für Rom bestimmte Getreide zurückhalten. Er wurde aber danach von einem Prokurator getötet. 69 drohte der Prokurator Lucceius Albinus, der beide Mauretania regierte, im Namen Othos in Spanien einzufallen (bezeichnenderweise hieß es auch, er habe die gesetzlichen Insignien und den Namen Jubas angenommen). Er wurde aber getötet, als er von der Tingitana nach der Caesariensis segelte (daraus lassen sich über die damaligen Verkehrsverbindungen im bergigen Marokko Rückschlüsse ziehen). 70 wurde der Prokonsul von Africa im Namen Vespasians von Truppen ermordet, die vom legatus geschickt waren. Während diese Kämpfe über ihre Köpfe hinweggingen, entwickelte sich aus den Zwistigkeiten der beiden Gemeinden Oea und Lepcis Magna wegen umstrittener Ländereien ein regelrechter Privatkrieg, in dessen Verlauf die Bewohner von Oea schließlich die nomadisierenden Garamanten zu Hilfe riefen, die von römischen Truppen vertrieben werden mußten. Weder diese Unruhen noch weitere Kämpfe in Mauretania unter den Flaviern behinderten das stetige Fortschreiten der Urbanisierung und Romanisierung. Dieser Entwicklungsprozeß läßt sich in der punisch- libyschen Stadt Mactar an entfernter Stelle im prokonsularischen Zentral-Africa verfolgen.3 Im 1. Jahrhundert besaß Mactar drei Magistrate, sufetes genannt, und kohanim genannte Priester; die Bevölkerung benutzte Grabgebäude mit einzelnen Kammern, die aus den ortsüblichen Dolmen entwickelt waren; ihre Inschriften faßten sie in libyscher (diese sind möglicherweise allesamt früheren Ursprungs) und in punischer Sprache ab. Auf den letzteren tauchen erste lateinische Namen auf. Am Ende des 1. Jahrhunderts konnte man dort noch einen Tempel für die punische Göttin Hathor Miskar bauen lassen. Bedeutsamer ist aber die lange lateinische Inschrift aus dem Jahr 88, die Einweihungstafel der iuvenes (des

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Korps’ junger Männer) für ihre basilica (Trainingshalle) und Lagerhäuser. Sämtliche 65 Mitglieder werden aufgeführt, von denen noch keines römischer Bürger war, und ihre eigenen und ihrer Väter Namen angegeben, z.B. Viktor, Sohn des Balsamon. Die Hälfte aller Namen ist lateinisch (der Rest punisch oder libysch), die Zahl der lateinischen Namen ist bei den Söhnen bezeichnenderweise größer als bei den Vätern. In der Folge schritt die Romanisierung sehr schnell voran.

� Abb. 10: Die colonia Thamugadi (Timgad) in Africa, die die Soldaten der Legion III Augusta 100 n.Chr. erbauten. Man beachte die beiden sich kreuzenden Hauptstraßen, von denen eine an ihrem Anfang mit einem Monumentalbogen geschmückt ist, das Forum und das Theater, das teilweise aus dem Berg auf der Südseite der Stadt herausgehauen wurde. Das Stadtgelände erwies sich als zu klein, und man fügte im 2. und frühen 3. Jahrhundert einen ganzen neuen Stadtteil, einschließlich Kapitol an der Südwestecke, auf der westlichen Seite der Stadt hinzu. Im Jahr 117 wurde ein Forum mit einem imposanten Tor eingeweiht. Die Stadt wurde bald zum municipium und unter Marcus Aurelius (161 bis 180) zur colonia erhoben. Im frühen 3. Jahrhundert brachte Mactar eines der schönsten Dokumente des römischen Africa hervor, die in lateinischen Versen abgefaßte Grabinschrift eines Mannes, der als armer Bauer anfing, zwölf Jahre lang in Numidia als Schnitter umherzog, der Vorarbeiter einer Gruppe von Schnittern

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wurde, schließlich ein Haus und Grundbesitz in Mactar erwarb und dort zum Ratsherren und Beamten gemacht wurde. Ein ganz anderes Bild lassen die Überreste Thamugadis (Timgads) erstehen, das von Trajan als Veteranenkolonie begründet und, wie eine Inschrift erweist, von den Soldaten der III Augusta im Jahr 100 erbaut wurde. Auf Luftaufnahmen ist der rechtwinklige Grundriß der ursprünglichen Kolonie in einem Quadrat von etwa 400 Metern Seitenlänge mit Forum, Theater und schachbrettartiger Straßenordnung zu erkennen und außerhalb der Kolonie die weniger regelmäßig angelegten Vororte, die im 2. Jahrhundert entstanden. Wieder anders sah die punische Stadt Lepcis Magna in Tripolitanien aus, ein Hafenplatz und der Ausgangspunkt für die Karawanenstraße in die Phazania. Die ersten erhaltenen Bauwerke aus der Zeit des Augustus und Tiberius – das Theater, der Marktplatz und der imposante Bogen der Augusta Salutaris – machen schon eine blühende Entwicklung unter römischem Einfluß sichtbar. Von einer Inschrift aus dem Jahr 16 n. Chr. wissen wir, daß der Prokonsul von Africa eine Straße von Lepcis Magna in das Landesinnere bauen ließ. Bis zum Ende des 1. Jahrhunderts war Lepcis eine civitas mit Nicht-Bürgern, die zwei sufetes zusammen mit anderen Magistraten und einem Rat verwalteten; die öffentlichen Inschriften waren sowohl in lateinischer als auch in punischer Sprache abgefaßt. Gegen Ende des 1. Jahrhunderts starben die punischen Namen unter den führenden Bürgern aus (das letzte Beispiel ist Iddibal, der Sohn des Balsillec, der einen Magna-Mater-Tempel im Jahr 72 erbaute); von da an tragen die Magistrate lateinische Namen und besitzen das römische Bürgerrecht. In den Jahren 109–110 verlieh Trajan dann der Stadt den Status einer colonia, womit das römische Bürgerrecht für alle Einwohner verbunden war. Zu dieser Zeit war der Großvater des Kaisers Septimius Severus (193–211) als sufes im Amt, der anschließend duovir und ständiger Priester der Kolonie wurde, in den Ritterstand aufgenommen wurde und in Rom als iudex diente. Severus selbst besuchte wahrscheinlich in den Jahren 202–203 Lepcis, verlieh dem Ort das ius Italicum (mit dem Steuerfreiheit verbunden war) und begann in großzügigem, vielleicht zu großzügigem Maßstab den Neuaufbau und die Expansion der Stadt. Zu den severischen Bauten zählt die in ganzer Länge von Säulengängen gesäumte Hauptstraße, das neue, ebenfalls mit Kolonnaden geschmückte Forum von 350x200 Metern, eine basilica, die im 6. Jahrhundert in eine christliche Kirche verwandelt wurde, und ein Triumphbogen an der wichtigsten Straßenkreuzung, dessen Bildwerke schon die Frontalität der späteren byzantinischen Kunst ahnen lassen. Der großartige neue Hafen, den Severus ebenfalls anlegen ließ, weist aber nur wenige Anzeichen einer Benutzung auf und scheint sehr schnell versandet zu sein. Über das Stadtleben des römischen Afrika sind Auskünfte ganz anderer Art einer Inschrift des Jahres 144 aus Sala an der Atlantikküste der Mauretania Tingitana zu entnehmen.4 Es handelt sich um ein langes Dekret des Stadtrates, in dem Sulpicius Felix, der Präfekt einer dort stationierten Kavallerie-Einheit,

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geehrt wird, den man schon zum Ratsherren und Ehrenmagistrat gemacht hatte. Als bekannt wurde, daß er abgelöst werden sollte, zeichnete man seine Verdienste um den Schutz der Herden vor Überfällen (offenbar durch benachbarte Stämme), um die Schlichtung von Finanzstreitigkeiten, den Bau einer Mauer rings um die Stadt und den Schutz der Bürger bei der Arbeit in den Wäldern und auf den Feldern auf. Der Stadtrat bat den Prokurator der Provinz um die Erlaubnis, Felix eine Statue errichten und eine Gesandtschaft an den Kaiser (Antoninus Pius) schicken zu dürfen, um der Dankbarkeit der Bürger Ausdruck zu verleihen. Dieser Text beleuchtet vielerlei, die relative Unsicherheit mauretanischer Städte, die sich ständig ausweitende Rolle der Armee im Kaiserreich, die feste Verwurzelung des romanisierten Stadtlebens und die Unmittelbarkeit des Kontakts zwischen Provinzgemeinden und dem Kaiser in Rom. Darüber hinaus gewährt sie Einblick in die Grundlagen des afrikanischen Wohlstandes, der auf Ansiedlung, Abwehr oder Zurückdrängung der Nomadenstämme und dem Schutz und der Ausweitung des Ackerbaus beruhte. Dies läßt sich nicht nur in der Grenzzone beobachten, sondern auch im Verhältnis zu Völkern (wie den Musulamii) innerhalb des römischen Territoriums; im Jahr 198 wiesen beispielsweise Soldaten in Südost-Numidia Felder, Weideland und Quellen an. In diesem Rahmen scheint ein weiterer Entwicklungsprozeß von großer Bedeutung gewesen zu sein: die Verlagerung des Schwergewichts vom Getreideanbau (im 1. Jahrhundert besorgte Africa zwei Drittel des Kornbedarfs der Stadt Rom) auf die Kultivierung von Oliven. Das scheint hauptsächlich deswegen möglich geworden zu sein, weil die Hochebenen für den Ackerbau sicherer wurden; die Pflanzung von Olivenbäumen scheint sich aber auch in solche Gebiete vorgeschoben zu haben, in denen man zuvor nur Getreide angebaut hatte, wodurch ein gemischtes System entstand. Bei dieser Entwicklung hat vielleicht das durch die lex Manciana eingeführte Pachtgefüge eine wichtige Rolle gespielt; sie legte die Ernteanteile von gewöhnlich einem Drittel fest, die die Pächter an die conductores (Männer, die durch Vertrag zur Einziehung der Pachtgelder verpflichtet waren) oder die Besitzer selbst zu entrichten hatten, enthielt aber auch Bestimmungen über eine fünfjährige Zahlungsfreiheit für den Fall, daß neue Feigenbäume oder Weinstöcke gepflanzt wurden, und über eine zehnjährige Befreiung für den Fall, daß auf zuvor unkultiviertem Land Olivenhaine angelegt wurden. Sie gab auch jedem Pächter, der auf seinem Gut Land kultivierte, das bei der ursprünglichen Aufteilung nicht zugewiesen worden war, den einstweiligen Besitzanspruch und sah vor, daß die conductores unbebaut belassenes Land zurückfordern durften. Diese lex ist in der Zeit bis Diokletian nur aus Regelungen bekannt, die die kaiserlichen Güter betrafen (der seit Augustus belegte kaiserliche Besitz in Africa war durch Konfiskation unter Nero sehr stark vermehrt worden). Überliefert ist eine in Übereinstimmung mit dieser lex von den kaiserlichen Prokuratoren der Güter im Bagraudas-Tal in den Jahren 116–117 erlassene Verfügung, eine

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Ausdehnung des Besitz- und Erbrechtes durch Hadrian auf zugewiesene Ländereien, die mit Oliven oder Weinreben bepflanzt waren, und schließlich die Bitte einiger Pächter an Commodus in den Jahren 180–183, die sich darüber beschwerten, daß die conductores mehr gefordert hatten, als ihnen nach Hadrians Verfügung zustand, und auch Truppen gegen sie gesandt hatten. Die lex Manciana wird in Dokumenten aus der Wandalenzeit des 5. Jahrhunderts erwähnt und ist deshalb vielleicht in der ganzen Provinz allgemein angewandt worden; ihr Ursprung und ihre Entstehungszeit bleiben unbekannt. Sie spiegelt das ernste Bemühen wider, alles brauchbare Land bebauen zu lassen, eine Bemühung, die durch die große Zahl von Olivenpressen bezeugt wird, deren Überreste man heute in Nordafrika findet. Die Inschriften illustrieren die verwickelte Organisation der verstreuten kaiserlichen Güter, die von einem zentralen Amt in Karthago aus verwaltet wurden. Privatpersonen hatten ebenfalls große Besitzungen (die oft ganze Dörfer umfaßten); eine von ihnen im Gebiet der Musulamii gehörte dem Senator Lucilius Africanus. Im Jahr 138 stimmte der römische Senat dafür, daß jener zweimal im Monat auf seinem Gut einen Markt abhalten durfte, vorausgesetzt, daß dadurch kein Schaden und kein Aufruhr verursacht wurden. Die Furcht vor Volksansammlungen ist ein Thema, das die gesamte Kaisergeschichte beschäftigte. Die Landwirtschaft bildete die Grundlage des Reichtums im römischen Africa mit seinen 500 Städten, von denen allein 200 in Africa Proconsularis lagen. Viele Städte scheinen nach dem archäologischen Befund nur verhältnismäßig reiche Häuser besessen zu haben und im übrigen in der Hauptsache Versammlungs- und Unterhaltungszentren für die Landbevölkerung gewesen zu sein. Die charakteristischen Kennzeichen des italischen Stadtlebens wurden in Fülle nachgeahmt: die Aquädukte – wie der von Karthago, der sich über 80 km erstreckte –, Bäder, Theater, Amphitheater – gleich dem Amphitheater von Thysdrus aus dem frühen 3. Jahrhundert, das nur wenig kleiner als das Kolosseum war – und die Villen und Stadthäuser. Den lebendigsten Einblick in diese Welt vermittelt Apuleius, der als Sohn eines Ratsherrn aus Madaurus in Numidia (einer colonia der flavischen Periode) im frühen 2. Jahrhundert geboren wurde. Seine Familie war reich. Sein Vater hinterließ Apuleius und seinem Bruder je eine Million sesterces, die Vermögensqualifikation eines römischen Senatoren. Apuleius begann seine Ausbildung in Karthago, wo er lernte, in lateinischer und griechischer Sprache Reden zu halten, und schloß sie in Athen ab. Um 156–158 unterbrach er seine Reise nach Alexandria in Oea in Tripolitanien, hielt eine öffentliche Deklamation in der basilica und heiratete nach einiger Zeit eine reiche Witwe aus der Stadt. Mitglieder ihrer Familie verklagten ihn, weil er sich ihrer durch Zauberkraft bemächtigt hätte. Mit seiner Apologia verteidigte er sich vor dem Prokonsul, der sich auf seiner Gerichtsreise im nahen Sabratha aufhielt. Es wird in ihr der Reichtum des afrikanischen Bürgertums und die Quelle ihres Wohlstandes

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sichtbar. Die Witwe hatte Besitzungen im Wert von vier Millionen sesterces und hatte ihren Söhnen fruchtbare Felder, große Häuser, Getreide-, Wein- und Olivenlager und 400 Sklaven gegeben. Sie und Apuleius hatten es vorgezogen, in ihrer vorstädtischen Villa und nicht in ihrem Stadthaus zu heiraten. Dadurch wollten sie vermeiden, nochmals 50 000 sesterces an die Bevölkerung austeilen zu müssen, wozu die Frau bei der Hochzeit ihres Sohnes verpflichtet gewesen war. Der Sohn, jetzt Apuleius’ Hauptgegner, hatte sich zu seiner Ausbildung in Rom und Athen aufgehalten und war, als er eine Anwaltspraxis eröffnete, von Apuleius selbst dem Prokonsul empfohlen worden. Jetzt, sagt Apuleius bezeichnenderweise, ist er so weit gesunken, daß er seine gesamte Zeit in der Gladiatorenschule von Oea verbringt und nur noch Punisch spricht. Apuleius stellt dagegen pointiert seine eigene klassische Bildung heraus, indem er seine Rede mit den Namen griechischer und lateinischer Autoren füllt, einen Abschnitt aus Plato rezitiert (»Den du kennen wirst«, sagt er zum Prokonsul) und darauf hinweist, daß seine bäurischen Gegner eine Aufstellung der griechischen Namen verschiedener Fischarten, die nach dem Vorbild des Aristoteles angefertigt war, für eine Zauberformel gehalten hatten. Apuleius’ Frau und deren Verwandte waren für die ortsansässige Aristokratie des Kaiserreiches insofern typisch, als ihr Vermögen auf ihrem Grundbesitz beruhte, der im allgemeinen ererbt war, und durch luxuriöse Lebensweise und Großzügigkeit in den Städten ausgegeben wurde. Einige hundert Inschriften aus Africa bezeugen, daß einheimische Bürger öffentliche Gebäude und Statuen stifteten, Geld verteilten und Spiele oder Festessen für das Volk veranstalteten.5 Die Familie des Apuleius war auch insofern typisch, als sie enge Beziehungen zu Rom unterhielt und tatsächlich in den römischen Ritter- und Senatorenstand eintrat. Ein Sohn der Witwe aus erster Ehe war als eques gestorben; aus Inschriften wissen wir, daß einer ihrer Enkel Senator und unter Septimius Severus Statthalter von Thrakien war. Der erste afrikanische eques tauchte in Caligulas Regierungszeit auf, der erste Senator und Konsul, Q. Aurelius Pactumeius aus Cirta, unter Vespasian. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts konnte Cornelius Fronto, der auch aus Cirta stammte, an die heimischen Magistrate und den Rat über die Wahl der senatorischen Patrone schreiben, eine Reihe hervorragender Senatoren aus Africa erwähnen und mit den Worten schließen: »Es gibt auch viele andere hervorragende Männer aus Cirta im Senat.« In Acholla ist die Villa des Asinius Rufinus erhalten, den Commodus in den Senat brachte und um 184 zum Konsul machte; die Villa ist aus Ziegelsteinen erbaut, aber mit Stuckarbeiten und Mosaiken reich geschmückt, von denen eines Herkules darstellt, mit dem sich Commodus identifizierte. Im 3. Jahrhundert bestand der römische Senat vielleicht zu einem Achtel aus Afrikanern. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts, als die Spuren der einheimischen punischen Kulte zu verschwinden beginnen, wird die Herrschaft der griechisch-römischen Götter durch den ersten Beleg für das Christentum unterbrochen. Es ist der Bericht (Acta) über einen Prozeß im Jahr 180, in dem sieben Christen vor den

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Prokonsul in Karthago gebracht wurden, von denen einige, nach ihren Namen zu urteilen, afrikanischer Herkunft gewesen zu sein scheinen. Der Prokonsul versuchte, sie zu überreden, dem Kaiser zu opfern. Er fand während der Verhandlungen heraus, daß sie, wie sie sagten, »Bücher und Briefe des Paulus, eines gerechten Mannes« bei sich führten. Als die Christen das Opfer verweigerten, ließ der Prokonsul sie enthaupten. Einige Jahre später erscheinen die Schriften des bedeutendsten Repräsentanten der frühen afrikanischen Kirche (und des ersten christlichen Schriftstellers in lateinischer Sprache), Tertullian, der um 155 geboren wurde und um 193 zum Christentum übertrat. Die lange Reihe seiner polemischen Schriften stammt aus den Jahren bis etwa 220. Die nach 207 verfaßten Werke sind durch seinen Übertritt zur strengen prophetischen Sekte der Montanisten gefärbt, die ursprünglich aus Phrygien kamen. Von seinen Werken kann man das Apologeticum (Verteidigung des Christentums) aus dem Jahr 197 erwähnen, in dem er die Verdammung der Christen angreift und sie gegen Anschuldigungen der Immoralität oder der Untreue gegenüber dem Kaiser verteidigt, während er gleichzeitig herausstellt, daß der Staat den Christen wesensfremd ist. Seine späteren Werke, die hier unerwähnt bleiben müssen, spiegeln eine ständig heftiger werdende Ablehnung Roms und aller Aspekte des heidnischen Gesellschaftslebens wider. Aus derselben Zeit stammt die Passion der Perpetua und Felicitas, der Bericht über den Prozeß und den Märtyrertod einiger Christen in Karthago im Jahr 203. Der Text enthält, eingebettet in eine Erzählung in der dritten Person, die möglicherweise von Tertullian stammt, den Bericht der Perpetua, eines 22jährigen Mädchens mit einem kleinen Baby, über ihre Erfahrungen im Gefängnis (wo die Soldaten ihnen eine größere Zelle gaben, weil die Diakone sie bestochen hatten), über ihre Träume, die sie den nahenden Märtyrertod ahnen ließen, und das Verhör durch den Prokonsul vor einer riesigen Menschenmenge auf dem Forum Karthagos. Es wird dann erzählt, wie sie zum Amphitheater im Militärbezirk gebracht wurden (die Spiele veranstaltete man zur Feier des Geburtstags Getas, des jüngeren Sohnes des Septimius Severus) und wie man sie in Gegenwart einer sensationslüsternen Zuschauermenge den wilden Tieren vorwarf. Die Passion weist an einer Stelle darauf hin, daß es schon einen Bischof in Karthago gab. Einige Jahre später, vielleicht im Jahr 220, rief ein Bischof von Karthago eine Versammlung von 70 Bischöfen aus der Proconsularis und Numidia zusammen. Unsere nächsten Nachrichten über die afrikanische Kirche entstammen den Schriften und Briefen Cyprians (die durch den Bericht seines Märtyrertodes und eine unzuverlässige Biographie ergänzt werden), des karthagischen Bischofs von 248–249 bis zu seiner Hinrichtung im Jahr 258, der die decischen Verfolgungen der Jahre 250–251 überlebte. Cyprians Schriften werden von den Problemen beherrscht, die sich aus der großen Krise der Kirche seiner Zeit ergaben: den decischen Verfolgungen (in deren Verlauf Cyprian untertauchte und sehr viele Christen dem Befehl zu opfern Folge leisteten), der

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Synode von 251, die die Bedingungen für die Wiederaufnahme der Abgefallenen festlegte, und der von 255–256 (die 82 afrikanische Bischöfe besuchten) über die Wiedertaufe von Häretikern. Einer der cyprianischen Briefe ist an acht Bischöfe in Süd-Numidia gerichtet, die sich an ihn wandten, um Hilfe beim Freikauf ihrer Gemeindemitglieder zu erlangen, die von Barbaren gefangen waren; Cyprian schreibt, daß er 600000 sesterces schicke, die er von seiner Gemeinde gesammelt habe. Es muß sich dabei um den langen, aber erfolgreichen Kampf Africas, besonders Mauretanias, gegen die Angriffe der Wüstenstämme im 2. und 3. Jahrhundert handeln. Einem Maurenaufstand, den Hadrian niederschlug, folgte nach 140 ein Krieg von beträchtlichen Ausmaßen, in dem Militäreinheiten aus Pannonien, Spanien und Britannien eingesetzt wurden.6 Die Unsicherheit der Zeit spiegelt sich in dem oben erwähnten Dekret Salas, dem Bau von Stadtmauern in Tipasa oder einer Inschrift, auf der ein Veteran der III Augusta beschreibt, wie ihm Räuber auflauerten, als er zur Leitung eines Tunnelbaus für die Stadt Saldae in der Caesariensis unterwegs war, wider. Um 168 gingen Mauren sogar nach Spanien hinüber (s. Kap. 8). Um die gleiche Zeit setzt eine lange Reihe von Inschriften ein, die sich bis ins Jahr 280 erstreckt. In diesen Inschriften zeichneten Prokuratoren Mauretanias Verhandlungen auf, die sie mit den Häuptlingen der Wüstenstämme, vornehmlich der Baquaten, geführt hatten. Die Diplomatie reichte nicht aus; die Mauren wurden erneut unter Commodus (180–192) geschlagen, der Türme und Kastelle entlang der mauretanischen Grenze errichtete. In Numidia erlangte die römische Herrschaft mit der Besetzung eines Wüstenkastells von 198–240, des castellum Dimmidi, das 700 Kilometer ostsüdöstlich von Karthago lag, ihre größte Ausdehnung7 In Tripolitanien erreichte sie diese in der Severischen Periode mit der Besetzung dreier Kastelle an der Route in das Landesinnere, von denen sich eines einige hundert Kilometer landeinwärts befand. Im Jahr 238 wurde der Friede Africas durch einen Bürgerkrieg unterbrochen. Die Geldforderungen eines kaiserlichen Prokurators veranlaßten die reichen jungen Grundbesitzer des Thysdrusgebiets (des Zentrums der Olivenproduktion), ihre Sklaven von den Feldern zusammenzuholen, ihn anzugreifen und zu töten. Sie ergriffen sodann den alternden Prokonsul Gordian, der sich in Thysdrus auf einer Gerichtsreise befand, riefen ihn als Gegner des Thrakers Maximinus (235–238) zum Kaiser aus und geleiteten ihn mit kaiserlichem Gepränge nach Karthago. Der Senat von Rom bestätigte ihn freudig, der legatus Numidias, Capellianus, ging aber gegen Karthago vor und metzelte die ungeschulten einheimischen Truppen mit ihren Schwertern, Äxten und Jagdspeeren nieder. Gordian wurde getötet, und Capellianus ließ die Führer hinrichten und in Karthago und anderen Städten große Konfiskationen vornehmen. Ausgrabungen in Thysdrus lassen Spuren der Zerstörung erkennen, die vielleicht aus dieser Zeit stammen; eine Inschrift aus Theveste spricht von einem Mann, »der von Capellianus ergriffen wurde«.

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Aus Rache ließ Gordian III. (238–244), der Enkel des Prokonsuls, die Legion III Augusta auflösen, die erst von Valerian im Jahr 253 wiederaufgestellt wurde. Dies erschien notwendig, denn es war, wie eine Reihe von Inschriften aus der Caesariensis und Numidia bezeugen, in den Jahren 254–260 zu erbitterten, aber erfolgreichen Kämpfen mit plündernden Nomaden gekommen; damals half Cyprian, die gefangenen Christen freizukaufen. Die letzte dieser Inschriften ehrt Gargilius Martialis, den Befehlshaber einer Kohorte und einer Truppe mauretanischer Kavallerie in Auzia an der Grenze der Caesariensis, durch dessen Mut und Wachsamkeit der Nomadenhäuptling Faraxen gefangen und getötet wurde; Martialis selbst war aber »durch die Ränke der Bavaren« getötet worden. Aus dem Zeitraum zwischen 244 und 284 lassen sich nur geringe Spuren des Aufbaus und der Entwicklung in den Städten des römischen Africa finden. Der Bürgerkrieg von 238, die Einfälle nach 250 und der allgemeine, noch unerklärte wirtschaftliche Niedergang des ganzen Reiches müssen dies verursacht haben. Die Städte blieben aber weitgehend unverändert. Nur Lixus an der Atlantikküste weist starke Zerstörungen auf,8 die vielleicht das Werk barbarischer Einfälle von Spanien aus (um 259; s. Kap. 8) und nicht das der Mauren sind. Es ist nichts festzustellen, was mit der Verkleinerung und Befestigung gallischer Städte vergleichbar wäre. Darüber hinaus scheint die dörfliche Wirtschaft in Numidia und der Caesariensis geblüht zu haben. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß sich eines der letzten Dokumente der Periode, eine Inschrift aus Cirta, auf einen Erlaß bezieht, in dem Probus (276–282) die vierzehntägige Abhaltung eines Marktes gestattete. 10. Ägypten Ägypten paßte schlechter als jedes andere Gebiet in das römische Provinzsystem. Seine Hauptstadt, Alexandria, die Alexander der Große gegründet hatte, war der Sitz der Ptolemäerdynastie und das wichtigste Bildungszentrum der griechischen Welt gewesen – und war es immer noch. Es hatte eine unruhige, zu Schimpfereien neigende Bevölkerung, die die Römer nur mit Mühe in Schach halten konnten. Hinter Alexandria lag das eigentliche Ägypten, das sich in einem schmalen Streifen kultivierten Landes nilaufwärts erstreckte und dessen Sprache, Sitten und Kunstformen, die in ununterbrochener Tradition etwa 3000 Jahre zurückreichten, durch ausgedehnte griechische Siedlungen der hellenistischen Periode überlagert, aber nicht zerstört worden waren. In das römische Reich wurde kein anderes Königtum solchen Alters und Zusammenhalts eingegliedert; die dadurch hervorgerufenen Befürchtungen und schlimmen Ahnungen wurden durch die Bedeutung des ägyptischen Getreides, das nilabwärts nach Alexandria und von dort nach Rom gebracht wurde, noch verstärkt. Der Gegensatz zwischen Alexandria und Ägypten wird durch die Beschaffenheit unserer Quellen verschärft. Alexandria brachte größere

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literarische Werke in griechischer Sprache, besonders von jüdischen und christlichen Autoren, hervor. Die Schriften des großen jüdischen Gelehrten Philo, die in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts entstanden, sind der umfassendste Ausdruck der intellektuellen Vorstellungen des hellenisierten Judentums in Alexandria; er interpretierte das Alte Testament in griechischen philosophischen Begriffen und schrieb manchmal ausgesprochen für eine heidnische griechische Leserschaft. Vom späten 2. Jahrhundert an wurde Alexandria sodann eines der wichtigsten theologischen Zentren der griechischen Kirche. Clemens’ und Origenes’ Schriften folgten die Briefe des Dionysius, des Bischofs von Alexandria (247–264), die für die Jahre 250–260 einen wesentlichen Teil der Kirchengeschichte des Eusebius ausmachen.

� Abb. 11: Einheimische Kunst im römischen Ägypten. Dieser Mumienschrein wurde für den Leichnam eines gräzisierten Ägypters mit Namen Artemidoros in Hawara im Fayum während des 2. Jahrhunderts n. Chr. angefertigt. Die realistischen Porträts auf dem Mumienschrein sind wahrscheinlich von der römischen Kunst beeinflußt. Unter dem Porträt des Toten stehen in griechischer Sprache die Worte: »Artemidoros lebe wohl!« Auf dem obersten Bild sieht man den Leichnam des Artemidoros auf der Leichenbahre mit dem Gott Anubis an seiner Seite und Nephthys und Isis an Kopf und Fuß des Verstorbenen. Der trockene Sand Mittel- und Oberägyptens bewahrte uns auf Papyri Nachrichten ganz anderer Art. Papyrus war das normale Schreibmaterial der

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Antike, den Tausenden von Papyri aus Ägypten – die man oft auf Abfallhaufen oder als Stopfmaterial in Mumien fand – stehen aber nur wenige aus Judäa und Dura- Europos (Kap. 11) gegenüber. Allein schon durch ihre große Zahl vermitteln sie einen einzigartigen Einblick in die Gesellschaft eines entlegenen, kulturell aber reichen und komplexen Teils des Reiches. Auf ihnen ist alles zu finden, von Fragmenten griechischer (und sehr weniger lateinischer) Literaturwerke – bei denen Homer bei weitem überwiegt – bis zu Schulübungen, Privatbriefen, Rechnungen, offiziellen Edikten, Petitionen an Behörden, Zensus- und Steueraufstellungen oder Bescheinigungen für die Vollendung von Deicharbeiten. Die überwiegende Mehrheit der Papyri ist in griechischer Sprache abgefaßt; die lateinischen Fragmente sind in der Hauptsache literarischer, juristischer oder militärischer Natur. Neben den beiden klassischen Sprachen lebte aber das Ägyptische in Wort und Schrift fort. Ägyptische Tempel wurden in der ptolemäischen Periode weiter im traditionellen Stil und mit Hieroglypheninschriften gebaut und unter den Römern vergrößert und ausgeschmückt; Hieroglyphen texte wurden während der ersten drei Jahrhunderte n. Chr. eingemeißelt (die letzte uns bekannte Inschrift dieser Art stammt aus dem Jahr 296). Daneben gab es zwei sich lange entwickelnde kursive Varianten der Hieroglyphenschrift, das Hieratische (das für heilige Texte verwandt wurde) und das Demotische, das in der römischen Periode hauptsächlich auf Steuerbescheiden erscheint, die auf Papyrus oder Ostraka-Fragmente geschrieben waren. Es sind aber auch demotische Literaturtexte aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. erhalten, z.B. ein Papyrus mit der alten ägyptischen Legende, wie Setme von seinem Sohn Si- Osiris zum Besuch des ägyptischen Äquivalents des Hades mitgenommen wird. Auf einigen Papyri aus dem späten 1. Jahrhundert n. Chr. entdeckt man die frühen Versuche, die ägyptische Sprache in griechischen Buchstaben zu schreiben; es sind das hauptsächlich Zaubertexte, bei denen die genaue Aussprache für den Erfolg der Beschwörung von Bedeutung war. Aus dem 3. Jahrhundert besitzen wir einige griechische Texte des Alten Testaments mit ägyptischen Randbemerkungen, die in griechischen Buchstaben geschrieben sind. Das in griechischen Schriftzeichen gehaltene Ägyptisch – man fügte auch weitere Schriftzeichen hinzu – wurde jetzt zum Koptischen, der Sprache der ägyptischen Kirche. Die meisten koptischen Texte (dieselbe Bezeichnung wird auch für die besondere Kunst des christlichen Ägypten verwandt, besonders bei Textilien und Skulpturen) gehören dem 4. Jahrhundert und der Folgezeit an. 1946 entdeckte man aber in Nag Hammadi bei Luksor eine Sammlung von 48 christlichen Texten mit insgesamt 1000 Seiten, die zwischen 250 und 350 in koptischer Sprache geschrieben worden sind. Viele, vielleicht alle Texte, die ketzerische Abhandlungen oder apokryphe neu-testamentliche Werke darstellen, wurden nach griechischen Originalen übersetzt.1 Als das reiche Ägypten 30 v. Chr. in die Hände der Römer gekommen war, hatte Augustus versucht, das Verwaltungssystem der Ptolemäer mit

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geringfügigen Modifikationen zu erhalten, während er ein Maximum an Geld und Sachwerten aus dem Land zog, die Privilegien und Einkünfte der großen Tempel mit ihren Priesterschaften beschnitt und kontrollierte und zusammen mit einem Zensus, der alle vierzehn Jahre vorgenommen werden sollte, unter der Bevölkerung eine abgestufte Privilegierung einführte, die darüber entschied, wer die neue Kopfsteuer (laographia) zu zahlen hatte. Das Verwaltungssystem unterschied sich weitgehend von dem des übrigen Reiches. Der Statthalter (praefectus) entstammte dem Ritterstand, denn ein Senator mochte sich vielleicht als Erbe des Antonius fühlen. Er herrschte von Alexandria aus und ging zur Rechtsprechung und Überprüfung der Abrechnungen auf Rundreisen. Die drei wichtigsten Bezirke, der Deltaraum, die »Sieben Gaue und Arsinoe« (Mittelägypten) und die Thebais (Oberägypten), wurden von epistrategoi verwaltet und die Unterbezirke (»Gaue«) von strategoi (»Generälen« – wenn das Amt auch seine militärische Funktion verloren hatte). Im Land gab es nur drei griechische Städte des allgemeinen griechischen Typs: Alexandria, Naukratis und Ptolemais. In Alexandria wurden der Stadtrat und die sonst üblichen Beamten abgeschafft oder nicht eingeführt (dieser Punkt ist umstritten). Die Hauptstädte des einzelnen »Gaues« hießen metropoleis und trugen einige Charakteristika griechischer Städte. Ihre Einwohner, oder zumindest eine privilegierte Klasse von sogenannten metropolitoi, nahmen auf der Stufenleiter der Privilegien eine mittlere Stellung ein. Denn die laographia, die von Rom aufgelegte Kopfsteuer, wurde von dem Großteil der Bevölkerung in voller Höhe gezahlt, von den metropolitoi nur teilweise (normalerweise zur Hälfte) und von einer begrenzten Zahl von Priestern in jedem Tempel, von den Bürgern der drei griechischen Städte und von den römischen Bürgern überhaupt nicht. Innerhalb der Klasse der metropolitoi gab es eine privilegierte Gruppe, die wörtlich »die von dem Gymnasium« hießen und die allein die Beamten der metropoleis stellten. Die besondere Form, in der diese Klasse definiert wurde, ergab sich aus der Rolle der Gymnasien als Zentren spezifisch griechischer Erziehung. Die Qualifikation war kulturell (und finanziell), nicht rassisch bedingt; man wurde aber dennoch dann aufgenommen, wenn man nachweisen konnte, daß man von Ahnen abstammte, die schon Mitglieder dieser Klasse gewesen waren. Aus dem Jahr 127 oder 128 besitzen wir z.B. einen Papyrus, der den Epikrisis-(Prüfungs-)Bericht eines dreizehnjährigen griechisch-ägyptischen Jungen namens Sarapion enthält. Aus diesem ist zu ersehen, daß der Junge von metropolitoi abstammte, die für die Kopfsteuer »auf 12 drachmae taxiert waren«, und außerdem, daß seine Ahnen seit dem Zensus der Jahre 4–5 n. Chr. unter Augustus Mitglieder des Gymnasiums gewesen waren.2 Sarapions Ansprüche wurden in seinem 13. Lebensjahr gestellt, weil mit 14 Jahren die Zahlung der Kopfsteuer begann, die bis zum 60. oder 62. Lebensjahr weiterlief. Darum wurde auch der Zensus der gesamten Bevölkerung in 14jährigen Abständen vorgenommen; alle Hauseigentümer stellten eine Liste ihrer Besitzungen auf und verzeichneten die Namen, das Alter und den Status

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ihrer derzeitigen Bewohner. So lautet ein typischer Eintrag auf einer Papyrusrolle mit den Zensusaufstellungen zweier Dörfer in dem Prosopitis-Gau im Jahr 174: »An Apion basilicogrammateus (ein Gau-Beamter) ... von Tatithoes, Tochter des Petephnouthis und der Thelbonthon Siphtha. Ich erkläre in Übereinstimmung mit den Anordnungen des vortrefflichen Präfekten ... für den Zensus nach Häusern meinen Besitz in dem Dorf, der aus einem Haus und einem unbebauten Grundstück besteht, die zuvor Hartusis, dem Sohn des Petephnouthis, gehört haben und jetzt Tatithoes, der Tochter des Petephnouthis, gehören. Bewohner: Tatithoes ... Witwe, Alter 60 Jahre; Thermouthis ... ihre Tochter, Alter 20 Jahre ... Ich, Didymas, Sohn des Psenamounis, habe das für sie geschrieben, weil sie nicht schreiben kann.«3 Diese Zensusberichte, die getrennt an vier oder fünf verschiedene Beamte geschickt werden mußten, waren nur der Anfang einer ungeheuren Dokumentenfülle, die mit der Steuererhebung und Bevölkerungszählung des römischen Ägypten verbunden war. Von Papyri und ostraka wissen wir, daß es eine große Zahl von Geld- und Naturalsteuern gab, die auf Grundbesitz (nach Berichten über das Ausmaß der jährlichen Überschwemmungen), verschiedene Produkte und Gewerbe erhoben wurden und sich nur schwer zusammenfassen lassen.4 Aus den Dokumenten wird auch ein ständiger Konflikt zwischen dem Staat und seinen Untertanen deutlich, der durch die allgemeine Einführung des »Liturgie«-Systems im Lauf des 1. Jahrhunderts noch verwickelter wurde: Die Aufgabe der Steuereinziehung und die Haftung für das Steueraufkommen oder die Pacht verschiedener Kategorien von Staatsland wurde zunächst von den Beamten der verschiedenen Gebiete und später kollektiv von den Gemeinden einzelnen obligatorisch übertragen. Häufig flohen deshalb die Steuerzahler; die Einnehmer der laographia in sechs Dörfern des Gaues von Arsinoe beschwerten sich z.B. beim Präfekten für die Jahre 55–59, daß viele Einwohner verarmt, geflohen oder gestorben waren, so daß sie die Steuer nicht einziehen konnten, und baten ihn, dem strategos mitzuteilen, daß er sie bis zur Überprüfung der Angelegenheit nicht länger belästigen sollte. Die vollständigste Beschreibung Ägyptens in der frühen römischen Periode stammt aus der Feder des Geographen Strabo, der im Gefolge des Präfekten 26 v. Chr. nilaufwärts reiste. Er beschreibt Alexandria mit seinem Doppelhafen und den schönen breiten Straßen, den Tempel (Caesareion) für den Kaiserkult und das Museion, das Gelehrtenzentrum, das die Ptolemäer gegründet hatten und das jetzt dem Schutz der Kaiser unterstand. Weiter landeinwärts sah er den Serapistempel von Canobus, wo der Gott denen, die in seinem Bezirk schliefen, seine Anweisungen gab, das Legionslager in Babylon (Kairo), in dem 150 Gefangene damit beschäftigt waren, Wasser vom Nil hochzupumpen, und die Pyramiden und Gräber der Pharaonen. In Arsinoe (früher Krokodilopolis) fütterte er die heiligen Krokodile, die von den Priestern gehalten wurden, und hörte in Theben – gleich den vielen anderen Reisenden dieser Periode, deren Namen dort verzeichnet sind – die in der Morgendämmerung eines jeden Tages

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von der Kolossalstatue des Memnon ausgehenden Töne. Schließlich kam er zu dem großen Isistempel auf der Insel Philae, der unter den Ptolemäern erbaut wurde und im traditionellen Stil der Pharaonen bis in die Regierungszeit Hadrians (117–138) hinein erweitert wurde. Strabo bereiste nicht selbst, beschrieb aber die Wege vom Nil bei Koptos zu den Häfen am Roten Meer, von wo aus nach der Entdeckung der Monsune in jedem Jahr große Handelsflotten nach Indien segelten. Die Waren wurden über Land zum Nil transportiert, dort eingeschifft und von Alexandria aus in die Mittelmeerländer exportiert. Ein anderer Ägyptenreisender im Jahr 19 n. Chr. war Germanicus, der Neffe und Adoptivsohn des Tiberius. In Alexandria milderte er eine Hungersnot, indem er die Kornspeicher öffnete, in denen für Rom bestimmtes Getreide lag; dann reiste er nilaufwärts, in griechische Gewänder gekleidet (wie es sich für einen intellektuellen römischen Touristen gehörte), und besuchte die Tempel, Statuen und Pyramiden. In Memphis fraß der Heilige Stier des Apis nicht aus seiner Hand, sagte also seinen Tod voraus. Ein 1959 veröffentlichter Papyrus gibt wörtlich Germanicus’ Rede vor dem Volk von Alexandria und seinen Empfang durch dasselbe wieder: ›Der exegetes (oberste Stadtbeamte): »Ich habe dem Imperator selbst beide Dekrete gegeben.« Der Imperator: »Ich, der ich von meinem Vater geschickt wurde, Männer von Alexandria ...« Die Menge rief: »Hurra, viel Glück, du wirst gesegnet sein.« Der Imperator: »Ihr Männer von Alexandria, die ihr meine Begrüßungsworte hoch eingeschätzt habt, wartet, bis ich jede eurer Fragen vollständig beantwortet habe, ehe ihr Beifall spendet.«‹ Ein anderer Papyrus enthält zwei von Germanicus herausgegebene Erlasse. Mit dem einen versucht er, die Bevölkerung davon abzuhalten, ihn als Gott zu feiern, der andere verbot, Zugtiere und Boote beim Volk für seine Reise zwangsweise zu requirieren. Der Aufruhr Alexandrias wurde in der Regierungszeit Caligulas (37–41) wieder deutlich, als Angriffe gegen die große jüdische Gemeinde zu rivalisierenden Gesandtschaften an Caligula und Claudius (41–54) und zu Claudius’ berühmtem Brief an die Alexandriner führten, der im ersten Jahr seiner Regierung geschrieben wurde. Das Pogrom von 38 wird von Philo in seinem Anti-Flaccus (Flaccus war damals der Präfekt von Ägypten) beschrieben, in größeren Einzelheiten in seinem Werk Gesandtschaft an Caligula, in dem er hauptsächlich das Schicksal der jüdischen alexandrinischen Gesandtschaft schildert, die 40 vor Caligula erschien. Die Schwierigkeiten begannen mit der Ankunft: des jüdischen Königs Agrippa I. (dem Enkel des Herodes) in Alexandria; durch den Anblick seines königlichen Gefolges herausgefordert, griff der Pöbel einen idiotischen Bettler von der Straße auf, kleidete ihn als König und agierte mit ihm ein beleidigendes Possenspiel. Dann gingen die Alexandriner allgemein gegen die Juden vor, forderten die Aufstellung von Götterbildern in den Synagogen und trieben sie in einen Stadtteil, nachdem der Präfekt Popularität zu gewinnen gesucht hatte, indem er die Juden in der Stadt

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zu Fremden erklärte. Sie plünderten ihre Häuser und Werkstätten und schlugen alle, die sie fingen, tot oder verbrannten sie. Flaccus nahm unterdessen viele Mitglieder des jüdischen Ältestenrates fest und ließ sie im Theater zu Tode peitschen. Der Präfekt wurde dann aus anderen Gründen inhaftiert, die Unruhen gingen aber weiter, und 41 brachen zwei weitere Gesandtschaften der Griechen und Juden von Alexandria zu Claudius auf. In seinem Brief an die Alexandriner, der auf einem Papyrus vollständig erhalten ist, gibt der Kaiser die Antwort auf die griechische Delegation. Er beginnt mit der namentlichen Aufzählung der zwölf Abgesandten (von denen sechs römische Bürger waren), nimmt sodann, indem er augenscheinlich die Reihenfolge der ihm vorgebrachten Bitten einhält, einige der ihm angetragenen religiösen Ehrungen an und lehnt andere ab und verleiht verschiedene Privilegien, überläßt aber dem Präfekten das Problem der Bildung eines Stadtrates. Schließlich erörtert er die jüdische Frage, über die es vor ihm zu einer Konfrontierung der beiden Gesandtschaften gekommen war. Er befiehlt beiden Seiten, Frieden zu halten, und den Alexandrinern, die alten Sitten der Juden zu achten; die Juden sollen untereinander verkehren, nicht bei Spielen zusehen, die von alexandrinischen Beamten veranstaltet werden, und keine Verstärkungen aus Syrien und Ägypten herbeiholen (wie sie es offenbar getan hatten). Diese Fragen, der Konflikt mit den alexandrinischen Juden und Alexandrias Forderung nach vollem Stadtstatus, ließen die seltsamste Literaturgattung der alten Welt entstehen, die sogenannten Heidnischen Märtyrerakten.5 Diese Akten sind in einer Reihe verschiedener Papyrusfragmente erhalten und berichten entweder von den Prozessen prominenter Alexandriner oder der Konfrontierung alexandrinischer und jüdischer Gesandtschaften vor einer Reihe von Kaisern, die von Claudius bis Commodus (180–192) reichte. Wie weit sie auf Tatsachen beruhen, ist umstritten; aber, ob nun Geschichte oder Dichtung, ihre Tendenz besteht ganz eindeutig in einer Heroisierung der führenden Alexandriner im Gegensatz sowohl zu ihren jüdischen Rivalen als auch zu ihren römischen Unterdrückern. Im Jahr 60 kam es zu weiteren Ausschreitungen, als der Präfekt, der selbst ein alexandrinischer Jude war, Julius Alexander, der Neffe Philos, einen Konflikt, in dem die Juden drohten, das Amphitheater niederzubrennen, damit beendete, daß er zwei Legionen herbeirief und ein Blutbad anrichten ließ, in dem 50000 Menschen getötet wurden. Zwei Jahre später gab Alexander ein Edikt aus, das zu den aufschlußreichsten Dokumenten des römischen Ägyptens gehört, in dem die Reformen aufgeführt werden, die auf die Proklamation Galbas beim Tod Neros folgten.6 Das Edikt wurde am 6. Juli 68 in Alexandria veröffentlicht; der besterhaltene Text ist die Inschrift auf einem Tempeltor in der Oase El-Kharga, wo der Erlaß am 28. September verkündet wurde (was illustriert, wie langsam damals die Kommunikation war). Alexander erwähnt, daß er seit seiner Ankunft in Alexandria (im Jahr 66) von Bittstellern aus Alexandria selbst und dem ägyptischen Land belagert worden sei, die um eine Abstellung von Mißständen

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baten; u.a. befaßt er sich mit dem Pachtzwang bei der Steuererhebung oder bei Staatsländereien, dem Vorgang, wonach sich die Käufer von Staatsland zur Entrichtung von Pachtgeldern gezwungen sahen, und der häufigen Wiederaufnahme von Fällen durch die Beamten, über die die Präfekten schon entschieden hatten; Bauern aus ganz Ägypten hatten sich gleichermaßen über die nicht genehmigte Erhebung von Sondersteuern beschwert. Ägypten liefert auch den einzigen dokumentarischen Beleg für die besondere Kopfsteuer, die Vespasian nach dem Krieg von 66–70 (Kap. 11) allen Juden auferlegte. Zuvor hatten erwachsene männliche Juden zwei drachmae im Jahr an den Tempel in Jerusalem geschickt. Ostraka – Keramikbruchstücke mit Steuerquittungen – aus Edfu und ein Papyrus aus Arsinoe aus dem Jahr 73 beweisen, daß die Steuer, die jetzt für den Jupiter Capitolinus in Rom-gezahlt wurde, von allen Juden, Männern und Frauen, im Alter von drei Jahren aufwärts erhoben und von 72 auf 70 rückdatiert wurde. Im Jahr 73 kamen auch zelotische Flüchtlinge aus dem Jüdischen Krieg in Ägypten und der benachbarten griechischsprechenden Provinz Kyrene (Libya) an; ihren Versuchen, ernstliche Aufstände anzuzetteln, traten aber in beiden Provinzen die Führer der jüdischen Gemeinden entgegen, und die Behörden bereiteten ihnen ein schnelles Ende. In den Jahren 115–117 erhoben sich die Juden der Kyrene, denen die von Zypern und Ägypten folgten, gegen die griechische Bevölkerung und hinterließen, offenbar in einem wohlerwogenen Kreuzzug, ausgedehnte Zerstörungen. Inschriften aus Kyrene lassen erkennen, daß Straßen und Tempel in dem Jüdischen Aufstand zerstört wurden; ganze Bezirke wurden entvölkert und mußten von Hadrian (117–138) mit Veteranen besiedelt werden. Aus Ägypten berichtet der Historiker Appian, der aus einer führenden Familie Alexandrias stammte, wie die Juden den dortigen Tempel der Nemesis zerstörten und er sich selbst nur durch die Flucht retten konnte. Es ist beispielsweise auch ein Papyrus erhalten, der sich auf eine Schlacht zwischen den Römern und den Juden bei Alexandria bezieht, und ein anderer, an den Präfekten gerichteter mit dem Urlaubsgesuch des strategos von Apollinopolis, der nach seinem Besitz sehen wollte, »der von den gottlosen Juden zerstört worden war«. Schließlich, so sagt Appian, »wurde das jüdische Volk in Ägypten von Trajan vernichtet«. Die Papyri bestätigen das – eine einzige jüdische Familie scheint in Edfu weitergelebt zu haben, und von der jüdischen Gemeinde in Alexandria hört man nichts mehr.7 Im Jahr 130 besuchte Hadrian Ägypten, disputierte mit den Gelehrten im Museum von Alexandria, segelte nilaufwärts und hörte der Memnonstatue in Theben zu (wo Julia Balbilla, aus seinem Gefolge, einige Verse eintrug, die noch heute zu lesen sind). Er gründete die einzige neue Stadt des römischen Ägyptens, Antinoopolis, im Gedenken an seinen Günstling Antinous, der im Nil ertrunken war. Die neue Stadt, deren Einwohner »Antinoiden, Neue Hellenen« genannt wurden, machte Hadrians Philhellenismus sichtbar. Sie wurde nach dem klassischen Schachbrett-Muster angelegt, mit zwei 20 Meter breiten, von

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Kolonnaden gesäumten Hauptstraßen, die sich im Stadtmittelpunkt kreuzten, und den üblichen öffentlichen Gebäuden, Bädern, Tempeln und einem Theater. Die Bürger, die alle Privilegien der Einwohner einer griechischen Stadt erhielten, wurden teils durch das Los aus Ptolemais geholt und teils aus der metropolis Arsinoe und anderswoher. Zumindest einige von ihnen bekamen Ländereien, und ihre Kinder bezogen aus einer von Hadrian eingerichteten Kasse Unterstützungen (das einzige Beispiel eines kaiserlichen »Alimenten«-Systems außerhalb Italiens).8 Was es bedeutete, Bürger einer griechischen Stadt zu sein, wird durch einen Papyrus aus der Mitte des 2. Jahrhunderts verdeutlicht, den Gnomon (Handbuch) des Idiologus, des mit der »besonderen Rechnung« betrauten Beamten, an den bestimmte Geldstrafen und offene Erbschaften zu entrichten waren. Einige der mehr als 100 erhaltenen Klauseln beziehen sich auf die Statusunterschiede zwischen Ägyptern, astoi (den Bürgern der Griechenstädte und auch der metropoleis?), Alexandrinern und Römern. Einem Ägypter, der nachwies, daß sein Vater römischer Bürger gewesen war, wurde ein Viertel seines Besitzes konfisziert; wenn er seinen Sohn als Epheben (Jüngling, der Mitglied des Gymnasiums war) eintrug, verlor er ein Sechstel; ägyptische Frauen, die mit römischen Veteranen verheiratet waren, wurden bestraft, wenn sie behaupteten, selbst römische Bürger zu sein. Unter diesen Umständen mochte ein Ägypter gern so »griechisch« erscheinen, wie er nur konnte, selbst wenn sein gesetzlicher Status nur schwerlich zu ändern war; so ist aus dem Jahr 194 die Bittschrift eines Mannes namens Eudaimon, Sohn des Psois und der Tiathres (ägyptische Namen), an den Idiologus erhalten, der sich jetzt Edaimon, Sohn des Heron und der Didyma (griechische Namen), nennen wollte. Die sozialen Spannungen brachen gelegentlich in gefährlichen Unruhen durch. So etwas scheint im Jahr 154 geschehen zu sein, als der Präfekt einen Erlaß veröffentlichte, in dem er eine Amnestie für alle diejenigen versprach, die in ihre Wohnungen zurückkehrten, und in dem er seine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung beschrieb. 172 erhoben sich die Boukoloi, die das Marschland bei Alexandria bewohnten, unter der Führung eines Priesters, besiegten eine römische Truppe und hätten vielleicht Alexandria eingenommen, wenn der Statthalter Syriens nicht eingeschritten wäre. Das bemerkenswerteste politische Ereignis der Periode stellt jedoch Septimius Severus’ Besuch in den Jahren 199–201 dar. Dieser Besuch, in dessen Verlauf der Kaiser die übliche kulturhistorische Reise nilaufwärts unternahm, hat in den Papyri eine Fülle von Spuren hinterlassen: einen Bericht einiger Dorfbeamter an den strategos über die Vorratsbeschaffung für die Reise und eine große Zahl von Gesetzesentscheiden, darunter eine Gruppe von dreizehn, die wörtlich auf einem einzigen Papyrus aufgezeichnet sind, und Abschriften solcher, die in der Stoa des Gymnasiums von Alexandria im März 200 angeschlagen wurden. Das wichtigste Ergebnis der Reise war aber die Einrichtung von Stadträten in Alexandria und den metropoleis. Ägypten behielt seine bürokratische Struktur

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bei. Die wichtigste Funktion der Stadträte bestand darin, Männer zu finden, die bereit waren, die Lasten der lokalen Verwaltung und der Steuereinziehung auf sich zu nehmen; trotzalledem war ein Schritt in Richtung auf die örtliche Autonomie getan, die für den Rest des Reiches charakteristisch ist. Obgleich die Alexandriner nun erlangt hatten, worum sie lange bemüht gewesen waren, gingen ihre Zwistigkeiten mit den römischen Kaisern doch weiter. Im Jahr 215 machte Caracalla während seiner Expedition in den Osten dort Station und richtete, offenbar aus Rache für öffentliche Beschimpfungen seiner Person wegen des Mordes an seinem Bruder Geta im Jahr 212, ein schreckliches Blutbad an. Er vertrieb auch alle Fremden aus der Stadt. Die Schlußsätze seines Erlasses illustrieren in vorzüglicher Weise den Gegensatz zwischen Alexandria und dem übrigen Ägypten: » ... Die Personen, die ausgewiesen werden sollen, sind diejenigen, die aus ihren eigenen Bezirken fliehen, um die bäuerliche Arbeit zu meiden, und nicht diejenigen, die hierher wandern, um die schöne Stadt Alexandria zu sehen ... Die Ägypter lassen sich unter den Leinenwebern leicht an ihrer Sprache erkennen ... ihre Gewohnheiten und ihre unzivilisierte Lebensweise verraten sie darüber hinaus als ägyptische Bauern.« Unter den Flüchtlingen aus Alexandria befand sich im Jahr 215 der bedeutende christliche Gelehrte und Philosoph Origenes. Die Anfänge des Christentums in Alexandria und Ägypten liegen im dunkeln. Wir kennen zwar die Namen und ein wenig die Lehren einiger alexandrinischer Häretiker im 2. Jahrhundert; erhalten ist auch ein winziges Papyrusfragment des Johannes- Evangeliums, das vielleicht um 120 geschrieben wurde, und das somit den ältesten bekannten neutestamentlichen Text darstellt, und eine Reihe anderer neutestamentlicher Fragmente aus dem späten 2. Jahrhundert. Aber erst gegen Ende des Jahrhunderts weist Eusebius’ Kirchengeschichte auf eine wohlgegründete christliche Gemeinde in Alexandria mit einem Bischof und einer Katechetenschule hin, die für einige Jahre bis 202–203 Clemens leitete, ein möglicherweise aus Athen stammender Konvertit, in dessen glänzenden diskursiven Schriften das ganze Erbe antiker Philosophie und literarischer Technik zur Interpretation des Christentums benutzt wurde. Die bedeutendste Gestalt der alexandrinischen Kirche war jedoch Origenes, der um 185 als Sohn christlicher Eltern in Alexandria geboren wurde. Nach dem Tod seines Vaters in den Christenverfolgungen der Jahre 202–203 weihte er sein Leben dem asketischen Gedanken und lehrte das Christentum. Dabei wurde er von den zeitgenössischen heidnischen Philosophen als ebenbürtig anerkannt. 215 verließ er Alexandria, wie oben erwähnt, lebte kurze Zeit in Caesarea in Palästina und ließ sich dort um 230–231 endgültig nieder. Unter der ungemein großen Zahl seiner Schriften, von denen einige erhalten sind, befanden sich ein Werk über die Grundlagen der christlichen Theologie, Kommentare zu allen Büchern des Alten und Neuen Testaments und das Hexapla, das in sechs parallelen Spalten

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angelegte Alte Testament in Hebräisch, transskribiertem Hebräisch und in vier griechischen Übersetzungen. Origenes litt unter den Martern der decischen Christenverfolgungen (249–251) und starb bald danach, wahrscheinlich in Caesarea. Zur gleichen Zeit setzten die Briefe des Dionysius, des Bischofs von Alexandria, ein, die sehr lebendig das kirchliche Leben und die Vorgänge in Alexandria und Ägypten schildern. Die Christenverfolgungen begannen in Alexandria mit spontanen öffentlichen Ausschreitungen ein Jahr vor dem Erlaß des Decius. Christen wurden aufgegriffen, geschlagen und gemartert, um sie von ihrem Glauben abzubringen. Ihre Häuser wurden geplündert. Als der Erlaß eintraf, wurde ein Soldat abgesandt, um Dionysius zu verhaften. Diesem gelang aber die Flucht. Später wurde er ergriffen, aus den Händen der Soldaten aber von einer Gruppe ägyptischer Bauern befreit, die zu einem nächtlichen Hochzeitsfest unterwegs war. Schließlich verlangte der Kaiser, daß alle Bewohner des Reiches vor örtlichen Kommissionen opfern sollten, die zu diesem Zweck eingerichtet worden waren; aus Ägypten sind 43 Papyri mit Opferbescheinigungen erhalten, die einzelne Personen erworben hatten.9 Viele Christen opferten; viele andere, sowohl in Alexandria als auch in den Städten und Dörfern Ägyptens, weigerten sich und starben den Märtyrertod. Andere flohen in die Wüste. Zu dieser Zeit lebte der erste ägyptische Einsiedler, Paulus von Theben, der »in den griechischen und ägyptischen Wissenschaften erzogen war« und sich während der Verfolgungen in der Wüste niederließ. Sein berühmter Nachfolger Antonius, der um 275 Eremit wurde, scheint nicht Griechisch gesprochen zu haben. Dionysius schildert in Einzelheiten die Verfolgungen unter Valerian und ihre Beendigung durch Gallienus um 260. Er beschreibt ebenfalls den Bürgerkrieg in Alexandria (auf den die Pest folgte, in der, wie er sagt, die Christen für ihre Kranken sorgten, während die Heiden die ihren im Stich ließen). Dieser Bürgerkrieg fiel offenbar in die Zeit des Aufstandes des Macrianus und Quietus (Kap. 11), die in Ägypten in den Jahren 260–261 anerkannt wurden. Dionysius starb 264. Ihm folgte Anatolius nach, der, was bezeichnend für das alexandrinische Christentum ist, gleichzeitig das Haupt der dortigen aristotelischen Schule war. Der Bürgerkrieg dauerte zu seinen Lebzeiten fort. Die neue Macht Palmyra (Kap. 11) fiel 269–270 in Ägypten ein, eroberte es nach heftigen Kämpfen und hielt es bis etwa 271 besetzt.10 Vielleicht kam es im folgenden Jahr in Alexandria zu einem Aufstand, den Aurelian (270–275) niederwarf. Bei der Belagerung eines Teils Alexandrias durch die Römer, was auch während der palmyrischen Episode geschehen sein könnte, überredete Anatolius den alexandrinischen Stadtrat, alle, die nicht kämpften, hinauszutreiben, und vereinbarte, daß ein Christ auf der römischen Seite für sie sorgte. Nimmt man den palmyrischen Überfall aus und den Raubzug der Blemmyer, der in Probus’ Regierungszeit (276–282) kurz erwähnt wird, scheint das römische Ägypten bis Diokletian unter keinen Angriffen von außen gelitten zu haben. In

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den Papyri sind aber vielzählige Belege dafür enthalten, daß das 3. Jahrhundert eine Periode großer Schwierigkeiten für Ägypten war. Die Preise stiegen sehr stark, das Räuberunwesen scheint an der Tagesordnung gewesen zu sein, einige Ländereien wurden nicht mehr bebaut (obgleich Probus, wie ein Papyrus aus dem Jahr 278 zeigt, Zwangsarbeit für die Wiederherstellung der Dämme anordnete) und, wie anderswo, stieg der Druck der vom Staat geforderten Pflichten. Die Papyri machen deutlich, daß man für die Versorgung der Soldaten aufkommen und, wo notwendig, sie bestechen mußte; sie zeigen, wie es vor allem immer schwieriger wurde, die einzelnen örtlichen Ämter zu besetzen. Ein Papyrus aus dem Gau von Arsinoe, der etwa auf das Jahr 250 zu datieren ist, enthält den Bericht einer von dem Präfekten geleiteten Verhandlung über die Frage, ob die metropolitoi Dorfbewohner dazu zwingen dürften, gewisse Ämter zu übernehmen. Severus (193–211) hatte verfügt, daß die Dorfbewohner davon befreit seien: »Der Präfekt zu Severus (Advokat des Rats der Stadt Arsinoe): Was sagst du zu Severus’ Gesetz und den Urteilen. Severus: Zu Severus’ Gesetz will ich sagen: Severus gab das Gesetz aus, als die Städte noch blühten. Der Präfekt: Das Argument des Wohlstandes – oder vielmehr der Abnahme des Wohlstandes – trifft sowohl für die Dörfer als auch für die Städte zu.«11 Die Formen des örtlichen Lebens dauerten jedoch fort; ein Papyrus aus Oxyrhynchus z.B. enthält eine Liste von Dichtern und anderen Leuten, die als Belohnung für ihre Siege bei den jährlichen Festspielen zwischen 261 und 289 gewisse Immunitäten erlangten. Ein Aspekt der ägyptischen Kultur, der zur Ausbreitung des Christentums und zur Entwicklung des Koptischen im Gegensatz steht, wird von einem Papyrus um 260 illustriert, in dem der Stadtschreiber von Hermopolis einen Mitbürger bei seiner Rückkehr von einer Gesandtschaft nach Rom willkommen heißt, indem er eine Zeile aus dem Ion des Euripides zitiert. 11. Die griechischen Provinzen Das Leben der wichtigsten griechischen Provinzen – von Griechenland und Makedonien bis Kleinasien und Syrien und Umgebung – wird, verglichen mit anderen Teilen des Reiches, durch eine grenzenlose Vielzahl und Vielfalt von Zeugnissen beleuchtet. Erhalten sind nicht nur eine ungeheuer reiche zeitgenössische heidnische, jüdische und christliche Literatur in griechischer Sprache, sondern auch die Äußerungen mehrerer Generationen von Rabbinern, die in vollständigem Gegensatz dazu stehen und in der Mishnah (um 200 n. Chr.) und im Talmud gesammelt wurden. Wir besitzen Tausende von Inschriften in griechischer Sprache, besonders aus Kleinasien, und auch Inschriften und Dokumente in Aramäisch und seinen Ablegern (Syrisch und Palmyrisch) und in Nabatäisch, einer Frühform des Arabischen, die in aramäischer Schrift geschrieben wurde. Darüber hinaus blieben ausgedehnte Überreste der Städte erhalten, von Ephesus bis zu den Tempeln von Baalbek, bis Caesarea, Jerash,

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Palmyra oder Petra. In den letzten Jahren sind unsere Kenntnisse durch gänzlich neue Quellen bereichert worden, die Ausgrabungen der Festung Masada, in der die letzten Überlebenden des Jüdischen Aufstandes im Jahr 73 Selbstmord begingen, bei denen Dokumente und biblische Texte und die erste uns bekannte Synagoge zutage kamen;1 das »Kloster« von Qumran und die Schriftrollen vom Toten Meer; und die Dokumente und anderen Funde – Kleidungsstücke, Körbe, Gebrauchsgegenstände, Tonwaren –, die in den Höhlen der judäischen Wüste westlich des Toten Meeres von den Kämpfern des Jüdischen Krieges der Jahre 132–135 zurückgelassen wurden.2 Ausgrabungen zwischen den beiden Weltkriegen haben auch die wundervollen Anlagen von Dura-Europos am Euphrat mit seinen Schriftstücken in sieben Sprachen, seinen Tempeln, der Synagoge und christlichen Kirche freigelegt.3 Für dieses ganze Gebiet schuf Rom ein politisches Gefüge. Die einzelnen Regionen wurden in Provinzen eingeteilt, die römischen Statthaltern unterstanden, und das Provinzsystem wurde stetig ausgeweitet, um in das römische Reich die Klientel-Königtümer einzugliedern, die im 1. Jahrhundert über große Teile des östlichen Kleinasien und des syrischen Raumes herrschten (s. Kap. 6). Die Römer begünstigten ganz bewußt in den Städten das Aufkommen erblicher regierender Klassen, auf deren Loyalität sie vertrauen durften und die sie für die öffentliche Ordnung und die Steuerzahlungen verantwortlich machen konnten; seit dem Ende des 1. Jahrhunderts gingen dann auch viele Griechen in den römischen Senat. Darüber hinaus aber trug Rom nur indirekt zur Sozial- und Kulturgeschichte dieses Raumes bei. Die griechische Kultur war, wo sie nicht schon vorherrschte, durch die Eroberungen Alexanders des Großen ausgebreitet worden. Die römischen Kaiser setzten die schon von den Generälen der Republik übernommene Tradition fort und gründeten weitere griechische Städte. Daneben entstanden auch einige Veteranenkolonien mit der lateinischen Amtssprache, die zum großen Teil von Augustus eingerichtet wurden; eine von ihnen, Berytus, erhielt sogar eine Schule für römisches Recht. In sämtlichen griechischsprechenden Gebieten gab es aber nur vier latinische municipia. Lateinische Namen wurden in den Oberschichten immer mehr die Regel, was hauptsächlich eine Folge der Ausbreitung des römischen Bürgerrechts war, das die Annahme eines dreiteiligen römischen Namens voraussetzte; es entstanden dabei gewöhnlich hybride Formen, z.B. Tiberius Claudius Hermocrates. Einzelne lateinische Namen konnten sogar auch Nicht-Bürger wählen; Simon aus Kyrene, der für Christus das Kreuz trug, hatte einem seiner Söhne einen griechischen Namen, Alexander, und dem anderen einen lateinischen, Rufus, gegeben (Markus 15,21). Die Kenntnis des Lateinischen war viel weniger verbreitet, obgleich Claudius versuchte, sie für römische Bürger obligatorisch zu machen. Einzelne lateinische Wörter wurden in griechischer Form wie auch in hebräischer weithin geläufig. So bestand innerhalb des von den Römern abgesteckten Rahmens eine fast rein griechische Kultur vom hellenistischen bis zum byzantinischen Zeitalter fort und

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erlebte im 2. Jahrhundert eine neue Blüte. Ihre Zentren waren Athen und die großen Städte Westkleinasiens – Ephesus, Pergamon und Smyrna. Ihre Hauptträger waren die reichen grundbesitzenden Familien, die mit Unterstützung Roms die herrschende Klasse in den Städten darstellten und als öffentliche Wohltäter auftraten, indem sie die Verteilung von Nahrungsmitteln, öffentliche Bauten, Musik- und Sportwettbewerbe finanzierten (wie die Gladiatorenkämpfe und Jagden auf wilde Tiere, die einen Teil der wenigen Importe römischer Kultur darstellten). Sie schickten ihre Söhne fort, damit diese die Moderhetoriker (oder »Sophisten«) und Philosophen hörten; die Söhne wurden dann vielleicht selbst Sophisten oder traten in den römischen Ritter- oder Senatorenstand ein oder sie taten beides. Die seit dem späten 1. Jahrhundert auftretenden Sophisten waren das charakteristische Produkt griechischer Kultur in dieser Epoche. Philostratus’ Leben der Sophisten, das um 230 geschrieben wurde, gibt dazu die lebendigste Einführung. Die Sophisten stammten aus weit voneinander entfernten Gebieten wie Südgallien, Makedonien, Kappadokien und Arabien, sie neigten aber dazu, in Athen oder den großen Städten Asias Hof zu halten und Schüler aus der gesamten griechischen Welt um sich zu scharen. Die griechische Kultur blieb bei all ihrer Anziehungskraft 3 im ganzen Nahen Osten ein importiertes Produkt. In Kleinasien weisen, obgleich es keine nicht-griechische Kultur hervorbrachte, einzelne verstreute Belege auf den Fortbestand des Keltischen in Galatien und das Kappadokischen und Kilikischen während unserer gesamten Periode hin; aus Phrygien sind etwa hundert Inschriften bekannt, die in griechischen Buchstaben geschrieben sind und in der Hauptsache aus dem 3. Jahrhundert stammen. In Westsyrien, in der Nähe des Mittelmeers, sind beinahe alle Schriftstücke in griechischer (nur wenige in lateinischer Sprache) abgefaßt, eine Reihe von Zeugnissen weisen aber darauf hin, daß auf dem Land und in einigen Städten auch Aramäisch gesprochen wurde. Das Aramäische und seine Dialekte waren die Verkehrssprache in dem ganzen Raum von dort südwärts bis Nordarabien und ostwärts bis zum Tigris; nicht-griechische Schriftstücke sind aus Nabatäa, Judäa, Palmyra, Dura am Euphrat und Edessa erhalten – aus Gebieten, die allesamt in der hier erörterten Periode direkter römischer Herrschaft unterstellt wurden. Wie allgemein bekannt ist, blühte das jüdische religiöse Schrifttum in hebräischer und aramäischer Sprache während der gesamten Zeitdauer. Das erste bekannte Dokument im Syrischen, dem aramäischen Dialekt, der in Edessa gesprochen wurde und den man in einer kursiven Schrift schrieb, datiert aus dem Jahre 6 n. Chr., und die erste syrische Literatur aus dem späteren 2. Jahrhundert. In diese Welt führen die Evangelien und die Apostelgeschichte am besten ein. In den Evangelien spiegelt sich das Leben der Juden in den Dörfern und kleinen Städten Galiläas zur Zeit der Tetrarchie des Herodes Antipas, des Sohnes des Herodes des Großen. Es begegnen uns dort die Soldaten der Klientel-Königreiche mit ihren geborgten römischen Titeln, Centurio oder speculator, oder der König selbst, wie er seine Notabeln zum Mahl lädt. Außerhalb Galiläas kam

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Christus durch das Territorium der griechischen Küstenstädte Tyrus und Sidon oder der Dekapolis, ging aber in die Städte selbst nicht hinein. Zu den großen Festen pilgerte man von Galiläa hinauf nach Jerusalem, wo die Hohenpriester und das Synhedrion herrschten, die vom Prokurator und seinen Truppen überwacht wurden. Für wenige Jahre (41–44) wurde das judäische Königreich des Herodes von Claudius dem Enkel des Herodes, Agrippa I., in seinem ganzen Umfang zurückgegeben. Diesem gelang es für kurze Zeit, den Druck aus Rom, aus seiner griechisch-römischen Umgebung – er schenkte beispielsweise der Stadt Berytus Kunstwerke und baute dort ein Amphitheater – und aus dem jüdischen Lager auszugleichen und das Gesetz in den jüdischen Gebieten seines Königreiches aufrechtzuerhalten. Schließlich verlor er durch seine ehrgeizigen Pläne die kaiserliche Gunst, als er Jerusalem zu befestigen begann und eine Konferenz der Klientelfürsten des Ostens einberief. Sowohl Josephus als auch die Apostelgeschichte berichten von seinem Tod in Caesarea; als er ein Fest zu Ehren des Claudius gab, erschien er in silbernen Kleidern, wurde als ein Gott begrüßt, erkrankte aber bald und starb. Nach seinem Tod wurde das ganze jüdische Gebiet von römischen Prokuratoren regiert. Der gesamte Zeitraum bis zum Ausbruch des Aufstandes im Jahr 66 zeichnete sich durch wachsende Konflikte zwischen den Juden, Griechen und Samaritern und zwischen der Masse der jüdischen Bevölkerung und der Oberschicht um die Hohenpriester aus, die mit Rom zusammenarbeiteten. Das Räuberunwesen blühte (ein früheres Beispiel ist Barabbas, der von Pilatus freigelassene Bandit), die als sicarii bekannten Terroristen trieben ihr Unwesen, und eine Reihe volkstümlicher Propheten trat auf. Einer von ihnen ging, gefolgt von 4000 Menschen, zum Jordan und kündigte an, die Fluten des Stromes würden sich vor ihnen auf tun; ein anderer, ein Ägypter, rief eine große Menschenmenge auf den Ölberg und behauptete, die Mauern Jerusalems würden einstürzen. Beide wurden von römischen Truppen getötet. In der Apostelgeschichte lesen wir, daß der Tribun Paulus, der in Jerusalem festgenommen worden war, als er ihn griechisch sprechen hörte, fragte: »Bist du der Ägypter, der kürzlich die 4000 sicarii in die Wüste führte?« Zuvor war Paulus in Syrien, Kleinasien, Makedonien und Griechenland gereist. Aus Damaskus floh er (2. Kor. 11, 32), um der Verhaftung durch den »Ethnarchen« (örtlichen Statthalter) des Aretas (dieser war der König von Nabatäa, des hellenisierten Araberstaates mit der Hauptstadt Petra) zu entgehen. Auf der ersten Missionsreise nach Pisidien und Lykaonien begrüßte die Bevölkerung Lystras Paulus und Barnabas in ihrem einheimischen Lykaonisch als Götter und versuchte, ihnen Stiere zu opfern. Auf ihrer zweiten Reise durchquerten sie Kleinasien und gingen nach Makedonien hinüber; in der römischen Kolonie Philippi wurden sie wegen öffentlicher Unruhen von den Beamten festgenommen, geschlagen und später, als man entdeckte, daß sie römische Bürger waren, wieder freigelassen (Kap. 5). In Athen, dem

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intellektuellen Mittelpunkt der griechischen Welt, sprach Paulus täglich auf der Agora, disputierte mit stoischen und epikureischen Philosophen und hielt eine Rede auf dem Areopag. In Korinth, das ebenfalls eine römische Kolonie war, predigte er und wurde von den Juden vor den Prokonsul Junius Gallio (den Bruder Senecas) gebracht, der es ablehnte, sich einzumischen.

� Abb. 12: Die Artemis der Epheser. Diese Statue ist die schönste unter den erhaltenen Kopien des großen Kultbildes der Göttin, das im Tempel von Ephesus stand. Das Standbild wurde von einem meisterhaften Bildhauer etwa zur Zeit Hadrians (117–138) geschaffen, später – vielleicht wegen der Verfolgung heidnischer Kulte durch die Christen – sorgfältig vergraben und im Jahre 1956 in Ephesus wieder ausgegraben. Auf seiner dritten Reise lehrte Paulus in Ephesus, wo die Silberschmiede, die Modelle des großen Artemistempels fertigten, da sie um ihren Umsatz bangten, das Volk gegen ihn aufwiegelten. Im Theater (dem üblichen Versammlungsort des Volkes) kam eine große Menschenmasse zusammen und schrie immer wieder: »Groß ist die Artemis der Epheser!« Der Aufruhr wurde erst durch den obersten Stadtbeamten, den grammaeus (Sekretär), beruhigt, der zur Menge sprach und sagte, wenn Anklagen vorzubringen wären, stände der Gerichtshof des Prokonsuls zur Verfügung; wenn sie anderes fordern wollten, gäbe es die regelmäßigen Zusammenkünfte der Stadtversammlung.

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Kein anderer Text beleuchtet das Stadtleben des griechischen Ostens besser, die leidenschaftlichen örtlichen Treueverhältnisse, den ständig drohenden Aufruhr, der von den Stadtbeamten nur notdürftig niedergehalten wurde, und die alles überschattende Gegenwart des römischen Statthalters. Diese Gegenwart enthüllt sich gleichfalls in einer langen Inschrift aus Ephesus, die wenige Jahre zuvor entstand und das Dekret enthält, durch das der Prokonsul Paullus Fabius Persicus in Übereinstimmung mit einem Erlaß des Claudius die Finanzen des Artemistempels regelte, indem er den Verkauf der Priesterämter abschaffte und das mit Tempelgeldern unterhaltene Personal verringerte. Die gleichen lokalen Treueverhältnisse und die gleiche Aufsicht durch den Statthalter spiegelten sich in den koina, den provinziellen Städtebünden. Von diesen stammten einige aus der vorrömischen Zeit. Sie vertraten die Provinzen gegenüber den Statthaltern und Rom, indem sie den Kaiserkult verwalteten, Ehrungen vornahmen und um die Aufrechterhaltung oder Ausweitung der Privilegien baten. Wir besitzen z.B. einen Bericht über die Zusammenkunft der Vertreter der griechischen Städte im Jahr 37, als diese in Gegenwart des Prokonsuls den Eid auf Caligula ablegten und eine Gesandtschaft wählten, die dem Kaiser zur Thronbesteigung gratulieren sollte. Die eigentlichen Nachrichten sind Inschriften aus Akraiphia in Böotien zu entnehmen, in denen ein Bürger geehrt wird, Epaminondas (der Name eines berühmten böotischen Generals des 4. vorchristlichen Jahrhunderts), der Akraiphia in der Versammlung in Argos vertrat und, als viele andere reiche und hervorragende Männer ablehnten, sich freiwillig zu der Gesandtschaft meldete. Erhalten ist auch der Brief Caligulas, in dem er seine Anerkennung für die Treueerweise der Griechen ausspricht. Aus Akraiphia besitzen wir auch eine Inschrift mit dem Text der Rede, die Nero anläßlich seines Besuches (66–67), in dessen Verlauf er an den Olympischen Spielen und anderen Wettbewerben als Wagenlenker, Sänger und Schauspieler teilnahm, an die am Isthmus von Korinth versammelten Griechen richtete und in der er ihre Freiheit und Steuerimmunität proklamierte. Bei dieser Gelegenheit sprach Epaminondas, der jetzt Hoherpriester des Kaiserkults war, zu den Akraiphiern und schlug vor, daß die Stadt einen Altar zu Ehren Neros errichten sollte, der mit Zeus liberator gleichgesetzt wurde. Vespasian (69–79) hob die Freiheitserklärung für Griechenland wieder auf. Im Gegensatz zum tiefen Frieden in den anderen Provinzen des griechischen Ostens brach in Judäa im Jahr 66 endgültig die offene Rebellion aus, die durch die Beendigung der Opfer im Tempel für die Sicherheit des Kaisers symbolisiert wurde. Als Jerusalem, das von Vespasians Sohn Titus mit vier Legionen belagert wurde, im Jahr 70 fiel, wurde der Tempel zerstört. Man zählte mehr als eine Million Gefallene, Hunderte jüdischer Gefangener wurden in den griechischen Städten Syriens und in Rom bei Spielen niedergemetzelt, der siebenarmige Leuchter wurde als Beutestück weggeschleppt (er ist auf dem Titusbogen in Rom dargestellt). Josephus, unser Hauptzeuge für diese Ereignisse, war im Jahr 67 in Gefangenschaft geraten und erfreute sich seitdem kaiserlicher Gunst. Er schrieb

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seinen Jüdischen Krieg, der aus dem Aramäischen ins Griechische übersetzt wurde, in den späten siebziger Jahren. Seine Jüdischen Altertümer vollendete er im Jahr 93. Für die Zukunft wichtiger war, daß ein Rabbiner, Johanan ben Zakkai, aus dem belagerten Jerusalem entkam, die Erlaubnis erlangte, in Jabneh an der Küste eine Schule zu gründen, und so die pharisäische Tradition der Diskussion, Interpretation und Gesetzesentwicklung fortführte. Die Rabbiner gründeten ein neues Synhedrion, dessen Präsident, der immer aus dem Haus Hillel stammte, bis zum späten 2. Jahrhundert zu einem örtlichen Dynasten wurde. Während die politische Identität des jüdischen Volkes also zerstört wurde, trat die jüdische Religionsentwicklung in eine neue und wichtige Phase ein. Der Aufstand endete schließlich mit der Einnahme von Masada im Jahr 73; die römische Mauer am Fuß der Festung und die acht römischen Lager sind in der felsigen Wüste deutlich sichtbar geblieben.4 Wie schon in Kapitel 6 erwähnt, wurden in dieser Periode eine Legion unter einem legatus in Jerusalem stationiert und zwei Legionen unter einem konsularischen legatus in Kappadokien. Schließlich wurde Nabatäa erobert und im Jahr 106 eine Legion nach Bostra gelegt. Petra, die nabatäische Hauptstadt, blieb jedoch die Metropole der neuen Provinz Arabia (Arabien). Dort läßt sich denn auch am deutlichsten der Einfluß der römischen Herrschaft beobachten. Der Aufbau im griechischen Stil hatte in Petra im 1. Jahrhundert v. Chr. begonnen. Die berühmten in den Fels gehauenen Gräber (deren Fassaden die Frontalansicht der Tempel des lokalen Typs nachahmen) setzen sich von da an bis in die römische Periode fort. Die Römer stauten den durch das Wadi fließenden Strom, der nach Petra führte, und leiteten ihn durch einen Tunnel um; die Hauptstraße verlegten sie höher, säumten sie mit Kolonnaden und bauten den großen als Qasr el Bint bekannten Tempel, zu dem man durch einen monumentalen Torweg gelangte.5 Zu den archäologischen Zeugen ist neuerdings eine Sammlung von Schriftstücken gekommen, die im Jahr 1961 unter anderen Zeugnissen des Jüdischen Aufstandes von 132–135 in einer Höhle der Wüste Juda gefunden wurde; es ist ein Archiv von Familiendokumenten auf Papyrus, das die Zeit von 93–94 bis 132 umfaßt und in Nabatäisch, Aramäisch und Griechisch geschrieben wurde. Die Schriftstücke enthalten beispielsweise Kaufabschlüsse, Geschenkurkunden und einen Heiratskontrakt und beziehen sich auf den von dem Statthalter Sextius Florentinus im Jahr 127 in Arabia vorgenommenen Zensus. Wenn sie vollständig veröffentlicht sind, müßten sie das Kommen römischer Herrschaft sehr lebendig verdeutlichen. Während diese Schriftstücke das Leben einer obskuren und vielsprachigen Ecke des Reiches beleuchten, setzte in der gleichen Periode, am Ende des 1. Jahrhunderts, der breite Strom literarischer Zeugnisse in den griechischen Hauptgebieten ein. Der einzige große Schriftsteller, den Griechenland in der Kaiserzeit hervorbrachte, Plutarch, lebte und schrieb in Chaironeia in Böotien; in den späten sechziger Jahren studierte er in Athen und lebte bis nach 119; in hohem Alter wurde er von Hadrian zum procurator Griechenlands ernannt. Als

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sein berühmtestes Werk gilt die Reihe paralleler Biographien griechischer und römischer Staatsmänner. Die umfangreiche Sammlung philosophischer und gelehrter Essays, die unter dem Namen Moralia bekannt ist, beleuchtet seine Zeit jedoch am besten. Plutarch scheint Sardes in Asia und Alexandria auf Reisen kennengelernt zu haben und Rom mindestens zweimal besucht zu haben. Zu seinem Bekanntenkreis gehörten Griechen aus Makedonien und Tarsus und aus Griechenland selbst. Einer von ihnen war eine für seine Zeit sehr typische Gestalt, C. Julius Antiochus Philopappus, der Enkel des letzten, 72 abgesetzten Königs der Kommagene, der den Spielen in Athen vorstand und, wie auf seinem Denkmal auf dem Musenberg in Athen zu lesen ist, von Trajan zum römischen Senator gemacht wurde. Zu Plutarchs Freunden in Rom gehörten der Senator L. Mestrius Florus – von dem er seinen eigenen römischen Namen als römischer Bürger herleitete, L. Mestrius Plutarchus – und Sosius Senecio, einer der großen Generale Trajans. Er machte es sich aber zum Grundsatz, in seiner kleinen Heimatstadt zu wohnen, wo seine Familie seit einigen Generationen hervorgetreten war. Dort übte er kleinere Funktionen aus – er kümmerte sich z.B. um die Instandhaltung von Gebäuden – und war auch Apollo-Priester in dem etwa 30 Kilometer entfernten Delphi. Für seine eigene Zeit waren die Politischen Regeln, die er an Menemachus von Sardes richtete, das bedeutendste seiner Werke. Er behauptet darin, das politische Leben bleibe sogar unter römischer Herrschaft noch eine ernstzunehmende Beschäftigung: »Jetzt, da die Angelegenheiten der Städte nicht die Führung im Krieg, den Sturz von Tyrannen, den Abschluß von Bündnissen betreffen, welche Möglichkeiten einer guten und glänzenden politischen Karriere bestehen noch? Es verbleiben öffentliche Prozesse und Gesandtschaften an den Kaiser, die Kraft, Mut und Intelligenz verlangen.« Der einheimische Politiker muß aber mit allen Mitteln die Menschen in Schach halten und Streitereien verhindern, die die Intervention der Prokonsuln auslösen. Er sollte immer der Tatsache eingedenk bleiben, daß er in einer unterworfenen Stadt regiert, sollte von seinem Amt zum Tribunal des Statthalters schauen und sich der Schuhe des römischen Statthalters über seinem Haupt bewußt bleiben. In dieser gleichen Periode kam es jedoch zu dem ersten größeren Zustrom von Männern aus den griechischsprechenden Provinzen, hauptsächlich aus Kleinasien, in den Senat. Als der Zustrom unter Vespasian einsetzte, kamen einige aus römischen Kolonien – wie C. Caristanius Fronto aus Antiochia in Pisidien – oder griechischen Städten, in denen Italiker gesiedelt hatten. Unter ihnen waren aber auch die Abkömmlinge von Königen und Dynasten; C. Julius Severus aus Ancyra, der in der Regierungszeit Hadrians in den Senat eintrat, beschreibt sich auf einer Inschrift als der Nachkomme des Attalus von Pergamon und dreier galatischer Herrscher und als der Verwandte vieler Senatoren. Die meisten stammten jedoch aus dem grundbesitzenden städtischen Bürgertum, dessen Familien Ämter in den Städten und den provinziellen koina mit Posten im Ritterstand und Senat vereinten. Ein prominentes Beispiel ist der athenische

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Redner und Millionär Herodes Atticus, der im Jahr 143 das Konsulat bekleidete.6 Das bezeichnendste Beispiel ist vielleicht das des Historikers Cassius Dio aus Nicaea in Bithynien, der von etwa 189 bis zu seinem zweiten Konsulat, als Ordinarius mit Severus Alexander im Jahr 229, im Senat saß und Dalmatia und Pannonia Superior verwaltete. Seine Römische Geschichte, die von Aeneas’ Ankunft in Italien bis ins Jahr 229 reicht, offenbart, wie es möglich war, griechisches kulturelles Erbe mit den politischen Zielsetzungen Roms zu verbinden, und kündigt damit das byzantinische Zeitalter an.7 Cassius Dio war ein Nachkomme, wahrscheinlich ein Urenkel, des großen literarischen Zeitgenossen Plutarchs, des Redners Cocceianus Dio (Dio Chrysostomos – »mit dem goldenen Mund«) aus Prusa in Bithynien. Auch er kam aus einer prominenten Familie. Sein Großvater mütterlicherseits war der Freund eines römischen Kaisers gewesen und war zum römischen Bürger der nahegelegenen Kolonie Apameia gemacht worden. Dio erbte Weinberge und Weideland im Gebiet von Prusa. Eine seiner früheren Reden entstand, nachdem der Pöbel gedroht hatte, ihm sein Haus anzuzünden, weil er während einer Getreideknappheit Korn gehortet hätte (Dio erklärte, daß er Getreide nicht zum Verkauf anbaue). Unter Domitian (81–96) verbannte man ihn aus seiner Heimat; er besuchte als Bettel-Philosoph Rom, Griechenland und das Schwarzmeergebiet. Von Nerva (96–98), einem persönlichen Freund, zurückberufen, erlangte er in Prusa wieder sehr schnell seine frühere hervorragende Stellung. Eine Gruppe seiner Reden aus Prusa aus der frühen Regierungszeit Trajans (98–117) verdeutlicht viele Aspekte städtischen Lebens. Eine Gesandtschaft, zu der auch Dio gehörte, ging von Prusa nach Rom, um Trajan zu seinem Regierungsantritt zu gratulieren, und nutzte die Gelegenheit, ihn um einen größeren Stadtrat, um das Recht lokaler Jurisdiktion, vermehrte Einkünfte und (was sie offenbar nicht erreichten) um Steuerfreiheit zu bitten. Als sie zurückkehrten, ging das Gerücht um, die Gesandtschaft sei wenig huldvoll aufgenommen worden, andere Städte hätten mehr erhalten und Dio habe die Gelegenheit zum eigenen Vorteil ausgenutzt. Dann wurden von Dio große Bauprojekte geplant und begonnen; der Prokonsul hieß sie gut, einige Leute in Prusa nannten Dio jedoch einen Tyrannen, weil sie ihm verübelten, daß er alte Werkstätten, Gräber und Altäre niederreißen ließ, um für neue Kolonnaden, Brunnen und öffentliche Bauten Platz zu schaffen. Beinahe überall im Reich fand, wie die Archäologie zeigt, eine ständige Ausweitung und Neuentwicklung der Städte bis zum frühen 3. Jahrhundert statt; nur am Beispiel Dio erkennt man das Ressentiment, das dadurch hervorgerufen wurde. Jedenfalls drohte Dio, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. Er fragte das Volk unverblümt, ob es wünsche, daß er weitermache, und bat den Prokonsul, die Geldbeiträge einzuziehen, die (von den reichen Bürgern) für die Bauwerke versprochen worden waren. Dio selbst und die gleiche Art von städtischen Streitigkeiten tauchen in der Korrespondenz zwischen Plinius dem Jüngeren, der als kaiserlicher Sonder- Legatus wahrscheinlich 109 nach Bithynien geschickt wurde, und Trajan wieder

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auf. Plinius überprüfte die Finanzen der Städte – er war offenbar beauftragt, dies systematischer als ein gewöhnlicher Statthalter zu tun –, forderte Geld ein, das den Städten geschuldet wurde, und kontrollierte Bauunternehmungen. In Nicaea fand er z.B. ein Theater im Rohbau vor, das schon am Zusammenbrechen war, weil Privatpersonen versprochene Gelder zurückhielten. In Claudiopolis baute man ein Bad und verließ sich auf die Gelder, die von Trajan zugelassene neue Ratsmitglieder für ihre Ämter zahlten; Plinius bat um einen Architekten, der die Arbeiten überwachen sollte. Dio selbst wurde vor Plinius angeklagt, weil er die Rechnungen für die öffentlichen Bauten in Prusa nicht vorgelegt hatte. Er führte auch normale Rechtsgeschäfte, so besonders das Anhören von Anklagen gegen Christen. Plinius unterzog diejenigen, die ihm angezeigt wurden, der Opferprobe und verlangte die Verwünschung Christi; die römischen Bürger, die das ablehnten, wurden nach Rom geschickt, die übrigen sofort hingerichtet. Plinius’ Brief an Trajan stellt einen unschätzbaren Beleg für die Ausbreitung des Christentums, für das Ausmaß öffentlicher Feindseligkeit und für die unentschlossene, aber repressive Haltung römischer Beamter dar. Ein Zeugnis aus christlicher Quelle (beinahe der ersten nach der dunklen »nachapostolischen« Periode der jungen Kirche) stammt aus den Briefen, die Ignatius, der dritte Bischof Antiochias, in der Regierungszeit Trajans an die Gemeinden von Ephesus, Magnesia, Tralles, Philadelphia und Smyrna in Asia und an die Gemeinde in Rom schrieb, während er unter Bewachung nach Rom gebracht wurde, um den wilden Tieren vorgeworfen zu werden. Er betont wiederholt die Bedeutung des Gehorsams gegen die Bischöfe und der Vermeidung der Häresie. Im Brief an die römische Gemeinde bittet er inständig, sie sollten ihn nicht vom Märtyrertod zu retten suchen: »Laßt mich von den wilden Tieren gefressen werden, wodurch ich zu Gott gelange. Ich bin das Brot Gottes, und ich werde von den Zähnen der wilden Tiere zermalmt werden, so daß ich als das reine Brot Christi erfunden werden möge.« In der Regierungszeit Hadrians (117–138) erreichte die griechische Kultur unter den Römern ihre volle Blüte. Hadrian führte die lange Tradition des römischen Philhellenismus auf ihren Höhepunkt und übertraf dabei sogar Nero, dessen Verehrung griechischer Kultur egoistischerer und unsteterer Natur gewesen war und sich in einem Verhalten ausdrückte, das den römischen Sitten zuwiderlief. Vor seiner Thronbesteigung war Hadrian im Jahr 112 archon (Oberbeamter) von Athen gewesen. Er reiste zweimal, in den Jahren 123–125 und 128–132, in den Osten. Bei aller Aufmerksamkeit und all den Vergünstigungen, die er den anderen Städten gewährte, erhielt Athen, wo er die Winter 124–125, 128–129 und 131–132 verbrachte, doch am meisten von ihm.8 Er führte öffentliche Arbeiten ein, begann einen Aquädukt und eine Brücke, baute ein Pantheon, die Hadrianbibliothek und ein Gymnasium und vollendete den Tempel des Olympischen Zeus, der sechs Jahrhunderte zuvor von dem Tyrannen Peisistratos begonnen worden war. Er begann auch den Bau eines Tempels für »Zeus Panhellenios« und führte Panhellenische Spiele und eine jährliche

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Panhellenische Versammlung von Deputierten aus allen Städten Griechenlands und all den anderen ein, die ihre Gründung durch Griechen nachweisen konnten; auf einer Inschrift wird das Dekret der »Panhellenen« bewahrt, durch das die Stadt Magnesia am Maeander in Asia zugelassen wurde. Welche Bedeutung man der Einrichtung Hadrians beimaß, wird am besten durch eine Inschrift des frühen 3. Jahrhunderts aus Thessalonike illustriert, die einen örtlichen Magnaten, T. Aelius Geminius Macedo, ehrt, der nicht nur städtische Ämter bekleidet, Holz für eine basilica in seiner Heimatstadt geliefert und als kaiserlicher Kurator von Apollonia gedient hatte, sondern auch archon des Panhellenischen Kongresses in Athen, Priester des vergöttlichten Hadrian und Präsident der XVIII. Panhellenischen Spiele (199–200) gewesen war; die Inschrift erwähnt voller Stolz, daß er der erste archon des Panhellenischen Kongresses aus der Stadt Thessalonike war. Das war die eine Seite des Bildes – die Entwicklung griechischer Kultur und die bewußte Pflege ihrer Einheit und ihrer Blüte. In der einheimischen Bevölkerung des Ostens rief sie gemischte Gefühle hervor, die nirgends besser veranschaulicht werden als in der Unterhaltung dreier Rabbiner aus dem späten 1. Jahrhundert, die im babylonischen Talmud erhalten ist: »Rabbiner Judah sagte: ›Wie schön sind die Werke dieser Menschen! Sie haben Straßen gebaut, sie haben Brücken angelegt, sie haben Bäder errichtet.‹ Rabbiner Jose saß schweigend. Rabbiner Simeon ben Yohai sagte: ›Alles was sie gemacht haben, haben sie für sich selbst gemacht; sie haben Marktplätze gebaut, um Dirnen hineinzubringen, Bäder, um sich selbst zu verjüngen, Brücken, um für sich Zölle zu erheben.‹« Nach der Zerstörung des Tempels lag Jerusalem sechzig Jahre lang weitgehend in Ruinen. Den Juden war es nicht gestattet, dorthin zu gehen, einige kamen aber doch; man überlieferte, daß der große Gelehrte Akiba den verlassenen Tempel besuchte und einen Fuchs aus dem Allerheiligsten laufen sah. Als Hadrian in den Jahren 129–130 nach Jerusalem kam, standen nur wenige Häuser. Hadrian beschloß, auf dem ehemaligen Stadtgebiet eine Kolonie, Aelia Capitolina, mit einem Tempel des Jupiter Capitolinus anzulegen. Das führte zu dem letzten großen Aufstand, der von Simon bar Kosiba (oder Bar Kochba) geleitet wurde, den Akiba selbst als den Messias anerkannt zu haben scheint. Aus klassischen Quellen und Inschriften wissen wir, daß sich der Krieg über vier Jahre hinzog und drei bis vier Legionen beanspruchte, die durch Abteilungen aus vier anderen Legionen verstärkt waren, von denen einige aus Moesia Inferior herangeführt worden waren. Eine Legion wurde aufgerieben. Der aus Britannien herbeigerufene General Julius Severus gewann schließlich den Zermürbungskrieg, indem er 50 größere Festungen und 985 Dörfer einnahm und über eine Million Tote zurückließ. Die jüdischen Münzen der Periode tragen die Schlagworte »Erstes Jahr« oder »Zweites Jahr« »der Erlösung Israels« und »Shimon« und »Jerusalem«; einige zeigen den Tempel und eine Gesetzesrolle in seinem Inneren.

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Das vergangene Jahrzehnt erlebte die inzwischen berühmt gewordenen Entdeckungen aus den Wadis westlich des Toten Meeres, die römischen Lager auf den höhergelegenen Erhebungen und die Höhlen an den Hängen der großen Schluchten, die die Skelette der Verteidiger, ihre Besitzungen, biblische Texte, Dokumente aus der Vorkriegszeit, wie das obenerwähnte Archiv, und besonders Dokumente aus dem Krieg selbst in griechischer, aramäischer und hebräischer Sprache enthielten. Einige bargen Anweisungen Bar Kochbas für die Bestrafung einzelner Personen, für die Getreidekonfiskation und Vorratsbeschaffung. Ein hebräisch abgefaßter Brief beginnt folgendermaßen: »Von Shimon bar Kosiba an die Männer von Engedi (an der Küste des Toten Meeres). An Masabala und Yehonatan bar Ba’ayan, Friede. Ihr lebt, eßt und trinkt von dem Besitz des Hauses Israel und kümmert euch nicht um eure Brüder.« Wichtiger als diese Order sind möglicherweise die aramäisch und hebräisch geschriebenen Pachtverträge, die aus dem ersten bis dritten Jahr der Befreiung stammen und zeigen, daß es in dem von den Rebellen kontrollierten Gebiet ein reguläres Verwaltungssystem gab. Bislang sind noch nicht alle Dokumente dieser Art vollständig veröffentlicht. Der Krieg endete mit beträchtlichen Zerstörungen, der Verbannung der Juden aus einem weiten Gebiet rings um Jerusalem, der Verschiebung des Zentrums jüdischen Lebens nach Galiläa (obgleich Juden noch immer nach Jerusalem kamen, um über den Ruinen zu wehklagen) und der Einrichtung der Provinz Syria Palaestina, die von einem Prokonsul mit zwei Legionen verwaltet wurde. Politisch erholte sich Judäa jedoch bemerkenswert schnell. Der große Patriarch des frühen 3. Jahrhunderts, Rabbi Juda ha-Nasi (»der Fürst«), verfaßte die Mishnah in ihrer endgültigen Form, einen Kodex von Regeln in hebräischer Sprache, die sich auf den Aussprüchen und Diskussionen früherer Lehrer aufbauen und das persönliche Verhalten, den Sabbat und sogar die Rituale im lange zerstörten Tempel betreffen. Er spielte aber auch die Rolle eines örtlichen Dynasten mit ansehnlichem Grundbesitz, einem Hof – mit einem Lever, das dem der Kaiser nachgeahmt war – und umfangreicher persönlicher Gerichtsbarkeit. Er trat als Vermittler des römischen Statthalters auf, ließ Studenten in seinem Haus sowohl Griechisch als auch Hebräisch studieren und war persönlich einem Kaiser verbunden, den Talmud-Quellen »Antoninus« nennen, womit wahrscheinlich Caracalla (211–217) gemeint ist. Wenn auch, verglichen mit der unruhigen Geschichte der Juden, der übrige Teil der griechischen Provinzen sich eines anhaltenden Friedens und eines echten Grads der sozialen Stabilität erfreute, gibt es doch Anzeichen für Ausbeutung und soziale Spannungen mit Unruhen wegen des Brotpreises, wie in Athen unter Hadrian, und gelegentlichen Streiks und verstreute Nachrichten von Räubern in Griechenland und Kleinasien. Aus dem Zeitraum vor dem 3. Jahrhundert, aus dem wir wichtige Inschriften besitzen, sind nur wenige Belege über das Leben der Bauern erhalten. Wir kennen aber einen bemerkenswerten Abschnitt aus den Werken Galens, des Arztes und medizinischen Schriftstellers

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aus Pergamon, der der Leibarzt Marcus Aurelius’ wurde. Sein Buch über Gute und schlechte Ernährung beginnt: »Die Jahre hindurch in vielen Provinzen vorherrschende Hungersnot hat einsichtigen Männern die Wirkung falscher Ernährung bei der Erregung von Krankheiten klar erwiesen. Die Stadtbewohner trugen, wie es ihre Sitte war, genug Korn für das gesamte folgende Jahr unmittelbar nach der Ernte einzusammeln und aufzubewahren, allen Weizen, alle Gerste, Bohnen und Linsen fort und ließen den Bauern nur verschiedene Hülsenfruchtarten, nachdem sie einen großen Teil derselben zur Stadt gebracht hatten. Nachdem die Landbewohner während des Winters verzehrt hatten, was übrig war, mußten sie im Frühling auf ungesunde Kost zurückgreifen; sie aßen Zweige und Sprößlinge von Bäumen und Büschen und Zwiebeln und Wurzeln nicht eßbarer Pflanzen ...« Wir kennen dann ein Beispiel für eine wohl häufige Form des Aufruhrs aus einem von dem Redner Aelius Aristides beschriebenen Vorfall. Während er in Pergamon weilte, wurde sein Besitz, den er in Mysien (dem nördlichen Teil der Provinz Asia) hatte, von seinen mysischen Nachbarn okkupiert, die eine Schar bewaffneter Sklaven und gedungener Leute versammelten und das Land mit Gewalt besetzten. Aristides konnte an den Prokonsul appellieren, der sich auf seiner Rundreise in Pergamon aufhielt, und bekam seine Besitztümer zurück. Was aber einem Aristides widerfahren konnte, konnte auch geringeren Menschen mit weniger Aussicht auf Wiedergutmachung geschehen. Aristides war einer der berühmtesten Redner seiner Zeit. Seine Reden sind eine der besten Quellen für die griechische Welt im 2. Jahrhundert.9 Da ist z.B. seine Rede zum Lobpreis Roms zu nennen, die er 143 dort hielt; da sind seine ›Heiligen Diskurse‹, die die lange Kur beschreiben, der sich Aristides, ein lebenslanger Hypochonder, im Heiligtum des Asclepius in Pergamon unterzog (der Gott erschien denen, die im Tempel schliefen, in Träumen und gab seine Anweisungen); oder da ist das Klagelied auf Smyrna, das er nach dem Erdbeben von 177–178 an Marcus Aurelius sandte und das den Kaiser zu Tränen rührte und ihn zum Wiederaufbau der Stadt veranlaßte. Andere Aspekte sozialen und religiösen Lebens werden durch die Schriften des Satirikers Lucian illustriert, der aus einer aramäischsprechenden Umgebung in Samosata am Euphrat stammte und Griechisch als zweite Sprache erlernte.10 Eines seiner Werke ist z.B. die feindselige Schilderung eines Mannes, des Alexander aus Abonuteichos in Pontus, den Lucian für einen religiösen Scharlatan hielt. Alexander gab sich mit Hilfe einer heiligen Schlange als Prophet aus, wurde von sehr vielen Menschen aus ganz Kleinasien und Thrakien aufgesucht und antwortete auf schriftliche Anfragen über das Wiederauffinden entlaufener Sklaven, das Aufspüren von Dieben oder Räubern und sogar einem römischen legatus über die Invasion Armeniens. Gegnern antwortete er mit der Behauptung, Pontus sei voll von Atheisten und Christen. Er führte seinen eigenen Mysterienkult ein und weissagte allen Nationen bei der Pest, die von den Armeen des Lucius Verus im Jahr 166 aus dem Osten eingeschleppt wurde,

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und anläßlich einer anderen während der Markomannenkriege Marcus Aurelius’ (Kap. 6). Schließlich gestattete ihm Marcus, daß seine Heimatstadt in Ionopolis (Ion war der Name seiner Schlange) umbenannt werden dürfte, was Münzfunde bestätigen. Eine ganz andere von Lucian beschriebene Figur ist der Wanderphilosoph Peregrinus aus Parium in Asia. Er verließ seine Heimat, ging nach Syrien, wo er die »Weisheit« der Christen erlernte, und wurde als Angehöriger dieser Religion festgenommen. Was danach geschah, illustriert einen der wesentlichen Gründe für den Erfolg des Christentums, nämlich den Zusammenhalt und die gegenseitige Hilfe der Christen. Zuerst versuchten sie, ihn freizubekommen. Dann gingen sie zu ihm ins Gefängnis, brachten Nahrung und schickten Geld; es kamen selbst Abgesandte aus Asia herbei, um ihm zu helfen. Auch nach seiner Freilassung wurde er von ihnen auf seinen Reisen unterstützt. Später verließ er sie jedoch, besuchte einen asketischen Philosophen in Ägypten, reiste nach Italien, wo er den Kaiser öffentlich beleidigte und deshalb vertrieben wurde. Schließlich krönte er seine Laufbahn, indem er sich – gerade vor Beginn der Spiele des Jahres 165 – vor einer großen Menschenmenge in Olympia in Griechenland verbrannte. Diese Texte spiegeln die weitverbreitete Feindseligkeit gegenüber dem Christentum und die dadurch verursachten Störungen im sozialen und religiösen Leben der Zeit wider. Eine noch bessere Quelle ist der in Eusebius’ Kirchengeschichte erhaltene Brief, den die Gemeinde von Smyrna an die Gemeinde von Pontus schickte, um über den Märtyrertod des Bischofs von Smyrna, Polykarp, zu berichten, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts im Stadion verbrannt wurde. An der Schilderung ist bemerkenswert, daß das im Stadion versammelte Volk seine Verhaftung forderte, daß ein Stadtbeamter (der eirenarch – Friedenswächter) ihn verhaftete und daß der Prokonsul die Verhandlung im Stadion vor einer großen Menschenmenge führte, die ein Herold ständig von den Vorgängen unterrichtete. Sie riefen wiederholt: »Das ist der Lehrer von Asia, der Vater der Christen, der Vernichter unserer Götter, der die Menschen lehrt, ihnen nicht zu opfern oder sie anzubeten.« Die Funde von Dura-Europos am Euphrat, das im Gefolge der parthischen Feldzüge des Lucius Verus zwischen 162 und 165 unter römische Kontrolle kam (Kap. 6), enthalten Nachrichten ganz anderer Art über die Ausbreitung des Christentums. Die zwischen den beiden Weltkriegen durchgeführten Ausgrabungen gaben Aufschlüsse über das Leben dieser kleinen hellenistischen Gründung mit ihrer griechischen, aramäischen und iranischen Mischkultur, die ein Jahrhundert vor der Besetzung durch römische Truppen im Jahr 165 in engem Kontakt mit Syrien stand. Neben den lateinischen Dokumenten der Armee brachte die römische Periode in Dura-Europos (165–256) Papyri, Pergamente und Inschriften in Griechisch (die überwiegende Mehrheit), Pahlevi und Mittelpersisch, Safaitisch, Palmyrisch, Syrisch und Aramäisch hervor. Unmittelbar nach der römischen Besetzung entstand eine kleine jüdische

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Synagoge und eine viel größere in den Jahren 244–245, die mit großartigen Fresken geschmückt ist, die biblische Szenen wie den Zug durchs Rote Meer, die Arche, den Salomon-Tempel und Elias auf dem Berg Karmel darstellen. In einem Raum eines Privathauses wurde eine christliche Kapelle eingerichtet; später, wahrscheinlich um 230, wandelte man das ganze Haus in eine Kirche um. Die dort gefundenen Fresken zeigen u.a. die Heilung des Gichtbrüchigen und wie Christus auf dem Wasser wandelt. Der Oberbefehlshaber im Partherkrieg des Lucius Verus war Avidius Cassius, der Sohn eines Redners aus Cyrrhus in Syrien, der ab epistulis (Verantwortlicher für die Briefe) Hadrians und später Präfekt von Ägypten gewesen war. Avidius blieb als Statthalter von Syrien zurück und erhielt von Marcus die Aufsicht über den gesamten Osten. Im Jahr 175 unternahm er einen Aufstand und beanspruchte den Thron, was drei Monate dauerte und zu seiner Anerkennung bis nach Ägypten führte, ehe er dann von seinen Soldaten getötet wurde. Diese Episode, von der wir sehr wenig wissen, war der Anfang immer zahlreicher werdender Kriege und Bürgerkriege in den griechischen Provinzen. In Avdat im Negeb lassen sich Spuren arabischer Einfälle in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts finden. Wichtiger war ein Raubzug der Costobocci von der Nordwestküste des Schwarzen Meeres, der im Jahr 170 Griechenland erreichte und durch den das alte Heiligtum von Eleusis beschädigt wurde. Man setzte römische Truppen gegen sie ein, die ansässige Bevölkerung leistete aber ebenfalls Widerstand. In Elataia in Griechenland scharte ein Olympiasieger mit Namen Mnesiboulos eine Truppe um sich, tötete viele Barbaren und fiel dann selbst; eine Inschrift aus der freien Stadt Thespiai spricht von der Absendung einer Freiwilligentruppe, was mit größter Wahrscheinlichkeit in die Zeit dieses Krieges fiel. Damals erschien dieser Raubzug den Zeitgenossen als bloße Episode; unsere Kenntnisse von Mnesiboulos stammen aus einem einzigen Satz aus der Beschreibung Griechenlands des Pausanias, einem zwischen 160 und 180 verfaßten Reiseführer zu den Altertümern des Landes. In den Jahren 193–194 kam es zu den seit den Bürgerkriegen der späten Republik ersten größeren Feldzügen auf dem Boden der griechischen Provinzen. Gegen Septimius Severus, der 193 die Macht an sich gerissen hatte, erhoben sich Clodius Albinus, der Statthalter Britanniens, und Pescennius Niger, der Statthalter Syriens. Severus’ Truppen belagerten Byzanz bis 196 und blieben in den großen Schlachten bei Kyzikos in Bithynien und Issos in Kilikien siegreich. Weitere Feldzüge, wahrscheinlich in den Jahren 194–195 und 197–198, richteten sich gegen Parthien und führten zu der Schaffung der Provinzen Mesopotamien und Osroene, dem Gebiet von Edessa, dessen Klienteldynastie einige Jahre länger fortbestanden zu haben scheint. Die Städte Nisibis und (vielleicht auch später) Singara in Mesopotamien wurden damals zu römischen coloniae; man stationierte dort zwei Legionen. Eine Reihe bezeichnender Einzelheiten in unseren Quellen bezieht sich auf den Ostfeldzug Caracallas in den Jahren 214–217. Da sind zunächst die Beschwerden

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Cassius Dios, der 214 bei Caracalla in Nikomedeia in Bithynien weilte, über die für den Kaiser erzwungenen Dienstleistungen und die Belastungen beim Bau von Halteplätzen für den Kaiser an allen Straßen. Dios Worte werden von einer Reihe von Inschriften aus Bithynien (dem Knotenpunkt des kaiserlichen Kommunikationssystems) unterstrichen, in denen einheimische Großgrundbesitzer geehrt werden, die die Kosten der Vorratsbeschaffung für Severus, Caracalla und deren Armeen auf dem Weg nach dem Osten getragen hatten. Diese Quellen sind nur ein Beispiel für den allgemeinen Druck auf die Bevölkerung, dessen Ursache die staatlichen Transportanforderungen waren (Kap. 5). Der gleiche Druck wird in dieser Periode auch in einer wachsenden Zahl von Inschriften aus Asia widergespiegelt, in denen man sich wegen der Erpressungen von seiten der Truppen und Beamten beschwerte. Eine von ihnen ist die von den Dorfbewohnern von Aragua in Phrygien an Kaiser Philippus Arabs (244–249) gesandte Bittschrift: Sie beklagten sich darüber, daß Soldaten, vornehme Stadtbewohner und kaiserliche Sklaven und Freigelassene sie belästigt, sie von ihrer Arbeit weggeholt, ihre Pflugochsen beschlagnahmt und sie geschlagen hatten. Eine frühere Beschwerde beim Kaiser und dessen Anweisungen an den Prokonsul waren erfolglos geblieben. Für andere stellte die Anwesenheit der Kaiser eine günstige Gelegenheit dar. Als sich Caracalla in den Jahren 214–215 in Nikomedeia aufhielt, kam ein Gesandter aus Ephesus, der, wie auf einer Inschrift berichtet wird, schon als Gesandter der Stadt bei Severus in Rom und dann in Britannien (208–211) und bei Caracalla selbst in Germanien (213) und Pannonien (214) gewesen war und ihn später in Antiochia und Mesopotamien aufsuchte; sein Anliegen betraf offenbar den Status und die Rechte der Stadt, weswegen er später nochmals zu Macrinus (217 bis 218) reiste.11 In Syrien, wahrscheinlich in Antiochia, führte Caracalla 216 eine Verhandlung, von der ein wortgetreuer Bericht – das Protokoll in lateinischer und die Verhandlungen in griechischer Sprache – auf dem Sockel eines Tempels etwa 40 Kilometer östlich von Damaskus aufgezeichnet wurden. Den Fall trug man durch eine Petition direkt an Caracalla heran, ein Formfehler, der unter den Parteien einigen Streit verursachte. Bauern aus Goharia strengten diesen Prozeß gegen einen Mann an, der die Priesterwürde des örtlichen Zeustempels an sich gerissen hatte, sich der Immunität eines Priesters erfreute, eine Goldkrone trug und ein Zepter führte. Der Text bricht an diesem Punkt ab; wäre er vollständig vorhanden, könnte er vielleicht nicht nur die Trivialität der Fälle, die vor den Kaiser kamen, illustrieren, sondern auch sehr vieles vom Leben im syrischen Land mitteilen. Bevor Caracalla in den Osten aufbrach, ließ er König Abgar von Edessa vorladen und gefangensetzen, der ein Christ gewesen zu sein scheint und, wenn das zutrifft, der erste christliche Monarch war. Jedenfalls steht fest, daß das Christentum im späten 2. Jahrhundert in der Osroene fest Fuß gefaßt hatte und der erste syrische Schriftsteller, der gnostische Häretiker Bardesanes (Bar Daisan), ein Zeitgenosse Abgars war. Andere Aspekte der Kultur Edessas

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werden von einem schönen Mosaikboden aus einem Gebäude in der Nähe der Stadt illustriert, das möglicherweise ein Palast war. Auf ihm sind sieben hervorragende Personen in der ortsüblichen Kleidung dargestellt – die Männer in langen, ausgebeulten Hosen, die Frauen mit hohem Kopfschmuck – die, wie man aus ihren in Syrisch eingesetzten Namen schließen kann, vielleicht die Frau Abgars und ihre Familie waren. Die Dynastie scheint etwa im Jahr 213 ausgelaufen zu sein. Im Jahr 213–214 wurde Edessa eine römische colonia. Aus dem Jahr 243 ist (unter den in Dura-Europos gefundenen Dokumenten) ein Kaufvertrag für einen weiblichen Sklaven in Edessa erhalten, der syrisch abgefaßt ist und zwei griechische Unterschriften trägt. Die ersten Zeilen des Schriftstücks machen die ungeheuren Auswirkungen römischer Herrschaft sehr deutlich: » ... Im Monat Iyar des Jahres 554 der alten Rechnung; und im Jahr 31 der Freiheit der bekannten Antoniniana Edessa, Colonia Metropolis Aurelia Alexandria; in der Residenz des Marcus Aurelius Antiochus, des römischen eques, des Sohnes des Belsu, und in der zweiten Amtsperiode als strategos des Marcus Aurelius Abgar, des römischen eques, des Sohnes des Ma’nu, des Enkels Aggas – und Abgars, des Sohnes des Hafsai, des Enkels des Bar-KMR ...« Caracallas Ermordung in Syrien (217), die vierzehn Monate dauernde Herrschaft seines Prätorianerpräfekten Macrinus und der erfolgreiche Aufstand gegen denselben im Namen des vierzehnjährigen Varius Avitus (Elagabal), des Großneffen der syrischen Gemahlin des Septimius Severus, Julia Domna, und Inhabers der erblichen Priesterwürde des Sonnengottes Elagabal in Emesa (s. Kap. 3), brachten für kurze Zeit eine syrische Dynastie in Rom zur Macht. Elagabal schickte ein Bild nach Rom, das ihn bei der Ausübung seiner Priesterpflichten in syrischer Kleidung zeigte, und brachte einen schwarzen Stein mit, der Kultobjekt der Religion des Sonnengottes war. Diese und andere Kränkungen römischer Gefühle führten zu seiner Ermordung im Jahr 222. Sein Nachfolger, sein Vetter Severus Alexander, war vorsichtiger. In seiner Regierungszeit wurde die Situation der östlichen Provinzen jedoch durch den Niedergang Parthiens und den Aufstieg des sassanidischen Persiens nach 220 total verändert. Der unmittelbaren Bedrohung Mesopotamiens und Syriens begegnete Severus Alexander mit einem ergebnislosen Feldzug in Mesopotamien (231–234). Von dieser Zeit an hörte die Sicherheit der vergangenen zwei Jahrhunderte auf zu bestehen. Die Auswirkungen zeigten sich sehr bald; Dokumente und Münzen machen wahrscheinlich, daß sich die wirtschaftliche Aktivität zu einem gewissen Grad bis in die dreißiger Jahre des 3. Jahrhunderts fortsetzte, danach aber sehr schnell abnahm. Aus der gleichen Zeit ist ein wertvoller und unbeachteter Abschnitt aus der Danksagung des Gregorius von Neocaesarea in Pontus (des späteren Bischofs Gregorius von Thaumaturgus, des »Wundertäters«) an seinen Lehrer Origenes erhalten, nachdem dieser ihn fünf Jahre lang (233–238) in Caesarea in Palästina im Christentum unterwiesen hatte. Gregorius schildert, wie seine Mutter ihn und seinen Bruder in griechischer

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Rhetorik unterrichten ließ, damit sie einmal Redner werden könnten; wie einer seiner Lehrer, der ihm Latein beibrachte (»nicht vollkommen, aber gerade so, daß ihm die Sprache nicht gänzlich fremd blieb«), vorschlug, daß er etwas römisches Recht lernen solle; wie Gregorius zögernd zustimmte, um seinem Lehrer zu gefallen und weil es nützlich sein konnte, wenn er vor Gericht auftrat. Er hätte sodann nach Rom gehen können, ging aber in die Gesetzesschule von Berytus. Die Gelegenheit dazu ergab sich, weil sein Schwager, der auch etwas Recht studiert hatte, vom Statthalter Palästinas als assessor angenommen worden war; da ihn seine Frau begleiten sollte, konnte er einen Soldaten mit diplomata zur ausreichenden Beschaffung von Fahrzeugen des cursus publicus (s. Kap. 5) vorausschicken, damit er sie und ihre Brüder unterbrachte. So kam er nach Caesarea, traf Origenes, gab das Studium des römischen Rechts auf und nahm das Christentum an. Nur wenige Texte geben so viele Auskünfte über den griechischen Osten, über die Erziehung einer prominenten Familie in einer abgelegenen Provinz, die wenig begeisterte Einstellung zum Lateinischen, verbunden mit der Anerkennung seiner Nützlichkeit, die enge Beziehung zum römischen Beamtentum, den extravaganten Gebrauch des cursus publicus durch Beamte und Mitglieder der höheren Klassen, woraus sich die Lasten erklären lassen, unter denen die Bauern zu leiden hatten. Aus der gleichen Periode ist in einem mehr als zwanzig Jahre später von Firmilian, dem Bischof von Caesarea in Kappadokien, an Cyprian in Karthago geschriebenen Brief die Nachricht von einer Christenverfolgung in Kappadokien und Pontus erhalten (erst mit dem Christentum sind uns literarische Auskünfte aus den entfernteren Teilen Kleinasiens überliefert). Eine Reihe von Erdbeben rief in der Bevölkerung einen abergläubischen Haß gegenüber den Christen hervor; der Statthalter schloß sich der Volksstimmung an; Kirchen wurden angezündet, und viele Christen flohen. Die Krise brachte unter den Christen eine Prophetin hervor, die kundgab, sie könne die Erde bewegen, und die zum Zeichen ihrer göttlichen Kraft barfuß im Schnee lief und die Autorität der Kirche angriff. Der Perserkrieg wurde bald ernstlich erneuert. Im Jahr 240 folgte auf den Sassanidenkönig Ardašīr der neue König Šāpūr I. (240–272?), der bis zum Euphrat vorrückte, wo ihm Gordian III. (238–244) und sein Praefectus Praetorio Timesitheus im Jahr 242 entgegentraten und Nisibis und Carrhae zurückeroberten. Timesitheus starb auf dem Feldzug. Sein Nachfolger M. Julius Philippus ermordete Gordian im Jahr 244. Griechische Quellen behaupten, daß er mit Šāpūr eine Übereinkunft traf, ehe er sich nach Rom zurückzog. Die große dreisprachige Inschrift Šāpūrs in Naqš-i Rustam enthält eine andere Version: Šāpūr hatte Gordian besiegt und getötet, und Philippus Arabs hatte den Frieden gebracht, indem er eine Riesensumme an Lösegeldern zahlte und seine Bereitschaft zur Zahlung von Tributen erklärte.

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Philippus Arabs (»der Araber«) kam aus einem Dorf in der Auranitis östlich des Sees Genezareth. Nach dem Vorbild der Könige und Kaiser erbaute er an dieser Stelle eine Stadt, die Philippopolis hieß und der er den Rang einer römischen colonia gab. Die Ruinen dieser Stadt sind noch nicht ganz ausgegraben worden, zeigen aber eine unregelmäßige rechtwinklige Anlage mit Säulengängen an den Hauptstraßen, Bädern, Tempeln, einem Theater und einem etwa 18 Kilometer langen Aquädukt. Die Stadt legt für das Fortdauern der alten Tradition der Urbanisierung Zeugnis ab und besitzt als einziges Beispiel einer in der Mitte des 3. Jahrhunderts ganz neu gebauten Stadt eine einzigartige historische Bedeutung – oder würde diese nach ihrer Ausgrabung besitzen. Mit der Herrschaft des Decius (249–251) kommen wir zu einer der dunkelsten und unruhigsten Perioden der Kaiserzeit, die in den griechischen Provinzen durch Invasionen aus Persien und von den Küsten des Schwarzen Meeres, den Aufstieg Palmyras in der Syrischen Wüste zu einer unabhängigen Macht und durch ständige Kämpfe zwischen Bewerbern um den römischen Thron gekennzeichnet ist. Nicht alle diese Erhebungen werden hier erwähnt; sie werden in den Worten eines Rabbiners aus der Mitte des 3. Jahrhunderts aber getreu und lebendig widergespiegelt. »Ein König kam in die Provinz. Das Volk stellte seine Porträts auf, fertigte Bilder von ihm an, schlug ihm zu Ehren Münzen. Später warf es seine Porträts um, zerbrach seine Bildnisse und machte seine Münzen unkenntlich.« Unter Decius kam es zu den ersten großen Christenverfolgungen. Die Bischöfe von Antiochia und Jerusalem starben als Märtyrer, und Gregorius, der jetzt Bischof von Neocaesarea war, floh. Unsere beste Quelle sind die Märtyrerakten des Pionius in Smyrna, die gleichzeitig sehr Bezeichnendes über das Stadtleben Asias zu dieser Zeit enthalten. Pionius und andere Christen wurden von einem städtischen Beamten, dem neokoros, verhaftet und von ihm auf der agora von Smyrna vor einer Menschenmenge aus Griechen und Juden verhört. Obgleich die Menge ihre sofortige Hinrichtung verlangte, warf man sie ins Gefängnis, um die Ankunft des Prokonsuls abzuwarten. Man versuchte verschiedentlich, sie zu überzeugen, die örtliche Polizei (diogmitai) schlug sie, und ein Redner sprach ihnen zu, der von Pionius mit dem Hinweis auf den Tod des Sokrates zum Verstummen gebracht wurde. Schließlich traf der Prokonsul ein, verhörte Pionius und ordnete an, ihn zu verbrennen. Zusammen mit einem Presbyter der Marcionitischen Häresie mußte er im Stadion von Smyrna den Tod erleiden. In der Regierungszeit Valerians und Gallienus’ (253–268) wurden die griechischen Provinzen von den schwersten Invasionen heimgesucht. Um 253 plünderten die Goten die Nordküste Kleinasiens und drangen nach Süden bis Ephesus vor, während eine zweite Streitmacht durch Thrakien zog und Thessalonike angriff, dessen Bewohner sich zur Wehr setzten und die Belagerung abwehrten. Der Angriff verbreitete in ganz Griechenland Furcht und Schrecken und veranlaßte die Bewohner der Peloponnes, den Isthmus von Korinth zu befestigen, und die Athener, erstmals seit 86 v. Chr. ihre Mauern zu

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reparieren. Dann segelten die Boraner über das Schwarze Meer und griffen Pityous erfolglos an, nahmen es aber ebenso wie Trapezunt auf einem zweiten Raubzug ein. Wahrscheinlich schrieb Gregorius, der inzwischen wieder als Bischof von Neocaesarea fungierte, bald danach seine Kanonische Epistel, das lebendigste Zeugnis für die durch die Invasion verursachten sozialen Unruhen. Er legte fest, wie Jungfrauen zu behandeln seien, die von den Barbaren vergewaltigt worden waren, und wie man mit denen verfahren sollte, die vom Feind ausgeplündert worden waren und danach andere ausgeraubt hatten, um sich Ersatz zu schaffen; wie man solche behandeln sollte, die Personen als Sklaven gehalten hatten, die von den Barbaren gefangengenommen worden waren, die sich den Feinden angeschlossen und ihnen den Weg gezeigt hatten oder die Beutestücke behalten hatten, die jene auf ihrem Rückzug zurückgelassen hatten. Wenige Jahre später marschierte eine Gotenschar die Westküste des Schwarzen Meeres hinunter, überquerte die Meerengen, plünderte die wohlhabenden Städte Bithyniens und setzte sie in Brand. Sie wurde zufällig von einem angeschwollenen Fluß aufgehalten, lud ihre Beute auf Schiffe und Wagen und kehrte wieder heim. Wenige Jahre danach, vielleicht in den Jahren 262–263, erreichte eine weitere gotische Invasion die großen Städte Asias, in deren Verlauf der Artemistempel in Ephesus zerstört wurde. Vielleicht belagerten die Goten bei dieser Gelegenheit Side in Lykien und wurden nach schweren Kämpfen zurückgeschlagen. Im Jahr 267 fuhren die Heruler in 500 Schiffen von der Krim nach Byzanz, nahmen es ein, segelten durch den Hellespont, plünderten die Inseln Lemnos und Skyros, gelangten nach Griechenland, wo sie Athen, Korinth, Sparta und Argos niederbrannten und die Peloponnes überrannten. Von diesen Ereignissen besitzen wir einige Fragmente der von dem Athener Historiker und Amtsträger Herennius Dexippus verfaßten Schilderung, der mit einer Truppe von 2000 Mann selbst den Widerstand in Attika leitete und dem es gelang, die Barbaren zu schlagen; die Fragmente enthalten einen Bericht, wie man den Feind in einen Hinterhalt lockte, und einen Teil der Rede des Dexippus, in der er seine Männer aufforderte, ihre Heimat zu verteidigen.12 All das geschah, wie Dexippus klarstellt, nachdem Athen selbst geplündert worden war. Ausgrabungen haben gezeigt, daß die Gebäude um die Agora verbrannt und zerstört worden waren.13 In der Küche eines Hauses nahe der Agora fand man eine große Zahl von Gebrauchsgegenständen, Lampen, Glaswaren, das Skelett eines Esels, den man offenbar zum Schutz hineingetrieben hatte, und Münzen, deren jüngste aus einem der letzten Regierungsjahre des Gallienus (268) stammt. Die Zerstörung der Gebäude schritt weiter fort, als die Athener Steinblöcke abtrugen, um eine Mauer rings um einen Teil der Stadt nördlich der Akropolis zu bauen. Die großartigen Bauten des klassischen Athen würden so unwiederbringlich zerstört. Doch auf der Schutzmauer selbst findet man Verse mit klassischen Anspielungen, die von

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Athenern eingehauen wurden, die bei dem Mauerbau halfen, und nach einer Reihe von Jahren genehmigten der Areopag, der Rat und das Volk von Athen die Aufstellung einer Statue des Dexippus durch dessen Söhne. Die Inschrift erwähnt seine Ämter und Priesterwürden in Athen, seine historischen Werke und nur beiläufig seine militärische Tapferkeit. Athen sollte auch im 4. Jahrhundert ein Zentrum der Rhetorik und Philosophien bleiben. Etwa in den gleichen Jahren kam es zu den schlimmsten Katastrophen an der Ostfront. Šāpūr hat in seiner Inschrift aufzeichnen lassen, wie er, durch einen römischen Angriff auf Armenien provoziert, in Syrien eingefallen war und eine große Zahl von Städten eingenommen hatte. Das Datum ist unbekannt. Es scheint aber, daß Dura-Europos im Jahr 256 verlorenging und die große Stadt Antiochia vermutlich gleichzeitig in Šāpūrs Gewalt geriet. In mehreren Quellen wird mit unterschiedlichen Einzelheiten erzählt, wie Šāpūr von dem übergelaufenen Ratsherrn Mariades, der der Korruption angeklagt war, nach Antiochia gebracht wurde. In diesen Zusammenhang gehört vielleicht der bekannte Vorfall, von dem Libanius und Ammianus Marcellinus im 4. Jahrhundert berichten: Das Volk Antiochias war im Theater versammelt, als ein Komödienspieler auf der Bühne ausrief: »Wenn ich nicht träume, sind dort die Perser!« Die Zuschauer wandten sich um und sahen hinter sich die persischen Bogenschützen. Jetzt (256–257?) kam Valerian in den Osten, nahm Antiochia wieder ein, baute es wieder auf und rückte gegen die Perser vor. Was danach geschah, wird am besten in den Worten Šāpūrs erzählt: »Im Verlauf des dritten Feldzugs, als wir Carrhae und Edessa angegriffen hatten, kam Valerianus Caesar gegen uns ... (mit) 70 000 Männern. Und jenseits von Carrhae und Edessa schlugen wir eine große Schlacht gegen Valerianus Caesar, und wir fingen Valerianus Caesar mit unseren eigenen Händen, und was die anderen anbetrifft, den Praefectus, die Senatoren und Offiziere, die ein Kommando in der Armee bekleideten, fingen wir sie und deportierten sie nach Persien. Und die Provinz Syrien und die Provinz Kilikien und die Provinz Kappadokien verbrannten wir mit Feuer und zerstörten sie und machten das Volk zu Gefangenen und ergriffen es.« Valerian wurde wahrscheinlich im Jahr 260 gefangengenommen; die in Stein gehauene Skulptur in Naqš-i Rustam zeigt ihn, wie er vor Šāpūr kniet. Während sein Sohn Gallienus im Westen beschäftigt war, wurde von den Generalen Callistus und Macrianus im Osten sehr viel Boden zurückgewonnen. Sie anerkannten Gallienus allerdings nicht und riefen die beiden Söhne des Macrianus, Macrianus und Quietus, zu Kaisern aus. Der Aufstand wurde jedoch sehr schnell niedergeschlagen, einmal durch eine Schlacht auf dem Balkan, die einer der Generäle des Gallienus gewann, zum anderen durch einen neuen Machthaber des Ostens, Odenathus von Palmyra. Seit dem frühen 1. Jahrhundert war die große Handelsstadt Palmyra in der Syrischen Wüste eng mit Rom verbunden; römische Befehlshaber kamen seit 17 n. Chr. dorthin zu Besuch, und nach den Feldzügen des Lucius Verus in den

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Jahren 162 bis 165 verblieb dort eine römische Besatzung.14 Diese Stadt mit ihrer beinahe 1000 Meter langen, mit Säulengängen versehenen Hauptstraße, ihrem großen Baaltempel, ihren Skulpturen, die einmal dicht verschleierte Frauen, zum anderen Männer und Frauen in mit Juwelen reich geschmückten Kleidern zeigen, war eine der großartigsten in der ganzen römischen Welt. Ihre Inschriften in Griechisch und Palmyrisch (einem aramäischen Dialekt) lassen den Doppelcharakter ihrer Kultur erkennen. In der römischen Armee dienten palmyrische Hilfstruppen, und irgendwann in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts war der Stadt der Rang einer römischen colonia verliehen worden. Das römische Bürgerrecht hatte Septimius Severus einem führenden Palmyrer gegeben, Odenath, Sohn des Hairan, Sohn des Vahballath, Sohn des Nasor. Dessen Enkel, Septimius Odenathus, der römischer Senator und gewesener Konsul war, griff um 260 die Truppen Šāpūrs an und erhielt von Gallienus den Titel eines ›Corrector des ganzen Orients‹, wenn er diesen nicht schon besaß; er nahm auch einen Titel mit anderer Tradition an: ›König der Könige‹. In den folgenden Jahren half er den Aufstand des Callistus und Macrianus niederzuwerfen, und er scheint zweimal gegen Šāpūr gekämpft zu haben, wobei er nach Ktesiphon vorrückte, bis er dann 267 oder 268 starb. Sein Sohn Vahballath ererbte die Titel corrector und ›König der Könige‹, ging dann im Jahr 270, von seiner Mutter Zenobia unterstützt, aber noch weiter und trug fortan die Titel consul, dux Romanorum und imperator. Palmyrische Truppen besetzten Ägypten und Kleinasien bis nach Ancyra in Galatien. Im Jahr 271 nannten sich Vahballath ›Augustus‹ und Zenobia ›Augusta‹. 272 marschierte Aurelian schließlich nach Osten, nahm nach Kämpfen in Syrien die Stadt Palmyra ein und setzte ihre Herrscher gefangen. Ein Aufstand Palmyras im folgenden Jahr wurde schnell niedergeworfen. Unsere beste Quelle für die Ereignisse dieser Periode in Syrien betrifft die Karriere des häretischen Bischofs von Antiochia, Paulus von Samosata. Nachdem er im Jahr 260 zum Bischof gewählt worden war, schockierte er die Orthodoxen mit seiner Lehre von der Einheit Gottes und dem Menschentum Christi. Eine Synode von Bischöfen aus Syrien, Ägypten und Kleinasien trat 264 in Antiochia zusammen und ließ ihn versprechen, seine Lehren zu berichtigen. Als er das nicht tat, kam eine zweite Synode von 80 Bischöfen im Jahr 268 in Antiochia zusammen, zu der ein Christ aus Antiochia mit dem syrischen Namen Malchion sprach, der Haupt einer Rhetorenschule war. Diese Synode setzte Paulus ab. Eusebius’ Kirchengeschichte enthält Auszüge aus dem Brief, den die Synodalen an die Bischöfe von Rom und Alexandria schrieben. Es wird darin geschildert, wie Paulus aus Armut durch Bestechung zu Reichtum gelangte, wie er viel mehr als procurator denn als Bischof auftrat (s. Kap. 4), Spiele veranstaltete, um der Gemeinde zu gefallen, Akklamationen wie im Theater verlangte und zu seiner Ehre an Ostern Choräle singen ließ. Schließlich mußten sie Aurelian bitten, ihn aus seinem Amt zu entfernen; Aurelian legte sogleich fest, daß die Kirche von Antiochia auf die Personen beschränkt sein sollte, die mit dem Bischof von Rom

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und Italien in Verbindung standen. Man hat, ohne einen Beweis dafür zu haben, angenommen, daß Paulus ein Schützling Palmyras war. Der Vorfall ist weit bedeutsamer aber deshalb, weil er die erste Gelegenheit darstellt, bei der die Kirche den Kaiser um Vermittlung in ihren eigenen Angelegenheiten bat. Aurelians (270–275) Feldzüge stellten, außer in Dakien und am Rhein, die Grenzen des Reiches wieder her. Weitere Invasionen sollten folgen. Im Jahr 275 plünderten die Goten vom Norden des Schwarzen Meeres ganz Kleinasien bis Kilikien und wurden dann von Tacitus besiegt. In Probus’ Regierungszeit kam es zu einer kurzen Militärrevolte in Syrien und zu einem gefährlichen Aufstand isaurischer Bergstämme in Südkleinasien, der die römischen Truppen in eine regelrechte Belagerung Cremonas in Lykien verwickelte. Die Militärgeschichte des Ostens in dieser Periode endet aber mit der erfolgreichen Invasion Persiens durch Carus im Jahr 283, der bis Ktesiphon vorrückte und den neuen König, Bahrām II., zum Friedensschluß zwang. 12. Der Balkan und die Donauprovinzen Von keinem Teil des römischen Reiches sind so wenige Nachrichten erhalten und ist so wenig über das tägliche Leben und die soziale Entwicklung bekannt wie von den Provinzen, die sich vom Schwarzen Meer zu den Alpen und nach Süddeutschland erstreckten. Zwischen den Lamentationen und Briefen vom Pontus des Dichters Ovid, der von 9. n. Chr. bis zu seinem Tod im Jahr 17 oder 18 in Tomi (Constanza) im Exil lebte, und den theologischen Schriften des Bischofs von Poetovio (Pettau), Victorinus, der 303–304 als Märtyrer starb, besitzen wir nicht ein einziges literarisches Werk, das von einem Bewohner dieses Gebiets geschrieben worden wäre. Darüber hinaus bringen nur die griechischen Städte der Schwarzmeerküste und in geringerem Umfang Thrakiens, wo man ebenfalls Griechisch sprach, längere Inschriften hervor, die Einzelheiten aus dem Leben dieses Gebietes des römischen Reiches enthalten. Im übrigen bleibt uns eine große Zahl kleinerer Inschriften, die für die Erforschung der Nomenklatur, als Hinweise auf Institutionen und als archäologisches Material von Bedeutung sind. Besonders seit dem Zweiten Weltkrieg hat man in Osteuropa die archäologischen Arbeiten in beträchtlichem Umfang vorangetrieben; bisher wurde aber noch keine Stadt ganz ausgegraben, und es könnte sich wohl auch keine mit den großen Städten Kleinasiens, Syriens oder Afrikas vergleichen. Nichtsdestoweniger ist dieser Teil des Reiches aus einer Vielzahl von Gründen einer der bedeutsamsten überhaupt. Die römische Herrschaft wurde hier im wesentlichen erst in der Regierungszeit des Augustus (31 v. Chr. – 14 n. Chr.) eingerichtet und erreichte ihre größte Ausdehnung nicht vor 106, als Dakien erobert wurde, das um 271 wieder verlorenging. Unterworfen wurden keltische, illyrische und thrakische Völkerschaften, die, trotz ihres langen Kontaktes und ihres Handels mit den Mittelmeergebieten, weitgehend ihre Stammesstruktur und ihre eigenen Sitten beibehalten zu haben scheinen. Unsere Nachrichten über

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die einheimische Gesellschaft sind in dieser Periode jedoch äußerst spärlich; es sind keine Schriftstücke in anderen Sprachen als dem Griechischen und Lateinischen erhalten, und nur das Fortbestehen einheimischer Eigennamen läßt erkennen, daß andere Sprachen gesprochen wurden; aus Inschriften ist zu entnehmen, daß nicht-urbanisierte Stämme weiterexistierten, außer einigen Tonwaren und Abbildungen einheimischer Kleidung auf Grabsteinen, besonders in Pannonien, gibt es aber nichts, was uns helfen könnte, uns deren Lebensweise vorzustellen. An der Westküste des Schwarzen Meeres, wo die ersten griechischen Siedlungen auf das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen, und in dem Klientel-Königreich Thrakien, das im Jahr 46 endgültig annektiert wurde, war die griechische Kultur fest gegründet. In den übrigen Teilen schritt die Romanisierung während der gesamten Periode stetig voran, was weitgehend ein Werk der römischen Armee war, die Straßen und Brücken anlegte und mit ihren Lagern canabae von Händlern anzog, was entweder zur Herausbildung von nahegelegenen municipia führte oder, wenn eine Legion weiterzog, zur Umwandlung der Siedlungen in coloniae. Die Armee nahm auch Männer aus diesen Provinzen auf, zunächst in die Auxilien und sodann in wachsendem Maß in die Legionen selbst, und entließ Veteranen, die sich entweder in Gruppen in einer colonia oder einzeln ansiedelten und an manchen Orten eine regelrechte munizipale Aristokratie bildeten. Man kann einerseits auch die Einwanderung von Menschen aus den griechischen und lateinischen Provinzen feststellen, besonders nach Dakien nach dessen Eroberung, und andererseits das allmähliche Ablegen einheimischer Namen und Kleidung und die Herausbildung städtischer Gemeinschaften nach römischem Muster. Die innige Verbindung von römischer Armee und dem Leben dieser Provinzen ergab sich nicht nur daraus, daß diese Provinzen erst jüngst erobert worden waren und noch romanisiert werden mußten, sondern auch aus der ständigen Bedrohung durch die freien Barbaren jenseits der Donau, die sich besonders in den Einfällen der Jahre 68–70, in den Kämpfen von den achtziger Jahren bis zur Eroberung Dakiens, in den Donaukriegen des Marcus Aurelius zwischen 166–167 und 180 und in den wiederholten Invasionen von 240–280 manifestiert. Darum wurden die Streitkräfte zunehmend an der Donau konzentriert, was zur Verlagerung des Schwergewichts der Legionen vom Rhein zur Donau (Kap. 5) führte und – mit der wachsenden Tendenz, in den Gebieten Truppen auszuheben, in denen die Legionen stationiert waren – zu einem ständig größer werdenden Übergewicht von Männern aus diesen Provinzen in den wichtigsten Kampftruppen des Reiches. Diese Provinzen erlebten, anders als Afrika oder Kleinasien, niemals ein blühendes städtisches Leben, aus dem Männer hervorgingen, die in den römischen Ritter- oder Senatorenstand aufsteigen konnten. Aber über die Armee begannen sie plötzlich im 3. Jahrhundert Kaiser hervorzubringen: Maximinus (235–238), ein thrakischer Schäfer, der als Rekrut in der Reiterei der Auxilien seine Laufbahn begonnen hatte, Decius (249–251), Aurelian (270–275) und Probus (276–282), die angeblich

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alle aus Sirmium in Pannonia Inferior stammten, Claudius Gothicus (268–270) und Diokletian (284–305) aus Dalmatien. 14 n. Chr. trat die römische Herrschaft über dieses Gebiet gerade erst aus ihren Gründer jähren hervor und erholte sich erst gerade von dem großen pannonischen und dalmatischen Aufstand der Jahre 6–9 n. Chr., der beinahe den gesamten Fortbestand des Reiches gefährdet hatte. Rätien und das ehemalige Königreich Norikum waren 16–15 v. Chr. erobert worden und waren jetzt kleinere Provinzen, die von equites verwaltet wurden. Auf dem Magdalenenberg in Norikum haben Ausgrabungen ein geschäftiges Handelszentrum dieser Periode ans Licht gebracht, zu dem Händler aus vielen Teilen der Mittelmeerwelt kamen, um die Eisenwaren des Landes zu kaufen; die Läden dort bergen über dreihundert in die Wände gekratzte Inschriften, die Einzelheiten über Namen und Kaufabschlüsse enthalten.1 Dalmatien, das unter dem Namen Illyricum beinahe zwei Jahrhunderte lang römischer Kontrolle unterstanden hatte, wurde von einem senatorischen legatus mit zwei Legionen verwaltet. Hier war der Küstenstreifen, besonders im Norden, im wesentlichen romanisiert, und in den Städten mit kolonialem oder munizipalem Status lebten viele Einwanderer aus Italien; im Inneren des Landes hatte die Romanisierung noch kaum begonnen. In Pannonien lagen drei Legionen, zwei noch im Südwesten, in Siscia und Poetovio, während die dritte um 15 n. Chr. nach Carnuntum an der Donau verlegt wurde (Kap. 5). In Mösien, das sich entlang der unteren Donau erstreckte, war die römische Herrschaft gerade erst eingerichtet. Die Einwohner sollen in der Regierungszeit des Tiberius (14–37) erstmals Tribut gezahlt haben, und bei der Verteidigung dieser Provinz mußten noch Truppen aus dem Klientelfürstentum Thrakien zu Hilfe genommen werden; Ovid beschreibt in seinem Exil in Tomi, wie Cotys von Thrakien und eine donauabwärts geschickte römische Truppe gemeinsam die Stadt Aigisos gegen einen getischen Überfall verteidigten. Seine Gedichte bezeugen sehr lebhaft die Unsicherheit des Lebens an der Schwarzmeerküste: wie die Barbaren die zugefrorene Donau überquerten und Tiere und Gefangene von den Feldern fortführten und wie die Einwohner von Tomi, unter ihnen auch Ovid, bei Anblick des Feindes in Waffen auf die Stadtmauern eilten. In der alten griechischen Kolonie wurde wenig Griechisch gesprochen, und dieses mit einem getischen Akzent. Geten und Sarmaten konnte man die Straßen hinauf- und hinunterreiten sehen, und sogar die griechischen Einwohner trugen getische Hosen. Ovid behauptet, er habe Getisch und Sarmatisch gelernt, und schrieb sogar ein Gedicht in getischer Sprache über die Apotheose des Augustus. Wenn Ovid auch Mitleid erregen und wieder nach Rom zurückgerufen werden wollte, sind seine Gedichte doch ein einzigartiges Zeugnis für die Kulturvermischung und die Härte des Lebens in einer entfernten Ecke des Reiches. Das thrakische Königreich bestand eigentlich aus zwei Reichen, einem nördlichen und einem südlichen, die von verschiedenen Mitgliedern des gleichen Königshauses regiert wurden, die bis zur Annexion im Jahr 46

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wiederholt einander bekämpften. Daneben gab es andere Formen der Auseinandersetzung. Im Jahr 21 griffen die Stämme der Coelaleten, Dier und Odrusen die griechische Stadt Philippopolis an (die dreieinhalb Jahrhunderte vorher von Philipp von Makedonien gegründet worden war) und wurden von römischen Truppen aus Mösien und von thrakischen Königstruppen aus deren Gebiet vertrieben. Fünf Jahre später erhoben sich die barbarischen thrakischen Bergstämme, die befürchteten, ihre nationalen Einheiten, die sie bei örtlichen Kriegen zu stellen pflegten, könnten als römische auxilia nach auswärts geschickt werden; wiederum mußten Truppen aus Mösien herbeigeholt werden. Der Krieg endete mit der Belagerung einer thrakischen Festung. Als das Königreich im Jahr 46 mit Gewalt annektiert wurde, unterstellte man es einem ritterlichen Prokurator, der 2000 Mann Hilfstruppen befehligte; ihm unterstanden regionale strategoi, oder Statthalter, die man aus der Königszeit übernahm. Solch eine Hierarchie regionaler Statthalter war im Reich außerhalb Ägyptens unbekannt und weist die Primitivität dieses Gebietes und das Fehlen städtischer Einrichtungen ebendort aus. Eine Inschrift mit einer Widmung von 33 thrakischen strategoi für einen frühen Prokurator spiegelt sehr deutlich die fortschreitende Romanisierung der thrakischen Oberschicht wider; zehn der Statthalter sind noch Nicht-Bürger mit gemischten griechischen und thrakischen Namen; von den restlichen, die römische Bürger waren, haben sechzehn einen römischen Namen von Claudius (41–54), sechs einen solchen von Caligula oder einem seiner Vorgänger, einer von einem Unbekannten und einer vom Prokurator M. Vettius Marcellus bekommen. Einige von ihnen lassen ihre Herkunft von bekannten strategoi der Königszeit erkennen, und einige hatten Söhne, die später strategoi wurden. Nichts zeigt deutlicher, wie gut Rom eine örtliche Aristokratie für seine Zwecke zu nutzen und sie zu belohnen verstand.2 Die Romanisierung wurde dort vorangetrieben. Claudius begründete eine Veteranenkolonie in Aprum, Vespasian eine zweite in Deultum; aus einer Inschrift wissen wir von dem Bau einzelner Absteigquartiere und Wachtposten an den Militärstraßen der Provinz. Trajan (98–117) paßte die Verwaltungsstruktur Thrakiens der anderer Provinzen an, indem er sieben neue griechische Städte gründete, die fast alle nach ihm selbst oder Mitgliedern seiner Familie benannt waren und an Stellen erbaut wurden, an denen zuvor vielleicht die Hauptorte der Stämme gelegen hatten. In der Folge scheint man die ursprünglich 50 strategiai stark reduziert zu haben; um die Mitte des 2. Jahrhunderts gab es offenbar nur noch vierzehn solcher Statthalter. Die römische Macht in Mösien wurde inzwischen gefestigt und ausgeweitet. Der legatus von Mösien in den Jahren 57–67, Plautius Silvanus Aelianus, führte jenseits der Donau Krieg, brachte die griechische Stadt Tyras an der Mündung des Dnjestr unter römische Kontrolle, besiegte die Sarmaten, drängte die Skythen aus dem Klientelfürstentum des Bosporus (Krim) und – ein Vorzeichen für die Zukunft – siedelte 100 000 ›Transdanubier‹ auf mösischem Boden an. Er war auch der erste, der Getreide von der Mündung der Donau nach Rom schickte.

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Eine andere Seite der Bemühungen römischer Statthalter in Mösien wird von einer rangen griechischen und lateinischen Inschrift aus Histria an der Schwarzmeerküste illustriert; sie enthält Briefe, die von vier Statthaltern zwischen 47 und 67 an die griechischen Städte geschickt worden waren und sich hauptsächlich mit dem Streit zwischen der Stadt und den Einnehmern des Importzolls befaßten. Die Frage ging darum, wo die Grenzen des Stadtterritoriums lagen. Das Schriftstück beginnt mit einer Bestätigung der Regelung des legatus von 100, Laberius Maximus. Plautius Silvanus Aelianus schreibt: » ... Ihr bittet mich auch, Eure Rechte in Peuke unvermindert zu erhalten. Ich für meinen Teil bin so weit davon entfernt, irgendeines dieser Rechte zu beschneiden, die so lange für Euch bewahrt wurden, daß ich gern neue Wege einschlüge, um eine alte griechische Stadt zu ehren, die den Kaisern treu ergeben ist und in ihren Beziehungen zu uns sich sehr korrekt verhält.« Wir besitzen auch eine in offiziellen Schriftstücken seltene Angabe über die Wirtschaft der Stadt; Flavius Sabinus (50–57) schreibt, daß die Einkünfte der Stadt beinahe ausschließlich aus dem Verkauf von gesalzenem Fisch stammten.3 Das römische Stadtleben pflanzte sich jetzt in die nicht-urbanisierten Zentralprovinzen fort. In Norikum wurden unter Claudius fünf municipia eingerichtet und eine weitere unter Vespasian. Man hat eine der claudischen Gründungen, Virunum (bei Klagenfurt), ausgegraben und dabei eine typische rechteckige Anlage von 1000x600 Metern entdeckt – mit Abzugskanälen in den Straßen, die die Häuserblocks (insulae) voneinander trennten, einem Forum mit basilica und einem Kapitol auf einem aufgeschütteten Hügel. In Pannonien wurde im Jahr 15 die erste Kolonie mit Veteranen und italischen Zivilisten in Emona gegründet, an der gleichen Stelle, an der das Lager gestanden hatte, das die Legion XV Apollinaris bei ihrer Verlegung nach Carnuntum aufgab. Claudius ließ eine zweite Kolonie entstehen, und die Flavier (69–86) richteten zwei weitere Kolonien und drei municipia ein. Die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts mit Einfällen der Sarmaten und Daker während des Bürgerkrieges von 68–70 und den anschließenden Kämpfen, die sich von den achtziger Jahren bis zur Niederwerfung der neuen Macht Dakien im Jahr 106 erstreckten (Kap. 15), war eine Periode größter Unruhe an der Donau. Es ergab sich daraus, wie schon in Kapitel 6 erläutert wurde, im Jahr 86 die Teilung Mösiens in zwei Provinzen, um 107 die Pannoniens und die Verlegung aller Legionen dieses Gebiets in Lager an der Donau – von Vindobona (Wien) bis Troemis an der Mündung. In Mösien entwickelte sich auch einiges städtisches Leben: Scupi, weit im Süden nahe der makedonischen Grenze, wurde in der flavischen Periode zur colonia, Ratiaria und Oescus an der Donau unter Trajan (98–117). Trajan gründete auch zwei neue griechische Städte in Moesia Inferior, Nikopolis und Marcianopolis, wie er es in Thrakien (das jetzt einem senatorischen legatus unterstellt wurde) getan hatte. In Mösien hielt sich die Romanisierung aber immer in engen Grenzen; nicht mehr als vier municipia sind

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für Moesia Inferior bezeugt, von denen alle in der Militärzone an der Donau lagen.4 Die endgültige Eroberung des Königreiches Dakien brachte eine riesige Beute an Gold, Silber, Vieh, Waffen und Gefangenen. Paradoxerweise war die Romanisierung, was zumindest die formalen Einrichtungen betrifft, hier intensiver als in den älteren Provinzen auf der anderen Seite der Donau. Man stationierte die Legion XIII in Apulum in der Mitte der Provinz und baute schon im Jahr 108 eine Straße von dort nach Porolissum im Norden. Sarmizegethusa wurde zur colonia, die in der Nähe, nicht am Standort der früheren Hauptstadt errichtet wurde. Sie enthält die Merkmale einer römischen Stadt einschließlich eines Forums und Amphitheaters; der militärische Einfluß auf ihre Anlage zeigt sich jedoch in dem Gebäude der Augustales (Priester des Kaiserkults), das dem Hauptquartier eines Legionslagers nachgebildet zu sein scheint. Einer der Hauptanziehungspunkte Dakiens waren die Goldbergwerke. Unter den Einwanderern aus den Donauprovinzen, Italien und Kleinasien finden wir auch den dalmatischen Stamm der Pirusten, der offenbar von Trajan zur Arbeit in den Goldbergwerken von Verespatak (Vicus Pirustarum – Dorf der Pirusten) angesiedelt worden war. Diese Bergwerke haben einige der interessantesten Dokumente der römischen Periode in Zentraleuropa hervorgebracht, eine Reihe von Wachstafeln aus den Jahren 131–167, die z.B. Geldverleih, den Verkauf eines halben Hauses, den Kauf eines weiblichen Sklaven durch einen in Apulum stationierten Legionssoldaten oder einen Mietvertrag zwischen einem Arbeiter (der Analphabet war und sich das Schriftstück aufsetzen ließ) und dem Pächter eines Minenschachts betreffen. Die Texte auf den Tafeln sind in lateinischer Sprache abgefaßt, wie alle Dokumente (bis auf einige wenige in griechischer Sprache) in Dakien; nur gelegentlich tauchen dakische Namen auf. Nichtsdestoweniger ist aus dem ununterbrochenen Besitz der Bauernhöfe, dem Fortleben einheimischer Töpferkunst und der Fortdauer der Beerdigungssitten ersichtlich, daß – wie zu erwarten ist – die Formen des dakischen Lebens während der gesamten Periode römischer Besetzung fortbestanden.

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� Abb. 13: Einheimische Kleidung in Norikum. Dieses Steinrelief, das jetzt in die Wand einer Kirche in Lenndorf bei Klagenfurt eingelassen ist, stellt eine Frau dar, die einen Kopfschmuck ganz und gar unrömischer Art trägt, einen hohen Hut, der von einem Schleier gekrönt ist. Er ähnelt auffällig einigen Formen mittelalterlichen Frauenkopfschmucks. Das gleiche trifft natürlich auch für Pannonien, Norikum und Dalmatien zu. Aus Norikum und Pannonien sind Reliefs auf Grabsteinen erhalten, auf denen Menschen in ihrer heimischen Kleidung sichtbar sind, unter ihnen besonders Frauen. Diese tragen weiche runde Mützen, die manchmal mit einem Schleier oder Kopftuch bedeckt sind, große Pelzhüte oder hohe runde Hüte, über die ein Schleier drapiert ist und die stark Formen mittelalterlicher Kleidung ähneln.5 Aus Inschriften wissen wir von Gemeinschaften in Pannonien und Dalmatien, die bis ins 2. Jahrhundert unter ihren Stammesbezeichnungen fortbestanden, wie die Azaler in Pannonien oder die Eravisker, die in der Nähe des Legionslagers von Aquincum lebten, das von Trajan in ein municipium verwandelt wurde; für dieses Gebiet sind Grabsteine charakteristisch, auf denen Menschen in ihrer ortsüblichen Kleidung zu sehen sind, die manchmal mit einem Stern geschmückt sind, einem Symbol wahrscheinlich keltischen Ursprungs. Der größte Teil Dalmatiens hinter dem Küstenstreifen blieb ebenfalls einzelnen Stämmen wie den Iapoden und Mazäern vorbehalten; wie die pannonischen Stämme wurden auch diese im allgemeinen von römischen Militärbeamten beherrscht, die man

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später durch Zivilisten ersetzte. Diese kamen oft aus der romanisierten Aristokratie des Stammes selbst. Die römische Herrschaft spaltete zweifellos die Bevölkerung in zwei Gruppen auf, in Menschen, die entweder in die griechisch-römische Gesellschaft integriert waren oder offizielle Stellungen bekleideten, und andere aus den unteren Schichten, besonders Bauern. Diese Spaltung wird zum Beispiel in einigen Sätzen sichtbar, mit denen der griechische Redner Aelius Aristides eine Reise durch Südthrakien um die Mitte des 2. Jahrhunderts beschreibt. Nachdem er sich über das abscheuliche Wetter beklagt hat, sagt er: »Es gab keine Soldaten im Botendienst, um uns zu begleiten ... (so) suchte ich selbst Führer aus, wo immer es nötig war, und das war nicht einfach. Denn diese Barbaren versuchten sich herauszuhalten und mußten manchmal durch Überredung und manchmal durch Gewalt herausgezerrt werden.« Eine ganz ähnliche Situation wird in einem Dokument aus dem Gebiet von Histria an der Donaumündung widergespiegelt; dieses stammt wahrscheinlich aus der Mitte des 2. Jahrhunderts und ist die Bittschrift der Dorfbewohner von Chora Dagei an den Statthalter von Moesia Inferior. Die Dorfbewohner beschweren sich darin über die Lasten und Dienstleistungen, die man ihnen abverlange, weil sie in der Nähe einer Straße wohnen, und drohen ihr Dorf zu verlassen, wenn man ihnen keine Erleichterungen verschaffe.6 Das umfassendste und wichtigste Dokument dieser Art aus diesem Raum, das denen aus Kleinasien sehr ähnlich ist (Kap. 5 u. 11), ist aber die Bittschrift der Dorfbewohner von Skaptopara in Thrakien an Kaiser Gordian im Jahr 238, das sie durch einen Dorfbewohner überreichen lassen konnten, der in den Prätorianerkohorten diente. Sie schildern, wie sie in einem Dorf mit heißen Quellen drei Kilometer von einem Ort entfernt wohnen, in dem in jedem Jahr fünfzehn Tage lang ein Markt abgehalten wurde. Marktbesucher pflegten in das Dorf zu kommen und die Bewohner zu zwingen, sie ohne Bezahlung zu versorgen, wie das auch die Soldaten zu tun pflegten, die auf der Straße vorbeikamen. Darüber hinaus hielten sich häufig die senatorischen Statthalter und die kaiserlichen Prokuratoren Thrakiens in dem Dorf auf, um eine Kur zu machen. Dagegen haben sie nichts, wie sie vorsichtigerweise bemerken, aber ihre wiederholten Bitten, den übermäßigen Forderungen anderer Personen Einhalt zu gebieten, hatten keinen bleibenden Erfolg gehabt. Darum bitten sie den Kaiser einzuschreiten, erwähnen, daß die Zahl der Hauseigentümer in dem Dorf schon zurückgegangen sei, und drohen damit, wegzuziehen, wenn die Mißbräuche nicht abgestellt würden. Gordian empfahl ihnen, die Angelegenheit dem Provinzstatthalter vorzulegen. Wie man solche Konflikte erleichterte, wird durch eine lange griechische Inschrift aus dem Jahr 202 illustriert, in der von der Errichtung einer statio (eines Rastplatzes) und eines emporion (Marktes) an der Straße zwischen Philippopolis und Hadrianopolis in Thrakien die Rede ist. Man lud Menschen aus den Nachbardörfern ein, sich dort niederzulassen, und versprach ihnen, daß sie von Getreideabgaben, der Stellung von Wächtern und Aufsehern und von den

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Transportdiensten befreit sein sollten (was allein schon auf das normale Los der thrakischen Bauern hinweist). Die Inschrift gibt die Namen von 181 Siedlern wieder. Unter ihnen überwiegen thrakische Namen; daneben steht eine größere Anzahl griechischer und eine kleinere lateinischer Namen; weniger als zehn von ihnen scheinen römische Bürger gewesen zu sein.7 Die ungleiche soziale Entwicklung dieses Gebiets erklärt teilweise vielleicht das Fortleben des Räuberunwesens, das besonders im 2. Jahrhundert zu beobachten ist. Das Treiben der Räuber (latrones) kann natürlich durch echte soziale Unzufriedenheit oder das bloße Fortbestehen unruhiger Bergstämme verursacht worden sein. Grabsteine aus Salona an der dalmatinischen Küste, aus Moesia Superior und aus Dakien, besonders aus dem municipium Drobeta, künden von Menschen, die von Banditen getötet wurden. Dann ist überliefert, daß Marcus Aurelius Briganten aus Dalmatien und Dardanien (dem Südteil von Moesia Superior) als Kämpfer in den Markomannenkriegen anwarb; aus dem Jahr 175 oder 176 berichtet eine Inschrift, daß reguläre römische Abteilungen die Briganten an der Grenze Makedoniens und Thrakiens bekriegten. Die barbarischen Invasionen und ausgedehnten Kämpfe unter Marcus Aurelius (Kap. 6) wirkten sich bedenklich, wenn auch nicht anhaltend auf die Donauprovinzen aus. Münzschätze aus den vierziger, fünfziger und besonders sechziger Jahren des 2. Jahrhunderts, hauptsächlich aus Pannonien, aber auch aus Dakien und Norikum, weisen auf schon frühere unsichere Verhältnisse hin. Aus der Zeit der Kriege selbst sind reiche Spuren der Zerstörung in Rätien, in Norikum, wo z.B. die Stadt Solva niedergebrannt wurde, und besonders in Pannonien erhalten, wo die Militärlager in Städten wie Aquincum und Carnuntum und wo die Bauernhöfe weithin verwüstet wurden. Die Wachstafeln von Verespatak in Dakien, die mit dem Jahr 167 enden, wurden offenbar angesichts einer Invasion vergraben. In der griechischen Stadt Callatis in Moesia Inferior baute oder reparierte man bald nach 170 die Stadtmauern, was vielleicht Folge des costoboccischen Raubzuges war, der bis nach Griechenland reichte (Kap. 11). Als der Krieg im Jahr 175 vorübergehend endete, gaben die Quaden, Markomannen und Jazygen 100000 Gefangene zurück; die Barbaren selbst forderten Land. Marcus Aurelius siedelte eine unbekannte Zahl von ihnen in Mösien, Pannonien, Dakien, Thrakien und sogar Italien an. Der Krieg hatte auch die Unzulänglichkeit der römischen Verteidigung an der oberen Donau erwiesen, und Rätien und Norikum erhielten darum je eine Legion und wurden von einem senatorischen legatus verwaltet. Nach 180 kam es zu weiteren Kämpfen. Eine Reihe von Inschriften vom Donauufer in Pannonia Inferior bezeugt die Aufstellung von Wachttürmen und Wachtposten unter Commodus (180–192), die heimliche Flußüberquerungen der »Briganten« – was hier mit Barbaren gleichbedeutend ist – verhindern sollten. Die beträchtlichen Zerstörungen und Menschenverluste dieser Jahre hielten den stetigen Fortschritt der Romanisierung und wirtschaftlichen Entwicklung nicht auf. Nach den verfügbaren Hinweisen begann die ortsansässige

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Bevölkerung Pannoniens im späten 2. und frühen 3. Jahrhundert, Villen des italischen Typs zu errichten, was auch noch im 4. Jahrhundert geschah; als Folge der Invasionen nach 270 scheinen die ersten befestigten Villen entstanden zu sein.8 Eine parallele Entwicklung kann man an der neuerlich ausgegrabenen Villa in Kolarovgrad in Moesia Inferior beobachten, die um die Mitte des 2. Jahrhunderts in luxuriösem Stil erbaut und um die Mitte des 3. Jahrhunderts befestigt wurde. Von den Städten besitzen wir zum Beispiel ein Fragment der Urkunde, die unter Caracalla (211–217) dem municipium Lauriacum (Lorch) ausgestellt wurde. Aus Solva, das sich offenbar von den Zerstörungen durch die Barbaren erholte, ist ein kaiserlicher Erlaß erhalten – der einzig bekannte aus allen mitteleuropäischen Provinzen –, den Severus und Caracalla im Jahr 205 ausgaben und der die Privilegien der Zunft der centonarii (Feuerwehrmänner) betraf. Dem Erlaß folgt eine Liste mit 97 Zunftmitgliedern, von denen etwa die Hälfte römische Bürger waren; nur sechzehn keltische Namen tauchen auf. Das Erscheinen kaiserlicher Verfügungen oder Briefe unter den Inschriften einer Provinzstadt kann als bedeutsames Zeichen dafür angesehen werden, daß dieses Gebiet einen gleichrangigen Platz mit den übrigen Provinzen des Reiches beanspruchte. Es ist darum bemerkenswert, daß aus Tyras an der Mündung des Dnjester ein Brief des Severus und des Caracalla erhalten ist, der die Immunität der Stadt vom portorium bestätigte; man bezieht sich dann auch auf die früheren Briefe, die Antoninus Pius (138–161) und Marcus Aurelius und Verus (161–169) schickten. Aus der von Trajan gegründeten Stadt Nikopolis in Moesia Inferior ist ein Brief des Severus erhalten, in dem er auf eine Glückwunschadresse der Stadt aus Anlaß eines Sieges antwortet, die Abhaltung eines öffentlichen Festes zur Feier der Nachricht anerkennt und den Eingang der von ihnen übersandten Geldzuwendung bestätigt. Von allen Städten in diesen Provinzen sind die vielleicht bekanntesten Carnuntum und Aquincum (Budapest) an der Donau. Beide entstanden in der Nachbarschaft eines Militärlagers, beide wurden von Hadrian (117–138) zu municipia und von Severus (193–211) zu coloniae erhoben. In Carnuntum hat man das drei Kilometer entfernte Kastell ganz freigelegt, die Stadt selbst nur teilweise ausgegraben.9 Man hat aber genug getan, um erkennen zu können, daß gegen Ende des 1. Jahrhunderts die Holzhäuser durch Steinhäuser ersetzt wurden und daß die Stadt, sobald sie ein municipium geworden war, ein Amphitheater für 13 000 Zuschauer mit reservierten Plätzen für die Augustales, Bäder und ein riesiges Gebäude mit mehreren Stockwerken, einem Kolonnadenhof, Zentralheizung und Mosaikböden besaß; sein Verwendungszweck ist noch nicht geklärt, es könnte aber die Residenz des Statthalters von Pannonia Superior gewesen sein. Ein zweites, kleineres Amphitheater wurde, wahrscheinlich im späten 2. Jahrhundert, vor den Mauern des Militärlagers von einem Ratsherrn aus Carnuntum, C. Domitius Zmaragdus, erbaut, der aus Antiochia in Syrien stammte.

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Über die Geschichte der Stadt wurde einiges z.B. durch die Ausgrabung eines Hauses offenbar, das anscheinend in den Markomannenkriegen niederbrannte, dann etwas vergrößert wiederaufgebaut wurde – die Mosaikböden der zweiten Periode liegen über einer Schicht verbrannten Materials –, möglicherweise im 3. Jahrhundert wieder verändert wurde und bis ins späte 4. Jahrhundert bewohnt war. Es ist bedeutsam, daß sogar ein städtisches Haus wie dieses nicht nach dem Vorbild des italischen Atrium-Hauses gebaut war, sondern einem für Pannonien charakteristischen Typ angehörte (der wahrscheinlich von den ortsüblichen Bauernhäusern abgeleitet war). Es hatte eine offene Veranda an der Vorderseite und einen Mittelgang, an dem auf beiden Seiten die Räume lagen. Aquincum war ebenfalls eine Doppelsiedlung. Es bestand zunächst aus einem im späten 1. Jahrhundert gegründeten Legionslager und einer »Militärstadt« in seiner unmittelbaren Nähe mit einem Amphitheater, das größer als jedes andere nördlich der Alpen war. Etwa zwei Kilometer nördlich davon lag eine zivile Siedlung, deren erste Gebäude um 50 n. Chr. gebaut wurden (als lediglich eine Hilfstruppe in Aquincum lag); um 150 n. Chr. wurde auch hier ein Amphitheater errichtet und wahrscheinlich am Ende des Jahrhunderts eine Stadtmauer. Ausgrabungen in der zivilen Siedlung haben z.B. einen keltischen Rundtempel ans Licht gebracht, wie er aus Gallien und Britannien bekannt ist (Kap. 8), und in seiner Nähe ein Armenviertel mit Häusern, die aus einem bis vier Räumen bestanden; andererseits entdeckte man vier oder fünf Mithrasaltäre. Der eigenartigste Fund aus Aquincum ist vielleicht die tragbare Orgel, an der eine Bronzetafel angebracht ist, auf der man verzeichnete, daß sie im Jahr 228 der Zunft der Feuerwehrleute von einem Zunftpräfekten vermacht wurde, der gleichzeitig Ratsherr in der colonia war.10 Allgemein gesagt finden wir in Gegenden, die über lange Zeit mit der römischen Armee in Verbindung standen, in Norikum, das seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. enge Handelsbeziehungen mit Italien unterhielt, und an der Küste des Adriatischen und Schwarzen Meeres etwas, was nahe an das städtische Leben herankommt, wie es für die meisten anderen Teile des Reiches charakteristisch ist. In den griechischen Städten an der Schwarzmeerküste lassen sich, wie barbarisch das Gebiet Ovid auch erschienen sein mag, Dokumente aus dem 2. Jahrhundert finden, die in den Städten Kleinasiens nicht fehl am Platz gewesen wären. In Tomi setzten Rat und Volk z.B. eine Inschrift zu Ehren eines Mannes mit einem römisch- griechischen Namen, T. Cominius Claudianus Hermophilus, auf, der ein Sophist, Präsident der Spiele, Präsident der Liga der sechs Städte an der Pontusküste und Hoherpriester des Kaiserkultes war. Eine ähnliche Inschrift aus Histria, die gleichfalls aus dem 2. Jahrhundert stammt, ehrt eine Frau namens Aba, die Nachkommin vornehmer Bürger, die eine Vielzahl von Ämtern bekleidet hatte, als Priesterin des phrygischen Kultes der Göttermutter aufgetreten war und die Ausgaben dafür selbst getragen hatte; sie hatte u.a. auch zwei denarii pro Ratsherr und Stadtbürger verteilt. Aus diesen und anderen Quellen wird deutlich, daß in diesen Städten so etwas wie das

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reiche großgrundbesitzende Bürgertum lebte, das das städtische Leben in den anderen griechischen Gebieten beherrschte. Die Kraft des städtischen Lebens zeigt sich in der Entschlossenheit, mit der, wie wir sehen werden, Städte wie Tomi, Marcianopolis oder Philippopolis die barbarischen Angriffe abwehrten. Das städtische Leben bestand an der Schwarzmeerküste bis in die späte römische Periode fort; die urbane Kultur des griechischen Teils von Mösien stand im Gegensatz zur sehr begrenzten Entwicklung des lateinischsprechenden Teils weiter im Landesinnern. In Dakien zeigte sich die verhältnismäßig große Stärke der Romanisierung darin, daß nach der Aufgabe der Provinz im Jahr 271 (s.u.) das städtische Leben in den wichtigsten Zentren fortbestand, wenn auch in beschränkter Form, bis es im 5. Jahrhundert von den Hunnen ausgelöscht wurde. In Sarmizegethusa wurde das Gebäude der Augustales z.B. als Wohnhaus benutzt und das Amphitheater in eine Verteidigungsstätte verwandelt. Hier und anderswo weisen Tonwaren und anderes archäologisches Material auf den Fortbestand der Formen und Sitten der Provinzperiode hin; es ist bezeichnend, daß die frühesten Belege für das Christentum (im 4. Jahrhundert) weitgehend auf die verbliebenen städtischen Zentren beschränkt sind.11 Pannonien und Norikum entwickelten ebenfalls städtische Lebensformen. Aus der colonia Mursa in Pannonia Inferior ist zum Beispiel eine Inschrift des 2. Jahrhunderts erhalten, in der berichtet wird, daß ein Ratsherr seine Erhebung zu einem der örtlichen Priestertümer durch den Bau einer Reihe von fünfzig Schaubuden mit Kolonnaden feierte, die dem Handel dienen sollten. Aus Carnuntum besitzen wir eine Inschrift aus dem Jahr 219, die einen Mann erwähnt, der dort und in der colonia Savaria Ratsherr war, den Kaiserkult von Pannonia Superior als Hoherpriester verwaltete und in der römischen Armee als ritterlicher Offizier gedient hatte. Dieses Gebiet stand auch in wachsendem Maß mit dem Rest der römischen Welt in Verbindung, besonders mit Gallien, und importierte regelmäßig die gallischen Tonwaren des späten 1. und des 2. Jahrhunderts. Einwanderer kamen auch aus anderen Teilen des Reiches; in Intercisa gab es z.B. zur Regierungszeit des Severus Alexander (222–235) neben anderen Siedlern eine jüdische Gemeinde. Die Einwanderung aus dem griechischen Osten ist besonders auch in der colonia Salona an der Küste Dalmatiens erkennbar, die anders als die übrigen Städte dieser Küste sich offenbar im 3. Jahrhundert eines Ansteigens ihres Wohlstandes erfreute; das Christentum war hier mit Bestimmtheit in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts in der Bevölkerung verbreitet. Im 3. Jahrhundert schritt auch die Romanisierung in den bislang weitgehend in Stammesorganisation verbliebenen Gebieten im Inneren Dalmatiens fort. So bildete sich in den lateinischen Provinzen Mitteleuropas eine romanisierte Provinzgesellschaft heraus, neben der, zumindest bis zum Ende des 2. Jahrhunderts, in weiten Gebieten noch Stammesgemeinschaften lebten. Wie eine solche Provinzkultur einem romanisierten Griechen aus Kleinasien erschien,

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kann man am besten der Schilderung der Pannonier bei dem Historiker Cassius Dio entnehmen, der in den Jahren 266–268 legatus von Pannonien war. »Die Pannonier wohnen nahe Dalmatien am Ufer der Donau von Norikum bis Mösien und leben von allen Menschen am erbärmlichsten. Sowohl ihr Klima als auch ihr Boden sind arm; sie pflanzen keine Oliven an und produzieren keinen Wein bis auf sehr kleine Mengen von sehr schlechter Qualität, da das Klima meist äußerst streng ist. Sie essen nicht nur Gerste und Hirse, sondern trinken auch Getränke, die daraus gemacht sind. Nichtsdestoweniger gelten sie als die tapfersten unter allen Männern. Denn da sie nichts haben, das eines zivilisierten Lebens wert ist, sind sie äußerst wild und blutdürstig ...« Dios Bemerkungen verweisen auf die wichtigste Rolle der Donauprovinzen im Reich, die Rekrutierung ihrer Bevölkerung in die Armee, zunächst in die Hilfstruppen und dann in die Legionen selbst. Im 2. und 3. Jahrhundert kamen die Legionäre an der Donau und in Dakien vornehmlich aus der Provinz, in der die jeweilige Legion stationiert war, erst später aus den anderen Donauprovinzen. In der Armee pflegten die Soldaten ihre unzivilisierte Lebensart beizubehalten. Als Septimius Severus nach seinem Marsch von Carnuntum auf Rom (193) die größtenteils italischen Prätorianersoldaten durch Männer aus dem Donauraum ersetzte, füllte sich Rom, nach den Worten Cassius Dios, mit einer gemischten Schar von Kriegern, die in ihrer Erscheinung wild, ihrer Rede furchterregend und ihren Sitten barbarisch waren. Wie abstoßend solche Männer den zivilisierten Bewohnern des Mittelmeerraumes auch schienen, mußten sie und ihre Heimatprovinzen doch die Hauptlast der Kämpfe tragen, die das Reich im 3. Jahrhundert bewahrten. So formulierte es ein Redner, als er Kaiser Maximianus (aus Sirmium) im Jahr 289 ansprach: »Wer kann bezweifeln, daß viele Jahre lang, da seine Kraft im römischen Namen eingesetzt war, während Italien auf Grund seines alten Ruhmes Herrin der Welt war, Pannonien dies durch seine Tapferkeit war? ... Und ich werde darstellen, wie du in jenem Grenzgebiet heranwuchsest und erzogen wurdest, dem Sitz der tapfersten Legionen, inmitten der Bewegungen der Soldateska und dem Lärm der Waffen, deren Getöse sich mit deinen Kinderschreien vermischte.« Diese Provinzen brachten außerhalb der Armee hingegen nur wenige Männer im Ritterrang hervor und fast überhaupt keine Senatoren. Aus Rätien, Dakien und Mösien kennen wir nur einen einzigen Träger eines zivilen Ritterpostens, bis ein zweiter aus Moesia Inferior im späten 3. Jahrhundert auftaucht. Aus Norikum und Dalmatien kamen, soweit wir wissen, jeweils zwei ritterliche Beamte im 2. Jahrhundert und aus Pannonien drei. Einer von ihnen war Valerius Maximianus, der Sohn eines Großgrundbesitzers und Priesters in Poetovio in Pannonia Superior, der nach einer langen Reihe ritterlicher Militär- und Statthalterposten während der Kriege des Marcus Aurelius in den Senat aufgenommen wurde; er ist somit eines der wenigen Beispiele aus diesem Raum für etwas, das anderswo die Regel war: den Aufstieg örtlicher Aristokraten in den Senat. Im übrigen besitzen wir eine Inschrift, in der zwei Brüder aus

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Pannonien erwähnt werden, die in den Senat eintraten, und wissen von Senatoren, die möglicherweise aus Moesia Inferior und Norikum stammten. Nur aus Dalmatien – und dort lediglich aus den Küstenstädten – sind reichlicher Zeugnisse vorhanden. Aus der colonia Aequum kam Sex. Minicius Faustinus Cn. Julius Severus, Konsul des Jahres 127, Statthalter Britanniens und Kommandeur im Jüdischen Krieg unter Hadrian (Kap. 11) und auch Cn. Julius Verus, der Konsul des Jahres 153, der wahrscheinlich derselben Familie entstammt. Auf der Insel Arba an der Küste Nord-Dalmatiens lebte eine Familie, deren Aufstieg wir verfolgen können. Wir wissen von einem Centurio des späten 1. und frühen 2. Jahrhunderts, Q. Raecius Rufus, der die Tochter eines dort ansässigen Munizipalbeamten heiratete. Ein halbes Jahrhundert später hatte ein Senator namens Raecius Rufus Besitzungen in Arba und war im Jahr 166 curator der öffentlichen Bauten in Rom. Daneben kennen wir nur die schon erwähnten Kaiser des 3. Jahrhunderts. Der Mangel an Quellen erlaubt es uns nicht, zu entscheiden, ob diese Kaiser eine auffällige Ausnahme darstellten oder ob in diesen Jahren eine größere Zahl von Männern aus diesen Provinzen in den Ritter- und Senatorenstand eintrat. Die barbarischen Invasionen um die Mitte des 3. Jahrhunderts begannen um 233 mit dem Angriff der Alemannen an der oberen Donau und am Rhein, der von Severus Alexander (222 bis 235) und nach dessen Ermordung am Rhein von seinem Nachfolger, Maximinus, abgewehrt wurde; dieser ging dann nach Sirmium, wo er von 236 bis 238 blieb und offenbar gegen die Sarmaten kämpfte. Im Jahr 238 fielen die Karpen und vielleicht die Goten in Moesia Inferior ein und zerstörten Histria. Nach 240 drangen die Karpen und andere Stämme erneut aus der Ebene der Walachei hervor, die Rom unbesetzt gelassen hatte (Kap. 6), und überfielen Südost-Dakien und Moesia Inferior. Die dakischen Städte Romula und Sucidava wurden in diesen Jahren befestigt, während das in der Nähe liegende Gebiet von Cioroiul Nou ausgedehnte Zerstörungen aufweist, auf die der Bau von Befestigungsanlagen über den Ruinen der früheren Häuser folgte.12 Aus der gleichen Zeit deuten weitverbreitete Münzschätze in Mösien und Thrakien auf weitere barbarische Angriffe hin, möglicherweise auf den von 248, der Spuren der Zerstörung bei Nikopolis hinterließ und zur Belagerung von Marcianopolis in Moesia Inferior führte, dessen Bewohner, wie der zeitgenössische Athener Historiker Dexippus (Kap. 11) berichtet, erfolgreich widerstanden. In der Regierungszeit des Decius (249–251) drangen plündernde Goten bis Philippopolis in Thrakien vor. Dexippus führt aus, daß Decius die Möglichkeit einer Revolution fürchtete, wenn die Einwohner zu mannhaft zu den Waffen griffen, und einen Brief schrieb, den der Statthalter Thrakiens, Priscus, im Stadion verlas und zum Anlaß nahm, zur Vorsicht zu mahnen. Sie wehrten jedoch ebenfalls erfolgreich wiederholte Angriffe ab (archäologische Funde lassen vermuten, daß damals einige Vororte niederbrannten), wurden schließlich aber besiegt. Decius kam selbst nach Thrakien und vertrieb nach mindestens einer Niederlage die Barbaren von dort und, wie es scheint, aus Mösien und

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Dakien (eine Inschrift des Jahres 250 aus Apulum ehrt ihn als den ›Wiederhersteller Dakiens‹). Im Verlauf eines neuen gotischen Angriffs fiel er in der Schlacht von Abrittus in Moesia Inferior (251). Weitere gotische Einfälle, offenbar durch Mösien und Thrakien, erreichten Thessalonike vielleicht im Jahr 253 und Bithynien im Jahr 256 (Kap. 11). Danach ist wenig bekannt bis in die Jahre 258–260, in denen die Sarmaten Pannonien überfielen, was sich in vielen Münzfunden spiegelt, und die Alemannen Norikum und Rätien angriffen. Das gesamte Gebiet zwischen oberer Donau und Rhein ging verloren. In Rätien läßt sich eine Kontraktion der Städte hinter ihre Verteidigungswälle beobachten, die mit derjenigen in Gallien vergleichbar ist.13 Spätere literarische Quellen führen aus, daß Pannonien verheert wurde, fügen aber keine verläßlichen Einzelheiten an. Im Jahr 267 griffen die Heruler die Stadt Tomi an und wurden – wie auch vor Marcianopolis – abgewiesen. Dann fuhren sie aufs Meer und gelangten schließlich nach Griechenland (Kap. 11). Im Jahr 264 errang Claudius (268–270) einen großen Sieg über die Goten bei Naissos in Thrakien und zwang die Überlebenden zur Unterwerfung. Einige siedelte er an und nahm andere in die Armee auf. Die Überfälle und Kämpfe dauerten aber an. Aurelian (270–275) gab deshalb die Provinz Dakien auf und schuf eine neue Provinz, Dacia Mediterrannea, die aus Zentral-Mösien und Nord-Thrakien gebildet wurde. Überraschenderweise scheinen die wohlhabenden Städte Mittel- und Nord-Dakiens nicht angegriffen worden zu sein (keine von ihnen wurde in dieser Periode befestigt), sondern scheinen aus strategischen Gründen – wegen der unsicheren Lage Südost-Dakiens – aufgegeben worden zu sein. In Pannonien sind wohl nach 260 verhältnismäßig friedliche Zeiten eingekehrt. Eine Inschrift zeigt z.B., daß die Bäder der Legionslager in Aquincum, die lange in schlechtem Zustand gewesen waren, im Jahr 268 wiederhergestellt wurden. Um 270 kam es aber zu einer größeren Invasion der Juthungen, Wandalen, Sueben und Sarmaten, die bis nach Italien vordrangen. Aurelian (270–275) kam nach Pannonien und zwang nach unentschiedener Schlacht die Barbaren, um Frieden zu bitten. Ein erhaltenes Fragment aus Dexippus (das auszugsweise in Kap. 3 zitiert wurde) beschreibt, wie Aurelian mit den Juthungen verhandelte und eine Friedensgesandtschaft der Wandalen abfertigte. Sie boten Geiseln und eine Truppe von 2000 Kavalleristen für römische Dienste an und zogen sich über die Donau zurück, nachdem ihnen – wie den barbarischen Feinden des vorausgehenden Jahrhunderts – ein fester Handelsplatz zugewiesen worden war. Es kam auch weiterhin zu sporadischen Überfällen, die aber von römischen Truppen eingedämmt wurden. Aus Probus’ Regierungszeit (276–282) hören wir, daß er Bastarner und auch Goten in Thrakien ansiedelte und dann nur schwer unter Kontrolle halten konnte. Sein Nachfolger Carus (282–284) siegte auf seinem Weg nach dem Osten über Sarmaten und Quaden. Die Kämpfe an der Donau dauerten auch unter Diokletian unvermindert an.

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Der Balkan und die Donauprovinzen blieben somit, verglichen mit den anderen Teilen des Reiches, verhältnismäßig wenig zivilisiert und urbanisiert. Ihre Rückständigkeit zeigt sich z.B. darin, daß vor 284 das Christentum nur in Salona, das eines der großen christlichen Zentren des 4. Jahrhunderts werden sollte, belegt ist. Die große Verfolgung von 303–304 offenbarte dann jedoch, daß das Christentum bis dahin im Donaugebiet fest Fuß gefaßt hatte. Die Rückständigkeit dieses Raumes war aber gerade für seine militärische Rolle wesentlich. Die Balkanländer und Kleinasien wurden später zum Herzstück des byzantinischen Reiches, eine Tatsache, die sich schon ankündigte, als ein dalmatischer Kaiser, Diokletian, Nikomedeia zu seiner Hauptstadt machte. 13. Das Reich und die Krise des 3. Jahrhunderts Wenn wir die Beschaffenheit der Krise erörtern, unter der das römische Reich im 3. Jahrhundert litt, untersuchen wir nicht, warum das Reich verfiel. Denn das Reich verfiel nicht. Im Gegenteil, die griechische Hälfte des Reiches bestand, wenn auch unter stetigem Verlust an Territorium, bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1453 fort. Im Westen und Norden gingen im 3. Jahrhundert wahrlich beträchtliche Gebiete verloren, nämlich Dakien und der Raum östlich des Rheins und zwischen Oberrhein und Donau. Erst im 5. Jahrhundert besetzten aber Goten, Burgunder, Franken, Wandalen und andere Stämme tatsächlich das gesamte römische Territorium in Westeuropa und das lateinische Nordafrika. Selbst hier bestand die römische Kultur, im Gegensatz zur römischen Herrschaft, in breitem Umfang fort und beeinflußte tiefgreifend Sprache, Sitten und Kultur der Barbaren. Alle diese Barbaren wurden zum Christentum bekehrt, wenn wohl alle auch erst nach ihrer Niederlassung auf römischem Boden;1 von den Invasoren des 5. Jahrhunderts blieben allein die Hunnen ständig heidnisch und von der römischen Kultur unbeeinflußt. Bei der Analyse der Krise des 3. Jahrhunderts ist am schwierigsten genau zu entscheiden, was wir analysieren wollen. Mit anderen Worten: Was geschah? Welche Veränderungen traten ein? Die Schwierigkeit wird weitgehend durch ein Merkmal der Krise selbst verursacht, nämlich durch den Mangel an literarischen, dokumentarischen und archäologischen Quellen aus diesem Zeitraum. Unsere erzählenden Quellen sind bis 238 verhältnismäßig inhaltsreich, und für die Zeit Diokletians und Konstantins, d.h. von 284 an, besitzen wir Zeugnisse in beträchtlicher Zahl. Für die politische Geschichte der dazwischenliegenden Jahre müssen wir uns aber auf die kurzen und kaum hinreichenden lateinischen Geschichtsdarstellungen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts und auf spätere griechische Chroniken verlassen. Es ist besonders zu bemerken, daß die Reihe kaiserlicher Biographien von Hadrian (117–138) bis Carus und Carinus (282–283) aus dem (wahrscheinlich späten) 4. Jahrhundert, die Historia Augusta, von der

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der Teil von 244–259 verloren ist, bei der Behandlung der späteren Kaiser immer phantastischer und unzuverlässiger wird. Zuerst sollen der Reihe nach einige einigermaßen sicher belegte Aspekte der Periode behandelt werden. Zunächst ist die akute Unbeständigkeit des Thrones selbst zu nennen. Jeder Kaiser von Caracalla im Jahr 217 an starb eines gewaltsamen Todes, und die durchschnittliche Regierungszeit um die Mitte des 3. Jahrhunderts, von 235 an, betrug zwei bis drei Jahre. In der Kaiserzeit wurde niemals, wie schon in Kapitel 3 gezeigt, ein anderer sicherer politischer Rahmen oder eine andere befriedigende Art der Kaiserernennung entwickelt als die der de facto Familiendynastien unterschiedlicher Stabilität. Da sich die Kaiser dieser Periode fast immer im Feld gegen fremde Invasoren befanden, waren sie ständig Angriffen anderer Generäle, entweder in ihrer unmittelbaren Umgebung oder an der Spitze anderer Armeen, ausgesetzt. Darum waren Bürgerkriege etwa ebenso häufig wie auswärtige Kriege. Darüber hinaus wurden in Gallien zwischen 259 und 274 und in Palmyra und dem Osten einige Jahre lang bis 272 von Rom unabhängige Regierungen eingerichtet. Dazu kamen die Invasionen der Barbaren und Sassaniden. Daß diese annähernd zur gleichen Zeit einsetzten, scheint ein reiner Zufall gewesen zu sein. Die bloße Existenz des römischen Reiches war zweifellos ein Grund für die Züge der Barbaren, denn sie wurden von der Hoffnung auf Land und Beute angetrieben. Die Sassaniden andererseits forderten, nachdem sie die zerfallende Macht der Parther zerstört hatten, Rom sofort heraus, indem sie alle die Territorien beanspruchten, die die alten Perser beherrscht hatten. Als diese Entwicklungen zusammentrafen, war das Reich etwa gleichzeitig schweren Angriffen am Rhein, an der Donau und im Osten ausgesetzt. Die Invasionen wirkten sich in den einzelnen Teilen des Reiches natürlich höchst unterschiedlich aus. In Gallien und bis zu einem gewissen Grad in Spanien und in Rätien an der oberen Donau finden sich Hinweise für eine Verkleinerung und Befestigung der Städte. Welch tiefe Veränderungen in der Struktur des sozialen Lebens dadurch hervorgerufen wurden, kann man bisher nur erraten. Es ist gewiß zutreffend, daß die kultivierte gallisch-römische Aristokratie der späten Kaiserzeit mehr auf ihren Gütern als in den Städten lebte. Aber auch in Britannien, in dem sich in dieser Periode keine Invasionen ereigneten, scheint im 4. Jahrhundert eine Stagnation und vielleicht ein Niedergang in den Städten eingetreten zu sein; dort entstanden aber luxuriöse Villen. Wiederholte Invasionen trafen auch den Donauraum und Mitteleuropa und reichten bis nach Makedonien, Griechenland und Kleinasien. Die Sassanideneinfälle und für kurze Zeit die Macht Palmyras reichten bis Mittelkleinasien und zur Küste Syriens. Sie müssen große Zerstörungen und Menschenverluste verursacht haben; es ist auch überliefert, daß die Perser Gefangene nach Mesopotamien abführten. Der Bau der ersten befestigten Villen in den Donauländern läßt sich auf diese Periode datieren, und verstreute

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archäologische Befunde lassen Zerstörungen erkennen; aber nur in Athen (Kap. 11) sind die Zeugnisse detailliert und systematisiert. Wiederum besitzen wir nur wenig klare Quellen für die direkten Auswirkungen der Invasionen. Sie sind vielleicht nicht anhaltend gewesen; Antiochia wurde in den Jahren 256 und 260 von den Persern eingenommen und niedergebrannt – und war im 4. Jahrhundert, wie wir aus zahlreichen Dokumenten wissen, wieder eine der größten und blühendsten Städte der griechischen Welt. In Ägypten und Africa kam es zu Grenzkämpfen, die sich in Africa über lange Zeit erstreckten, aber es kam zu keinen Invasionen. Der Bürgerkrieg von 238 in Africa (Kap. 9) und die Verdrängung eines Thronprätendenten in Alexandria um 272 (Kap. 10) haben vielleicht, zumindest vorübergehend, ernstere Folgen gehabt. Obgleich die direkten Auswirkungen der Invasionen und Bürgerkriege bei der gegenwärtigen Quellenlage nur in den seltensten Fällen befriedigend festgestellt werden können, kann als sicher gelten, daß sie einige andere Veränderungen im Wirken des Staates und in seinem Verhältnis zur Bevölkerung, wenn auch vielleicht nicht hervorbrachten, so doch beschleunigten. Die erste und am besten nachweisbare Veränderung bestand in einer Münzverschlechterung und Inflation der Preise. Die beiden wichtigsten Münzen waren der Silber-denarius und der Gold-aureus im Wert von 25 denarii. Verschlechtert wurde vor allem der denarius, den Marcus Aurelius (161–180) auf 75% und Severus (193–211) auf 50% Silbergehalt reduzierte; nachdem Caracalla (211–217) einen denarius von eineinhalbfacher Größe herausgegeben hatte, der wahrscheinlich ebensoviel Wert hatte wie zwei frühere denarii, sank der Silbergehalt sehr schnell und erreichte um die Mitte des 3. Jahrhunderts 5%. Aurelian (270–275) gab zwei Serien versilberter Kupfermünzen aus, deren Wert noch umstritten ist. Inzwischen wurde der bronzene sestertius (4 auf einen denarius) sowohl weiter geprägt als auch zur Bezeichnung von Preisen und anderen Summen bis nach 270 benutzt, um dann angesichts der Inflation der Preise zu verschwinden.2 Die Inflation zeigt sich darin, daß der Kornpreis (der jetzt in verschlechterten denarii ausgedrückt wurde) im Jahr 301 etwa zweihundertmal höher lag als im 1. Jahrhundert. Wir wissen allerdings sehr wenig über das römische Münzsystem, besonders in den Jahren 270–300, oder über wesentliche damit verbundene Elemente, z.B. wie die kaiserlichen und städtischen Münzstätten das ungemünzte Edelmetall erhielten. Es liegen auch Anzeichen dafür vor, daß in jener Zeit selbst Verwirrung und Schwierigkeiten herrschten; eine carische Inschrift aus den Jahren 209–211 legt Strafen für illegalen Geldumtausch fest; ein Papyrus von 260 weist Geldwechsler in Ägypten an, damit aufzuhören, kaiserliche Münzen zurückzuweisen; ein anderer, etwa aus dem Jahr 300, enthält den Brief eines ägyptischen Beamten an einen Untergebenen, in dem er diesen auffordert, sämtliches amtliche »italische Geld« sofort auszugeben, da die Kaiser den Wert desselben um die Hälfte verringern wollten.3

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Wir können bisher die Gründe für die fortschreitende Geldentwertung und Inflation noch nicht nennen. Sie müssen ihrerseits aber ein Faktor bei der Umwandlung der Forderungen des Staates von Geld auf Sachabgaben und Dienstleistungen (Kap. 5) gewesen sein. Die Besoldung der Truppen wurde, obwohl man sie nach und nach anhob (Kap. 6), nicht genügend erhöht, um mit der Inflation Schritt zu halten, und verschwand im späten 4. Jahrhundert ganz zugunsten anderer Formen der Bezahlung. Die Belege für zunehmende Belastungen durch die Truppe und Beamtenschaft im 2. und 3. Jahrhundert finden eine Ergänzung in Belegen für eine schnelle Ausbreitung von Wachtposten mit Polizeibefugnissen, besonders seit etwa 200 n. Chr., die in den Provinzen mit Soldaten besetzt wurden. Wir besitzen aus dieser Periode auch eine Reihe von Zeugnissen über das Räuberunwesen in vielen Teilen des Reiches.4 Nichts weist aber darauf hin, daß dieses als eine zusammenhängende soziale Bewegung angesehen werden muß; die Voraussetzungen und Gründe für Volksbewegungen (sozialer Druck, wirtschaftliche Schwierigkeiten) waren zweifellos vorhanden, aber nur der Bauernaufstand der Bagauden in Gallien, der erst im letzten Jahr dieser Periode begann, hatte einen solchen Charakter. Die Erhebung der Isaurier unter Probus (276–282) war etwas anderes, nämlich die Aktivität eines nicht unterjochten Bergstammes, der die Krisenzeiten dazu nutzte, seine normalen Räubereien auszuweiten. Wir besitzen kurz gesagt Belege für ein Brigantentum, das Symptom oder Folge der Wirren des 3. Jahrhunderts war, den Klassenkampf aber nicht als Motiv kannte. Die Verteilung einer großen Zahl von Soldaten auf verstreute Wachtposten hat aber vielleicht zur Schwächung des militärischen Widerstandes gegenüber Invasionen von außen beigetragen. Man hatte bisher angenommen, daß im Gefolge der Pest, die im 2. und 3. Jahrhundert tatsächlich weithin belegt ist, die Bevölkerungszahlen sanken, was sowohl zur Aufgabe fruchtbaren Landes als auch Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung der Armee führte.5 Wir besitzen aber für die Bevölkerung dieser oder irgendeiner anderen Periode der Kaiserzeit keinerlei Zahlen. Es ist wahr, daß im 3. Jahrhundert Barbaren in Gallien, Thrakien und anderen Gebieten angesiedelt wurden, was die Existenz freier Ländereien vermuten lassen könnte. Dasselbe war aber auch im 1. und 2. Jahrhundert geschehen. Aurelian machte z.B. auch die Stadträte für die Zahlung der Tribute für aufgegebene Ländereien verantwortlich; das beweist aber nur, daß der Staat genauer auf die Entrichtung von Steuern sah. Wir haben tatsächlich keinerlei Grundlagen für irgendwelche Feststellungen über die Bevölkerung zur Kaiserzeit. Das zentrale und unwiderlegliche Element unter den Belegen für eine soziale Krise des 3. Jahrhunderts ist das beinahe allgemeine Fehlen von Zeugnissen schriftlicher oder archäologischer Art für Bauten und Weiterentwicklungen in den Städten. Wie in den Berichten über die verschiedenen Teile des Reiches schon gezeigt wurde, schritt die Aufwärtsentwicklung in den Städten im 1. und 2. Jahrhundert beinahe überall stetig voran. Was bedeutete nun ihr Abbrechen?

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Inschriften beziehen sich allgemein auf öffentliche Bauten, und ihr Fehlen zeigt lediglich an, daß keine neuen öffentlichen Gebäude errichtet wurden. Es gibt aus dieser Periode aber auch nur wenige Hinweise auf den Bau privater Stadthäuser. Der Stillstand wurde nicht direkt durch Kriege oder Invasionen verursacht, denn er ist vom Ende des 2. Jahrhunderts an auch in Ostia und seit etwa 230 in der verhältnismäßig friedlichen Provinz Africa zu beobachten. Deutet das einen allgemeinen wirtschaftlichen Zusammenbruch an, oder blieben, allgemein gesagt, die Städte ganz einfach statisch, verfielen im 3. Jahrhundert aber nicht? Das scheint z.B. in Verulamium in Britannien der Fall gewesen zu sein. Wenn das so ist, können wir immer noch nicht befriedigend erklären, warum die Aufwärtsentwicklung abbrach. Es ist jedoch zu bemerken, daß z.B. in Pannonien der Bau von Landhäusern im 3. Jahrhundert weitergegangen zu sein scheint (obwohl andererseits die meisten Villen in Britannien auch einen Stillstand erlebten, der mit demjenigen in den Städten vergleichbar ist). Es könnte sein, daß die Vorgänge des 3. Jahrhunderts der Anfang zu der Verlagerung der luxuriösen Lebensweise in die Villen auf dem Lande war, die dann im 4. Jahrhundert stattfand. Das würde mit der Abwertung des Status der decuriones oder curiales (städtischen Ratsherrn) übereinstimmen, der zu dem der Großgrundbesitzer außerhalb der Stadträte im Gegensatz stand, was dann das 4. Jahrhundert ebenfalls charakterisiert. Solche Verallgemeinerungen sind aber viel eher Fragen als endgültige Antworten zu diesen Problemen. Der Stillstand in der städtischen Aktivität findet eine Parallele in vielen großen heidnischen Kultzentren, in denen die Inschriften um die Mitte des Jahrhunderts plötzlich aufhören; in Olympia z.B. stammt die letzte Inschrift eines Siegers in den Spielen aus dem Jahr 261 (obwohl die Spiele nachweislich weitergeführt wurden), die letzte Kultinschrift aus dem Jahr 265.6 Aber wenn auch die Ausübung heidnischer Kulte teilweise nachließ – sie wurde unter Diokletian wiederbelebt –, entwickelte sich die heidnische Religion selbst. Aurelian richtete im Jahr 274 die Verehrung des Sonnengottes als wichtigsten Kult des Reiches ein, berief pontifices für diesen Kult, baute einen Tempel in Rom und gab Münzen mit dem Bild der Sonne als »Herrn des römischen Reiches« aus. All dies spiegelt Aspekte des monotheistischen Mystizismus der Zeit wider und beeinflußte die frühe religiöse Haltung Konstantins. Die bezeichnendste religiöse Entwicklung war die Entstehung philosophischer Systeme, in denen die heidnischen Kulte und Legenden in mystischen Begriffen als Symbole oder Stufen zu einer einzigen Realität neu interpretiert wurden. Zu diesen Entwicklungen kam es nur in der griechischen Reichshälfte. Aus dem Westen sind aus dieser Periode vor den gallischen Panegyrici der Kaiser, die 289 und später gehalten wurden, nur kleine Reste einer heidnischen lateinischen Literatur erhalten. Die griechische Welt brachte aber nicht nur einen angesehenen Historiker hervor, den Athener Herennius Dexippus (Kap. 11), oder den Philologen und Rhetoriker Longinus, der in Athen lehrte und sich später an den Hof der Zenobia in Palmyra begab, sondern die ganze neuplatonische Schule, deren hervorragendster Repräsentant

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Plotinus war. Die Vitalität der Kultur der griechischen Welt in dieser Periode und die bequemen Verbindungen, die Barbarenangriffe und Wirtschaftsschwierigkeiten überstanden, lassen sich am besten aus dem Leben des Porphyrius, des bekanntesten Schülers des Plotinus, ersehen. Er stammte aus Tyrus, wurde mit dem syrischen Namen Malchos 232–233 geboren und von Longinus, bei dem er in Athen studierte, in Porphyrius umbenannt. 262–263 ging er nach Rom, wo er Plotinus’ Schüler wurde. Andere Schüler kamen aus Italien, Alexandria, der Dekapolis und Arabien. Im Jahre 267–268 zog sich Porphyrius nach Lilybaeum auf Sizilien zurück, von wo er auch mit Longinus in Syrien korrespondierte. Später, nach dem Tod des Plotinus, kehrte er nach Rom zurück. Dort gehörten zu seinen Schülern Iamblichus aus Chalkis in Syrien, der später nach Syrien zurückkehrte und in Apameia den Neuplatonismus lehrte, und Schüler aus Syrien, Griechenland und Kappadokien. Vor seinem Tod, vielleicht bald nach 300, hatte Porphyrius eine große Zahl philosophischer, moralischer und sogar historischer Werke vollendet, unter ihnen das Leben des Plotinus und eine Ausgabe der Äneis. Zu seinen Werken gehörte auch Gegen die Christen in fünfzehn Büchern, eine ernsthafte und wirksame, vielleicht nach 270 geschriebene Kritik sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments und der christlichen Lehre, die im folgenden Jahrhundert weithin Einfluß ausübte.7 Die anhaltende Vitalität griechischer Kultur war nicht der einzige Aspekt, der dazu berechtigt, diese Periode nicht nur eine Periode der »Krise« und des Niedergangs zu nennen. Wie in den vorausgehenden Kapiteln betont wurde, unternahm man damals die entscheidenden Schritte zu einer Ablösung des imperialen Systems aus dem Rahmen der republikanischen Einrichtungen und verlagerte sich damals das politische Gewicht des Reiches auf die griechischen Provinzen, auf den Donau- und Balkanraum. Innerhalb der Gesellschaft des Reiches kam es ebenfalls zu bedeutsamen Veränderungen. Eine derselben ist das Auftauchen ortsgebundener Kulturen in verschiedenen Formen und verschieden starken Ausprägungen. In Gallien erschienen nicht-klassische Stilarten bei den Tonwaren, in Verzierungen und vielleicht bei der Darstellung einheimischer Gottheiten; in Phrygien wurden Inschriften in der örtlichen Sprache abgefaßt; in Edessa wurde zu Beginn des Jahrhunderts die erste christliche Literatur in einer nicht-klassischen Sprache, in Syrisch, veröffentlicht; in Ägypten tauchten die ersten Werke in koptischer Sprache auf, wenn auch die meisten, vielleicht sogar alle, Übersetzungen griechischer christlicher Texte waren. Darüber hinaus lassen sich in der offiziellen Kunst des Reiches erste Anzeichen für ein Verlassen der traditionellen klassischen Kunstformen beobachten, was zur Entwicklung der ganz unterschiedlichen byzantinischen Kunst führen sollte. Die im wesentlichen naturalistische darstellende Kunst im klassischen Stil, die der Kunst des klassischen Griechenland nachgebildet war, wurde noch praktiziert – in einigen Formen bis in die byzantinische Periode hinein – und erlebte unter Gallienus (260–268) sogar eine kurze, aber echte Renaissance. Der wesentliche Wandel bestand aber darin, daß einige charakteristische Züge byzantinischer Kunst

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auftauchten, nicht-naturalistische Darstellungen einzelner Figuren, die manchmal in starrer Frontalität abgebildet wurden – wie Septimius Severus auf dem von ihm in Lepcis Magna im Jahr 203 errichteten Bogen –, und die Gruppierung der Figuren nach formalen Mustern, die von der allgemeinen Anlage des Werkes diktiert werden. Die traditionelle Erklärung dieses Wandels – der natürlich viel zu komplex und vielgestaltig war, um hier voll gewürdigt werden zu können – ist, daß er den Sieg orientalischer Einflüsse anzeigt, d.h. den der im parthischen und sodann sassanidischen Raum hervorgebrachten Kunstformen. Das ist möglich, wenn unsere Kenntnisse über die Kunst in der parthischen Periode auch sehr gering sind. Es ist gleichfalls möglich, daß einheimische Kunststile, die bis dahin durch das Übergewicht des Geschmacks des in den klassischen Traditionen erzogenen Bürgertums unterdrückt wurden, sich zu Ansehen erhoben. Eine solche Entwicklung könnte durch wirtschaftliche Schwierigkeiten und (wie wir annehmen müssen) häufige Unterbrechungen des Handels beschleunigt worden sein; allgemein gesagt ist für die Fundplätze des 3. Jahrhunderts im römischen Reich tatsächlich charakteristisch, daß sie viel weniger importierte Gegenstände bergen als diejenigen aus früherer Zeit. Sie enthalten statt dessen im allgemeinen einheimische Waren mit meist niedrigerem technischem und künstlerischem Niveau. Unter diesen Umständen war es vielleicht möglich, daß einige lokale Kunstformen verbreitet wurden und den Hauptstrom künstlerischen Stils beeinflußten. Den wichtigsten sozialen Wandel in dieser Periode stellt jedoch die Entwicklung des Christentums dar. Der bedeutsamste Aspekt dieser Entwicklung ist nicht weitere geographische Ausbreitung, wenn diese auch stattfand, sondern die festere Organisation, sowohl innerhalb der einzelnen Gemeinden als auch in den Kontakten zwischen denselben. Aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts besitzen wir die frühesten Belege für einen Umbau von Privathäusern zu Kirchenzwecken; das auffallendste und am sichersten zu datierende Beispiel ist das von Dura-Europos (Kap. 11). In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts tauchten wahrscheinlich die ersten Gebäude auf, die speziell als Kirchen entworfen waren. In Rom gab es im 2. Jahrhundert christliche Katakomben und Friedhöfe, und am Ende des Jahrhunderts scheinen einige tatsächlich der Kirche gehört zu haben. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts besaß die Kirche Roms eine feste Organisation. In einem Brief an Fabius, den Bischof von Antiochia, erwähnt Cornelius, der Bischof von Rom (251–253), daß es in dieser Stadt 46 Priester, 7 Diakone, 7 Subdiakone, 42 Akoluthen, 52 Exorzisten, Vorleser und Wächter und mehr als 1500 Witwen und Arme gab, die Unterstützung erhielten.8 Noch wichtiger war die Entwicklung organisatorischer Bande zwischen den Kirchen, die sich um die großen Zentren, Rom, Karthago und Antiochia, gruppierten. 251 trafen 60 italische Bischöfe in Rom zusammen, um die Häresie des Novatianus zu verdammen. Um 220 trafen sich vielleicht 70 afrikanische Bischöfe, 90 im Jahre 256. Die Synoden von Antiochia in den Jahren 264 und 268,

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auf denen Paulus von Samosata (Kap. 11) verdammt wurde, besuchten Bischöfe aus Kappadokien, Pontus, Kilikien, Palästina, Arabien und (ausgenommen die Krankheit des Dionysius im Jahr 264) Alexandria. Ihre Entscheidung im Jahr 268 wurde Rom, Alexandria und »allen Provinzen« mitgeteilt. Es ist kein Zufall, daß, während die frühe christliche Literatur vornehmlich dogmatische, gelehrte und apologetische Züge trägt, die der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts hauptsächlich aus Briefen der Bischöfe von Rom, Karthago, Alexandria und Antiochia besteht und mit Fragen der Disziplin und des Zusammenhalts der Kirche als einer Organisation befaßt ist. Die Korrespondenz Cyprians, des Bischofs von Karthago (248/249–258; Kap. 9), reicht bis Spanien, Gallien, Rom und Kappadokien. In der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts, als, wie erwähnt, die heidnischen Kulte einen bedeutsamen Niedergang erlitten, scheint sich das Christentum in alle Teile des Reiches verbreitet und große Sektionen der Landbevölkerung erfaßt zu haben. Die Synoden des frühen 4. Jahrhunderts zeigten, daß das Christentum, wenn es auch noch nicht die Religion der Mehrheit darstellte, in allen Teilen der römischen Welt fest verwurzelt war. Das 3. Jahrhundert erlebte somit eine anhaltende politische und militärische Krise, aus der das Reich noch einmal als politische Einheit mit intakten Grenzen hervorging. Es erlebte in allen Reichsteilen einen Stillstand der Weiterentwicklung und Verschönerung der Städte, die für die ersten beiden Jahrhunderte charakteristisch waren, und in einigen Gebieten, besonders in Gallien, die Verkleinerung der Städte zu ummauerten Festungen. Es kam zu einem Zusammenbruch der Währung, und daraus ergab sich die Tendenz, daß der Staat von seinen Untertanen anstelle von Geld Sachabgaben und Dienstleistungen verlangte. Beide Vorgänge haben vielleicht zum Anwachsen der großen Güter als soziale Einheiten mit beigetragen, auf denen die Eigentümer vermehrte gesetzliche Ansprüche gegenüber ihren Pächtern besaßen und für die Stellung von Diensten (oder Rekruten) für den Staat aus den Reihen der Pächter verantwortlich waren. Die Krise war wirklich vorhanden. Aber eine Beschreibung derselben wird der Bedeutung des 3. Jahrhunderts nicht gerecht. Es war eine Periode der Wandlung, der Vitalität, sogar innerhalb der heidnischen Kultur, mit neuen Kunstformen, der Evolution mystischer, letzten Endes monotheistischer Interpretationen traditioneller Religion und dem letzten großen Repräsentanten heidnischer Philosophie in dem Neuplatoniker Plotinus. Im christlichen Bereich lebte der erste bedeutende Gelehrte und Theologe der Kirche, Origenes, während die dogmatischen Kontroversen des späten 3. Jahrhunderts die Saat zu den großen Kämpfen des 4. Jahrhunderts legten. Vor allem war es aber die Periode, in der die Kirche erstmals ernsthaft mit dem heidnischen Staat in Konflikt geriet, was sie überlebte, und in der sie sich zu einer sozialen Organisation entwickelte, die zum Ausüben von Autorität in den Angelegenheiten der Welt bereitstand. Selbst aus unserem unzulänglichen Quellenmaterial läßt sich ersehen, daß das 3. Jahrhundert eine der entscheidenden Perioden der Geschichte Europas war.

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14. Iran in parthischer und sassanidischer Zeit Das 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung war für das Partherreich eine Epoche großer Umwandlungen. Obwohl die Überlieferung lückenhaft ist und sich vorwiegend auf griechische oder römische Autoren stützt, läßt sich dieser Umwandlungsprozeß aus den vorliegenden spärlichen Nachrichten doch erschließen. Im 1. Jahrhundert hatten die Parther ihre aktive offensive Politik gegen Rom, durch die sie Erben der Seleukiden geworden waren, aufgegeben und waren zu einer defensiven Haltung übergegangen. Auf Kosten der im Jahrhundert zuvor noch uneingeschränkten Zentralgewalt hatte der Adel eine starke Position gewonnen.

� Abb. 14: Iran in parthischer und sassanidischer Zeit Der Umwandlungsprozeß erstreckte sich natürlich über eine längere Zeitspanne; im l. Jahrhundert zeigten sich jedoch erstmals die Auswirkungen einer vielfältigen Entwicklung. So war z.B. der in griechischer Sprache und Schrift gebrauchte Titel »König der Könige« nur gelegentlich, erstmals von Mithridates II. (etwa 123–88) und dann wieder von Mithridates III. (etwa 57–55), geführt worden; während und nach dem 1. Jahrhundert erscheint dieser Titel jedoch nicht mehr als eine Ausnahme, sondern ist zu einem festen Bestandteil der

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Titulatur der parthischen Herrscher geworden.1 Während der Regierung Volagases’ I. (etwa 51–80) erscheinen auf den Münzen neben den griechischen Legenden zum erstenmal parthische Schriftzeichen; dieser König ist es vermutlich auch, dem das vierte Buch des Denkart, ein späteres Pahlevi-Werk, die Sammlung der verstreuten Fragmente des Awesta zuschreibt.2 Volagases I. ist die Gründung der neuen parthischen Hauptstadt Volagasokerta, nördlich von Seleukeia am Tigris, zuzuschreiben. In das 1. Jahrhundert dürfen wir wohl auch die Wiederverwendung einheimischer an Stelle von griechischen Namen für iranische Städte in literarischen Quellen datieren, wie z.B. Merv statt Antiochia Margiane. Die neue Ideologie schließlich, die die parthischen Könige als Nachkommen Artaxerxes’ II. betrachtete, könnte im 1. Jahrhundert n. Chr. aufgekommen sein. Sie scheint nämlich als ein Versuch, die Zentralgewalt gegen Rebellen und mögliche Usurpatoren auf dem Arsakidenthron zu stärken, im 1. Jahrhundert weithin verbreitet worden zu sein.3 Nach Carrhae (54 v. Chr.) und den Einfällen des Pakores in Palästina und Syrien (40–39) hatten die Parther freilich gute Gründe, sich als Erben der Achämeniden zu betrachten. Aber gerade im 1. Jahrhundert n. Chr., als Wirren und der Zusammenbruch der Zentralgewalt Umwandlungen herbeiführten, brauchte man eine Ideologie, die die Legitimität und Anknüpfung an die Vergangenheit möglich machte. Die Regierungszeit Artabans III. (etwa 12–38) eignet sich gut für eine kurze Untersuchung und Beurteilung der damaligen politischen Veränderungen im Partherreich. Artaban war vermutlich ein unbedeutender Herrscher von Hyrkanien im Osten des Kaspischen Meeres – nicht, wie zuweilen angenommen wird, von Atropatene westlich dieses Meeres. Er führte einen Aufstand gegen den Partherkönig Vonones, der von seinem Vater Phraates IV. nach Rom geschickt worden war und sich dort über 15 Jahre aufgehalten hatte, ehe er um das Jahr 7 n. Chr. die Thronfolge hatte antreten können. Nach mehreren Jahren der Kämpfe errang Artaban den Sieg und eroberte im Jahr 12 n. Chr. die Hauptstadt Ktesiphon. Daß seinen Anstrengungen, die Zentralgewalt des parthischen Reiches gegen den Adel zu stärken, letzten Endes kein Erfolg beschieden war, bezeugen die zahlreichen Aufstände während seiner Regierung. Josephus (Ant. 18, 339) berichtet von zwei jüdischen Brüdern, die in den Jahren etwa zwischen 20 und 35 n. Chr. eine unabhängige Herrschaft in Mesopotamien aufgerichtet hatten. Die parthische Regierung war damals machtlos, gegen dieses räuberische Königtum einzuschreiten, und mußte es anerkennen. Die Sicherheit des Thrones war so erschüttert, daß Artaban um das Jahr 36 n. Chr. nach dem östlichen Iran fliehen mußte und der von Rom begünstigte Tiridates III. die Macht einige Monate lang behaupten konnte. Artaban gewann jedoch den Thron bald zurück und regierte mehrere Jahre bis zu seinem Tod. Aber die Aufstände, dazu eine Empörung der Stadt Seleukeia am Tigris, die zu einer siebenjährigen Unabhängigkeit der Stadt führte, dauerten fort.4 Eine Schilderung der politischen Ereignisse, die auf die Regierung Artabans folgten, erübrigt sich hier; sie sind verworren und zeugen von Aufständen und

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Bürgerkriegen im parthischen Reich, das eine Zeitlang in einen östlichen Teil unter Gotarzes II. und einen westlichen Teil unter Vardanes zerfallen war. Wir werden uns den inneren Umwandlungen im Partherreich zuwenden, dabei aber stets die politischen und militärischen Geschehnisse, die die Unruhe dieser Zeiten spiegeln, im Auge behalten. Da unsere Primärquellen für die parthische Geschichte auf griechische oder römische Autoren zurückgehen, ist diese verständlicherweise als eine Reihe von Kriegen zwischen dem parthischen und dem römischen Reich dargestellt, wobei die Überlegenheit zumeist den Römern zugeschrieben wird. Die hervorragende Rolle, die dem römischen Reich als Nachfolgerin des Achämenidenreiches und des Reiches Alexanders des Großen zukommt, sollte nicht zu einer Unterschätzung der großen Probleme führen, die dem Partherreich an seinen nördlichen und östlichen Grenzen erwuchsen. Diese waren für die Parther oft wichtiger und gefährlicher als die Beziehungen zu den Römern im Westen. Am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. erhob sich im östlichen Iran ein machtvolles neues Königreich, das Reich der Kušān. Die Nachrichten weisen auf Kaniška als den Begründer der Kušān-Macht; er ist der Dareios seines Reiches. Inschriftenfragmente aus Indien und aus Chwarezm, beides Randgebiete des Kušān-Reiches, dessen Kerngebiet in Baktrien, dem heutigen Afghanistan zu suchen ist, bezeugen die Existenz eines weitverbreiteten Systems einer Zeitrechnung, das vermutlich die seleukidische Zeitrechnung im westlichen Iran nachahmte. Diese Ära begann vermutlich mit dem Jahr 78 n. Chr. Wir wissen nicht, ob Kaniška die neue Zeitrechnung einführte, da über seine Daten keine Gewißheit besteht; unter Kaniška erscheinen jedoch auf den Kušān-Münzen iranische Legenden in griechischer Schrift an Stelle von griechischen Legenden.5 Kaniška war auch ein großer Förderer des Buddhismus. Während seiner Regierungszeit setzte vermutlich eine rege buddhistische Missionstätigkeit in Zentralasien ein. Aus chinesischen Quellen erfahren wir die interessante Tatsache, daß einer der bedeutendsten buddhistischen Missionare, die im Jahr 148 n. Chr. China besuchten, ein parthischer Fürst war.6 Über die Beziehungen der Parther zu den Kušān oder zu Indien erfahren wir leider nichts, und über die erhaltenen zahlreichen und verschiedenartigen Münzen aus dem östlichen Iran lassen sich nur Vermutungen äußern, denn sie verraten nur wenig von der Geschichte eines so umfangreichen Gebietes. Nach den Münzen zu urteilen, scheinen eine Reihe kleiner »indo-parthischer« Fürstentümer bestanden zu haben. Einige von ihnen dienten vielleicht als Pufferstaaten zwischen den Kušān und den Parthern und waren, ähnlich wie diejenigen an der Westgrenze des parthischen Reiches, über die wir weit besser unterrichtet sind, von der einen oder der anderen Macht abhängig. Man darf nicht vergessen, daß die Parther niemals eine ähnlich strenge Zentralisierung der Macht wie ihre Vorgänger, die Achämeniden, oder ihre Nachfolger, die Sassaniden, erreicht haben. Manche der halbselbständigen

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parthischen Gebiete waren nur Städte, wie Seleukeia und Hatra, während es sich bei anderen um große Staaten, wie Armenien im Norden und die Persis im Süden, handelte. Zwischen diesen beiden Staaten lagen andere wie Osroene mit der Stadt Edessa als Mittelpunkt, Gordyene, Adiabene, Mesene oder Characene und Elymais. Es ist verständlich, daß spätere arabische und persische Historiker diesen Geschichtsabschnitt als Zeit der zahlreichen »Stammeskönige« bezeichnen. Deshalb ist es auch so schwierig, die vorsassanidische Geschichte Irans zu erschließen. Bei der Untersuchung der kulturellen und religiösen Entwicklung muß also die politische Zerrissenheit des parthischen Reiches, die den Hintergrund bildet, berücksichtigt werden. Je weiter sich die Parther vom Iranischen Plateau entfernten und nach Westen den Ebenen Mesopotamiens entgegenzogen, um so stärker wirkten sich die hellenistischen und nahöstlichen Einflüsse auf ihre Kultur und Kunst aus. Ihre älteste Hauptstadt lag im nordöstlichen Iran, dann folgten als Hauptstädte Hekatompylos, vermutlich in der Nähe des heutigen Damghan, Ekbatana und schließlich Ktesiphon, während Ekbatana anscheinend als Sommerresidenz beibehalten wurde. Ekbatana, das heutige Hamadan, diente offenbar unter Phraates II. (etwa 138–128 v. Chr.) als Hauptstadt, die Stadt Nisā im parthischen Stammland hatte sich inzwischen zu einem Kultmittelpunkt entwickelt, da sich dort die Grabstätten der älteren Könige befanden.7 In Nisā haben russische Archäologen zahlreiche parthische Gegenstände, darunter mehr als zweitausend Ostraka (beschriftete Scherben von Tongefäßen) mit aramäisch geschriebenen, aber parthisch zu lesenden Inschriften entdeckt, die eine Zeitspanne von 100–13 v- Chr. umfassen. Diese Ostraka handeln vorwiegend von Wein und Weingärten und zeigen, welche Bedeutung dem Weinbau im alten Iran zukam. Dafür sprechen auch die zahlreichen dionysischen und bacchantischen Motive auf parthischen und sassanidischen Kunstgegenständen. In Nisā kamen eine Reihe elfenbeinerner Rhyta zutage; bei einigen standen die geschnitzten Darstellungen in der Tradition der hellenistischen Kunst, während sie bei den anderen »orientalische« Einflüsse zeigten.8 Die Auswirkungen dieser beiden Einflußsphären sind ein charakteristisches Merkmal der frühen parthischen Kunst. Das hellenistische Element in der parthischen Kunst würde man gern dem Königshof, die »orientalischen« Einflüsse aber der Nobilität zuweisen, was gut zu der vermuteten Schutzherrschaft des Königs über die Städte mit ihrer hellenisierten Bevölkerung passen würde, die ein Gegengewicht gegen den lokalen Adel bildeten. Eine solche kulturelle Aufteilung hat in Wirklichkeit aber wohl niemals bestanden, und wir möchten annehmen, daß beide Stile, wenn man sie so bezeichnen darf, sowohl in den provinziellen Zentren als auch in der Hauptstadt nebeneinander existierten. Im 1. Jahrhundert n. Chr. wurde jedoch der von der griechischen Kunst beeinflußte Stil aufgegeben, und es entstand jene Kunst, die von den Kunsthistorikern als typisch parthisch bezeichnet worden ist.

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Zwei hervorstechende Merkmale dieser Kunst sind die Frontalität und das Motiv des fliegenden Galopps. Das letztere wollen wir hier nicht näher erörtern, obwohl es gewisse Probleme birgt; die Frontalität verlangt jedoch eine eingehendere Betrachtung, weil sie in einem so auffälligen Gegensatz sowohl zur vorhergehenden hellenistischen als auch zur gleichzeitigen römischen Darstellungsweise der menschlichen Gestalt steht.9 Die Frontalität in der parthischen Kunst bedeutet mehr als nur die Wiedergabe des Menschen en face. Die strenge Symmetrie und die hieratische Erscheinung des Dargestellten sind ebenso bezeichnend wie die genaue Vorderansicht der Gestalt. Meines Erachtens hat diese Darstellungsweise ihren »Ursprung« weder in Syrien, Griechenland noch im Partherreich, sondern war eine allgemeine Erscheinung im gesamten Nahen Osten zur Zeit Christi. Nur die griechisch- römische Welt bildete noch immer die Meisterwerke des Goldenen Zeitalters Griechenlands nach, und erst mit dem Eindringen orientalischer Religionen einschließlich des Christentums breitete sich dieser östliche Stil auch im römischen Reich aus. Die Vorliebe für das Prinzip der Frontalität in der Kunst geht parallel mit dem Aufkommen orientalischer Sekten, die zum größten Teil Mysterienkulte mit dem Ziel der Erlösung des Individuums waren. Unglücklicherweise wissen wir so gut wie nichts über die Religionen im parthischen Bereich. Wenn wir allein auf die archäologischen Überreste aus der Partherzeit im Iran angewiesen wären, müßten wir annehmen, daß Kulte des Herakles, Dionysos und anderer hellenistischer Gottheiten – die meisten wahrscheinlich mit lokalen Kulten und Göttern verschmolzen – in Blüte gestanden hätten.10 Aber derartige Kulte dürften wohl eher den heutigen Logen, Bruderschaften oder Trinkgenossenschaften entsprochen haben. Sowohl vor als auch nach der Partherzeit stand die kultische Verehrung Ahuramazdāhs in Blüte; deshalb möchten wir annehmen, daß auch unter den Parthern der Kult dieses Gottes vorherrschend war. Zugleich scheint aber das religiöse Unbehagen, das zu dieser Zeit den größten Teil des Nahen Ostens ergriffen hatte, auch das Partherreich erfaßt zu haben. Der Judaismus, über den wir besser unterrichtet sind als über andere Religionen, ist beispielhaft für die allgemeine religiöse Situation. Die Schriftrollen vom Toten Meer haben die Auffassung bestätigt, daß der Judaismus zu Beginn unserer Zeitrechnung keineswegs eine in sich geschlossene und »normative« Religion gewesen ist. Wir wissen jetzt außer von den Jüngern Jesu auch mehr über die Essener, die Samaritaner, die Anhänger Johannes des Täufers. Wir wissen, daß die Königsfamilie von Adiabene im 1. Jahrhundert zum jüdischen Glauben übergetreten ist und daß es in Mesopotamien – und zweifellos auch in anderen parthischen Gebieten – große jüdische Gemeinden gegeben hat.11 Gnostische Spekulationen und die Bemühungen, die Rätsel des Universums zu ergründen, waren nicht nur in Alexandria und in Antiochia, sondern sicherlich ebenso in Ktesiphon und weiter im Osten verbreitet. Es ist sehr wahrscheinlich,

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daß sich die Mandäer, die es noch heute im südlichen Irak gibt, in spätparthischer Zeit zu einer Sekte zusammengeschlossen haben. Über die Ursprünge der Mysterien des Mithraismus, Zervanismus und anderer iranischer religiöser Bewegungen sind weder Nachrichten erhalten, noch liegen Hinweise für ihre Existenz im Iran vor. Aber die im römischen Reich weitverbreitete Neigung zu Zeitspekulation, Mysterienreligionen, Gnostizismus und Erlösungskulten muß bei den Parthern zumindest ein Echo ausgelöst haben.12 So stellt sich das 1. Jahrhundert n. Chr. als eine Epoche der Umwandlungen dar, die bis in das 2. Jahrhundert hinein anhielten; dieses wieder könnte man charakterisieren als ein Jahrhundert, in dem eine Abwendung von älteren Glaubens-, Gesellschafts- und Kulturformen erfolgte. Das Partherreich hatte damals in politischer Hinsicht den tiefsten Stand erreicht, und die Römer nutzten diese Schwäche mehrmals zu Einfällen in Mesopotamien. Im Jahr 115 wurde Ktesiphon von Trajan, 165 von dem General Avidius Cassius und 198 von Septimius Severus eingenommen. Doch selbst während dieser Zeit blieben die Parther gefährliche Feinde, die den römischen Armeen mehrere Niederlagen beibrachten. Der Zentralisierung der Macht im römischen Reich standen bei den Parthern entgegengesetzte Tendenzen gegenüber. Die Parther konnten jedoch häufig mit antirömischen Strömungen und manchmal sogar mit der Unterstützung durch Vasallenstaaten in Mesopotamien, der Juden, Araber oder anderer Staaten im Nahen Osten rechnen. Aus lateinischen Quellen erfahren wir, daß sowohl die gepanzerte schwere (cataphracti) als auch die mit Pfeil und Bogen leicht bewaffnete Kavallerie der Parther von den Römern gefürchtet wurde. Der »parthische Schuß« – so bezeichnete man den Pfeilschuß eines fliehenden Reiters, der sich plötzlich im Sattel umwendete und auf seinen Verfolger zielte – galt bei den Römern als eine beachtenswerte Taktik. Aus Äußerungen Strabos, Tacitus’ und anderer Autoren geht klar hervor, daß die Römer das Partherreich als einen des römischen Reiches würdigen imperialen Rivalen betrachteten. Die Nachfrage nach den von den Römern so begehrten Luxusgütern aus dem Orient brachte den Kaufleuten in den parteiischen wie auch in anderen Ländern ein einträgliches Geschäft. Der anwachsende Handel mit Spezereien, Parfümen und sonstigen Luxusartikeln ließ Karawanenstädte wie Petra, Palmyra, Hatra und Charax am Persischen Golf aufblühen. Unter der Herrschaft der Parther wurden die Handelsbeziehungen mit China wie auch mit dem römischen Reich gepflegt, und die direkten Beziehungen der Römer zu Indien und dem Reich der Kušān waren wohl kaum eine Folge der politischen Differenzen mit dem Partherreich, sondern hatten eher wirtschaftliche Gründe, z.B. die Ausnutzung der Monsunwinde für die Schiffahrt. Während der langen Zeit der parthischen Herrschaft in Iran fand vermutlich ein Austausch zahlreicher Pflanzen, Früchte und anderer Produkte zwischen Europa und dem Fernen Osten statt. Der Granatapfelbaum z.B. gelangte wahrscheinlich zu dieser Zeit von Iran nach China, während der Pfirsich und die Aprikose den entgegengesetzten Weg nahmen.13 Die Entdeckung eines achämenidischen Teppichs bei archäologischen

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Ausgrabungen in Sibirien weist auf die jahrhundertealte Überlegenheit Irans in der Kunst der Teppichknüpferei. Das bestätigen auch Berichte über Gesandtschaften, die als Geschenke edle Teppiche und Brokatstoffe nach China mitführten.14 Alles spricht dafür, daß während der Partherherrschaft die Kunstwerkstätten Irans noch immer in Blüte standen, wenn ihre Erzeugnisse auch nicht immer unserem Geschmack entsprechen mögen. In der Geschichte der iranischen Literatur hat die Partherzeit eine bedeutende Rolle gespielt. Außer einigen Inschriften sind uns freilich keine zeitgenössischen Werke erhalten geblieben, in der späteren neupersischen Literatur sind jedoch Spuren parthischen Einflusses nicht selten. Wir haben schon erwähnt, daß die Zeit der Partherherrschaft in der arabischen und neupersischen Literatur als eine dunkle Zeit zahlreicher Stammeskönige angesehen wurde. Das Šāhnāme, das »Buch der Könige«, das der Dichter Firdōsī zu Beginn des 11. Jahrhunderts in Verse gesetzt hat, spiegelt jedoch die Sagen, das Ritterwesen und die Bräuche der Partherzeit. Ich möchte bezweifeln, daß es damals bereits geschriebene Geschichtswerke gab, und möchte eher annehmen, daß Barden oder Spielleute, die man gōsān (armenisch gusan) nannte, epische Erzählungen vorgetragen haben.15 Obwohl den Aškaniern, wie die Parther im Neupersischen genannt werden, im Nationalepos des Firdōsī nur ein paar Zeilen gewidmet sind, stellen die Sagen von den alten Königen sicherlich ein Abbild des »feudalen« Charakters der Partherzeit dar, etwa so, wie sich in den Heldentaten Rustams Züge des griechischen Herakles spiegeln. Da verläßliche Nachrichten fehlen, bleibt die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet schwierig und auf Vermutungen beschränkt. Der Mangel an Nachrichten aus der Partherzeit ist zweifellos vor allem auf das schwerfällige Schriftsystem der Parther zurückzuführen. Wie schon erwähnt, blieb das Aramäische (sowohl Schrift als auch Sprache) zumindest während des 1. Jahrhunderts n. Chr. der schriftliche Vermittler des Parthischen (das Pergament von Awroman und die Inschriften von Mtskheta). Im 3. Jahrhundert finden wir jedoch in den Inschriften der frühen Sassanidenkönige geschriebenes Parthisch, das zwar noch zahlreiche aramäische Ideogramme enthält. Was hatte zu einer Änderung des Schriftsystems im 2. Jahrhundert geführt? Die einleuchtendste Erklärung ist wohl die, daß es im ganzen parthischen Bereich immer weniger Schreiber gab, die das traditionelle Aramäisch beherrschten. Diese Entwicklung währte sicherlich von der Zeit der Nisā- Ostraka bis in das 3. Jahrhundert hinein. Leider haben wir keine Belege aus dem 2. Jahrhundert, die die Kontinuität, die wir voraussetzen müssen, zeigen könnten. Die Orientalisierung der Parther auf Kosten ihrer Hellenisierung mag zu der Entwicklung des parthischen Schriftsystems, wie es sich uns im 3. Jahrhundert darstellt, beigetragen haben, doch kann man dazu nur Vermutungen äußern.16 Das 3. Jahrhundert brachte, abgesehen von der neuen religiösen, künstlerischen und übrigen kulturellen Entwicklung, eine Reihe von Umwälzungen im Nahen Osten, die die Rolle Irans und des römischen Reiches gänzlich vertauschten. Glücklicherweise steigt nun die Zahl der Urkunden

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außerordentlich an, da sich die Sassaniden ihrer historischen Rolle offenbar in weit größerem Maße bewußt gewesen sind, als es die Parther waren. Für den Aufstieg der Sassaniden liegen nicht nur klassische Quellen, sondern auch iranische Inschriften und die späteren Pahlevi-Bücher sowie arabische, armenische, syrische und neupersische Werke vor, in denen die älteren Überlieferungen erhalten sind. Man könnte sagen, daß mit dem 3. Jahrhundert im Nahen Osten eine weitverbreitete, vielsprachige literarische Aktivität einsetzte. So war das 3. Jahrhundert, in dem der Umwandlungsprozeß seinen Höhepunkt erreichte, eigentlich sogar bedeutungsvoller als die vorhergehenden Jahrhunderte. Der durch einen Rebellen in der Persis, der heutigen Provinz Fārs, herbeigeführte Sturz der Dynastie der Arsakiden hatte mannigfaltige Ursachen. Der Druck der römischen Waffen mag in gewissem Maße zu einer Schwächung des Partherreiches beigetragen haben, ernster waren jedoch die inneren Auflösungstendenzen, die den Sassaniden den Weg bereiteten. Der Partherkönig Volagases V. hatte in Artaban V. einen Rivalen; aber es ist nicht genau bekannt, welche Gebiete den beiden Herrschern Untertan waren. Aus einer in Susa gefundenen Inschrift aus dem Jahr 215 geht hervor, daß Artaban dort als Oberherr anerkannt war, während Volagases zumindest einen Teil dieser Zeit Ktesiphon und den Norden beherrschte.17 Caracallas Einfall in parthisches Gebiet im Jahr 216 fällt mit dem Aufstand Ardašīrs, des Sohnes des Papak, eines parthischen Vasallen in Persien, zusammen. Über die Erhebung Ardašīrs liegen mehrere Berichte vor: eine offizielle Version, die sich in Königsinschriften und einigen späteren Geschichtswerken findet, eine romantische, vom Volk bewahrte Version, die das Pahlevi-Kārnāme, das »Buch der Taten« des Ardašīr, spiegelt, und schließlich eine römische, feindliche Version. Die erste Version sollte trotz ihrer Übertreibungen und des Stolzes auf die Dynastie als die zuverlässigste angesehen werden, denn nur sie kann sich auf zeitgenössische Urkunden, auf in Stein gemeißelte Edikte, stützen.18 Eine Inschrift Šāpūrs, des Sohnes Ardašīrs, auf einer Säule, die bei Ausgrabungen in Bišāpūr entdeckt wurde, gibt das Datum der Inschrift in dreifacher Weise: » ... des Jahres 58, von dem Feuer des Ardašīr das Jahr 40, von dem Feuer des Šāpūr, des Königs der Feuer, das Jahr 24.« Leider sind die Daten der frühen sassanidischen Könige unsicher, so daß sich das genaue Datum der Inschriften nicht ermitteln läßt. Einige Gelehrte meinen, Artaban sei im Jahr 224 von Ardašīr besiegt und getötet worden, andere möchten das Geschehen in das Jahr 226, dem man jetzt den Vorzug gibt, datieren. Wenn man die Stiftung des Feuers des Ardašīr in das Jahr 226 verlegt, muß die Inschrift von Bišāpūr im Jahr 266 eingemeißelt worden sein. Der Ausdruck »Feuer« bezeichnet vermutlich den Beginn einer Regierung oder ein wichtiges Ereignis, wofür als ein Symbol ein besonderes Feuer entfacht und immer brennend erhalten wurde.19

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Papak regierte in Istakhr, in der Nähe der Ruinen von Persepolis, während Ardašīr unter der Oberherrschaft seines Vaters in Gōr, dem heutigen Fīrūzābād, südöstlich von Šīrāz, das Zepter führte. Šāpūr, Papaks ältester Sohn, war der Nachfolger seines Vaters, aber Šāpūr verlor bei einem Unfall das Leben, und Ardašīr wurde vermutlich im Jahr 208 – das ist das erste Datum der Bišāpūr-Inschrift – Herrscher über die Persis. Ardašīr festigte seine Macht und eroberte die benachbarten Gebiete Kirman, Isfahan und Elymais, ehe er sich gegen seinen parthischen Oberherrn wandte. Der Krieg mit Artaban scheint etwa drei Jahre gedauert zu haben, aber auch nach dem Tod Artabans kämpften die Parther weiter, bis einige der Arsakidenfürsten schließlich nach Armenien flohen. Dort regierte eine Seitenlinie der parthischen Königsfamilie bis zum Jahr 428. Man hat bisher zwar immer von dem plötzlichen Wechsel von dem feudalen, lockeren Staatsgefüge der Parther zu der zentralisierten Monarchie der Sassaniden gesprochen, dieser Übergangsprozeß muß jedoch eine ziemlich lange Zeit erfordert haben. Aus Inschriften wissen wir, daß sich Šāpūr selbst als König über zahlreiche andere Könige, von denen einige mit Namen genannt sind, betrachtete. Der alte und gewichtige Titel »Satrap« hatte an Bedeutung verloren, bis er in sassanidischer Zeit schließlich nur mehr den Bürgermeister einer Stadt mit ihrem umliegenden Gebiet bezeichnete. Das Auftreten neuer Titel am Hof – Anzeichen einer entstehenden Bürokratie – zeigt uns, daß die Sassaniden die parthischen Institutionen nicht einfach übernahmen, sondern sie weiterentwickelten. Ein eingehendes Studium der vielfältigen Titulatur und der Bürokratie der Sassaniden würde zu einer Klärung mancher Aspekte des sassanidischen Staatswesens beitragen. In seinem Verhältnis zur Religion offenbart sich wohl der bedeutsamste Aspekt des neuen sassanidischen Staates. Vor dreißig Jahren, als die Inschriften des Hohenpriesters Kartīr noch nicht entziffert waren, wußte man von der zoroastrischen Religion zu Beginn der Sassanidenzeit nur wenig. In späteren Schriften ist überliefert, daß ein Priester, dessen Name Tansar lautet, die zoroastrische Religion auf Befehl Ardašīrs erneuert habe. Dank der vier Inschriften des Priesters Kartīr sind wir über die Anfänge der Staatskirche des sassanidischen Iran jetzt besser unterrichtet. Man hat die Vermutung geäußert, daß Kartīr mit Tansar identisch sei, aber es gibt keine Beweise dafür. Glücklicherweise korrespondieren die vier Inschriften, die zwar nicht identisch sind, wenigstens in Teilen, denn zwei sind länger als die beiden anderen. So ergänzen sie einander und ermöglichen die Rekonstruktion der Botschaft Kartīrs an die Nachwelt. Aus Kartīrs Inschrift bei dem heutigen Sar Mašhad erfahren wir, daß sein voller Name Kartīr Hangirpe20 lautete. Kartīrs Aufstieg begann unter Šāpūr I., in dessen Inschrift sein Name mit dem Titel herbad weit unten in der Liste der Notabeln erscheint. Andere Nachrichten lassen vermuten, daß herbad zu dieser Zeit einfach »Priester«, d.h. ein mit den Aufgaben des Kultes und der Rezitation betrauter Mann, bedeutete. Kartīrs Stellung als Hofpriester muß zu seinem Aufstieg beigetragen haben, denn er begleitete Šāpūr auf den

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Feldzügen in Westasien und diente ihm als geistlicher und wohl auch als allgemeiner Ratgeber. In seiner Inschrift, die wie die große Inschrift Šāpūrs auf der Ka’be des Zoroaster in Naqš-i Rustam eingemeißelt ist, berichtet Kartīr von seiner Beförderung zu einer hohen einflußreichen Stellung durch Šāpūr und wie er, Kartīr, neue Feuertempel gebaut und dazu beigetragen habe, die zoroastrische Religion im ganzen Reich zu verbreiten, wie er in Gebieten außerhalb Irans einschließlich des östlichen Anatolien und der Kaukasusländer neue Feuer entfacht und Priester eingesetzt habe. Dieser neue Beleg für eine zoroastrische Missionstätigkeit in Kilikien, Kappadokien und anderen außeriranischen Ländern bestätigt die spärlichen literarischen Nachrichten über Magier und »zoroastrische« Kulte innerhalb des römischen Reiches. Kartīr belohnte loyale Priester und bestrafte andere, die ketzerische Meinungen vertraten. Später rief er zu einer Verfolgung der Juden, Buddhisten, Hindu, der einheimischen Christen (Nasoräer) und der griechischen Christen (aus Antiochia?), die in den Inschriften Krstydan genannt werden, der Mandäer (Mktky) und Manichäer (Zndyky) auf.21 Die interessanten Inschriften Kartīrs haben neue Züge des Zoroastrismus und zahlreiche Details enthüllt, deren Bedeutung nur durch eingehendes Studium zu erschließen sein wird. Es ist faszinierend, die Chronik des ständigen Aufstiegs Kartīrs in den Inschriften zu verfolgen. Šāpūrs Sohn, Ōhrmizd (272–273), verlieh Kartīr den neuen Titel Ahuramazdāh magupat, »Oberster der Magier des Gottes Ahuramazdāh«, und vergrößerte seine Macht und seinen Einfluß. Als äußeres Zeichen dieser Würde verlieh er ihm eine besondere Kopfbedeckung und einen Gürtel. Bahrām I., der Bruder Ōhrmizds (273–276), bestätigte Kartīrs Privilegien und hob sein Ansehen. Bahrām II. (276–293) förderte ihn sogar noch mehr, indem er ihn in den Adelsstand erhob und ihn zum obersten Priester und höchsten Richter im ganzen Reich ernannte. So stieg ein Priester zum höchsten gesellschaftlichen Rang auf. Obwohl der Titel nicht ausdrücklich erwähnt ist, muß es sich hierbei um die Stiftung des Amtes des mobadānmobad, wörtlich des »Hauptpriesters der Hauptpriester«, eine Parallelbildung zu dem Titel »König der Könige«, handeln. Dazu wurde Kartīr mit der Versorgung des Hauptfeuertempels des Reiches zu Istakhr in der Heimat der Sassaniden-Dynastie betraut. Dieser Tempel war der Göttin Anahita, der Schutzgottheit Ardašīrs, des Gründers des sassanidischen Reiches, geweiht. Zu all diesen Ernennungen verlieh ihm Bahrām II., um die enge persönliche Bindung zwischen Priester und König hervorzuheben, den persönlichen Beinamen »der Seelenretter des Bahrām«. Kartīr war nicht bescheiden, denn er fährt in seinem Bericht fort, daß er zahlreiche Feueraltäre für sein eigenes Haus, vermutlich Verwandte und Freunde, gestiftet und sich stets um seinen Glauben und um seinen König verdient gemacht habe. In der manichäischen Literatur wird Kartīr übrigens als Verfolger Manis unter König Bahrām I. erwähnt. In den koptischen Homilien wird er Kardel, in einem parthischen Fragment aus Turfan qyrdyr und in einem

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mittelpersischen Fragment aus Turfan kyrdyr, Sohn des Ardavan (Artaban)22, genannt. Wir können hier auf die Geschichte Kartīrs nicht ausführlicher eingehen, eine Stelle in seinen Berichten verdient jedoch angeführt zu werden, da sie von den bisher erwähnten Nachrichten abweicht. In seiner Inschrift von Naqš-i Rajab, der von Naqš-i Rustam (hinter dem Pferd des Šāpūr) und der von Sar Mašhad legt Kartīr ein persönliches Glaubensbekenntnis ab, das in seiner Schlichtheit und Unmittelbarkeit bemerkenswert ist. Er sagt darin, daß es einen Himmel und eine Hölle gäbe und daß ein guter Mensch nach dem Tod in den Himmel, ein böser aber in die Hölle eingehe. Aber derjenige, der guten Willens sei, würde schon während seiner Lebenszeit durch inneren Frieden und Glückseligkeit belohnt werden. Er betont, daß die Erfüllung der Riten und Rituale für die Erlösung wesentlich sei. Einige sehr schlecht erhaltene Stellen der Inschrift von Sar Mašhad verraten wenigstens etwas über das persönliche religiöse Erlebnis Kartīrs; er gibt eine Art apologia pro vita sua, die man ihres visionären Charakters wegen vielleicht mit der Geschichte von der Bekehrung des Paulus auf dem Weg nach Damaskus oder auch mit Dantes Abstieg zur Hölle vergleichen könnte. Kartīr wünschte, daß sein Name der Nachwelt erhalten bliebe, und dieses Ziel hat der außergewöhnliche Priester erreicht. Wir wissen nicht, wie es Kartīr weiterhin ergangen ist. Sein Name erscheint zum letztenmal in den Inschriften des Narseh in Paikuli, aber der Kontext ist unklar, so daß uns sein Schicksal verborgen bleibt. In späteren literarischen Quellen ist sein Name nicht überliefert, was möglicherweise auf einen Widerstand gegen Kartīr und sein Werk deutet. Seine Inschriften sind jedoch weder ausgetilgt noch verändert worden, obwohl Tilgung und Änderung von Inschriften im sassanidischen Iran üblich waren.23 Es mögen irgendwelche anderen, vielleicht sogar triviale Gründe und nicht ausgesprochene Opposition gewesen sein, die es verhindert haben, daß Kartīrs Name in spätere literarische Quellen aufgenommen wurde, denn sein Werk der Organisierung und des Aufbaus der zoroastrischen Kirche als Partner der Staatsherrschaft bestand weiter. Das Gedeihen der sassanidischen Kirche wurde wahrscheinlich noch gefördert durch den Wettstreit mit den oben erwähnten, von Kartīr verfolgten Religionen. Der gefährlichste Konkurrent war wohl der Manichäismus, obwohl auch die anderen Glaubensrichtungen eine Missionstätigkeit entfalteten. Es gibt Anzeichen dafür, daß der Manichäismus als das Symbol des neuen Zeitalters verstanden und deshalb von den Anhängern anderer Religionen so erbittert gehaßt wurde. Der Manichäismus war eine gnostische synkretistische von Mani gestiftete Religion. Von Manis Leben sind keine genauen Daten überliefert, sein Wirken fällt jedoch in die Mitte des 3. Jahrhunderts. Für seine Anhänger verfaßte er Rezitations- und Lesebücher, die er in viele Sprachen übersetzen ließ. Man hat den Manichäismus mit dem heutigen Bahaismus verglichen, und es gibt tatsächlich einige interessante Parallelen, doch können wir uns hier nicht mit

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dogmatischen und theologischen Fragen befassen. Jedenfalls scheint die hohe Bedeutung, die der Manichäismus heiligen Schriften zumaß – wenn er auch nicht als der Ursprung des Konzepts einer Religion mit einer heiligen Schrift angesehen werden sollte –, einen starken Einfluß zumindest auf die Zoroastrier ausgeübt zu haben. So wurde das Awesta unter sassanidischer Herrschaft wahrscheinlich mehrmals gesammelt und redigiert. Auch die Juden in Mesopotamien begannen mit der Abfassung des Talmud und anderer Schriften, während die Anhänger der übrigen Religionen zu dieser Zeit vermutlich mit ähnlichen Unternehmen beschäftigt waren. Die Grundlagen für das spätere mittelalterliche Konzept der Religionen im Nahen Osten sind offensichtlich bereits im 3. Jahrhundert, der Zeit des Origenes und anderer Kirchenväter, geschaffen worden. Es ist die Zeit des Zusammenschlusses religiöser Gemeinden, wie des Exilarchats (reš galūtha) der jüdischen Diaspora im sassanidischen Bereich, sowie der Organisation der christlichen Kirche in Mesopotamien unter Bischöfen und einer festen Hierarchie. Das gleiche gilt für die Manichäer und andere Glaubensgemeinden. Die Religionsgemeinschaften wurden nach dem Vorbild des Staates oder des Heeres organisiert, um sie lebensfähig zu erhalten. Das spätere Minoritäten- oder millet-System der islamischen Welt, in dem jede religiöse Minderheit unter einem der islamischen Zentralregierung für alle Mitglieder seiner Gemeinde verantwortlichen obersten Führer lebte, scheint sich im 3. Jahrhundert im Sassanidenreich herausgebildet zu haben. Obwohl keine direkten Beweise vorliegen, deuten doch viele Anzeichen auf eine solche Entwicklung zu dieser Zeit. Mit anderen Worten, es scheint, als ob die Sassaniden für zahlreiche Institutionen im späteren Nahen Osten schon den Weg bereitet hätten, als die Römer noch immer von der großen griechischen Vergangenheit und dem Ruhm des frühen Reiches zehrten. Die Überlegenheit Irans in der Mitte dieses Jahrhunderts trat nirgends deutlicher hervor als auf dem Schlachtfeld. Zum erstenmal wurde ein römischer Kaiser von den Persern gefangengenommen. Zwar hatte schon Ardašīr, während er sein Reich begründete, mit den Römern gekämpft, aber erst sein Sohn Šāpūr sollte den Römern die größte Niederlage zufügen, die sie jemals aus der Hand ihrer östlichen Feinde hinnehmen mußten. Es ist jetzt möglich, die römischen Quellen mit der dreisprachigen Inschrift (griechisch, parthisch und mittelpersisch, die Sprache der Sassaniden) Šāpūrs auf der Ka’be des Zoroaster zu vergleichen, ein gutes Beispiel dafür, wie die betreffenden Tatsachen von den Römern und den Persern unterschiedlich dargestellt werden.24 Nach römischer Version hatten die Sassaniden den Krieg eröffnet, und der Kaiser Gordian III. mußte den Angriff des Feindes abwehren. Nach Šāpūrs Version war jedoch Gordian der Angreifer gewesen. In diesem Fall scheint Šāpūr nicht etwa einen Feldzug gegen Rom, sondern gegen verschiedene unabhängige Kleinstaaten geführt zu haben, und um das Jahr 242 war es ihm gelungen, Hatra, das früheren Eroberungsversuchen der Römer und Parther erfolgreich Widerstand geleistet hatte, einzunehmen. Danach wandte er sich

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gegen Osroene, das sich ergab, und dieses Ereignis rief wahrscheinlich die Römer auf den Plan. Nach Šāpūrs Bericht wurde der Kaiser während einer großen Schlacht getötet, und Philippus Arabs, der neue Kaiser, mußte um Frieden bitten. Das Schlachtfeld am Euphrat, das später al-Anbar hieß, erhielt den Namen Pērōz-Šāpūr, »Sieg Šāpūrs«. Šāpūr behauptet, Philippus habe eine Million Dinare als Buße zahlen müssen, was die römischen Quellen natürlich verschweigen. Nach Šāpūrs Darstellung war der zweite Krieg ausgebrochen, weil sich die Römer nicht an das Abkommen über Armenien gehalten hatten. Die Sassaniden hatten daraufhin, was in den römischen Quellen nicht erwähnt wird, ein römisches Heer von 60000 Mann vernichtet, waren in Syrien und Kappadokien eingefallen und hatten Antiochia, die Hauptstadt des Ostens, sowie zahlreiche andere Städte erobert. Der Zeitpunkt dieses Unternehmens ist umstritten, da einige Gelehrte der Ansicht sind, daß es sich um zwei Feldzüge, in den Jahren 253 und 256, handeln müsse. Zwei Ereignisse scheinen jedoch eher auf das Jahr 256 zu deuten: das eine ist die Einnahme der römischen Grenzfestung Dura-Europos am Euphrat durch die Sassaniden, das andere die Gefangennahme des Bischofs Demetrios von Antiochia, die in das Jahr 256 fallen dürfte und mit der seine Herrschaft über Antiochia endet.25 Es bleiben zwar noch viele ungelöste Fragen, doch scheinen sich die Ereignisse der oben angeführten Chronologie am besten einzufügen. Im dritten Krieg, als Šāpūr Edessa und Carrhae belagerte, ging der Kaiser Valerian zum Angriff über. Der Inschrift zufolge wurde Valerian in der sich entwickelnden Schlacht von Šāpūr selbst gefangengenommen; aber auch der Präfekt der Prätorianer und zahlreiche hohe römische Offiziere gerieten in Gefangenschaft. Das geschah vermutlich im Jahr 260, nachdem die Perser Antiochia und viele andere Städte in Kappadokien, Kilikien und Syrien aufs neue erobert hatten. Die zahlreichen Gefangenen, die in sassanidische Hand gefallen waren, wurden in den heutigen Provinzen Fārs und Chusistān angesiedelt. Der übrige Teil der Inschrift Šāpūrs bezieht sich auf die königliche Familie und den Hof; er ist für die Geschichte der Sassaniden von großer Bedeutung, kann in diesem Zusammenhang aber nicht erörtert werden. Der große Zustrom an Kriegsgefangenen hatte einige interessante Folgen, die Christengemeinden im südlichen Mesopotamien und Iran entsprangen nämlich dieser Ansiedlung. Ein Teil der Gefangenen fand eine neue Heimat in einer neugegründeten Stadt, die den Namen erhielt »Besser als Antiochia hat Šāpūr (diese gemacht)«. Die Stadt entwickelte sich später zu dem berühmten geistigen Mittelpunkt Gundešāpūr. Von Kriegsgefangenen wurden die Dämme am Karūn bei dem heutigen Tustar und Ahwāz erbaut, von denen noch Überreste erhalten sind. Anzeichen eines vermutlich antiochischen Einflusses lassen sich schließlich auf den Mosaiken von Bišāpūr mit ihren in den Bereich des Dionysoskultes gehörenden Gestalten beobachten. Es existierten zweifellos noch andere Auswirkungen des Zustroms an Gefangenen, doch sind sie nicht so leicht nachzuweisen.26 Zur Erinnerung an seinen großen Sieg ließ Šāpūr mehrere

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riesige Reliefbilder aus dem Fels meißeln, die seinen Triumph über Valerian zeigen. Dieser Sieg muß für die Sassaniden ein denkwürdiges Ereignis gewesen sein, denn er ist in späteren Werken nicht vergessen worden. Wir haben die Kirche und die Kriege Šāpūrs erwähnt und werden uns nun kurz mit der Staatsideologie der Sassaniden befassen. In den Inschriften wird Papak König, Ardašīr dagegen König der Könige von Iran genannt, während sich Šāpūr und alle seine Nachfolger König der Könige von Iran und Nichtiran (Anērān) nennen. Damit war ein deutlicher Anspruch auf die Weltherrschaft ausgesprochen, ein, vielleicht nicht bewußtes, Anknüpfen an das Weltreich der Achämeniden vorgenommen. Die Ablösung lokaler Herrscher durch Angehörige der sassanidischen Königsfamilie beschleunigte den Zentralisierungsprozeß. Das Konzept der Legitimität war fest begründet; überall im Reich brachte man dem Haus des Sasan Ergebenheit entgegen, und nur solche Rebellen hatten eine gewisse Aussicht auf Erfolg, die selber der Sassanidenfamilie angehörten. Der Kronprinz wurde gewöhnlich zum König eines wichtigen Gebietes wie Gīlān und Māzandarān am Kaspischen Meer oder des Ostens ernannt. Die Kušān hatten ihren Besitz erfolgreich gegen parthische Angriffe verteidigt, doch unter Ardašīrs und Šāpūrs Herrschaft wurde Kušānšahr, wie das Reich der Kušān in Šāpūrs großer Inschrift genannt wird, den Sassaniden Untertan. Das Gebiet der Kušān erstreckte sich der Inschrift zufolge von der Ebene Peschawar im heutigen Pakistan bis nach Taschkent in Sowjetisch-Zentralasien und bis zu den Grenzen Kaschgars in Chinesisch-Turkestan, ein riesiges Gebiet, das vielleicht eher nominell als tatsächlich unter der Herrschaft der Kušān gestanden hat. Damit fand die dauernde Bedrohung Irans durch Nomadenvölker vom Nordosten ein Ende, und das machtvolle neue Sassanidenreich konnte die Grenzen des alten Achämenidenreiches im Osten wiederherstellen. Das Wiedererstehen der persischen Macht im Osten, die das lockere parthische Staatsgefüge ablöste, bildete das Fundament für die Durchdringung des östlichen Iran mit westiranischen Kultureinflüssen. Diese sollten sich noch nach dem Untergang des Sassanidenreiches unter der Ägide des Islam auswirken, bis schließlich die neupersische die ältere soghdische, chwarezmische, parthische und baktrische Sprache ersetzte und sich zur vorherrschenden Sprache der gesamten iranischen Welt entwickelte.27 In diesem Zusammenhang sind einige kurze Bemerkungen zur Frage der Aufteilung in Ost- und Westiran angebracht. Ostiran, die heutigen Gebiete östlich der Zentralwüsten Lut und Kavir, war die Heimat der Parther und anderer oben erwähnter iranischer Völker. Hier bei den lokalen Kulturen mit ihren feudalen Herrschaftsformen herrschten starke separatistische Tendenzen. Dieses ausgedehnte Gebiet zu beherrschen und es ihrem vornehmlich im westlichen Iran basierenden Reich einzubeziehen, war für die Sassaniden eine schwierige Aufgabe. So mußten die Streitkräfte aufgeteilt werden; an der Westgrenze kämpften sie gegen die Römer und deren zeitweilige Verbündete, die Alanen im Norden des Kaukasus, und gegen die Armenier, im Osten vor allem gegen nomadische Völker, die aus Zentralasien kamen, und

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gegen die aufrührerischen Kušān. Im 3. Jahrhundert waren die mächtigen Sassanidenkönige fähig, die Ostgrenze zu halten und ihre Herrschaft zu konsolidieren. Die Kriege mit Rom mögen die Perser in der Hoffnung, dauernde Eroberungen zu machen, geführt haben, aber dazu reichten die Kräfte der Sassaniden nicht aus. Die einheimischen Bewohner des Fruchtbaren Halbmonds, Mesopotamiens und Syriens, zogen außerdem wohl kaum die Perser den Römern als Oberherren vor. Das Vakuum, das sich durch die zeitweilige Machtlosigkeit Roms im Nahen Osten gebildet hatte, machten sich Odenath und nach ihm seine Gemahlin Zenobia, die Königin von Palmyra, zunutze. Fast zwölf Jahre lang konnte Palmyra das syrische und mesopotamische Grenzgebiet zwischen den Römern und den Sassaniden behaupten, bis der Kaiser Aurelian Palmyra im Jahr 272 unterwarf. Während dieser Zeit scheint Iran erschöpft oder zumindest mit inneren Angelegenheiten beschäftigt gewesen zu sein. Armenien, das unter der Herrschaft einer Arsakiden-Dynastie stand, blieb weiterhin ein Pfeil in der Flanke der Sassaniden, und hier hörten die Feindseligkeiten tatsächlich niemals auf. Rom erholte sich bald. Als Kaiser Carus in Mesopotamien einmarschierte, konnte er Ktesiphon, ohne großen Widerstand zu finden, einnehmen. Aber der mysteriöse Tod des Kaisers am Ende des Jahres 283 bewog das römische Heer zur Heimkehr. Bahrām II. hatte anscheinend unterdessen gegen eine Empörung seines Bruders im Osten zu kämpfen. Wir besitzen eine vollständige Reihe sassanidischer Münzen, die sich von den älteren parthischen Münzen durch ihre auffällige Flachheit und ihr abweichendes Münzgewicht unterscheiden. Auf diesen Münzen sind die abgebildeten Königshäupter jeweils mit einer bestimmten charakteristischen Krone geschmückt, deren Merkmale es dem Gelehrten ermöglichen, den dargestellten König auf Reliefbildern, Silberschalen und anderen Kunstwerken zu identifizieren.28 Die sassanidische Kunst hat ein eigenes Gepräge und unterscheidet sich von derjenigen der vorhergehenden Zeit. Die Frontalität, Symmetrie und die starre Wiedergabe der menschlichen Gestalt weicht der Darstellung im Profil, und es entsteht der Wunsch, ein Geschehen im Bild festzuhalten. Eine vorherrschende Rolle spielt wie von alters her im Iran die dekorative Kunst. Die Vorliebe der späteren islamischen Kunst für geometrische Muster und stilisierte Blumen- und Pflanzenmotive hat ihre Vorbilder in der sassanidischen Kunst. Die Kontinuität zwischen Werken sassanidischer Kunst und Kunstwerken des frühen Islam ist eindrucksvoller als zwischen denen der Parther und der Sassaniden. Freilich gibt es Übergänge von der parthischen zur sassanidischen Kunst, wie z.B. das Motiv des fliegenden Galopps von den Sassaniden übernommen wird, aber die neue sassanidische Kultur entwickelte einen ausgeprägt eigenen Stil. Die zahlreichen erhaltenen Silberschalen und -becher der Sassaniden aus dem 3. Jahrhundert sowie die Menge der geschnittenen Siegelsteine und anderen Werke der Kleinkunst bezeugen nicht nur die Wandlung, die sich gegenüber der Vergangenheit vollzogen hatte, sondern auch die Prachtliebe und den Reichtum

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der neuen Herrscher. Nach Trinkgelagen pflegte der König seinen Günstlingen silberne Teller und Schalen zu schenken – die Beispiele aus dem 3. Jahrhundert sind wahre Meisterwerke. Die beabsichtigte Wirkung, zu beeindrucken und zu blenden, ist bei diesen Schöpfungen der Hofkunst jedoch immer gegenwärtig. Zusammenfassend können wir sagen, daß das 3. Jahrhundert in gewissem Sinn das Ende der Antike und den Beginn des »Mittelalters« im Iran bezeichnet. Später wirkten sich die Reformen des Kaisers Diokletian auch auf das sassanidische Reich aus, aber die frühen Sassanidenkönige vertrauten auf ihre eigene Kraft, um das Antlitz Irans zu ändern und eine Kultur und Zivilisation zu schaffen, die sich mit der des römischen Reiches durchaus messen konnte. Der Einfluß der Sassaniden sollte sich weit über das Iranische Plateau hinaus auswirken und den Sturz der Sassaniden-Dynastie im 7. Jahrhundert lange Zeit überdauern. Versuch einer Stammtafel der Arsakiden-Könige: 1. Arsakes I. (’ršk) 247–? v. Chr. 2. Tiridates (tyrdt) um?-211 3. Artaban I. (’rtpn) um 211–191 4. Priapatios (prypt) um 191–176 5. Phraates I. (prdh oder prdty) um 176–171 6. Mithridates I. (mtrdt) um 171–138 7. Phraates II. um 138–128 8. Artaban II. um 128–123 9. Mithridates II. um 123–87 10. Gotarzes I. (gwtrz) um 91–80? 11. Orodes I. (wrwd) um?-77 12. Sinatrukes (sntrwk) um 80–69 13. Phraates III. um 69–57 14. Mithridates III. um 57–55 15. Orodes II. um 57–37 16. Phraates IV. um 38–2 17. Tiridates II. um 30–25 18. Phraatakes (prdtk) um 2 v. Chr. – 4 n. Chr. 19. Orodes III. um 4–7 20. Vonones I. (whwnm?) um 7–12 21. Artaban III. um 12–38 22. Tiridates III. um 36 23. Vardanes (wrt’n) um 39–47 24. Gotarzes II. (gwtrz) um 38–51 25. Vonones II. um 51 26. Volagases I. (wlgš) um 51–80 27. Artaban IV. um 80–81 28. Pakores (pkwr?) um 79–115

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29. Oroses um 109–128 30. Volagases II. um 105–147 31. Mithridates IV. um 128–147? 32. Volagases III. um 148–192 33. Volagases IV. um 191–207 34. Volagases V. um 207–227? 35. Artaban V. um 213–226? 36. Artavasdes (’rtwzd) um 226–227? Die Dynastie der Sassaniden: 1. Papak König 208–222? n. Chr. 2. Šāpūr König 222? 3. Ardašīr König der Könige 222?-240 4. Šāpūr I. König der Könige 240–272? 5. Ōhrmizd I. Ardašīr 272–273 6. Bahrām I. 273–276 7. Bahrām II. 276–293 8. Bahrām III. 293 9. Narseh 293–302 10. Ōhrmizd II. 302–309 11. Šāpūr II. 309–379 12. Ardašīr II. 379–383 13. Šāpūr III. 383–388 14. Bahrām IV. 388–399 15. Yezdegird I. 399–421 16. Bahrām V. 421–439 17. Yezdegird II. 439–457 18. Ōhrmizd III. 457–459 19. Pērōz 459–484 20. Valaš 484–488 21. Kavad I. 488–531 22. Zamasp 496–498 23. Chosrau I. 531–579 24. Ōhrmizd IV. 579–590 25. Bahrām Chobin 590–591 26. Chosrau II. 591–628 27. Kavad II. 628 28. Ardašīr III. 628–629 29. Boran 629–630 30. Ōhrmizd V., Chosrau III. 630–632? 31. Yezdegird III. 632–651

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� Abb. 15: Die Kronen der sassanidischen Könige 15. Die Daker im 1. Jahrhundert n. Chr. Die römische Eroberung Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung erreichten die Daker eine neue Epoche ihrer materiellen und geistigen Kultur sowie ihrer gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Überall im Gebiet zwischen Donau und Karpaten wurden die natürlichen Gegebenheiten auf dem technischen Niveau der letzten Phase von La Tène (vgl. Fischer Weltgeschichte, Bd. 1, S. 79 u. 82) ausgenutzt. Der Ackerbau, der gleichermaßen in den Ebenen, auf günstigem hügeligem Terrain und selbst in höheren Lagen im Gebirge getrieben wurde, blieb eine der wichtigsten Unterhaltsquellen der Geten und Daker. Davon zeugen am deutlichsten die Speicher und Silos und die großen, auf der Scheibe gefertigten Tongefäße (pithoi) zur Aufbewahrung von Ackerbauerzeugnissen, die in der Nähe der Wohnstätten oder an eigens für die Speicherung von Vorräten eingerichteten Orten in ihrer Umgebung gefunden worden sind. Daneben bildete die Viehzucht einen wichtigen Teil der Wirtschaft. Was uns aber vor allem die schöpferische Originalität dieses zur großen Völkerfamilie der Thraker gehörigen Volkes deutlich macht, ist die breite Entwicklung des Handwerks. Die uns erhaltenen Beispiele reichen von der Silberschmiedekunst über die Eisenverarbeitung, die uns reiche Funde von Werkzeug und charakteristisch geformten Waffen geliefert hat, bis zum Bau von Wohnungen und Burgen;

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letztere bildeten vielfach zur Verteidigung geeignete Gebäudekomplexe aus behauenen Steinen und gebrannten Ziegeln. Die getisch-dakische Kultur, wie sie sich im 1. Jahrhundert n. Chr. voll herausgebildet hatte, stand, abgesehen von der Rezeption bestimmter Elemente der germanischen und sarmatischen Kultur, die in Zukunft noch näher definiert werden müssen, unter starkem römischem Einfluß. Dessen Ausbreitung ist mit den politischen Veränderungen verknüpft, die sich seit der Regierungszeit des ersten römischen Kaisers im mittleren Donauraum und am Unterlauf der Donau abspielten. In diesem Zeitraum kam die Donau – der heilige Fluß der Geten und Daker – in ihrem ganzen Verlauf unter römische Kontrolle. Die Dobrudscha (Scythia Minor), die unter Augustus’ Regierung von Rom abhängig wurde, bildete im Osten eine für die Sicherung der römischen Herrschaft am Unterlauf der Donau und der Nord- und Westküste des Schwarzen Meeres notwendige Position. Zugleich war sie ein Gebiet, das von den verbündeten pontischen Städten aus intensiv romanisiert wurde. Gegen den Widerstand der ansässigen getischen Bevölkerung und die Einfälle der Geten des rechten Donauufers und der mit Schuppenpanzern bewaffneten Bastarnern und Sarmaten mußten die ersten römischen Kaiser ihre Aufmerksamkeit dem Unterlauf der Donau zuwenden. Die spätere Provinz Mösien schloß auch die Dobrudscha mit ein und dehnte sich bis zur Donaumündung aus. Römische Lager und Kastelle vermehrten sich entlang des ganzen Flußlaufs. Unter Neros Regierung zwischen den Jahren 57 und 67 n. Chr. siedelte der Provinzgouverneur von Mösien, Tiberius Plautus Silvanus Aelianus, wie auf seinem Gedenkstein zu lesen ist, »über 100000 Menschen von jenseits der Donau mit Frauen und Kindern, Königen und Stammesoberhäuptern« auf das rechte Donauufer um. Seine diplomatische Geschicklichkeit und die Rückführung von kriegsgefangenen Verwandten dakischer Stammesfürsten zu ihren Angehörigen, die er durchführte, gewannen die Roxolanen, Bastarner und Daker für die Römer. So gelang es ihm, jenseits des Flusses, wie es weiter auf seinem Gedenkstein heißt, »den Frieden der Provinz zu festigen und weiter auszubreiten«, ohne daß dies die Annexion weiterer Gebiete für die Römer bedeutet hätte. Die Befriedung der Daker war damit freilich alles andere als vollständig. Während des Bürgerkrieges der Jahre 67–69 v. Chr. kam es unter ihnen zu neuen Unruhen, und Tacitus bemerkt (Historien III, 46), daß der siegreich aus dem Bürgerkrieg hervorgegangene Statthalter von Syrien, Mucianus, eine doppelte Invasion der Daker, des »niemals vertrauenswürdigen Volkes«, und der Germanen befürchtete. In der Tat setzte, während das römische Reich am Unterlauf der Donau und in Mösien seine Positionen festigte, die dakische Macht mit ihrem Zentrum im Herzen der Karpaten bei den Bergen von Orăştie ihren Aufschwung fort und dehnte sich südlich des Gebirges, weit im Osten und selbst im Westen des eigentlichen Dakien, aus. Das dakische Volk, im wesentlichen seßhaft und geschützt durch den umgebenden Karpatenbogen, stellte die ernsthafteste

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Bedrohung für die Römer dar. Der Grund dafür lag sowohl in der Kampfkraft des Volkes selbst als auch in der Möglichkeit, andere Stämme in sein Gefolge zu ziehen, darunter nicht nur die Geten, sondern auch die übrigen östlich und westlich benachbarten Völker, wie etwa die Markomannen und die Quaden, die seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. in Böhmen und Mähren seßhaft waren. Diese Möglichkeit eröffnete also die Perspektive auf eine umfassende Koalition von Barbarenstämmen, die, wäre sie zustande gekommen, für das römische Reich eine echte Existenzbedrohung hätte bilden können. Angesichts solcher Überlegungen versteht man erst die ganze Tragweite des erbitterten Kampfes, den die Römer unter Domitian und Trajan in dieser Richtung zu führen hatten, zu dem Zeitpunkt also, als das Schicksal der thrakischen Völker in den Händen des nördlichsten unter ihnen, nämlich in denen der Daker lag. Die dakische Kultur, verwandt mit der der gleichsprachigen Geten, zeigt im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung innerhalb des Rahmens ihrer Eigentümlichkeiten die Züge eines klassischen Stils, den man mit dem Namen ihres Königs Decebalus (86 bis 106) nennen könnte, jenes Mannes, in welchem sich der unbeugsame Wille der Daker zur Verteidigung ihres Landes und ihrer Freiheit gleichsam personifizierte. Zu seiner Zeit standen die Daker an der Schwelle einer in jeder Hinsicht eigenständigen Zivilisation. Überall bestanden befestigte Ansiedlungen, die der alexandrinische Geograph Ptolemaios als Städte (griech. poleis) bezeichnet hat, im ganzen vierzig an der Zahl. Diese Ansiedlungen bildeten Zentren in wirtschaftlicher, militärischer, politischer und religiöser Hinsicht. Den Charakter von einigen haben Ausgrabungen näher bestimmen können. Die wirtschaftliche und militärische Bedeutung vieler solcher Zentren, in denen zugleich das Leben der alten Stammesgruppen (dakisch davae) sich fortsetzte, hat sich durch diese Ausgrabungen erweisen lassen. Sie gibt zugleich einen Hinweis auf die Funktion der »Städte« im Rahmen der großen Stammesvereinigungen und des dakischen Staates auf dem Weg zur inneren Festigung und zu Verbindungen zwischen den einzelnen Gebieten im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung. In dieser Periode trat nämlich die aristokratische Struktur der dakischen Gesellschaft deutlicher in Erscheinung, und die Rolle der Adligen (dakisch tarabostes, lat. pilleati) nahm gegenüber der des Volkes (lat. comati, »Langhaarige«) an Bedeutung zu. Es ist auch anzunehmen, daß Sklaven gehalten wurden, sowohl als Bedienstete in den patriarchalischen Adelsfamilien als auch für den Bau der Festungen, die Sitz der Stammesoberhäupter und zugleich Zufluchtsort für die Bevölkerung der Umgebung waren. Was den »städtischen« Charakter dieser Zentren angeht, muß betont werden, daß »städtisch« hier in dem Sinn zu verstehen ist, den das Wort im griechisch-römischen Altertum stets hatte, d.h. als gemeinsamer Mittelpunkt mehrerer einzelner Gemeinden. Freilich ist nicht zu verkennen, daß sich manche Zentren wirtschaftlicher (lat. fora rerum venalium »Handelsplätze«) und politischer Art in Richtung auf Städte im heutigen Sinn des Worts entwickelten. Eine solche

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Entwicklung ist durch die archäologischen Funde vor allem für die Zeit Decebalus’ nachgewiesen, während derer die städtische Kultur Dakiens in ein neues Stadium ihrer Entwicklung trat. Festungen bestanden ebenfalls in ganz Dakien, sowohl in Transsylvanien als auch jenseits der Karpaten. Ihre Ausdehnung und Bauart weist von Ort zu Ort Verschiedenheiten auf. In diesem Zusammenhang ist die Festung von Tilişca nahe bei Sibiu zu erwähnen. Sie ist mit einem doppelten Gürtel von Abwehrkonstruktionen umgeben: einem Erdwall mit Graben und einer Steinmauer. Der Unterbau der Türme war aus quaderförmig behauenen Steinen nach Art der griechischen emplekton-Bauweise in Form zweier ineinandergesetzter Ringe erbaut, deren Zwischenraum mit Erde und kleineren Steinen ausgefüllt war. Die Verteidigungsmauer bestand aus gebrannten Ziegeln. Eine weitere erwähnenswerte Festung ist Piatra Craivei nördlich von Alba Iulia. Sie liegt auf einem die transsylvanische Ebene beherrschenden Felsen in 1083 m Höhe über dem Meeresspiegel. In Ausgrabungen hat man dort 14 Terrassen, ein Heiligtum und die Burg (lat. arx) identifizieren können; letztere war mit einer »dakischen Mauer« umgeben. In einer Schicht von 1,20 m Dicke hat man hier Reste gefunden, die zeigen, daß der Ort vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert nach der Zeitwende bewohnt gewesen ist. Er ist möglicherweise mit der von Ptolemaios genannten Stadt Apoulon zu identifizieren. Steinerne Mauern sind in Transsylvanien auch in Băniţa, Căpîlna, Covasna usw., östlich der Karpaten im sogenannten Bîtca Doamnei nahe bei Piatra Neamţ und noch an weiteren Orten gefunden worden. Die Befestigungen bestanden vielfach aus einem Erdwall mit Palisaden und Graben, wie das seit der Hallstatt-Epoche (Fischer Weltgeschichte, Bd. 1, S. 79) gebräuchlich war. Was auf dem Gebiet der Verteidigungsbauten aber die Originalität der Daker ausmacht, ist die sogenannte dakische Mauer (murus dacicus). Diese bestand in zwei parallelen Mauern aus behauenen Steinen, die untereinander durch Balken verbunden waren; die Balken waren mit Schwalbenschwänzen in die Steinblöcke eingelassen. Sie unterschied sich auffällig von den Befestigungen der im Umkreis von Dakien ansässigen Kelten. Hier ist zu erwähnen, daß die Reliefs der Trajanssäule zwar die allgemeine Erscheinung der dakischen Festungen, insbesondere ihre Türme, richtig wiedergeben, aber im Detail von einer unvollständigen Kenntnis dieser wichtigen Bauwerke zeugen. Es scheint, daß die Künstler ihre Darstellung nach den heute verlorenen Commentarii Trajans über den dakischen Krieg gearbeitet haben. In dieser Hinsicht haben die archäologischen Grabungen vor allem in den letzten fünfzehn Jahren genauere Informationen zutage gefördert, unter denen die Funde aus den Bergen von Orăştie von besonderem Interesse sind. Hier kann man während des 1. Jahrhunderts eine kontinuierliche Errichtung von Festungen, Kastellen und Wachttürmen beobachten, die den Eindruck eines

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planvollen Komplexes defensiver Einrichtungen im Umkreis der königlichen Residenz von Sarmizegethusa bieten. Diese Verteidigungsbauten befanden sich längs eines in den Mureş mündenden Flusses (in Höhen bis zu 1200 m) in Costeşti, Piatra Roşie, Blidaru sowie im heutigen Grădiştea, wo die Hauptstadt Sarmizegethusa selbst stand. Ihre Architektonik vermittelt mit den Unterbauten für Terrassen an Abhängen in Form »dakischer Mauern« und ihren mit Bollwerken versehenen Abwehrmauern aus gebrannten Ziegeln einen lebhaften Eindruck vom Niveau der dakischen Bautechnik, die nicht nur keltische, sondern auch hellenistisch-griechische und sogar römische Errungenschaften übernommen hatte; zugleich ist die Anordnung der Festungsbauten ein beredtes Zeugnis für das Organisationstalent der dakischen Fürsten, deren ungebrochene Linie bis zu Burebista zurückgeht. Der religiöse Charakter des Zentrums Sarmizegethusa zeigt sich in seinen Heiligtümern mit rundem und rechteckigem Grundriß und mit steinernen Fundamenten oder Säulen; ihre Zahl und Größe bezeugen die wichtige Rolle der Religion im dakischen Staat, wie sie sich auch oft in den Berichten über Taten großer dakischer Priester bei antiken Schriftstellern zeigt. In den Bergen von Orăştie sind Wohnungen in Form von Türmen sowie solche in gewöhnlicher Bauweise gefunden worden. Der Grundriß ist rund oder rechteckig, die Wände bestanden aus Ziegelsteinen oder Holzbalken auf einem steinernen Fundament; für die Dächer wurden vielfach Dachziegel nach hellenistischem Muster verwandt. Die reichen Funde aus den Wohnstätten und Gräbern beweisen den klassischen Charakter der kulturellen Formen zur Zeit Decebalus’. In diesem Zusammenhang ist neben den Gegenständen aus Silber vor allem die in Grădiştea Muncelului gefundene bemalte Keramik mit geometrischem Dekor sowie Pflanzen- und Tierdarstellungen zu nennen, die durch ihre Originalität auffällt. Außerdem weist die Benutzung der Schrift (des lateinischen und griechischen Alphabets) auf den kulturellen Stand des dakisch-getischen Volkes zu dem Zeitpunkt, als es sich auf den letzten Kampf vorbereitete und die römische Herrschaft immer unerbittlicher wurde. Im 1. Jahrhundert nach der Zeitwende erreichte auch die Eisenverarbeitung bei den Dakern ihre Blüte. In den Siedlungen der Berge von Orăştie und andernorts hat man Werkzeug der verschiedensten Art gefunden, darunter Sensen, Sicheln, Hacken, Gartenmesser, Pflugscharen verschiedener Formen, Gerät für die Bearbeitung von Eisen usw.; es haben sich sogar Depots solchen Werkzeugs gefunden, die eingegraben worden sind, als die Römer nach Sarmizegethusa vorstießen. Aus Eisen schmiedeten die dakischen Handwerker jene Waffen, die die Römer fürchten lernen sollten, darunter den gekrümmten Dolch (lat. sica), Schwerter und krumme Säbel (falces), Pfeil- und Lanzenspitzen usw. Auch die Schilde der Daker waren mit Eisenplatten bedeckt, so z.B. ein in Piatra Roşie in den Bergen von Orăştie gefundener, der reich mit Pflanzenmotiven verziert ist und in der Mitte das Bild eines Auerochsen trägt.

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Auch die wirtschaftliche Entwicklung der Daker bildete insofern eine Gefahr für die Römer, als sie jenen ermöglichte, im Schutz ihrer Festungen und ihrer militärischen Schlagkraft ihre Verteidigung noch stärker zu sichern. Zudem steigerte sich diese Schlagkraft angesichts der zunehmenden Bedrohung durch die Römer. Deren Vorstoß erfolgte nämlich nicht nur am Unterlauf der Donau, sondern auch in Richtung auf das Eiserne Tor (durch das die Donau im Banatgebirge fließt) und im mittleren Donauraum, wo die römische Provinz Pannonien eine stark exponierte Stellung im Osten gegen die Daker, im Westen gegen die Germanen zu verteidigen hatte. Zwar hatte Augustus in seinen Res Gestae behauptet, nach seiner Überquerung der Donau die Daker unter die Gewalt der Römer gebracht zu haben. Jene aber fielen während des ganzen 1. Jahrhunderts n. Chr. mit unverminderter Heftigkeit über den zugefrorenen Fluß nach Mösien und sogar nach Pannonien und in das Gebiet der jazygischen Sarmaten ein, die Tiberius wahrscheinlich im Jahr 20 n. Chr. als Verbündete der Römer zwischen Donau und Theiß angesiedelt hatte. Solche wiederholten Einfälle führten unter Domitians Regierung, als auch die Markomannen und Quaden ihren Druck auf die Reichsgrenze im mittleren Donauraum verstärkten, zu einem langen Krieg. Domitian hat damals, entgegen den Behauptungen seiner Feinde, zwar nicht für eine zukünftige Eroberung Dakiens, aber doch für die Festigung der Donaulinie durch konsequente Anwendung der römischen Politik des divide et impera Entscheidendes geleistet, um die doppelte, von den Dakern und Germanen drohende Gefahr abzuwenden. Unter seiner Regierung standen die Daker unter der Führung Decebalus’, Scorylos’ Sohn, dessen literarisches Porträt, wie es Cassius Dio gezeichnet hat, und dessen physische Erscheinung, wie sie auf der Trajanssäule verewigt ist, beispielhaft von der unbeugsamen Energie und den hohen Qualitäten jener Generation der Daker zeugen, die gegen die größten Eroberer des Altertums ihren Entscheidungskampf führte. Nach zwei Schlachten, in denen Oppius Sabinus, der Statthalter von Mösien, und Cornelius Fuscus den Tod fanden, wurden die Daker ihrerseits bei Tapae in Transsylvanien in der Nähe des Eisernen Tors durch den römischen Feldherrn Tettius Iulianus geschlagen. Domitian, der zur gleichen Zeit in Pannonien einen unterlegenen Kampf gegen die Markomannen führte, bot im Jahr 89 den Frieden an. Dieser wurde durch eine von Dieges geführte Gesandtschaft von dakischen Adligen abgeschlossen; Domitian setzte Dieges eigenhändig eine Krone aufs Haupt, Decebalus wurde Verbündeter des römischen Volkes und erhielt von den Römern Subsidien und Handwerker zum Ausbau der Verteidigung seines Landes. Damit erkauften die Römer freien Durchgang durch dakisches Territorium zu einem Zug gegen die Germanen. Freilich war eine solche hybride Lösung im Rahmen des Klientenverhältnisses nicht von Dauer. Das schwere Joch der Römer, das Martial ihnen (VI 76,5) andichtet, trugen die Daker nicht: Decebalus, im Schutz seiner Berge und »erfahren, aus Niederlagen Gewinn zu

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ziehen«, konnte es abschütteln, wann er wollte, und das römische Reich aufs neue in Gefahr stürzen. So unternahm Trajan, um durch Eroberung des Glacisabhangs der Karpatengipfel die Grenze abzusichern und um zugleich in den Besitz der großen Reichtümer des Landes, besonders des Edelmetalls, zu gelangen, die beiden Dakischen Kriege (102–103 und 105–106). Für diese beiden Feldzüge fehlen uns direkte Quellen; für die Einzelheiten müßten wir uns mit den späteren Auszügen aus Cassius Dios Geschichtswerk und die in ihrer historischen Ausdeutung oft unsicheren Darstellungen der Trajanssäule behelfen, wenn nicht die archäologischen Funde von Adamclissi (das Ehrenmal, der Begräbnisaltar, die Grundmauern des Mausoleums und die Ruinen der Stadt Tropaeum Traiani) in der Lage wären, uns über den militärischen Verlauf der Kriege nähere Information zu geben. Trajan hatte im ersten Feldzug nicht nur auf dakischem Gebiet in Tapae und im Süden von Sarmizegethusa (wo die maurische Kavallerie des Lucius Quietus eingesetzt wurde) zu kämpfen, sondern auch im unteren Mösien gegen eine Koalition von dakischen, germanischen und sarmatischen Kriegern ein besonders verlustreiches Treffen auszufechten. Der harte Frieden, der Decebalus aufgezwungen wurde, war nur ein Waffenstillstand, während dessen man sich auf beiden Seiten für den entscheidenden Kampf vorbereitete. Der dakische König versuchte, mit den gleich ihm durch die römische Macht gefährdeten Nachbarvölkern eine Konföderation zu bilden. Unterdessen ließ Trajan, der einen Teil des dakisch-getischen Gebietes im Banat, in Oltenien und in der Walachei annektiert hatte, durch den Architekten Apollodor von Damaskus die Brücke von Drobeta bauen und sammelte große Truppenmassen für einen konzentrischen Angriff auf den Mittelpunkt der dakischen Macht in den Bergen von Orăştie, wo Decebalus die nach den Bestimmungen des Friedens niedergerissenen Festungen neu errichtete.

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� Abb. 16: Metope Nr. 42 des von Trajan in Adamclissi erbauten Monuments. Sie zeigt eine dakische Familie auf einem Räderkarren, der von Rindern gezogen wird. Der Feldzug von 105–106 war nicht von langer Dauer. Viele dakische Stämme unterwarfen sich kampflos, und die Nachbarvölker leisteten den Dakern in ihrem letzten Kampf keine Hilfe. Die königliche Residenz wurde von den Römern erobert, ihre Festungswerke niedergerissen und die Bevölkerung umgesiedelt. Decebalus, von seinen unversöhnlichen Feinden verfolgt, tötete sich mit einem krummen Dolch; seinen Kopf sandte der siegreiche Kaiser nach Rom, wo er (wie der eines hingerichteten Verbrechers) über die gemonische Treppe in den Tiber geworfen wurde. Der dakische Staat, noch vor kurzem auf dem Weg zur Konsolidierung, hörte auf zu existieren. Die Daker, die im römischen Dakien und jenseits seiner Grenzen weiterlebten, wurden romanisiert, ähnlich wie die übrigen thrakischen Völker im Donauraum. Aus ihnen entstand als kräftiger Zweig der östlichen Romanität das rumänische Volk. Außer der Gewinnung eines Glacis für die Sicherheit der Grenze verhalfen die Feldzüge nach Dakien den Römern zu den großen Edelmetallschätzen der dakischen Könige und damit zu einer Gesundung der Staatsfinanzen, in deren Folge mit großem Aufwand Bauten aufgeführt wurden, darunter das Forum des Trajan mit seinen Arkaden, seiner Basilika, seiner Bibliothek und der berühmten Säule, auf der Episoden aus den dakischen Kriegen dargestellt sind. Auch die

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Zahl der Kriegsgefangenen war groß. Für die verbliebene eingeborene Bevölkerung aber begann eine neue Epoche: die der Romanisierung. 16. Die skythisch-sarmatischen Stämme Südosteuropas Die Sarmaten waren eine Vereinigung von Stämmen zentralasiatischen Ursprungs. Wie die Skythen und Kimmerer vor ihnen, lebten die meisten von ihnen als Nomaden und blieben zumeist bis zuletzt dem Hirtendasein treu. Selbst im 1. Jahrhundert n. Chr. lebten diejenigen, die in Dakien eingedrungen waren, wie Strabo berichtet, noch als Nomaden in Filzhütten des asiatischen Typs. Wie die Skythen und Kimmerer waren die Sarmaten Indoeuropäer mit einer iranischen Sprache, von der man glaubt, daß sie dem Skythischen ähnelte. Ihre Geschichte beginnt im 6. Jahrhundert v. Chr., als die Mehrzahl der Stämme langsam durch Asien nach Westen wanderte. Etwa zweihundert Jahre später hatten sie die westlichen Ausläufer des Urals erreicht. Die Roxolanen scheinen zusammen mit den Jazygen, Aorsen und Alanen die Angriffsspitze gebildet zu haben, denn der erste dieser Stämme drängte zur Wolga hin, während die Alanen, die mit den Aorsen ursprünglich aus der Sogdiana gekommen waren, zum Kuban zogen. Dann ließ ihr Vorwärtsdrängen nach. Die Aorsen blieben bis etwa zum Ende der vorchristlichen Periode an der Wolga, bis sie sich dann zum Norden des Asowschen Meeres vorschoben. In diesen Raum müssen sie aber schon früher eingedrungen sein, denn der reiche Novocherkask-Fund aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. am unteren Don ist wahrscheinlich das Grab einer ihrer Königinnen. Es wurde 1869 ausgegraben. Da die Sarmaten in der frühen Phase ihrer Geschichte eine matriarchalische Ordnung besaßen, fand man das Grab ebenso prächtig ausgestattet wie das irgendeines Nomadenkönigs gleichen Ranges. Es barg dreizehn kostbare Gegenstände aus Gold. Die bedeutsamsten darunter sind ein Diadem, ein Halsschmuck, mehrere Armringe und ein winziges Achatfläschchen eines für die Sarmaten charakteristischen Typs; es ist in Gold gefaßt und mit Tiermotiven verziert. Unter den Silbergefäßen sind zwei griechischen Ursprungs; in dem Grab entdeckte man auch eine griechische Terrakottafigurine des Eros. Diese importierten Produkte illustrieren, wie eng die Handelsbeziehungen waren, die die Sarmaten nach skythischem Vorbild damals mit den griechischen Kolonien an der Nordküste des Schwarzen Meeres unterhielten. Wie alle skythisch-sarmatischen Nomaden waren die Aorsen solch glänzende Krieger, daß sowohl Strabo als auch der Han-Kaiser Wu-ti ihre Tapferkeit lobten. Des letzteren Entscheidung, die westliche Seidenstraße einzurichten, verstärkte den Kontakt Chinas mit den eurasischen Nomaden. Unter den Sarmaten waren die Aorsen einer der größeren und unternehmungsfreudigeren Stämme. Im Jahr 66 v. Chr. zählte ihre Armee nach der Aussage Strabos 200 000 Mann, während die der Alanen nur aus 20 000 Soldaten bestand. Trotzdem gelang es den Alanen, die Siraker zu besiegen, die aus Armenien in das Kuban-Becken gekommen

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waren. Schließlich verbanden sich die beiden Stämme und besetzten nicht nur die Ufer des Kuban, sondern auch das Weideland, das sich vom Asowschen Meer bis zum Don erstreckt. Die reichsten der frühen sarmatischen Grabstätten hat man im Kuban gefunden, während die etwas späteren an den Ufern der großen Flüsse Südrußlands und der Ukraine liegen. Die Kuban-Gräber entstammen dem Zeitraum vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. Viele von ihnen wurden von sowjetischen Gelehrten zwischen 1929 und 1937 und wieder von 1946 bis 1949 ausgegraben. Das stattlichste Grab des Flachtyps, das uns bisher bekannt ist, wurde in Ust-Labinska gefunden. Aus ihm wurden große Mengen Schmuck, der meiste aus Bronze, zusammen mit zahlreichen Waffen (Speeren, Schwertern und Speerspitzen) geborgen. An der gleichen Stelle und auf den benachbarten Grabungsplätzen von Zubovskij und Vozdvizhenskaya fand man einige kleine ovalgeformte Tumuli mit Fürstengräbern. Bei all diesen Gräbern führte ein Schacht entweder zu einer einzelnen Grabkammer oder zu einer Kammer, in der Mann und Ehefrau beigesetzt worden waren. Die Grabbeigaben sind ähnlich den in den Flachgräbern gefundenen Gegenständen, es sind aber auch zahlreiche goldene Objekte darunter. Man fand auch sehr viele Waffen; besonders bemerkenswert sind die langen Speere und langen, sehr spitzen Schwerter mit ovalem hölzernem Heft, die sich radikal von den Speeren und Schwertern der Skythen unterscheiden. Die Helme und die im Kampf sowohl vom Reiter als auch vom Pferd getragenen Panzer waren ebenfalls ganz andere als die von den Skythen angefertigten. Wie in skythischer Zeit wurden jedoch auch in der sarmatischen Periode weithin Goldplättchen als Kleiderbesatz benutzt; sie waren jedoch kleiner geworden, und die geometrischen Muster hatten größtenteils die Tiermotive ersetzt, die von den Skythen bevorzugt wurden; selbst wenn eine Tierzeichnung erschien, war das auf dem Plättchen gezeigte Tier, wenn es auch noch skythische Charakteristika trug, verändert und den neuen Ausmaßen der Plättchen angepaßt. Die Alanen waren nur eine Einheit innerhalb der sarmatischen Vereinigung. Die Kultur der Mehrzahl der Stämme in der frühen Phase ihrer Geschichte, d.h. vom 4. bis 2. Jahrhundert v.Chr., wird durch die Ausgrabungen S.I. Rudenkos aus dem Jahr 1916 in einer Gruppe von Prokhorov genannten Ural-Gräbern so gut repräsentiert, daß man dieser Periode sarmatischer Kultur diesen Namen gegeben hat. Das größte Grab dieser Gruppe gehörte einem Häuptling, der in seinem eisernen Kettenpanzer, goldenen Halsband und seinen bronzenen Armreifen beigesetzt wurde. Wie bei den skythischen Begräbnissen hatte man sein Schwert und seine Messer mit goldenem Griff in Reichweite seiner Hände gelegt, und zwei prächtige Gefäße persischer oder zentralasiatischer Arbeit – das eine trägt in Aramäisch die Worte »Becher des Atromitra« – waren unter den Beigaben. Daß diese in einem Grab an der Grenze zwischen Asien und Europa enthalten sind, ist keineswegs erstaunlich, denn die eurasischen Nomaden hatten seit früher Zeit mit ihren östlichen Nachbarn in Beziehung gestanden, und ihre

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Handelsverbindungen hatten sich mit den Jahren verstärkt. Der Aufstieg der Kušān in Zentralasien brachte nach dem westlichen Sibirien griechisch-indische Elemente, die die Basis der Kušānkunst abgaben. Das war besonders bei den Massageten, Vasallen der Kušān, der Fall, die selbst Oberherren vieler benachbarter Sarmaten waren. Diese neuen Einflüsse verdrängten allmählich die sibirisch-skythischen und iranisch-ionischen Elemente, die so lange die sarmatische Kunst inspiriert hatten. Gelehrte haben feste Verbindungen zwischen der Kušān-Tonkunst und derjenigen der Prokhorov- und mittelsarmatischen Periode, d.h. vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr., festgestellt – genau zu der Zeit, wie man interessanterweise bemerken muß, als die Kontakte zwischen den Sarmaten und den griechischen Kolonien an der Nordküste des Schwarzen Meeres am stärksten waren und die Feindschaft mit den Skythen ihren Höhepunkt erreicht hatte. Wenn auch die skythischen Metallarbeiten von weit feinerer Qualität sind, ist bei den Tonwaren das Gegenteil der Fall. Daß die Sarmaten Feueranbeter waren, die ihrer Gottheit Pferde opferten, die Skythen dagegen den Elementen huldigten, sollte vielleicht auch iranischem oder zentralasiatischem Einfluß zugeschrieben werden. Die Sarmaten haben die Tatsache, daß sie sich zu einem Staat mit dem Mittelpunkt des Königtums der Königlichen Skythen in dem jetzigen Südrußland entwickelten, vielleicht der Niederwerfung der Massageten durch die Hunnen im Jahr 175 v. Chr. zu verdanken, denn sie befreite die Sarmaten von den Banden der Abhängigkeit von den Massageten. Jedenfalls nahm die Geschwindigkeit ihrer Eroberungen nach dieser Zeit schnell zu, und sie waren in der Lage, ein Königreich zu gründen, das von ihren Zeitgenossen das der Königlichen Sarmaten genannt wurde. Es besteht jeder Grund zur Annahme, daß die Sarmaten ihre Siege bis zu einem gewissen Grad der Erfindung des Metallsteigbügels verdankten, dem bald die der Sporen folgte – Fortschritte, die man oft den Sarmaten zuschreibt. Während der gesamten Frühphase ihrer Geschichte waren die Sarmaten bei weitem nicht so geschickt im Bogenkampf wie die Skythen. Sie gebrauchten diese Erfindungen dazu, um ihre Armee mit Einheiten schwerer Kavallerie auszurüsten. Verschiedene römische Schriftsteller beschreiben diese Streitmacht und beschäftigen sich mit der Rüstung, mit der Reiter und Tiere gleichermaßen ausgestattet wurden. Sie kannten die Schuppen-, Ring- und Plattenpanzer; die Reiter trugen kegelförmige Helme und hölzerne, lederne oder metallische Schilde und gebrauchten lange Speere und lange, spitze Schwerter aus Bronze oder Eisen mit ovalen Holzheften, die in einem Knauf endeten, der aus einem Halbedelstein wie Onyx oder Achat oder aus Holz mit eingelegtem Gold verfertigt war; ein großer ovaler Halbedelstein war in das Stichblatt eingepaßt. Wie Tacitus sagt, durften nur Mitglieder der Aristokratie in dieser Truppe kämpfen. Die Klassenqualifikation hat vielleicht den Warägerfürsten des Kiewer Reiches als Vorbild gedient, die mit ihren persönlichen Leibwachen ähnlich verfuhren. Die Mehrzahl der sarmatischen Armee bestand aus mobilen

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Bogenschützen, die Lederwams und Ledermütze trugen. Ihre Frauen kämpften zweifellos in dieser Streitmacht und nicht in der schweren Kavallerie; in der frühen Periode ihrer Geschichte erwarteten die Sarmaten, daß ihre Mädchen am Kampf teilnahmen, und verboten ihnen zu heiraten, ehe sie nicht einen Feind im Kampf getötet hatten. Ihre Unternehmungen inspirierten wahrscheinlich die alten griechischen Geschichten über die Amazonen. Als die sarmatische Gesellschaft sich in getrennte soziale Klassen aufspaltete, was mit der Herausbildung der schweren Kavallerieeinheiten zusammengefallen zu sein scheint, begann sich ihre matriarchalische Ordnung in eine patriarchalische mit Häuptlingen zu verwandeln, die allmählich wichtiger wurden als Königinnen und Frauen; diese hörten zweifellos auf, den Männern ebenbürtig zu sein. Die Schaffung der sarmatischen schweren Kavallerie führte zur Entwicklung neuer Kampftechniken; diese erwiesen sich so erfolgreich, daß es allmählich viele größere Mächte ratsam fanden, ihre Armeen in ähnlicher Weise umzubilden. Die Römer gingen schließlich so weil, in die ihre sarmatische Abteilungen aufzunehmen, die in der einheimischen Weise ausgerüstet und beritten waren und die sie dazu ermutigten, in gewohnter Weise zu kämpfen. Bisher war es nicht möglich, die Pferderasse herauszufinden, die die Sarmaten gebrauchten. Rudenkos Ausgrabungen der gefrorenen altaischen Gräber in Pazyryk, die aus der Zeit vom 5. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. datieren, haben erwiesen, daß diese Nomadengruppen sowohl reinrassige Ferghana-Pferde ritten, die die Chinesen über alle anderen schätzten, als auch die ruppigen Mongolenponys. Keine von beiden Rassen scheint mit den Beschreibungen des kleinen, schnellen Typs sarmatischer Pferde übereinzustimmen, auf denen Hadrian so gern ritt, wenn er in den Bergen und Sümpfen der Toskana jagte; von den beiden Pferderassen ist es eher die letztere. Obgleich die schwere sarmatische Reiterei allem überlegen war, was die Skythen besaßen, brauchten die Sarmaten dennoch mehrere Jahrhunderte, ehe sie die Königlichen Skythen aus Südrußland herausdrängen und sie auf die Krim beschränken konnten, während sie ihren eigenen Staat im Bereich des unteren Dnjepr aufbauten. Zu jener Zeit behielten die Sarmaten noch viele Sitten und ideologische wie künstlerische Konventionen skythischen Ursprungs bei. Einige von ihnen besaßen sie von Anbeginn, andere übernahmen sie von den skythischen Häuptlingen, die sie im Verlauf ihres westlichen Vordringens in ihre herrschende Klasse aufgenommen hatten. In ihrer Kunst unterwarfen sie nichtsdestoweniger die skythische Vorliebe für Tiermotive ihrer Freude an geometrischen Mustern und polychromen Effekten, wobei sie die letzteren ebenso durch Emaille- und Glaseinlegearbeiten wie durch den Gebrauch von Cabochonsteinen erzielten. Mit Ausnahme ihrer Kuban-Gräber ähnelten ihre Grabhügel von Anfang an denen der Skythen, wenn auch die Gräber darunter sich von denen der Skythen vollkommen unterschieden. So gruben die Sarmaten, im Gegensatz zu den prächtigen Gräbern, die die Skythen für ihre Häuptlinge anlegten, lediglich einen Schacht, der in ein ovales oder rundes Loch mündete

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und nur gelegentlich mit Binsen ausgelegt war. Die Toten wurden darin, entweder in eine Pelz- oder in eine Lederhaut gewickelt, auf den Boden gelegt, manchmal schob man eine Binsenmatte unter den Körper; Särge oder Bahren scheint man niemals benutzt zu haben. Die Toten wurden manchmal ausgestreckt, manchmal in Hockerstellung beigesetzt und wurden gelegentlich – als Folge des Einflusses, den die angesessene Bevölkerung auf die Sarmaten ausübte – verbrannt. Pferde wurden fast immer mit beigesetzt, aber während bei den Skythen und verwandten Nomaden das ganze Pferd unter dem gleichen Grabhügel wie sein Reiter beerdigt wurde, gaben sich die Sarmaten im allgemeinen damit zufrieden, das Pferdegeschirr in die Grabkammer zu legen, wenn sie auch manchmal, wie in Starobelsk, Hufe und Schädel mit einschlossen. Sarmatische Gebisse haben weniger tiergestaltige Endstücke und Verzierungen als die skythischen, sind aber statt dessen zum Halten der Zügel mit Ringen versehen. Sie sind oft aus Gold oder Silber, und die wenigen Verzierungen haben zumeist die Form von Buckeln oder tragen geometrische Motive. Die Sattel sind hart und mit einem hohen Vorderteil versehen, das im Schwarzmeergebiet zuvor unbekannt war.

� Abb. 17: Diese Goldspange in Form eines skythischen Würdenträgers stellte wahrscheinlich ein griechischer Juwelier her, der im 4. Jahrhundert v. Chr. in Südrußland arbeitete. Er hat darauf getreu und lebendig sowohl die charakteristischen Gesichtszüge der Skythen als auch ihre Tracht festgehalten.

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Diese Vorderseiten waren oft mit Goldblatt überzogen, mit Buckeln, Juwelen und farbigem Glas geschmückt. Ihre polychrome Wirkung ist für die skythisch-sarmatische Kunst charakteristisch, sie wird aber deutlicher, als die Tiermotive skythischen Ursprungs zuerst von geometrischen Mustern und sodann, unter dem Einfluß der Goten, von Vogelformen verdrängt zu werden begannen. Pferdegeschirr wie dieses findet man in den Grabstätten vom 2. Jahrhundert v. Chr. an, die sich über ganz Südrußland bis nach Bulgarien und Transsylvanien erstrecken. Für die Periode sind die winzigen Goldfläschchen mit runden Unterteilen ebenso charakteristisch, die mit Filigran- und Polychromarbeiten verziert sind. Das Vorhandensein von Karneolperlen, Glasanhängern und Glasgefäßen zusammen mit einigen Terra Sigilata- Tonwaren und ägyptischen Skarabäen und Amuletten in vielen Gräbern zeigt an, daß die Sarmaten nicht nur mit den griechischen Kolonisten der Nordküste des Schwarzen Meeres in engem und regelmäßigem Kontakt standen, sondern auch mit der Mittelmeerwelt. Die Gräber enthielten auch oft Spiegel aus einer Silberlegierung mit orientalischen Formen, die mit typisch sarmatischen Mustern verziert sind, daneben Utensilien zur Hanfinhalation, wie die in Pazyryk (Altai) gefundenen, Bronzeund Eisenkessel skythischer Machart, Bronzegegenstände in verschiedenen Ausführungen und Goldplättchen, ähnlich denen, die frühere’ Nomadengenerationen als Kleiderbesatz benutzt hatten. Die in den Gräbern gefundenen Gegenstände spiegeln deutlich die vier Hauptentwicklungsstufen wider, die die Geschichte der Sarmaten durchlief. So haben die Grabstätten aus der ersten Phase ihrer Geschichte, d.h. aus dem 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr., kleine Tumuli und enthalten wenige Gegenstände. In der Prokhorov-Periode, die sich über die nächsten beiden Jahrhunderte erstreckte, zeigen die Gräber, daß viele Sarmaten inzwischen beträchtlichen Reichtum erlangt hatten. Die mittelsarmatische Periode, d.h. der Zeitraum vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr., ist die einer hohen Entwicklungsstufe. Die Gräber aus dieser Zeit offenbaren das Vorhandensein einer Klassengesellschaft, in der feudale Häuptlinge und Barone eine hervorragende Rolle spielten. Die letzte Phase erstreckt sich vom 2. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. Gräber im Wolgograd- Gebiet aus dieser Spätzeit, z.B. die von Kotovaya, Novaya Norka und Shcherbakovka, um nur diese zu nennen, beweisen, daß das alte Leben weiterbestand. Man fand darin polychromen Schmuck, Perlen von der Nordküste des Schwarzen Meeres, Gegenstände zentralasiatischen Ursprungs und, in Shcherbakovka, einen römischen Bronzekessel. Darüber hinaus ist aber auch in der Einführung des Umhangs und der Fibel, die diesen zusammenhielt, der Einfluß der Goten festzustellen. In den späten Beisetzungen des Krimgrabs hat man Malereien gefunden, auf denen Sarmaten in solcher Kleidung abgebildet sind. Gleichzeitig aber führten die Sarmaten unter dem Einfluß der vordringenden Hunnen die Schädeldeformation beim Toten ein.

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Selbst als die Sarmaten in Südrußland allein herrschten, versuchten sie nicht, die Krimskythen zu vernichten. Nach dem Tod des Mithridates Eupator und dem daraus folgenden Zusammenbruch der bosporanischen Dynastie verbanden sie sich statt dessen mit den Thrakern und setzten einen thrakisch-sarmatischen Herrscher auf den bosporanischen Thron. Unter römischem Schutz blieb diese Dynastie bis zum Jahr 332 n. Chr. an der Herrschaft, bis die Goten das Gebiet eroberten und die Dynastie ablösten. Während dieser Vorgänge auf der Krim befanden sich andere Sarmaten, einerseits ein Teil der Alanen und andererseits die Jazygen und Roxolanen, wieder auf dem Vormarsch. Viele Alanen blieben bis zur Periode der großen Wanderungen, in der sie in den Kaukasus zogen, wo sie sich bis zum 9. Jahrhundert in Ossetia niederließen und bis heute als die freundlichen und humorvollen Ossetianer leben, im Kuban-Becken und auf den Weideländern im Norden des Asowschen Meeres; andere lockte es in ferne Länder. Als Pharnakes’, des Sohnes des Mithridates Eupator, Verbündete kämpften sie zusammen mit den Sirakern gegen Rom. Die Nomaden mußten sehr teuer dafür zahlen, denn als Pharnakes starb, mußten sie die römische Oberhoheit anerkennen und ihren Herren hohe Tribute zahlen. Den Alanen gelang es jedoch schnell, ihre Unabhängigkeit wiederzugewinnen. Im Jahr 35 n. Chr. – ebenso wie wiederum in den Jahren 72–73 und 134–135 n. Chr. – versuchten sie, in Parthien und in das römische Kappadokien einzudringen; beides gelang ihnen nicht. Als im Jahr 38 n. Chr. unter Nero Rom den Pontus annektierte, wandten sie sich gegen Mitteleuropa; statt sich aber gegen Rom zu richten, zogen sie nach dem heutigen Polen und Bessarabien, von wo sie schließlich tief nach Europa eindrangen. Doch während des 1. Jahrhunderts n. Chr. kümmerte sich Rom sehr wenig um die einfallenden Alanen oder die auf der Krim lebenden Aorsen und beschränkte sich darauf, im Jahr 49 n. Chr. die Unterstützung der Aorsen für den Kandidaten des bosporanischen Thrones zu erlangen, der die thrakisch-sarmatische Dynastie begründete. Als Verbündete der Krimskythen stellten diese Stämme sowohl im Kaukasus als auch am Don eine echte, wenn auch unausgesprochene, Bedrohung dieses Königreichs dar und bildeten damit, wenn auch nur indirekt, eine Gefahr für Rom. Um das bosporanische Reich vor diesen und den Chersonesos vor den Skythen zu schützen, legten die Römer eine Garnison auf den Chersonesos und bauten eine Linie von Kastellen aus, die sich von Tanais am Don bis Taman erstreckte. Darüber hinaus verbanden sie sich mit den bosporanischen Herrschern zur Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Flotte in diesem Raum. Sie richteten auf dem Chersonesos auch ein reguläres Korps von Dolmetscher-Diplomaten ein und machten diese für alle Verhandlungen mit den Alanen verantwortlich. Damit wollten sie diesen Stamm daran hindern, die griechischen Kolonialstädte zu kontrollieren. In Wirklichkeit schätzten die Nomaden jedoch die griechischen Handwerker und Händler viel zu hoch, als daß sie gewünscht hätten, irgend etwas Derartiges zu tun; statt dessen ließen sie sich in diesen Städten nieder und heirateten oft Griechinnen.

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Für das sarmatische Vordringen nach Mitteleuropa waren weitgehend die Jazygen und Roxolanen verantwortlich. Die Vorhut bildeten die Jazygen, die ihre Weidegründe im Norden des Asowschen Meeres und am unteren Dnjepr und Don verlassen hatten und nach Westen zogen. Einige Forscher halten sie für die Gruppe, die von den Römern die Königlichen Sarmaten genannt wurde. Ihr Entschluß, nach Westen zu ziehen, resultierte vielleicht aus dem Druck, den die Roxolanen auf sie ausübten. Was auch immer der Grund gewesen sein mochte, im 1. Jahrhundert v. Chr. waren sie zum Dnjestr gelangt. Sie waren nicht damit zufrieden, dort zu bleiben; einigen von ihnen gelang es, die Donau zu überqueren, nach Moesia Inferior (Bulgarien) einzudringen und als Verbündete des Mithridates Eupator Rom anzugreifen. Jedoch erst um 50 n. Chr. hatte sich die Mehrzahl derselben zwischen Theiß und Donau niedergelassen. Während die Jazygen über die römischen Grenzen drangen, waren die Roxolanen als Verbündete der Skythen im Kampf gegen die Krimgriechen von dem pontischen General Diophantos besiegt worden und hatten sich ihm in seinem Kampf gegen Rom angeschlossen. Man glaubt, daß ihre Armee 50 000 Mann zählte; da sie aber schlecht diszipliniert und nur leicht bewaffnet war, konnten die römischen Legionäre sie ohne Schwierigkeiten überwinden. Ovid, der im Jahr 8 n. Chr. schrieb, als er in Tomi im Exil lebte, konnte uns eine Schilderung ihrer Erscheinung und Unternehmungen hinterlassen. Um 20 n. Chr. hatten sie die Karpaten überquert und erschienen in der ungarischen Ebene. Bis zum Jahr 62 n. Chr. hatten sie die untere Donau erreicht, wo sie freundliche Beziehungen zu den germanischen Bastarnern und den ansässigen Thrakern und Dakern anknüpften und sie dann zum Aufstand gegen Rom aufwiegelten. Zu dieser Zeit legte Rom großen Wert darauf, die Kontrolle über das Schwarze Meer zu gewinnen. Da die Skythen gerade den Chersonesos belagerten, hielten die Römer es für entscheidend, die Stämme auf dem Balkan zu unterwerfen und im nördlichen Hinterland des Schwarzen Meeres die Ordnung wiederherzustellen. Plautius Silvanus Aelianus übertrug man die Verantwortung für die Operationen in Moesia Inferior. Bis zum Jahr 63 n. Chr. gelang es ihm, die Sarmaten zu unterwerfen. Er konnte 100000 von ihnen über die Donau führen, um sie auf römischem Gebiet anzusiedeln und den Nomadenaufständen im Norden der Donau ein Ende zu setzen. Er ging weiter vor und setzte seine Macht auf der Krim ein, wo es ihm gelang, die Unabhängigkeit des bosporanischen Königs Cotys I. einzuschränken. Möglicherweise setzte er ihn ab oder ließ ihn töten, denn Cotys, der 45–46 n. Chr. auf den Thron gelangt war, kann nach Silvanus’ Sieg nicht mehr an der Macht gewesen sein, da eine aus 62–63 datierende Goldmünze ihn nicht erwähnt und eine Kupfermünze der gleichen Jahre den Kopf Neros trägt. Doch im Jahr 68–69 n- Chr. wurden, wie J.G.C. Anderson bemerkte, bosporanische Münzen mit dem Kopf Thescuporis’, Cotys’ Sohn, zusammen mit den Bildnissen Vespasians und Titus’ geprägt. In seinem leidenschaftlichen Verlangen, sich als größerer Feldherr als Alexander von Makedonien zu bewähren, hatte Nero einen grandiosen Expansionsplan für den

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Osten entwickelt. Nach diesem sollte die Krim als Basis benutzt werden, von der aus den Alanen der Darielpaß abgewonnen werden und die römische Eroberung in den Mittelmeerraum und in die zentralasiatischen Gebiete vorgetragen werden sollte. Neros Nachfolger teilten seine ehrgeizigen Pläne jedoch nicht und zielten viel mehr darauf, die sarmatischen Stämme zu binden als sie niederzuwerfen, und unternahmen darum keine größeren Feldzüge in Osteuropa. Den wahrhaft erstaunlichen Erfolg, mit dem die Nomaden einem so mächtigen Staat wie Rom widerstanden, sollte man vielleicht, wenn auch nur teilweise, der Tatsache zuschreiben, daß diese zu erkennen begannen, daß die Hunnen ihre Siege auf ihrem Zug nach Westen zu einem gewissen Grad der überlegenen Qualität ihrer Bogenwaffe zu verdanken hatten. Sie war einer Armbrust ähnlich, wurde aber durch eine Knocheneinlage verstärkt, die es ihren Bogenschützen erlaubte, schwerere, wenn auch noch, wie in skythischer Zeit, dreiblättrig geformte Pfeilspitzen zu benutzen. Dieser Bogentyp war gegen schwere Kavallerieeinheiten so wirksam, daß die Sarmaten im 2. Jahrhundert n. Chr., als sie mit Rom im entscheidenden Kampf lagen, die letzteren durch berittene Bogenschützen ersetzten, die mit dem hunnischen Bogen ausgerüstet waren, mit dem sie nach parthischer Sitte rückwärts schössen. Auf der Trajanssäule in Rom sind sie abgebildet, wie sie den hunnischen Bogen in dieser Weise gebrauchen, konisch geformte Helme und sarmatische Waffen tragen, ihre Pferde aber ohne die Hilfe von Sporen reiten. Der dankbare Senat ließ Plautius Silvanus für seine Leistungen in einer Inschrift ehren; sein Entschluß, so viele Sarmaten auf das römische Ufer der Donau zu führen, hatte jedoch am Nordufer des Flusses ein Vakuum erzeugt, was zur Folge hatte, daß die wenigen dort verbliebenen Nomaden nach Neros Tod äußerst aufsässig wurden. So vernichteten 67–68 n. Chr. Sarmaten von der Moldau und aus Bessarabien eine römische Kohorte und töteten im folgenden Jahr Fonteius Agrippa, den Statthalter Mösiens. Seinem Nachfolger, Rubrius Gallus, gelang es, die Ordnung wiederherzustellen und an strategisch günstigen Punkten in Mösien eine Reihe von Kastellen zu erbauen; doch ungeachtet des Mangels an römischen Truppen mußten in diesem Raum drei Kohorten gehalten werden. Bald erwiesen selbst sie sich als nicht ausreichend. Im Jahr 82 wurden die Streifzüge und Invasionen der Nomaden so lästig, daß Rom sich dazu entschloß, in Pannonien Frieden und Sicherheit zu erkaufen. Die Atempause wurde dazu genutzt, in der Dobrudscha, wahrscheinlich im Jahr 85, einen Erdwall zu errichten und die Sarmaten dazu anzuhalten, an Trajans Dakerkriegen von 101/102 und 105/106, durch die Dakien zur römischen Provinz wurde, teilzunehmen. Die Sarmaten untergruben nichtsdestoweniger Roms Macht, indem sie sich zeitweise auf die römische Seite schlugen und dann wieder die Donau überquerten und römisches Gebiet plünderten. Im Jahr 93 fand Domitian es erneut notwendig, mit Waffengewalt gegen sie vorzugehen. Er unterwarf sie, aber nur für kurze Zeit. Im Jahr 117 mußte Hadrian Dakien gegen

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einen Zangenangriff verteidigen, der vom Westen durch die Jazygen und vom Osten durch die Roxolanen vorgetragen wurde. Während der folgenden sechzig Jahre lagen die Jazygen in Pannonien im Kampf mit den Römern. Schließlich wurden sie im Jahr 175 von Marcus Aurelius in einer heldenhaften Schlacht besiegt, die auf der zugefrorenen Donau geschlagen wurde. Das vom dankbaren Senat auf dem Kapitol errichtete Standbild des Kaisers steht dort noch heute. Zu Aurelius’ Siegesbeute zählte eine Reihe von Standarten oder Wimpeln, ähnlich den auf der Trajanssäule abgebildeten Feldzeichen. C.V. Trever sagt, daß diese Standarten – wie die von allen skythisch-sarmatischen Stämmen und den Parthern gebrauchten Feldzeichen – aus Streifen gefärbten Stoffs gefertigt wurden, die nur an den Enden zusammengenäht und so geformt waren, daß sie Drachen und Reptilien darstellten. Sie waren an langen Stangen befestigt; wenn sie bewegungslos herabhingen, konnte man sie nicht mit lebenden Tieren verwechseln, aber bei der kleinsten Bewegung oder Brise flatterten die Streifen, füllten sich und raschelten und erzeugten so den Eindruck von wilden lebenden Tieren. Die erbeuteten Standarten müssen den Römern gefallen haben, denn bei der Prozession zu Ehren des Einzugs Kaiser Konstantins in Rom marschierte eine Doppelreihe von Lanzenträgern mit, die Drachen aus Purpurstoffen mit sich führten, die mit Gold und Edelsteinen besetzt waren. Im Jahr 172 hatte Marcus Aurelius durch seinen siegreichen Feldzug in Germanien großen Ruhm geerntet. Zur Feier des Ereignisses hatte man die Münzprägung jenes Jahres mit den Worten »de Germanis« versehen. Seine Erfolge über die Sarmaten verschafften ihm den Titel Sarmaticus und auf den Münzen die Inschrift »de Sarmatis«. Darüber hinaus ermöglichten es ihm die Friedensbedingungen, die er den Sarmaten auferlegte, 5500 Stammesangehörige nach Britannien zu senden, die in dem römischen Kastell von Chester und an dem Hadrianswall in Northumberland dienten. Diese Niederlagen brachen den Kampfgeist der Nomanden jedoch nicht. Während des 3. Jahrhunderts wurde die Mehrzahl der Roxolanen von den Goten und Alanen absorbiert, andere verbanden sich mit den Goten zu Streifzügen in Westeuropa, die Jazygen aber blieben ein eigenständiger und autonomer Stamm, der die Römer als solcher ständig weiter an der Donau belästigte. Bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts hatten sie den Römern gewisse Zugeständnisse abgerungen. Nichtsdestoweniger kam es in den Jahren 236–238 erneut zum Krieg. Diesmal wurden die Jazygen besiegt. Sie erholten sich so weit, daß sie in den Jahren 242 und 252 in Dakien und zwei Jahre später in Pannonien einfallen konnten, wurden von Carus aber 282–283 geschlagen. Selbst in dieser Spätzeit lebten sie noch als Nomaden, beerdigten ihre Toten, wie es ihre Vorfahren getan hatten, in Hügelgräbern in der traditionellen Form (wie in dem wichtigen Grab in Szil, in dem wahrscheinlich ein im Kampf getöteter sarmatischer Fürst beigesetzt wurde), aber mit dem auffallenden Unterschied, daß sie jetzt oft, in der Art der Skythen, einen Streitwagen beigaben, was sie niemals getan hatten, als sie noch in Südrußland lebten.

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Im 4. Jahrhundert unterwarfen die Hunnen die Sarmaten. Die meisten von ihnen töteten sie und assimilierten eine große Zahl der übrigen; einige entkamen aber nach Westen und schlossen sich denen an, die weiterhin den Goten und Hunnen zusetzten, bis, mit dem 6. Jahrhundert, auch sie von der Bühne der Geschichte verschwanden. 17. Die Germanen I. Äusserer Verlauf bis zur Errichtung des Limes Keine Nachricht kennzeichnet die Verhältnisse im römisch besetzten Germanien während der augusteischen Zeit genauer und eindrucksvoller als die Motivierung der Varus-Schlacht bei Cassius Dio: »Die Römer hatten nur einzelne Punkte des Landes in ihrer Gewalt, nicht ein zusammenhängendes Gebiet, sondern wie sie gerade hier und da von ihnen unterworfen waren ... Ihre Truppen überwinterten dort und legten städtische Ansiedlungen an, und die Barbaren wurden zur Ordnung der Römer erzogen: Sie gewöhnten sich an ihre Märkte und hatten friedliche Zusammenkünfte. Aber den Geist der Väter, ihren angeborenen Charakter, ihre selbstherrliche Lebensweise und ihre Freiheit auf Grund ihrer Wehrhaftigkeit hatten sie nicht vergessen. Daher empörten sie sich auch nicht über die Veränderung ihres Lebens, solange sie nur allmählich und gewissermaßen schrittweise ... ihre Eigenart verlernten. Sie merkten ja kaum, daß sich ihr Wesen wandelte. Als aber Quintilius Varus die Statthalterschaft in Germanien übernahm und, während er die Verhältnisse bei ihnen kraft seiner Amtsgewalt zu regeln suchte, danach trachtete, sie auf einmal zu anderen Menschen zu machen, und ihnen Vorschriften gab, als ob sie schon geknechtet wären, und nun gar Geldzahlungen von ihnen wie von Untertanen eintreiben wollte, da war ihre Geduld zu Ende.« Treffend charakterisiert die Stelle den Kulturwandel, der mit der Eroberung einiger Teilgebiete des Landes unter Drusus eingesetzt hatte. In aller Eindeutigkeit wertet sie die Niederlage des Varus 9 n. Chr. als Ergebnis einer verfehlten Besatzungspolitik. Die Aufstandsidee ging nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, von den damals freien Teilen Germaniens aus, sondern vom Kernstück des besetzten Territoriums, wobei den Römern der Zwiespalt der Meinungen bei den führenden Sippen der Völkerschaften, ja innerhalb dieser Sippen selbst, nicht verborgen blieb: Einige standen auf seiten des Eroberers, andere wollten ihre Stellung und ihre guten Beziehungen zu Rom zu hegemonialen Zwecken nutzen. Wieder andere riefen zum Widerstand auf, auch wenn sie vorher in römischen Diensten gestanden hatten und römische Bürger geworden waren. Wie verwickelt die Lage sich gestaltete, kommt wohl am besten im Verhältnis des Arminius, als ständiger Begleiter der Feldherren in Germanien Kollaborateur und für seine Verdienste mit der Würde eines Ritters ausgezeichnet, zu seinem Schwiegervater Segestes zum Ausdruck, einem bei den

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Cheruskern angesehenen Mann, dessen unwandelbare Treue zu Rom und dessen Mißerfolg im eigenen Land die Leser der Berichte jener Tage die ganze Tragik des Geschehens aufs tiefste nachempfinden ließen. Als Drusus 12 v. Chr. den Krieg ins rechtsrheinische Germanien trug, war sein Ziel, die Eroberung und Erkundung des Landes sowie seine Umwandlung in eine römische Provinz, sehr sorgfältig vorbereitet worden. Schon im 2. Jahrzehnt v. Chr. standen die Legionen am Rhein und im Alpenvorland. Dort wurden überall Lager errichtet, um die Truppen zu versorgen und notfalls aufzufangen. Offensiver Geist beseelte natürlich auch die Feldzüge selbst. Im Stil der Zeit führten sie die Truppen auf mehr oder minder begehbaren Straßen in die Zentren des Widerstands, soweit sie vom Rhein aus erreichbar waren. Umfassungsbewegungen größeren Umfangs, wie sie später Tiberius versuchte, wurden damals noch nicht in Gang gesetzt. Denn daß man den Küstenstreifen im Bereich der Chauken von der See her zu unterwerfen gedachte, wobei man sich der Hilfe der Friesen versichert hatte, wird schwerlich in diesem Sinn aufzufassen sein. Unbekannte Länder waren ja seit altersher vom Meer aus erkundet worden, wie dies später militärisch auch Tiberius und Germanicus noch taten. Aber die entscheidenden Operationen waren schon seit 11 v. Chr. auf jene strategisch bedeutenden Straßen konzentriert, welche bis in die Tage des Germanicus (14–16 n. Chr.) als Leitlinien der Offensive nach Osten galten: das Lippetal auf der einen Seite, die Wetterau mit der Niederhessischen Senke auf der anderen. So waren es im Westen zunächst altbekannte Gegner, Usipiter und Tenkterer und auch Sigambrer. Am Main waren zunächst die Markomannen zu beseitigen, deren Name von Ariovists Unternehmungen am Oberrhein noch im Gedächtnis war. Nach ihrer Niederlage, mit der der Feldzug endete, führte Marbod sie nach Böhmen (Fischer Weltgeschichte, Bd. 7). Dann spielten im Kriegsgeschehen die Chatten im Bereich von Fulda, Lahn und Eder eine Rolle. Damals erscheinen sie zum ersten Mal in der Überlieferung. Auf dem Weg zu den nördlich benachbarten Cheruskern, mit denen sie in Feindschaft lebten, blieben sie lange Zeit hindurch eines der wichtigsten Angriffsziele. Es waren dies alles Bevölkerungsgruppen eines Raumes, der sich sprachlich und kulturell erst sehr spät an die Kernräume der Germanen ostwärts der Weser-Aller-Linie angeschlossen hatte (Fischer Weltgeschichte, Bd. 7). Noch im letzten Jahrhundert v. Chr. war er, an ihrer Peripherie gelegen, mit der Welt der Festlandskelten aufs engste verbunden gewesen. Nach Caesars Feldzügen war er wenigstens in Rheinnähe immer wieder von römischen Soldaten betreten worden, von Centurionen, die hier Tribute erheben wollten, dabei aber niedergeschlagen worden waren, und von Truppen, die man zu Strafexpeditionen über die Rheingrenze geschickt hatte. Jetzt galt es, den Anspruch Roms auf das rechtsrheinische Germanien einzulösen. Indessen, so groß auch das Operationsfeld sein mochte – Florus nennt Besatzungen und Wachkommandos von der Maas über die Weser bis zur Elbe –, das gesamte Germanien war damit bei weitem nicht erfaßt. Was ostwärts der Elbe lag, blieb

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noch im Dunkel des Gerüchts, des Fabelhaften. Ein Weib von übermenschlicher Größe, erzählte man, sei Drusus dort entgegengetreten; es habe ihm sein Ende vorausgesagt und ihn zur Umkehr gezwungen (9 v. Chr.), was man später angesichts seines nahen Todes als Stimme der Gottheit auslegte. Als Domitius Ahenobarbus sechs Jahre später die Elbe überschritten und Freundschaftsverträge mit den dort wohnenden Stämmen abgeschlossen hatte, ging dies als bedeutende Tat in die Annalen der Geschichte ein. Man hörte dabei von Hermunduren, die ihre Heimat verlassen hatten, so daß er sie in dem Gebiet am Main ansiedeln konnte, welches die Markomannen räumten, als sie nach Böhmen wanderten. Auf lange Zeit ist das die einzige Nachricht aus diesem Teil Germaniens. Selbst die Germanenkriege des Tiberius (4 und 5 n. Chr.) boten der Annalistik kaum nennenswert Neues, außer einer Flottenexpedition an die Westküste Jütlands und einigen Stammesnamen am Niederrhein, nördlich der Lippe (Brukterer) und an der Niederelbe, wo Langobarden, Semnonen und Hermunduren in den Gesichtskreis der Römer traten. Wirklich neue Bahnen wurden erst beschritten, als sich bei den Markomannen in Böhmen ein Machtzentrum und damit ein Gefahrenherd zu bilden begann, den man unter Kontrolle bringen mußte, wenn man nicht gefährden wollte, was bis dahin gewonnen war: Marbod, so berichtet Velleius, hatte sich der königlichen Gewalt bemächtigt und alle seine Nachbarn unterworfen oder sie durch Verträge von sich abhängig gemacht. »Die Masse derer, die sein Reich schützten und die durch beständige Übung beinahe das feste Gefüge römischer Manneszucht erreicht hatten, brachte er in kurzer Zeit auf eine hervorragende und besorgniserregende Höhe.« 5 n. Chr. sollten die Markomannen unter dem Oberbefehl des Tiberius in einer erstaunlich weiträumig konzipierten Umfassungsbewegung vom Rhein und von der Donau her aufgerieben werden. Fünf Tagesmärsche trennten die Legionen vom Feind, da brach im Rücken der Donaufront ein Aufstand im unterworfenen Pannonien und in Dalmatien aus. Er zwang dazu, die Operationen abzubrechen. Es ist dies praktisch das Ende eines Planes, dem weltgeschichtliche Bedeutung zugekommen wäre, hätte man ihn verwirklichen können. March und Elbe wären zu Grenzen des Reiches geworden, nicht Donau und Rhein. Denn was später, nach der Niederlage der Varianischen Legionen, insbesondere unter der wirren Führung des Germanicus (14–16 n. Chr.) an Versuchen folgte, wenigstens zwischen Rhein und Niederelbe den Herrschaftsanspruch aufrechtzuerhalten, führte zu keinen politisch wirksamen Resultaten mehr. Wir hören von Zerstörungen großen Ausmaßes, von einer Dezimierung der Bevölkerung, die in bestimmten Teilen des Landes groteske Formen angenommen haben muß. Aber an der Gesamtlage ließ sich dadurch nichts mehr ändern, obwohl die Treuebindungen zum Reich, welche die meisten germanischen Völkerschaften dieser Zone vertraglich eingegangen waren, noch weit über die Mitte des Jahrhunderts hinaus Gültigkeit und Wirksamkeit besessen hatten. Die Winterlager und Stützpunkte im rechtsrheinischen Germanien wurden aufgegeben, die Legionen an Rhein und

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Donau zurückgezogen. Dies blieb so bis in die Zeit der Flavier in den siebziger Jahren des 1. Jahrhunderts. Um so bedeutsamer ist der Wandel, der sich während dieser Jahre im Inneren Germaniens vollzog. In erster Linie muß man dabei an Marbods Leistung denken. Es war ihm gelungen, vor allem wohl nach dem Scheitern des Tiberischen Feldzugs, seine Macht nicht nur im eigenen Land zu festigen – der Königstitel machte ihn bei seinen Landsleuten verhaßt –, sondern auch seinen politischen Einfluß zu stärken und auf alle elbgermanischen, aber auch auf ostgermanische Völkerschaften auszudehnen. Semnonen, Langobarden und Lugier gehörten in diesen Verband. Welche Geltung er bei den übrigen Stämmen gewonnen hatte, mag daraus entnommen werden, daß der Kopf des Varus als Trophäe des Sieges nicht bei den Cheruskern aufbewahrt, sondern Marbod übergeben worden war. Welche Ausstrahlungskraft Marbods Reich auch in kultureller Hinsicht hatte, darüber wird noch von archäologischer Seite ein Wort zu sagen sein. Ältere germanische Traditionen mischten sich mit keltischen Errungenschaften, und in der materiellen Ausstattung wie in den kulturellen Ausdrucksformen griff eine Romanisierung um sich, die durch Marketender und Händler aus den römischen Provinzen an Rhein und Donau besonders am Königshof lebhaft gefördert wurde. So entstand im ethnischen Überschichtungsraum Böhmens ein neues eigenartiges Kulturgebilde, das auf die anderen elbsuebischen Gruppen in Mitteldeutschland, in Brandenburg und Mecklenburg sowie am östlichen Niedersachsen tief einzuwirken und sie umzuformen vermochte. Aber dieser Einfluß dauerte nur so lange, wie die römische Besatzungsmacht, in ihrer Andersartigkeit von den meisten als fremd empfunden, das Bewußtsein förderte, zusammenzugehören oder doch wenigstens gemeinsame Interessen zu haben. Kaum waren die Soldaten außer Landes, lockerte sich das Band, das die Einzelstämme zusammenhielt. Arminius war es, der jetzt als Vorkämpfer für die Unabhängigkeit galt. So wandten sich selbst Langobarden und Semnonen gegen Marbods Hegemonie, die ihnen lästig war, weil die Gefahr, die sie bei einer Provinzialisierung für ihre Selbständigkeit fürchten mußten, nun ein für allemal vorüber schien. Sie kämpften in offener Feldschlacht gegen ihn, nach römischem Vorbild, diszipliniert in Reih und Glied. Marbod, angeschlagen und in seinem Ansehen geschwächt, zog sich ins böhmische Gebiet zurück. Ein Jahr später, 18 n. Chr., vertrieb ihn dort ein Landflüchtiger namens Catualda ohne große Mühe – ein Mann, der einst zu den Goten emigriert und nun zurückgekehrt war. Ihn traf indessen bald mit Hilfe der Hermunduren das gleiche Schicksal wie Marbod. Beide gingen außer Landes, ihre Gefolgschaften siedelte man auf dem nördlichen Donaustreifen zwischen March und Waag an und gab ihnen, wie berichtet wird, einen König aus dem Quadenstamm (die erste Erwähnung jener suebischen Völkerschaft, deren älteste Geschichte zwar im dunkeln liegt, die aber zusammen mit den Markomannen lange Zeit hindurch eine ständige Bedrohung für die römische Donaufront bilden sollte).

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Der Quadenkönig Vannius hat sich dreißig Jahre an der Macht gehalten; er war reich an Schätzen, die er durch Raubzüge und Zölle hatte anhäufen können, und er war umgeben von einer Leibgarde, Fußvolk und Reiterei aus sarmatischen Jazygen, die gerade damals von Südrußland her in die ungarische Tiefebene ostwärts der Donau eingedrungen waren; er besaß Burgen, die er bei Gefahr aufzusuchen pflegte. Vannius war auf dem besten Weg zur Despotie. Wie jeder dieser Herrscher, erlag er dann dem Haß und der Mißgunst der Nachbarn und zugleich dem inneren Zwist. Vibilius, König der Hermunduren, wird in den Quellen als Urheber des Umsturzes angegeben, Vangio und Sido, des Vannius’ Neffen, die mit Vibilius im Bund waren, als Erben ihres Oheims. Aber die Ursache für das Interesse, das die Römer diesen Vorgängen entgegenbrachten, lag viel tiefer. Wir hören bei dieser Gelegenheit von Lugiern und anderen Stämmen aus dem ostgermanischen Bereich und auch von Hermunduren, die sich, angelockt von den Reichtümern im Staat des Vannius, auf die Donau zu bewegten und damit auf die Grenze der römischen Provinz Pannonien. Zwar hat die Schlacht, die Vannius um 50 n. Chr. gegen sie verlor – sein Gefolge siedelte man in Pannonien an – das Reich der Quaden nicht zerstört. Doch hat sich der Druck, der von Norden kam und die Donaufront gefährden mußte, im Lauf der Zeit immer mehr verstärkt, zunächst während Domitian mit den Dakern in verlustreiche Kriege verwickelt war und seine westliche Flanke, die er dabei durch Sueben und Sarmaten gefährdet sah, in schweren Kämpfen mit Markomannen und Quaden sichern wollte (89–97). Als dann Dakien unter Trajan erobert und in das Imperium einbezogen war (106) und als man im Lauf des 2. Jahrhunderts auf der linken Donauseite sowie an March und Thaya z.T. sehr weit vorgeschobene Militärstützpunkte errichtet hatte, da wirkten sich auch diese exponierten Bollwerke als Barriere gegen die Völker im Norden aus. Wir kennen die Ursachen nicht, welche die lugischen Völkerschaften gegen die Donausueben in Bewegung gesetzt hatten. Archäologisch läßt sich zeigen, daß das Kulturgebiet, in dem sie siedelten, sich während des späten 1. Jahrhunderts beträchtlich ausgeweitet hat, nach Oberschlesien und zur oberen Weichsel hin und dann vor allem auf Bug und Dnjestr zu. Ob diese Ausweitung auf Wanderungen lugischer Bevölkerungsteile zurückging, ist zur Zeit noch nicht mit Sicherheit zu sagen, obwohl es aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich ist. Aber damit in Verbindung stehen vermutlich jene klarer faßbaren Umgruppierungen, die mit dem Erscheinen der Goten im Bereich der Weichselmündung zusammenhängen werden. Freilich bietet die schriftliche Überlieferung nur geringe Möglichkeiten zu klarerer Einsicht in die Verhältnisse. Das Gebiet zwischen Oder und Weichsel ist eben niemals Kriegsschauplatz gewesen, und was wir an Nachrichten besitzen, sind neben Wandersagen, deren historischen Kern herauszuschälen aus Mangel an Parallelüberlieferungen schwierig ist, stammeskundliche Gliederungsversuche ethnologisch interessierter Historiker von Strabo bis zu Plinius und Tacitus. Allerdings weichen bei ihnen die Stammesbezeichnungen voneinander ab und stimmen

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nicht einmal bei den großen Verbänden überein. Während Tacitus z.B. ebenso wie Ptolemaios von den Lugiern als größerem Stammesverband spricht und ihnen neben unbedeutenderen Gruppen die Harier und Naharnavalen zuteilt, geht Plinius bei seiner Gliederung von den Vandiliern aus, denen in den Charinern wenigstens ein lugischer Stamm anzugehören scheint, wenn er mit den Hariern des Tacitus über die sprachliche Verwandtschaft des Namens hinaus identisch sein sollte. Sonst rechnet Plinius u.a. noch die Burgunder dazu, die nach Ptolemaios ostwärts der Semnonen siedelten, genauso aber auch die Gutonen, die als Goten bei Tacitus und doch wohl auch bei Strabo eine selbständige Gruppe bildeten. In solchen Abweichungen drückt sich wahrscheinlich geschichtliche Entwicklung aus. Einen Hinweis darauf bietet die von Jordanes (551) überlieferte Wandersage der Goten, die nach ihrer Landung zunächst die Rugier, die »das Ufer des Ozeans bewohnten«, vertrieben hätten und im Anschluß daran auch deren Nachbarn, die Wandalen, »die sie schon damals unterwarfen und den von ihnen besiegten Völkern einreihten«. Diese Formulierung sieht zwar bei den andauernden Spannungen zwischen Goten und Wandalen nach historischer Selbstbestätigung aus, aber der Kern der Nachricht wird älter sein und die wirklichen Verhältnisse im neugewonnenen Siedlungsgebiet an der Weichsel widerspiegeln. Ein weiteres Beispiel sind die Silingen. Als der Wandalenname auf alle Bevölkerungsgruppen nördlich der Sudeten ausgedehnt war – kaum vor den Markomannenkriegen im letzten Drittel des 2. Jahrhunderts n. Chr. –, galten sie als Teilstamm der Wandalen. Auf der Karte des Ptolemaios aber, die teilweise sehr alte Quellen verarbeitet zu haben scheint, finden wir sie ohne weitere Zuordnung noch unterhalb der Semnonen, wo sie schwerlich dem lugischen Stammesverband zugeordnet werden können. Wir dürfen also wohl tatsächlich mit gewissen Verschiebungen und auch Änderungen in der Selbstzuordnung der Kleingruppen rechnen, ohne daß diese Vorgänge im einzelnen aufzuhellen wären. Es ist wohl kein Zweifel, daß mit der Ankunft der Goten im Weichselmündungsgebiet und nach dem Zusammenbruch des Markomannenreiches unter Marbod, dem nach Strabo auch die Lugier verbunden waren, die alten Ordnungen sich auflösten und die Einzelstämme sich neu zu gruppieren begannen. Das Ergebnis wird erst im 2. Jahrhundert, im Zeitalter der Markomannenkriege, sichtbar, als Wandalen und Goten als Großverbände unmittelbar in das Blickfeld der römischen Reichsverteidigung rückten. Ein weiterer Unruheherd bildete sich noch während des 1. Jahrhunderts am Niederrhein. Zunächst waren die Rebellionen nach Anlaß und Ausmaß harmloser Natur. Die Friesen, die Rinderhäute als Steuer abzugeben hatten, waren über die Willkür erbittert, mit der der Umfang der Lieferungen festgesetzt wurde; als Maßstab für die Größe der Felle war die Haut eines Auerochsen vorgeschrieben worden. Also rotteten sich die Friesen zusammen, belagerten ein Kastell und brachten den Römern dabei empfindliche Verluste bei (28 n. Chr.).

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Anders ging es mit den Chauken, die unter fremder Führung die gallische Küste geplündert hatten und nun in die Provinz Niedergermanien eingefallen waren. Aber bald nach der Mitte des Jahrhunderts spitzte sich die Lage ernsthaft zu. Veränderungen in der Natur des Landes, insbesondere Überflutungen des Marschenlandes, engten die mehr oder minder extensiv genutzten Siedlungsflächen ein. Die Rheingrenze, die durch zahlreiche Standlager gesichert war, ließ eine Ausdehnung der Küstenstämme nach Westen hin nicht zu. So begannen sich die Verhältnisse im inneren Germanien auf ganz andere Weise am Niederrhein auszuwirken als in älterer Zeit. Tatsächlich hatten die Chauken ihr Siedlungsgebiet auf Kosten der Ampsivarier bis zu den Friesen auszudehnen vermocht, während die Friesen selbst versuchen mußten, zum Rhein hin Raum zu schaffen und u.a. einen Uferstrich zwischen Rhein und Ijssel auf römischem Grenzterritorium zu besetzen (58 n. Chr.). Etwas früher hatten die Chatten Obergermanien geplündert und waren dabei zurückgeworfen worden. All dies zeigt, daß von einer Befriedung Germaniens, von der man wenigstens in Rheinnähe bis in claudische Zeit hatte sprechen können, keine Rede mehr war. Als die Thronwirren nach Neros Tod eine Aufstandswelle auslösten, die das Verhältnis zwischen Rom und den Germanen gründlich änderte, kam das nicht von ungefähr. Sie wurde getragen von den Batavern, einem Teilverband der Chatten, der sich zwischen Altem Rhein und Waal niedergelassen hatte und mehrere Kohorten in den Auxiliartruppen stellte, deren Führung in den Händen des Stammesadels lag. Einer dieser Anführer, Julius Civilis, rief bei günstiger Gelegenheit zum Abfall auf (69–70). Nie war einem Rebellen größerer Erfolg beschieden. Von Köln bis Mainz sahen sich die römischen Soldaten verräterischem Abfall, langandauernder Belagerung, teilweise auch der Vernichtung durch die Barbaren ausgesetzt. Nie auch kämpften so viele germanische Völkerschaften im gleichen Lager: Canninefaten, Friesen, Chauken, dann Chatten und schließlich die altbekannten Usipiter, Tenkterer und Brukterer, selbst die provinzialen Tungrer an der Maas. Aber das Ziel dieser großartigen Bewegung, wie wir vermuten dürfen die Schaffung eines Staatsgebildes beiderseits des Niederrheins einschließlich gewisser Teile der Belgica, also in einem Bereich, der von altersher ethnisch, sprachlich und kulturell einheitliche Züge trug (Fischer Weltgeschichte, Bd. 7), ließ sich offensichtlich trotzdem nicht erreichen. Der Aufstand zerfiel in einzelne Aktionen, die Stabilisierung der Lage durch Vespasian stellte die alten Grenzverhältnisse wieder her. Vespasian war es ferner, der nach solchen Erfahrungen in den siebziger Jahren damit begann, die Reichsgrenze über Rhein und Donau weiter ins freie Germanien vorzuschieben, um sie damit zu verkürzen und um Oberrhein und Donau, die bereits in spättiberisch-claudischer Zeit durch Kastelle gesichert waren, durch den Schwarzwald mit einer Heerstraße zu verbinden. Dies Werk wurde fortgesetzt durch Domitian, dessen Feldzüge gegen die Chatten (85,89) die frühesten Anlagen des Limes im Taunus veranlaßt haben, während südlich

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des Mains entsprechende Sicherungsstationen im Odenwald und auf der Alb errichtet wurden. Das neu gewonnene Land gliederte man als agri decumates der Provinz Obergermanien ein. Weitere Ergänzungen stammen aus der Regierungszeit des Trajan und des Hadrian, bis unter Antoninus Pius in der Mitte des 2. Jahrhunderts jene Linie erreicht war, die vom Rhein nördlich Koblenz in einem Bogen über den Taunuskamm zum Lahnknie bei Gießen führte, von dort zum Main bei Seligenstadt und Miltenberg und in gerader Front zur Rems bei Lorch, um dann im rechten Winkel nach Osten umzubiegen und bei Gunzenhausen die Altmühl und bei Eining die Donau zu erreichen. Dieser Verlauf, dessen sinus zwischen den Provinzen Obergermanien und Rätien strategisch befremdend wirkt, läßt sich nur als Niederschlag älterer Okkupationslinien verstehen, die durch anderweitige Inanspruchnahme des Imperiums gleichsam eingefroren waren. Tatsächlich hat der Limes in seiner endgültigen Gestalt nur drei Generationen lang den Frieden garantiert. Im ersten Drittel des 3. Jahrhunderts war er bereits auf breiter Front von den Germanen durchbrochen worden. II. Besiedlung und Gruppierung Dennoch darf man die Zeit nach Errichtung des Limes und nach der Eroberung Dakiens, nachdem also die Grenzen des Reiches am weitesten nach Osten und Norden vorgeschoben waren, als eine Epoche der Konsolidierung und der Befriedung bezeichnen. Damals galt die Germania des Tacitus, die im ersten Regierungsjahr Trajans erschienen war, als Kodifizierung der damaligen Zustände nach einer sehr bewegten geschichtlichen Entwicklung. Wenn diese Schrift auch in gewissen Partien auf älteren Mitteilungen aufgebaut war, so hatte sie doch auch zeitgenössisches Material verarbeitet und war deshalb in ihren entscheidenden Teilen noch keineswegs veraltet. Nimmt man die archäologischen Quellenzeugnisse hinzu, die den taciteischen Bericht vielfach ergänzen und verbessern, dann haben wir für die Verhältnisse um die Jahrhundertwende die bei anderen Völkern seltene Möglichkeit, einen Querschnitt in einem Zeitpunkt zu legen, als das Werden der einzelnen Völkerschaften als abgeschlossen galt, als sie zusammengewachsen waren zu jenem geschichtlichen Gebilde, dessen innere Einrichtungen sich in aller wünschenswerten Schärfe gegen die Nachbarn an den Grenzen des römischen Imperiums an Rhein und Donau sowie in den Weiten des östlichen und nördlichen Europa absetzen lassen. Über die Limeszone selbst braucht in diesem Zusammenhang nicht gesprochen zu werden, weil die jenseits auf römischem Boden siedelnden Völkerschaften, auch die germanischen, sich der römischen Provinzialkultur angeglichen hatten, in ihr aufgegangen waren. Das trifft auch auf die Bevölkerungsgruppen im Dekumatenland zu. Dort lebten noch während der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts typisch germanisch ausgestattete

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Siedlergruppen, am Oberrhein wie nördlich des Neckars, wo außer dem archäologischen Detail noch die Bezeichnung als Suebi Nicretes (Neckarsueben) auf Inschriften trajanischer Zeit die ethnische Zugehörigkeit und die Herkunft aus dem Elbbereich bestätigt. Südlich der Mittelgebirge liegen die Dinge insofern anders, als hier weder der Limes noch die Donau, wo sie Grenze war, von germanischen Siedlern dieser Periode erreicht worden zu sein scheint. Sie beschränkten sich in ihrer Verbreitung fast ganz auf das Maintal und im böhmischen Kessel auf das System von Eger, Moldau und Elbe. Das Budweiser Becken bietet den südlichsten und zugleich auch isoliertesten Fundplatz mit frühen germanischen Siedlungszeugnissen. Mähren bleibt dagegen bis zum Ende des 1. Jahrhunderts bis auf wenige Spuren um Olmütz noch ohne nennenswerte Funde. Sie häufen sich erst im Weinviertel Niederösterreichs und dann auch ostwärts der March auf slowakischem Boden bis dicht an die Donau, wo wir im Blickfeld der Provinz das Reich des Vannius lokalisieren dürfen. Dieses Gebiet war noch in anderer Weise Grenzbereich. Denn das ungarische Tiefland weiter südostwärts nahm um die Mitte des 1. Jahrhunderts bereits jene sarmatischen Jazygen auf, die aus der Steppenregion des Schwarzmeerraumes nach Westen gekommen waren und deren früheste archäologische Zeugnisse in der weiten Ebene westlich der Theiß aus der Wende zum 2. Jahrhundert stammen. Nordostwärts davon, im Waagtal (Puchóv-Kultur), an der oberen Weichsel und Oder, wo die germanische Siedlung erst am Ende des 1. Jahrhunderts einsetzte, siedelten noch immer Bevölkerungsgruppen autochthoner Art, von denen die Osen und Cotiner die bekanntesten sind; sie waren kulturell den späten Festlandskelten eng verbunden und dann später, auf nicht näher bekannte Art, in den Stammesverband der Lugier einbezogen. So bietet der südlich der Mittelgebirgszone liegende Anteil an der Germania libera, mit Ausnahme von Nordböhmen, auch im 1. Jahrhundert noch kein flächenhaftes Siedlungsbild. Im Westen waren es einige wenige Suebengruppen, die aber nach ihrer Einbeziehung in den Limes bald ihre Eigenart verlernten; anders war es im bayrischen Maintal, wo hermundurische Bevölkerungsteile in kleinen, archäologisch heute noch isolierten Verbänden seßhaft wurden; wieder anders lagen die Dinge im Weichbild der Donaugrenze zwischen March und Waag, wo Quaden zwar unter angestammten Herrschern, aber gleichsam unter Aufsicht der römischen Soldaten und unter ständigem Druck von Norden her als Verbündete der nomadischen Reiterkrieger der Jazygen lebten. Ausstrahlungen des Dakerreiches machten sich, solange es unabhängig blieb (bis 106), bis hin zur March bemerkbar, dann besonders stark im ostslowakischen Theißgebiet und erst recht nördlich des Karpatenbogens in Podolien längs des Dnjestr (Lipica-Kultur), wo auch mit dakischen Siedlungen zu rechnen ist. Dafür, daß nur Daker hier gesiedelt haben, gibt es freilich keinen Anhalt. Aber was sonst an Namen von Völkerschaften in Osteuropa überliefert ist, etwa die Peukiner oder Bastarner und die Veneter (Fischer Weltgeschichte, Bd. 7), läßt sich weder eindeutig lokalisieren noch sicher mit bestimmten archäologischen

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Fundgruppen in Verbindung bringen. Vom mittleren Bug über Pripjat zum Dnjepr war auch im 1. Jahrhundert noch die Sarubinzy-Kultur verbreitet, die man gern für venetisch hielte, bedeutete dieser Name nichts anderes als eine Sammelbezeichnung für die östlichen Nachbarn der Germanen, wobei sein Geltungsbereich nicht stets der gleiche geblieben zu sein braucht. Daß in den Ästiern, den Vorfahren der Pruzzen, ostwärts der Weichselmündung uns baltische Bevölkerung entgegentritt, deren kulturelle Verwandtschaft zu den Germanen, schon von Tacitus bezeugt, auch archäologisch auffällt, gibt der Kette der Grenzvölker wieder einen sicheren Halt. Unklar liegen die Verhältnisse wieder im mittleren Skandinavien, also an der Nordgrenze der Germanenwelt. Nennenswertes germanisches Fundmaterial in der Ausprägung der älteren Kaiserzeit kam nämlich nur auf den Ostseeinseln, in Östergötland und am Oslofjord zutage. Daß es andernorts zurücktritt, mag seinen Grund in dem merklichen Kulturgefälle vom Kontinent nach Nordeuropa haben, das dort überall Verspätungen im Kulturwandel mit sich brachte und das in denjenigen Funden seinen beredtesten Ausdruck gefunden hat, in denen uns vorrömisches Formengut – nach späterer Mode umstilisiert – begegnet. Weite Teile des Inneren, wie etwa die umfangreichen urwaldartig dicht bestockten Felsgebiete Smålands, Upplands, Bohusläns und der küstenferneren norwegischen Bezirke, blieben noch ohne ständige Besiedlung. Ihre Einengung und Durchdringung setzte erst während des 3. und 4. Jahrhunderts ein, um in der Völkerwanderungsperiode und in der Wikingerzeit jenes Stadium bäuerlicher Ausbausiedlungen zu erreichen, das den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergrund der Sagaliteratur gebildet hat. Dennoch wird man wenigstens um den Mälarsee herum schon frühzeitig mit kolonisatorischen Ansätzen rechnen können, wenn man die Suionen, denen Tacitus einen längeren Abschnitt seines Werkes widmete, mit den Svear in Verbindung bringen darf, die später hier nachgewiesen sind. Nördlich der Linie Oslo-Uppsala wird man allerdings, wie für alle älteren Perioden so auch für die römische Kaiserzeit, noch nomadenhafte Lebensformen für sicher halten dürfen. Bis zu einer Europäisierung dieser Zone hat es noch Jahrhunderte gedauert. Gänzlich anderer Art sind die Besiedlungsverhältnisse im Inneren Kontinentalgermaniens. Sieht man von unwegsamen, verkehrsgeographisch abgelegenen und für die Siedlung der damaligen Zeit unbrauchbaren Arealen in der Mittelgebirgszone ab, sieht man ferner ab von Süddeutschland außerhalb des Limes und auch von gewissen Teilgebieten im östlichen Sachsen, in Hinterpommern und im Bereich der Weichsel, dann fällt auf der archäologischen Karte sogleich die je nach Forschungsstand mehr oder weniger kompakte, flächenhafte Besiedlung auf, die Streifen ohne Funde in Gruppen teilen und begrenzen. Vielfach lassen diese Siedlergruppen Ausgleichserscheinungen in der Sachkultur erkennen, die uns unter verkehrsgeographischem Aspekt einleuchtend interpretierbar scheinen, so daß sie als Sozialverbände mit gemeinsamem Marktverkehr definiert worden sind. Einer nordgermanischen

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Gruppe in Skandinavien steht eine Küstengruppe an der Nordsee gegenüber, dieser ein westgermanischer Kreis, der vom Rhein bis zur Saale und vom Weserknie bis zum Main bei Würzburg reicht, ihm eine elbgermanische Gruppe vom östlichen Niedersachsen bis zur Oder und eine ostgermanische zwischen Oder und Weichsel, San und Bug. Natürlich besteht die Frage, welche Völkerschaften sich in diese Gruppen teilten. Darüber läßt sich nach Lage der Dinge kaum je Einigkeit erzielen, weil die Großgliederungen, die in der antiken Literatur mitgeteilt sind, offenbar nach verschiedenen Prinzipien entstanden sind und auch nur Teile Gesamtgermaniens umfassen. Gliederungsmöglichkeiten gab es ja tatsächlich viele, je nach der Bedeutung, die man der Sprache, der Abstammung, der Stammestradition, bestimmten Einrichtungen des sozialen Lebens und des Kultes, vor allem aber auch der häufig wechselnden Selbstzuordnung der Verbände beigemessen hat und heute noch beimißt. Deshalb scheint es nur unter günstigen Überlieferungsbedingungen möglich, den Völkerkatalog antiker Zeit exakt in eine moderne Karte einzutragen und sie dann noch mit den archäologischen Gliederungsversuchen zu kombinieren. Bei vielen Abweichungen und Unsicherheiten im einzelnen dürfte es indessen ziemlich sicher sein, in der Nordseegruppe Friesen und Chauken unterzubringen, nördlich der Elbe auch noch einige jener kleineren, von Tacitus benannten Völkerschaften, die bei Ptolemaios unter den Sachsennamen verzeichnet sind. Zu den Westgermanen zählen dann neben der Brukterer-Tenkterer-Gruppe noch die Chatten, die Cherusker und ein Teil der Hermunduren, zu den Elbgermanen die Langobarden, die Semnonen, ferner neben Hermunduren noch Markomannen und Quaden. Ostgermanen schließlich sind die Lugier (Hasdingen, Silingen usw.), die Rugier, die Burgunder und die Goten. III. Innere Verhältnisse Alle diese Gruppen unterscheiden sich, wie schon in Band 7 der Fischer Weltgeschichte geschildert, nach Herkommen, Umfang und äußerem Erscheinungsbild. Ein Querschnitt für die Regierungszeit des Augustus zeigt das insofern besonders klar, als die Impulse, die damals vom Rhein und von der Donau ausgingen, die Einzelgruppen in den mannigfaltigsten Ausdrucksformen und den unterschiedlichsten Entwicklungsstadien trafen. Die relative Einheitlichkeit in der Sachkultur, die sie auslösten, beschränkte sich freilich zunächst noch auf den Einflußbereich des Markomannenkönigs Marbod, dessen politisches Wirken die Voraussetzung dafür geschaffen hatte, also auf die Elbsueben zwischen Lüneburger Ilmenau und Oder und auf die lugischen Ostgermanen in Mittelschlesien und im Warthebogen. Ziemlich peripher lagen damals noch das Weichselmündungsgebiet, der Bereich um die Elbmündung sowie Fünen und gewisse Teile Jütlands. Begreiflicherweise wichen die

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Reaktionen auf diesen römisch-markomannischen Kulturstrom je nach der Kraft der eigenen Tradition und je nach der Entfernung vom Zentrum solcher Strahlungen in vielen Einzelheiten voneinander ab, namentlich dann, wenn die Besonderheiten der Landesnatur selbständige Lösungen in Wirtschaft, Siedlung und Sozialaufbau verlangten, genausogut aber auch im religiösen Leben, z.B. in der Sitte, den Toten bei der Bestattung Beigaben ins Grab zu legen. Indessen, Tracht, Ausrüstung für Roß und Reiter, Bewaffnung, Zusammensetzung des Tafelgeschirrs, vielfach kostbares Importgut aus römischem Besitz, dann auch Totenbehandlung und Grabausstattung bei der sozial gehobenen Schicht präsentieren sich erstaunlich gleichartig über die Grenzen der Gruppen und Völkerschaften hinweg. Träger solchen Wandels wird demnach größtenteils der Adel gewesen sein, und man darf annehmen, daß die Weite der Verbindungen, die seine Sachkultur verrät, in gewissem Umfang ihm selbst eigentümlich war. Viele Teilgebiete Germaniens blieben davon in diesem Anfangsstadium noch unberührt, Skandinavien, Hinterpommern, der Weichselbogen und ganz Westdeutschland zwischen Rhein und Aller. Aber schon in der Mitte und besonders in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts setzte sich Germanisches im römerzeitlichen Gewand auch hier durch, bis es schließlich im 2. Jahrhundert zwischen Limeszug und Weichsel und bis hin zum Oslofjord in Stil und Formenwelt einheitlich ausgeprägt verbreitet ist. Welche Faktoren und wie sie bei diesem Vorgang wirksam waren, entzieht sich beim heutigen Forschungsstand noch unserer Kenntnis. Vom Lebensgefüge der damaligen Zeit wissen wir noch viel zu wenig. Das trifft bereits auf seine Grundlagen wie Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaftsordnung zu. Wenn etwa in einigen Teilgebieten der norddeutschen Tiefebene Siedlungsbewegungen um Christi Geburt bemerkbar werden, die einerseits zur Besiedlung der Marschenzone ostwärts der Weser führten, andererseits zur Inbesitznahme größerer Areale im Jungmoränenland, wo andere, heute ertragreichere Bodentypen verbreitet sind als im vorgelagerten Sanderstreifen, ist ganz unklar, ob beide Erscheinungen zusammenhängen. Das gilt ferner für die Frage, aus welchen Gründen und auf welche Art und Weise diese und andere Räume damals neu besiedelt, altbesiedelte dagegen aufgegeben wurden. Man hat das gelegentlich mit Wanderungen einzelner Stämme in Zusammenhang gebracht, aber dabei vergessen, daß die Mobilität im Siedlungswesen, die in der geringen Stabilität der politischen Verbände eine Parallele findet, typisch für prähistorische Verhältnisse zu sein scheint und sich auch während der ersten Jahrhunderte n. Chr. gegenüber der vorrömischen Eisenzeit (Fischer Weltgeschichte, Bd. 7) gewiß nicht abgeschwächt erweist. Im Normalfall haben wir es noch immer mit Weilern oder mit Gruppensiedlungen zu tun, die innerhalb der einmal gerodeten Flächen, innerhalb der Siedlungskammern von Zeit zu Zeit den Standort wechselten. Wie das im einzelnen vor sich ging und ob dabei Änderungen in den Beziehungen

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der einzelnen Wohngemeinschaften eintreten konnten, läßt sich gegenwärtig noch nicht beurteilen, weil die archäologische Erforschung solcher Kammern noch unvollständig ist. Von sozialen Unterschieden in solchen Siedlungen sagen die meisten der bisher bekannten Befunde für die ersten beiden Jahrhunderte noch nichts. Daß das Ansehen einzelner Familien und Personen höher eingeschätzt wurde als das anderer, versteht sich von selbst. Aber im allgemeinen hatten sich starre Klassen bei der Kurzlebigkeit und bei dem geringen Umfang und lockeren Zusammenhalt der Siedlungen wohl gar nicht erst entwickeln können. Klassenbildung nach Besitz ist selbst dort kaum zu beobachten, wo die Niederlassungen, aus welchen Gründen immer, über Generationen konstant geblieben waren. Entweder bot hier die verschiedene Zusammensetzung der Einwohnerschaft nach der Produktionsart keinen Ansatzpunkt dafür, oder man siedelte bei vorwiegend bäuerlicher Lebensweise in einzeln liegenden Großgehöften, deren Selbständigkeit dann auch durch eigene Friedhöfe betont wird. Die Wohngebäude wurden in solchen Fällen in dem Maß vergrößert und vermehrt, wie es der Bevölkerungszuwachs erforderte. Andere Lösungen fand man auf den Wurten im Marschenland, wo Tierhaltung eine größere Rolle gespielt haben mag als Ackerbau. Reiche und ärmere Wirtschaftsbetriebe, Kätner mit Hausfleiß (Kammherstellung) und eine ortsansässige, wohlhabende Familie in der Funktion als Dorfstarost, das ist der Aufbau, wie er uns heute in einer solchen Großwurt mit mehr als dreißig Hofplätzen entgegentritt. Es lohnt sich, auf dieses Beispiel noch ein wenig genauer einzugehen. Denn die Veränderungen, die im Verlauf des 2. Jahrhunderts hier im Bebauungsplan und im Verhältnis der Hofstellen zueinander einsetzten, spiegeln im lokalen Rahmen und in spezieller Form eine Entwicklung wider, die ganz Germanien in dieser Zeit betraf. In den Anfangs Stadien der Wurt waren jeweils mehrere Wirtschaftsbetriebe von einem gemeinsamen Zaun oder Graben umgeben und dadurch als Einheit gekennzeichnet. Solche Einheiten bestanden aus verschieden vielen Wirtschaften, die wieder nach Größe und Ausstattung beträchtlich voneinander abwichen. Allmählich lösten sie sich aus den Verbänden und erlangten, als die Einzelwurten zu einer Großwurt zusammengewachsen waren, Selbständigkeit, wie der Zaun anzeigen mag, der sie nun vielfach einzeln umschloß. In irgendeiner Weise muß diese Auflösung größerer Gruppen mit der Geschichte des Starostenhofes zusammenhängen, der im 2. Jahrhundert neben einigen weiteren Wohnstallhäusern noch ein Hallenhaus erhielt, das allein zu Wohnzwecken eingerichtet war. Bald wurde es vergrößert, und neben die landwirtschaftlichen Nutzbauten traten jetzt auch Werkstätten für Eisengewinnung und Bronzeguß. Im 3. Jahrhundert konzentrierte man sie auf einer Wurterweiterung, verlagerte sie also aus dem Wohnbezirk des Herrenhofes an seine Peripherie. Die Wurt war in ihrer inneren Organisationsform zu einem komplizierten Gemeinwesen geworden: ein Herrenhof, dessen Bewohner aus besonders alter, ortsansässiger Familie stammten, wie aus der Konstanz des

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Hofplatzes hervorzugehen scheint, natürlich landwirtschaftlich orientiert, aber auch mit den Mitteln zur Produktion von Metallgerät ausgestattet und schließlich mit bestimmten Aufgaben im Gemeindeleben betraut; zahlreiche abhängige oder unabhängige bäuerliche Betriebe verschiedener Größe; schließlich Kätner, die zwar an der Kleintierherde des Dorfes teilhatten, sich sonst aber auf andere Art als mit Tierhaltung beschäftigen mußten, mit Fischfang, mit Kleingewerbe und vermutlich auch mit Dienstleistungen in der Nachbarschaft und auf dem Herrenhof. Die Entwicklung, die in solcher Ausgliederung führender Familien innerhalb des Dorfes zum Ausdruck kommt, mag in der vorliegenden Form auf Großsiedlungen von langer Siedlungsdauer im Marschenraum beschränkt gewesen sein. Aber sie ist doch auch wieder insofern typisch, als solche Herrenhöfe uns noch andernorts, am frühesten im Vorfeld der römischen Reichsgrenze am Niederrhein und etwas später, während des 3. und 4. Jahrhunderts, auch im inneren Germanien begegnen. So stehen in einem Fall einem mit Graben und Palisade umgebenen Großhof drei kleinere, ebenfalls eingezäunte Wohnstallhäuser gegenüber, in einiger Entfernung aber auf eingezäuntem Areal ein Langbau ohne Stall, eine Halle mit Hochsitz und weiteren Einzelheiten, die dem Gebäude eine Sonderstellung in dem Weiler sichern. Auf einem anderen Fundplatz war der Wohnteil eines mächtigen, 43 Meter langen Wohnstallhauses zu einer weiträumigen Halle umgestaltet worden, die wieder mit einem Hochsitz ausgestattet war, unter dem überdies ein Münzschatz beträchtlichen Umfanges zum Vorschein kam. Daneben gab es hier noch eine ganze Reihe kleinerer Bauten, so daß man den Eindruck eines Gutshofes, nicht den einer Siedlung aus selbständigen Gehöften gewinnt, wie man sie im Gegensatz dazu in den Langbauten der Dauersiedlungen (s.o.S. 304) erblicken darf. Die Differenzierung im Gesellschaftsaufbau, der vielleicht in dem geschilderten dörflichen Gliederungsprozeß, sicher aber in der Entstehung des Herrenhofes als Siedlungstypus zum Ausdruck kommt, ging offenbar nicht allein von wirtschaftlichen Wandlungen aus. Ausschlaggebend waren vielmehr ethnische Überschichtungen nach der Übersiedlung in fremde Länder (Marbod) und der Kontakt mit dem römischen Imperium. Er hatte sich nach dessen Vorrücken an Rhein und Donau und dann vor allem in der Limeszeit intensiviert. Die Dienste, die Angehörige des germanischen Adels für das römische Militär seit Marbods Generation leisteten, hatten ihn noch wirksamer gemacht. Kontakt mit Hochkulturen hatte im barbarischen Bereich ja schon häufiger führenden Familien zu einer besonderen Stellung verholfen. Streben nach Repräsentation, Entlehnung eindrucksvoller Attitüden, dadurch Gemeinsamkeiten in den für entscheidend gehaltenen Ausdrucksformen über stammliche Grenzen hinaus, bewußtes Abrücken vom Durchschnittlichen, alle diese Züge haben in den Bodenfunden solcher Zeiten greifbaren Niederschlag gefunden, in der Siedlungsform genausogut wie im Bestattungszeremoniell, über

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das noch zu sprechen ist. Das trifft auf die Kelten und Daker ebenso zu, wie es für die Germanen gilt. Sie sind zwar in ihrer Auseinandersetzung mit der mediterranen Hochkultur verschiedene Wege gegangen und haben auch einen sehr verschiedenen Grad der Angleichung erreicht, aber im gesellschaftlichen Leben und in der politischen Betätigung der führenden Familien stimmen sie im Wesentlichen überein: in der Rivalität der Clane, die, bemüht um Einfluß an der Spitze der politischen Verbände, in langwierigste Fehden verwickelt waren; in der Einrichtung eines Anhangs abhängiger Leute und einer Gefolgschaft Freier für den Waffendienst in Krieg und Beutezügen und standesgemäßes Auftreten derer, die über die nötigen Mittel für solch kostspielige Steigerung des Ansehens verfügten. Aus den vornehmen Familien des Landes, die nach archäologischem Befund und literarischem Beleg über weitreichende Beziehungen durch Heirat, Adoption und Gastgeschenk verfügten, gingen jene Anführer hervor, die ihr Glück im römischen Militärdienst machten und nach ihrer Rückkehr in der Heimat oder bei fremden Stämmen lohnende Betätigung suchten. Beispiele sind Marbod und Arminius, Cruptorix im Friesenaufstand, der Canninefate Gannascus bei den Chauken und Julius Civilis bei den Batavern. Sie alle verschafften sich die Mittel, um ihre Ziele zu erreichen, sie geboten über Leute, die sich ihnen in Gefolgschaften verbunden fühlten und denen man einen ihrer Bedeutung entsprechenden Sonderstatus gab, wenn sie ihren Herrn verloren (Marbod, Catualda, Vannius u.a.). Daß sie zu Grundbesitzern wurden, hören wir aus den zeitgenössischen Berichten: Cruptorix besaß ein Gehöft, Civilis Güter (agri) und Gutshöfe (villae). Wir denken dabei an die beschriebenen Weiler mit Halle, genauso aber auch an die Villenbezirke in der Provinz. Es kann schließlich kein Zweifel bestehen, daß diese Schicht es war, aus der die Führungsgruppe für den politischen Verband, die Völkerschaft, erwuchs, sei es in einer Art Prinzipatsverfassung, sei es in der Form der Monarchie, und daß es dieser Adel war, aus dem die Heerkönige der Spätzeit hervorgegangen sind. Aber das sind Entwicklungsstadien, die hier noch nicht zur Diskussion stehen. Wie sich der Gesellschaftsaufbau der Germanen wenigstens in seinen Grundzügen in den zeitgenössischen Siedlungstypen spiegelt, so hat er auch im Bestattungsbrauch seinen Niederschlag gefunden. Auf welche Weise der Adel seine Mitglieder bestattet hat, wurde bereits angedeutet: nicht wie üblich in großen Urnenfeldern, sondern häufig unverbrannt in kleinen, separat gelegenen Gräbergruppen; fast immer ohne Waffen in den Männergräbern, höchstens mit Reitzeug, Schere und Messer ausgestattet; neben Zubehör der Tracht (Gürtelteile und Fibeln) noch Trinkgeschirr für Bier- und Weingenuß, Trinkhörner und Behälter aus Ton, Metall und Glas; das Metall- und Glasgeschirr vorwiegend aus römischem Besitz und nach römischem Gebrauch geordnet; schließlich außer Schmuck, Ringen für Hals und Arm, Perlenketten und Berlocken, noch Brettspielzubehör, überwiegend Spielsteine. So einheitlich solch fürstliche Ausstattung über große Entfernungen hin verbreitet ist, so unterschiedlich

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verteilt sie sich geographisch in den einzelnen Perioden, so daß kein einziger Fundplatz, ja nicht einmal eine ganze Landschaft die Gesamtdauer derartigen Brauchtums lückenlos umfassen kann. Das zeigt, wie traditionslos es war, aber es deutet auch auf geringe Stabilität in der Führungsrolle des Adels hin und belegt, daß die Repräsentationsformen, die er hier zeitweilig gefunden hatte, in ihrer Haltbarkeit noch von ganz anderen Faktoren abhängig gewesen sind, von der Art und Eindringlichkeit des Kulturkontaktes ebenso wie von der Bereitschaft, Kulturgüter aus der Fremde zu entlehnen. Von diesen allgemeinen Kennzeichen abgesehen, bieten die Adelsgräber noch einen spezielleren Aspekt. Nach der Qualität und nach dem handwerklichen Niveau der Beigaben zu urteilen, müssen sie von technisch versierten Handwerkern hergestellt worden sein. Da sie mit fortschreitender Entwicklung immer ausgeprägter landschaftlich begrenzte Besonderheiten erkennen lassen, werden diese Handwerker wahrscheinlich doch wohl in einem Dienstverhältnis zu den Auftraggebern gestanden haben, bei denen sich Reichtümer angesammelt hatten. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß man seit dem 3. Jahrhundert von Hofkunst sprechen dürfe, deren Ausdrucksmittel den Stil der ganzen Epoche hätten prägen können. Tatsächlich gingen von den Leistungen solcher Werkstätten, die man sich an den Adelshöfen lokalisiert vorstellen mag, kräftige Impulse aus. Entlehnungen aus der antiken Kunst haben damals ihr Repertoire in Motiv und Technik bedeutend erweitert. Neben vegetabiles Ornament und Tierbild trat nun auch der Mensch in den Motivschatz ein. Zwar war künstlerische Betätigung noch immer an Gebrauchsgut gebunden, aber ihre Aussage bot von jetzt an Besonderes und war auf den Auftraggeber zugeschnitten. So kennzeichnete sie den einzelnen und seine Gruppe ähnlich symbolhaft wie Herrenhof und Adelsgrab. Wenn gleichzeitig Buchstabenschrift (Runen) für die Anbringung von Personennamen und von Zauberworten verwendet wird, unter deren persönlichen Schutz sich die Benutzer stellen wollten, dann zeigt diese neuartige Ausdrucksform, daß der Mensch in dieser Zeit sich auch geistig gewandelt hatte. Während die Adelsgräber über weite Gebiete hin einheitlich angelegt und ausgestattet wurden, weichen die größeren Nekropolen des Volkes, meist Urnenfelder, in Einzelheiten des Ritus’ beträchtlich voneinander ab. Diese regionale Mannigfaltigkeit deutet an, daß die Traditionsgemeinschaften, als die uns die Siedlungsgruppen hier entgegentreten, nur einen lokalen Geltungsbereich besessen haben dürften. Von dem, was sie für die Rekonstruktion der Gesellschaftsordnung sonst zu bieten haben, interessiert hier vor allem die Bewaffnung. Zwar ist die Überlieferung hier besonders lückenhaft und ungleichmäßig, da die Mitgabe von Waffen ins Grab nur zeitweise und nicht überall üblich war. Aber da es bei der Zusammensetzung der Waffen typische Gruppen gibt, die auch in einem bestimmten Zahlenverhältnis zueinander stehen, läßt sich wenigstens sagen, daß nicht jeder Krieger auf die gleiche Art bewaffnet war. Daraus kann man für Truppenaufbau und Kampfesweise

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Schlüsse ziehen. Am häufigsten müssen demnach die Lanzenträger gewesen sein, dann folgen Krieger, die außer der Lanze auch einen Schild getragen haben, und ihnen schließlich die Vollbewaffneten mit Lanze, Schild und Schwert. Nur vereinzelt begegnet bei den Schwertkriegern auch der Reitersporn, der sonst noch gelegentlich allein auftritt, aber ebensowenig wie das Schwert in jedem Männergräberfeld. Im archäologischen Befund charakterisiert er dieser Isolierung wegen eine besondere Personengruppe. Da Reitzeug auch in den waffenlosen Adelsgräbern vorkommt, wird man diese Toten in der Rangfolge zur Spitze zählen dürfen, zu einer Gruppe, deren Kennzeichen im Bestattungsritual nicht unbedingt die Waffe war. Die Sonderstellung, die der Reiter wenigstens anfänglich noch innegehabt zu haben scheint, hat in den zeitgenössischen Schlachtschilderungen ihren Niederschlag gefunden: Im ersten Treffen, an der Spitze des Stoßkeils, focht eine Elite, die zur Hälfte aus Reitern und ihnen beigesellten Fußsoldaten bestand. Außer mit dem leichten Speer, der die Schlacht eröffnete, kämpften die Reiter mit der Lanze und, falls diese verlorenging und durch den begleitenden Knappen nicht ersetzt werden konnte, im Handgemenge mit dem Kurzschwert. Später hat dann die Nachbarschaft iranischer Reitervölker (Jazygen, Roxolanen und Alanen) zur Aufstellung selbständig operierender berittener Kontingente, ja teilweise zu einer »Verreiterung« der Heere geführt. Ihre Waffen und Feldzeichen glichen sich dem iranischen Vorbild an (Stoßlanze, Bogen, Panzer, Drachenfahne). Aber auch in diesen Fällen kann wohl kein Zweifel bestehen, daß der Dienst in einer solchen Reitertruppe vorwiegend Sache des Adels blieb. Wie stark der germanische Adel auch vom geistigen Inhalt reiterlicher Lebensart erfaßt war, lehren eindrucksvoll die Verhältnisse in der Völkerwanderungszeit. Wie für den Reiter, so war auch für den Fußsoldaten die Lanze die Hauptwaffe. Deshalb ist sie in den Funden auch am häufigsten vertreten. Vielfach, aber doch nicht immer durch einen Schild geschützt, dessen Buckelspitze im Nahkampf gefährlich werden konnte, mußte er in geschlossenem Haufen kämpfen, wollte er sich nicht hilflos der Gnade der Feinde ausliefern, wenn seine Lanze verlorenging. So trugen manche, bestenfalls ein Viertel aller Kämpfer, noch ein Schwert. In Anlehnung an den Gladius der Römer war es für den Nahkampf möglichst kurz gehalten. Mit langen Hiebschwertern, wie sie noch in der vorrömischen Zeit für den Einzelkampf gebräuchlich waren, hätte man sich in geschlossenen Haufen nicht entfalten können. Nicht mehr der Einzelkampf, nur der Kampf der Truppe hatte gegen die taktisch geschulten römischen Soldaten Aussicht auf Erfolg. Noch zu Varus’ Zeit schien es notwendig, ihnen aus dem Hinterhalt aufzulauern; von einer Schlachtordnung konnte keine Rede sein. Aber schon als die Semnonen und Langobarden gegen Marbod kämpften, standen sich die Heere geordnet gegenüber, diszipliniert in Reih und Glied. Dies Ordnungsprinzip ließe sich bei näherer Untersuchung noch verfeinern, auch nach landschaftlichen Besonderheiten, die selbst innerhalb von

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Stammesarealen aufzutreten pflegen. Aber es ist ganz klar, daß die Heerhaufen, zu denen sich die Bewaffneten zusammentaten, sich nicht aus einer einzelnen Ortschaft ergänzen konnten; ihr Organisationsbereich deckte sich offensichtlich nicht mit dem Lokalverband der Siedlung. Darauf weist bereits die aus älterer Zeit übernommene Sitte hin, eigene Friedhöfe für Männer anzulegen, die mehreren Gemeinden als Grablegen gedient haben werden. Eindeutiger sind jene umfangreichen Ansammlungen von Waffen in Mooren, die als Opferplätze für größere Verbände, Stämme oder in Kultbünde zusammengefaßte Stammesgruppen, gedeutet worden sind. Die Sitte, Waffen der Gottheit in Flüssen und Seen zu weihen, ist zwar vereinzelt schon in der vorrömischen Eisenzeit bekannt, gleicherweise bei Germanen wie bei Kelten, aber sie hat sich während des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. weiter verbreitet und sich vor allem auf der jütischen Halbinsel durchgesetzt. Wir dürfen also aus verschiedenen Gründen mit räumlich weitreichenden Kriegerbünden rechnen, die außer dem Heeresdienst auch noch durch religiöse Praktiken zusammengehalten wurden. Daß es Heiligtümer überörtlicher Bedeutung gegeben haben muß und daß sie als Mittelpunkt des Stammeslebens galten – sie waren deshalb besonders gern der Zerstörungswut der Feinde ausgesetzt –, geht aus der antiken Literatur einwandfrei hervor. Überwiegend wurden hier weibliche Gottheiten verehrt: Tanfana bei den Marsern, Baduhenna bei den Friesen, Veleda bei den Brukterern, Ganna bei den Semnonen, Nerthus bei den nördlich der Elbe wohnenden Völkerschaften, ein Brüderpaar bei den lugischen Naharnavalen, wo ein Priester in weiblicher Tracht den Kult geleitet hat. Es mögen dies alles Stätten eines Vegetationskultes gewesen sein, dessen Praktiken die Lebenskraft fördern und Fruchtbarkeit für Mensch und Tier und Acker in gleicher Weise bezwecken sollten. Tatsächlich kennt die archäologische Forschung eine ganze Reihe kleinerer und großer Plätze, an denen man Speisen (Butter und andere Fette, Haselnüsse u.a.m.), Ernteerträge und Erntegerät sowie Tiere und Tierteile (Schwein, Schaf, Rind, Hund, aber auch das Pferd) deponiert hat. Dazu kommen mehrfach Holzidole, meist weibliche, in sakral gedeuteter Umzäunung, Los- und Orakelstäbchen aus Holz und schließlich auch menschliche Skelette und Skeletteile. So stehen sich zwei Gruppen von Opfern gegenüber. Die eine, im allgemeinen Sinn dem Gedeihen, dem Segen, der Fruchtbarkeit gewidmet, trägt chthonische Züge und mag mit ihrer Idolplastik, die stellenweise vorwiegend weiblich ist, dem Vegetationskult der terra-mater ähneln, der in der Antike so weit verbreitet war. Die andere Gruppe aber stammt aus dem Lebenskreis des Mannes. Seine Gaben, die Waffen als Zeichen seiner Würde, hatte er wohl dem Kriegsgott dargebracht, vermutlich auch dem Gott der Toten, worauf solche Waffenopfer auch in Gräberfeldern mitunter hinzudeuten scheinen. Wir wissen nicht, ob diese Gottheiten in der Vorstellung der Gläubigen menschliche Gestalt besessen haben. Nach den Zeugnissen antiker Interpreten wird das wohl anzunehmen sein. Aber ganz unsicher ist es, wann man sich diesen barbarischen Olymp, in

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dem das kriegerische Element mit Thor und Wodan einen Ehrenplatz besaß, geschaffen hat, seit wann man sich die Götter nicht nur anthropomorph im allgemeineren Sinn, sondern auch personal gedacht hat. Vielleicht ist es bezeichnend, daß die großen Mooropferplätze Jütlands, in denen man Hunderte von Waffenstücken der Gottheit darzubringen pflegte, an Bedeutung zunahmen und ihre Blüte erlebten, als die figurale Kunst, die offensichtlich im Dienst religiöser Bindung stand, und erste Schriftlichkeit aufkamen, die sich auf Personennamen und Zauberwort beschränkte. Dem inneren Wandel entspricht nach außen ein Wechsel der ethnischen Verhältnisse. Die germanische Welt des späten 2. und des 3. Jahrhunderts war nicht mehr die, die Tacitus beschrieben hatte. In diese Zeit fiel das Werden jener aus verschiedenen Teilgruppen zusammengesetzten größeren politischen Verbände, deren Geschicke die Geschichte der Völkerwanderungszeit bestimmten. Einige von ihnen traten unter neuen Namen auf, diejenigen vor allem, die unter neuartigen Organisationsformen die Stürme der folgenden Jahrhunderte in ihrem ethnischen Bestand am dauerhaftesten überstanden, die Alemannen, die Franken und die Sachsen; andere erschienen unter altbekannten Stammesnamen, hatten sich aber vielfach bei aller Pflege ihrer Traditionen durch mannigfaltigste Zusammenschlüsse auf weiten Wanderungen in ihrem ethnischen Gefüge stark verändert, insbesondere die Wandalen und die Goten. IV. Entwicklung im 2. und 3. Jahrhundert Die Auseinandersetzung Roms mit den Donausueben in dem sogenannten Markomannenkrieg (160–180) leitete die neue Periode ein. Das in älterer Zeit oft erprobte Mittel, das noch in Dakien erfolgreich war, im Feindesland Provinzen einzurichten und dadurch der Lage an den Grenzen Dauer zu verleihen, mißlang hier gründlich. Das lag weder an mangelnder Schlagkraft der römischen Legionen, die tief im Land des Gegners kämpften, noch auch am vorzeitigen Tod des Marcus Aurelius, der den verdienten Sieg in Händen hielt, auch nicht am Verteidigungswillen der Sueben in Mähren und in der Slowakei. Ausschlaggebend war der Druck, den die Völker im Hinterland auf die Grenzbewohner ausübten und der in Völkerverschiebungen großen Umfanges gipfelte. Von den Lugiern war oben schon die Rede. Als im Winter 166 auf 167 Tausende von Langobarden die vereiste Donau überschritten und in Pannonien einbrachen, hatten sie auf dem Weg von ihrer Heimat an der Niederelbe auch Splitter lugischer Völkerschaften – Viktofalen und Lakringen – mitgerissen. Wie ein paar Jahre später die Hasdingen (171), wandten sie sich Dakien zu und baten landsuchend um Aufnahme in den Reichsverband. Viktofalen und Hasdingen wurde sie verwehrt, worauf diese sich im nördlichen Ungarn als Nachbarn der Quaden niederließen. Dort sind sie auch längere Zeit geblieben, bis die Hasdingen bei dem Versuch, ihr Siedlungsgebiet in das von den Römern aufgegebene Banat (275) zu erweitern, mit den Sarmaten und Westgoten

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zusammenstießen. In der gleichen Zeit waren wandalische Silingen zusammen mit Burgundern von Schlesien in das Maintal eingewandert (278), von dort aus in Rätien eingefallen und dabei von Probus geschlagen worden. Diese Provinz war bereits während der Markomannenkriege in Gefahr gewesen; mehrere Kastelle des rätischen Limes gingen damals in Flammen auf. Viel unheilvoller, weil unkontrollierbar, erwies sich die Entwicklung nördlich der Karpaten und im Hinterland der Griechenstädte an der Schwarzmeerküste von der Donaumündung bis zum regnum Bospori. Wir fassen ihr Ergebnis begrifflich in der Bildung einer Völkerschaft, die den Namen jener Goten trug, die nach ihrer Wandersage in der Zeit um Christi Geburt, von Skandinavien kommend, im Weichselmündungsgebiet gelandet waren. Die Etappen ihres Weges sind weder nach der schriftlichen Überlieferung noch archäologisch darzustellen. Um 230 n. Chr. war dieser Vorgang jedoch abgeschlossen. Bald nach der Jahrhundertmitte dürfte auch die Teilung in West- und Ostgoten erfolgt sein. Um 270 war Dakien sicher von Westgoten eingenommen und teilweise auch besiedelt worden, wie auch die archäologischen Funde dieser und späterer Zeit anzudeuten scheinen, deren Formengut bis weit über den Dnjepr hinaus verbreitet ist (Tscherniachow-Gruppe). Die Provinz war für die Römer unhaltbar geworden, nachdem die Barbaren in rascher Folge die Donau überschritten, die Küstenstädte und Grenzkastelle geplündert und gebrandschatzt, Mösien unsicher gemacht, ja selbst Thrakien und Makedonien bedroht und beunruhigt hatten. Kleinasien war schutzlos ihrer Beutegier geöffnet. Gleichzeitig trafen neue Scharen aus dem hohen Norden ein, Heruler, die sich zwischen Don und Asow niederließen (267), und Gepiden, die den Norden Dakiens als Wohnsitz wählten und damit zu Nachbarn der Westgoten wurden (269). Rom hat gegen alle diese Völkerwellen, auch gegen die Plünderungszüge, die an der Tagesordnung waren, kaum dauerhafte Maßnahmen ergreifen können. Die Brandung wurde durch militärische Abwehr und Jahresgelder an die Barbaren zwar eingedämmt, aber am Ende des 3. Jahrhunderts bildete wieder die Donau die Grenze des Imperiums – wie schon beim Tod des Augustus. Siedlung und Herrschaft der Germanen hatten sich in diesem Teil Europas am allerweitesten ausgedehnt. Im Westen waren die Fortschritte der Germanen viel begrenzter, nahmen aber auch einen anderen Verlauf. Plünderungszüge gab es freilich auch hier, wie die zusammen mit Saliern durchgeführten Unternehmungen der Sachsen an der Küste Nordfrankreichs zeigen (286), nach des Ptolemaios frühem Zeugnis (s.o.S. 302) übrigens die erste Erwähnung dieser Völkerschaft, hinter der wohl hauptsächlich die in diesem Geschäft seit altersher geübten Chauken standen. Früher schon (257) waren Franken, damals zum ersten Mal genannt, über den Rhein gegangen, in Gallien eingebrochen und in einem Zug bis nach Spanien gelangt, wo sie die Stadt Tarraco zu belagern begannen. Ungefähr zur selben Zeit hatten Alemannen bis zum Apennin hin vorzudringen vermocht, waren erst dort zum Halten gebracht und dann bei Mailand geschlagen worden. Das alles sind

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Parallelen zu den Seeräubereien und Beutezügen gotischer Verbände an den Schwarzmeerküsten und auf dem Balkan. Dies war nur möglich, weil immer wieder Truppen von den Grenzen abgezogen werden mußten, um Soldaten für die Feldzüge im Osten des Reiches zu gewinnen (Parther, Sassaniden) und um Gegenkaiser zu bekämpfen. Die Verteidigungskraft des römischen Reiches war auf diese Weise aufs äußerste geschwächt. Nirgend und zu keiner Zeit waren so viele tumultuarisch versteckte Münzschätze im Boden gelassen worden wie im Hinterland des Limes im zweiten Drittels des 3. Jahrhunderts. Tatsächlich hat kein Gebiet damals so viele Verheerungen über sich ergehen lassen müssen wie Rätien und das ehemalige Decumatenland. 213 hören wir von einem Sieg Caracallas über die Alemannen und damit zum ersten Mal über diese Völkerschaft, die sich im wesentlichen aus suebischen Verbänden, hauptsächlich Semnonen, neu gruppierte. 233 griffen sie bereits den Limes an und erzielten einen tiefen Einbruch. So blieb es bei immer neuen Vorstößen, bis diese Verteidigungslinie 254 und 259–260 vollständig und endgültig gefallen, auf Rhein, Bodensee, Illerlauf und Donau zurückgenommen und dort später unter Probus und Diokletian befestigt war. Das Decumatenland, wo noch provinziale Bevölkerungsreste lebten, wurde von suebischen Siedlergruppen eingenommen. Es war ein dauerhafter Landgewinn. Die Grenze des Imperiums wurde auch hier in die Ausgangsstellung der augusteischen Zeit zurückgeschoben. Zeittafel 58–51 v. Chr Caesars Gallischer Krieg 31 v.-14 n. Chr. Augustus 9 Niederlage der Römer unter Quinctilius Varus in der Schlacht im Teutoburger Wald 14–37 Tiberius 17 Kappadokien römische Provinz 37–41 Caligula

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41–54 Claudius 43 Britannien römische Provinz 44 Gesamt-Judäa römische Provinz 46 Thrakien römische Provinz 54–68 Nero 66–70 Jüdischer Aufstand 68–69 Galba 69 Otho und Vitellius 69–70 Aufstand der Bataver unter Julius Civilis 69–79 Vespasian 72 Kommagene römische Provinz 79–81 Titus 81–96 Domitian 89–97 Krieg Roms gegen die Markomannen und Quaden 96–98

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Nerva 98–117 Trajan 105–106 Eroberung Dakiens durch die Römer 106 Nabatäa römische Provinz 109–111 Plinius der Jüngere Statthalter in Bithynien 113–117 Partherkrieg 117–138 Hadrian 132–135 Aufstand des Bar Kochba 138–161 Antoninus Pius 161–180 Marcus Aurelius 161–169 Verus 166/67–175 Markomannenkriege 177–180 Markomannenkriege 180–192 Commodus 193–211 Septimius Severus

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211–217 Caracalla 212 Constitutio Antoniniana 215–217 Partherkrieg 217–218 Macrinus 218–222 Elagabal 222–235 Severus Alexander 235–238 Maximinus Thrax 238–244 Gordian (III.) 244–249 Philippus Arabs 249–251 Decius 251 Sieg der Goten über Rom bei Abrittus 251–253 Trebonianus Gallus 252–253 Aemilianus 253–260 Valerianus

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260–268 Gallienus 268–270 Claudius Goticus 270–275 Aurelian 275–276 Tacitus 276–282 Probus 282–283 Carus 284–305 Diokletian Anmerkungen Die Anmerkungen und das sich anschließende Literaturverzeichnis sollen sich gegenseitig ergänzen. In der Bibliographie sind zu jedem Kapitel allgemeine Werke aufgeführt und in den Anmerkungen spezifische Hinweise auf antike Quellen oder moderne Werke und Artikel. Einige längere Titel wurden verkürzt. Abkürzungen: AE Année Épigraphique CIL Corpus Inscriptionum Latinarum FIRA Riccobono, Fontes Iuris Romani Anteiustiniani IGR Inscriptiones Graecae ad Res Romanas Pertinentes ILS Dessau, Inscriptiones Latinae Selectae OGIS Dittenberger, Orientis Graecae Inscriptiones Selectae PIR Prosopographia Imperii Romani RE Pauly-Wissowa, Realencyclopaedie classischen Altertumswissenschaft

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Kapitel 1: Einleitung 1 G.W. Bowersock, Augustus and the Greek World. Oxford 1965. 2 Strabo, 485; Dio, 68, 24.1. 3 Fronto, De feriis Alsiensibus, 3. 4 H.G. Pflaum, Carrières Procuratoriennes, Nr. 247. 5 Aelius Aristides, Rede, 47; Dindorf, Bd. 2, S. 415–416. 6 Galletier, Panégyriques Latines, 5, 17. Kapitel 2: Rom, das römische Volk und der Senat 1 CIL, VI, 226 = FIRA2, 3, Nr. 165. 2 Frontinus, De aquae ductu urbis Romae, besonders Kap. 116–118. 3 I.A. Richmond, The City Wall of Imperial Rome. Oxford 1930. 4 Tacitus, Annales, XII, 43; Suetonius, Claudius, 18. 5 Dio, 71, 32, 1. 6 Fronto, Principia Historiae, 18. 7 Plutarch, Moralia, 973 E-974 A; 986 C. 8 M. Sordi, L’epigrafe di un pantomimo, in: Epigraphica 15 (1953), S. 104. 9 Dio 58, 20. 10 Dio, 75, 4. 11 Tacitus, Annales I, 11–13; Vgl. Dio, 57, 2 und Suetonius, Tiberius, 24.

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12 CIL, VI, 930 = ILS, 244 = FIRA2, 1, Nr. 15. 13 Siehe P.W. Townsend, The Revolution of A.D. 238, in: Yale Classical Studies 14 (1955), S. 49. 14 Dio, 70, 1. 15 J.H. Oliver und R.E.A. Palmer, Minutes of an Act of the Roman Senate, in: Hesperia 24 (1955), S. 320. 16 Plinius, Ep., 2, 11. 17 Dio, 76, 8. 18 Plinius, Ep., 2, 9. 19 Epictetus, 4, 10, 20–1. 20 Keil und Gschnitzner, Anz. Öst. Akad. Wiss. Phil.-Hist. Klasse 93 (1956), S. 226, Nr. 8. Kapitel 3: Die Kaiser 1 A.H.M. Jones, The Imperium of Augustus, in: JRS 41 (1951), S. 112. 2 ILS, 264. 3 S. Weinstock, Treueid und Kaiserkult, in: Mitt. Deutsch. Arch. Inst. Ath. Abt. 77 (1962), S. 306. 4 A. Boethius, The Golden House of Nero. Ann Arbor / Michigan 1960, Kap. 3. 5 Fronto, Ep. ad M. Caes., 4, 6. 6 M. Durry, Les cohortes prétoriennes. Paris 1938; A. Passerini, Le coorte pretorie. Rom 1939. 7 W.G. Sinnigen, The Origins of the Frumentarii. Mem. Am. Acad. Rom 27 (1962), S. 213; M. Speidel, Die Equites Singulares Augusti. Bonn 1965. 8 ILS, 1514.

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9 Philo, Legatio ad Gaium, 166–77. 10 Pflaum, Carrières Procuratoriennes, Nr. 180 bis. 11 Dexippus: Jacoby, Fragmente der Griechischen Historiker, 100, F. 6. 12 O. Hirschfeld, Der Grundbesitz der römischen Kaiser, in: Kleine Schriften. Berlin 1913, S. 516; F. Millar, The Fiscus in the First Two Centuries, in: JRS 53 (1963), S. 29. 13 ILS, 8870. 14 Dio, 69, 6, 3. 15 D. McAlindon, Senatorial Opposition to Claudius and Nero, in: American Journal of Philology 77 (1956), S. 113. 16 Tacitus, Annales, 3, 55. 17 Marcus Aurelius, Betrachtungen, 1, 16. 18 PIR2, H 73; Pflaum, Carrières Procuratoriennes, Nr. 179. 19 Dio, 77, 17. Kapitel 4: Regierung und Verwaltung 1 A. Stein, Der römische Ritterstand. München 1927; M.I. Henderson, The Establishment of the Equester Ordo, in: JRS 53 (1963), S. 61. 2 Tacitus, Annales, 4, 15. 3 ILS, 1447; Pflaum, Carrières Procuratoriennes, Nr. 37. 4 Siehe G.B. Townend, The Post Ab Epistulis in the Second Century, in: Historia 10 (1961), S. 375 5 Pflaum, Carrières, Nr. 162. 6 PIR2, A 137.

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7 W. Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen. Weimar 1952, S. 174 f.; Pflaum, Carrières, Nr. 141. 8 Eusebius, Kirchengeschichte, 7, 30, 8–9. 9 Fronto, Ad Antoninum Pium, 7. (Van den Hout, S. 169). 10 Philo, In Flaccum, 131–4. 11 Dio Chrysostomos, Rede, 35, 15. 12 Die Inschrift bei D.M. Pippidi, in: Dacia 2 (1958), S. 227 und J.H. Oliver, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 6 (1965), S. 143. 13 CIL, X, 7852 = ILS, 5947 = Abbott und Johnson, Municipal Administration, Nr. 58. 14 AE, 1925, 126 = Abbott und Johnson, Nr. 65 a. 15 IGR, IV, 571 = Abbott und Johnson, Nr. 82. 16 Digest, I, 16, 9 praef. 17 Statius, Silvae, 3, 3, 105. 18 Dio, 53, 19. 19 Tacitus, Annales, 13, 50–1. 20 Statius, Silvae, 3, 3, 98–102. 21 Statius, Silvae, 5, 1, 94–8. 22 AE, 1962, 183. 23 Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts 45 (1960), Beibl. 80 Nr. 7, Z. 9–14. 24 Philostratos, Leben der Sophisten, 2, 32. 25 C. Dunant und J. Pouilloux, Recherches sur l’histoire et les cultes de Thasos 2 (Paris 1957), S. 66, Nr. 179.

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26 Keil und Gschnitzner, Neue Inschriften aus Lydien, in: Anz. Öst. Akad. Wiss. Phil.-Hist. Kl. 93 (1956), S. 219, Nr. 8. 27 Plinius, Ep., 10, 107. 28 ILS, 6870 = FIRA2, I, Nr. 103. 29 Text in: Syria 23 (1942–43), S. 176 f.; vgl. W. Kunkel, Festschrift H. Lewald. Basel 1953, S. 81. 30 Plinius, Ep., 6, 31. 31 Siehe A.M. Honoré, The Severan Jurists, in: Studia et Documenta Historiae et Iuris 28 (1962), S. 162. Kapitel 5: Staat und Untertan: die Städte 1 Inscriptions Grecques et Latines de la Syrie, 5, 1998. 2 CIL, III, 6866 = ILS, 6090 = FIRA2, I, Nr. 92 = Abbott und Johnson, Municipal Administr., Nr. 151. 3 J.H. Oliver, A New Letter of Antoninus Pius, in: Am. Journal of Philology 79 (1958), S. 52. 4 OGIS, 515 = Abbott und Johnson, Nr. 133. 5 OGIS, 527 = Abbott und Johnson, Nr. 117. 6 A. Piganiol, Les documents cadastraux de la colonie romaine d’Orange. Paris 1962. 7 Digest, 50, 15, 1 u. 8. 8 C. Saumagne, Le droit latin et les cités romaines sous l’Empire. Paris 1965. 9 Salpensa: CIL, II, 1963 = ILS, 6088 = FIRA2, 1, 23. Malaca: CIL, II, 1964 = ILS, 6089 = FIRA2, I, 24. 10 CIL, X, 8038 = FIRA2, I, Nr. 72 = Abbott und Johnson, Nr. 59. 11 IGR, 4, 1256.

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12 Plinius, Panegyricus, 37–40. 13 C. Sasse, Die Constitutio Antoniniana. Wiesbaden 1958. 14 Siehe E. Condurachi, La Costituzione Antoniniana e la sua applicazione nell’Impero Romano, in: Dacia 2 (1958), S. 281. 15 FIRA2, 3, Nr. 50; Pap. Oxy., 1114. 16 S.J. de Laet, Portorium. Brügge 1949. 17 Digest, 50, 15, 4. 18 Th. Klauser, Aurum Coronarium, in: Mitt. Deutsch. Arch. Inst. Röm. Abt. 59 (1944), S. 129. 19 Babylonischer Talmud, Baba Batra, 8 a. 20 Tacitus, Agricola, 19. 21 W.H.C. Frend, A Third-Century Inscription Relating to Angareia in Phrygia, in: JRS 46 (1956), S. 46. 22 Epictetus, 4. 1. 79. 23 M. Rostovtzeff, Synteleia tironon, in: JRS 8 (1918), S. 26. 24 Siehe W.H.C. Frend, Martyrdom and Persecution in the Early Church. Oxford 1965. Kapitel 6: Die Armee und die Grenzen 1 J. Baradez, Fossatum Africae. Paris 1949. 2 A. Di Vita, Il ›limes‹ romana di Tripolitania, in: Libya Antiqua 1 (1964), S. 65. 3 A. Maricq, Les dernières années d’Hatra: l’alliance avec Rome, in: Syria 34 (1957), S. 289.

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4 A. Poidebard, La trace de Rome dans le désert de Syrie. Paris 1934; Siehe L. Dilleman, Haute Mésopotamie et pays adjacents. Paris 1962, S. 195 f. 5 I.A. Richmond, Queen Cartimandua, in: JRS 44 (1954), S. 43. 6 Siehe G. Simpson, Britons and the Roman Army. London 1964. 7 Zum Hadrianswall siehe I.A. Richmond, The Roman Frontier Land, in: History 44 (1959), S. 13. 8 A.S. Robertson, The Antonine Wall. Glasgow 1960. 9 I.A. Richmond, Trajan’s Army on Trajan’s Column, in: Papers of the British School at Rome 13 (1935), S. 1. 10 Siehe C. Caprino, A.M. Colini, G. Gatti, M. Pallotino und P. Romanalli, La colonna di Marco Aurelio. Rom 1955. 11 J. Fitz, A Military History of Pannonia from the Marcomann Wars to the Death of Alexander Severus, in: Acta Archaeologica Acad. Sc. Hung. 14 (1962), S. 25. 12 Michigan Papyri VIII (1951), Nr. 465. 13 F.A. Lepper, Trajan’s Parthian War. Oxford 1948. 14 A. Maricq, La province d’Assyrie créé par Trajan, in: Syria 36 (1959), S. 254. 15 F. Kiechle, Die ›Taktik‹ des Flavius Arrianus, in: 45. Bericht der Röm.-Germ. Kommission 1964 (1965), S. 87. 16 J. Mann, The Raising of New Legions during the Principate, in: Hermes 91 (1963), S. 483. 17 N. Lewis, A Veteran in Search of a Home, in: Trans. American Philol. Assoc. 90 (1959), S. 139. 18 H. Callies, Die fremden Truppen im römischen Heer des Prinzipats und die sogenannten nationalen Numeri, in: 45. Bericht der Röm.-Germ. Kom. 1964 (1965), S. 130. 19 K. Kraft, Zur Rekrutierung der Alen und Kohorten an Rhein und Donau. Bern 1951. 20 R.O. Fink, in: JRS 48 (1958), S. 102; R. Syme, in: JRS 49 (1959), S. 26.

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21 C.B. Welles, R.O. Fink und J.F. Gillian, The Excavations at Dura-Europos: Final Report V. 1. The Parchments and Papyri. New Haven 1959. 22 H. Schönberger, The Roman Camp at the Saalburg. 4. Aufl. Bad Homburg 1955. Kapitel 7: Italien 1 Plinius, Panegyricus 26–27. 2 Verona e il suo territorio I: Istituto per gli Studi Storici Veronese, 1960. 3 CIL, 5, 5050 = ILS, 206 = FIRA4, 1, Nr. 71. 4 O. Testaguzza, The Port of Rome, in: Archaeology 17 (1964), S. 173. 5 Tacitus, Historiae, 3, 33–34. 6 Über Pompeji: R.C. Carrington, Pompeii. Oxford 1936; A. Maiuri, Pompeii. 8. Aufl. Rom 1956; J. Day, Agriculture in the Life of Pompeii, in: Yale Classical Studies, 3 (1932), S. 165. 7 Über das Alimentensystem siehe R. Duncan-Jones, The Purpose and Organisation of the Alimenta, Papers of the British School at Rome 19 (1964), S. 123. 8 Über Plinius’ Briefe siehe den Commentary von A.N. Sherwin-White. Oxford 1966. 9 R. Meiggs, Roman Ostia. Oxford 1960. 10 M.F. Squarciapino, The Synagogue at Ostia, in: Archaeology 16 (1963), S. 194. 11 Dio, 76, 10. Kapitel 8: Die westlichen Provinzen: Gallien, Spanien und Britannien 1 Über das Amphitheater in Lyon siehe: J. Guey und A Audin, in: Gallia 20 (1962), S. 117; 21 (1963), S. 125; 23 (1964), S. 1.

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2 E. Will, Recherches sur le développement urbain sous l’Empire romain dans le Nord de la France, in: Gallia 20 (1962), S. 79. 3 J.A. Stanfield und G. Simpson, Central Gaulish Potters. London 1958. 4 P.M. Duval, L’originalité de l’architecture gallo- romaine, in: VIIIe Congrès International d’Archéologie classique 1963 (Paris 1965), S. 121. 5 R. MacMullen, The Celtic Renaissance, in: Historia 14 (1965), S. 93. 6 J.-J. Hatt, Essai sur l’évloution de la religion gauloise, in: Revue des Études Anciennes 67 (1965), S. 80. 7 CIL, 13, 3162; siehe H.G. Pflaum, Le marbre de Thorigny. Paris 1948. 8 H. Nesselhauf, in: Deutsch. Arch. Inst. Madrider Mitt. 1 (1960), S. 148; AE, 1962, 288. 9 A. Garcia y Bellido, Colonia Aelia Augusta Italica. Madrid 1960. 10 M. Ponsich und M. Tarradell, Garum et industries antiques de salaison dans la Méditerranée occidentale. Paris 1965. 11 Zum nördlichen Grenzgebiet siehe: P. Salway, The Frontier People of Roman Britain. Cambridge 1965. 12 Zu den Ausgrabungen in Fishbourne siehe: B. Cunliffe, in: Antiquity 39 (1965), S. 177; Antiquaries Journal 45 (1965), S. 1. 13 S.S. Frere, Verulamium: Three Roman Cities, in: Antiquity 38 (1964), S. 103; Bulletin of the Institute of Archaeology, London 4 (1964), S. 61. 14 P.-M. Duval, Paris Antique. Paris 1961. 15 Siehe A. Balil, Hispania en los anos 260 a 300 d.J.C., in: Emerita 27 (1959), S. 269. 16 R.M. Butler, The Roman Walls of Le Mans, in: JRS 48 (1958), S. 33. Kapitel 9: Afrika

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1 J.-B. Chabot, Recueil des inscriptions libyques. Paris 1940–41. 2 R. Syme, Tacfarinas, The Musulamii and Thubursicu, in: Studies in Roman Economic and Social History presented to A.C. Johnson. Princeton 1951, S. 113. 3 G.-C. Picard, Civitas Mactaritana, in: Karthago 8 (1957). 4 J. Carcopino, Le Maroc Antique. Paris 1943, S. 200–230. 5 R. Duncan-Jones, Costs, Outlays and Summae Honoriae from Roman Africa, in: Papers of the British School at Rome 17 (1962), S. 47; Wealth and Munificence in Roman Africa, a.a.O. 18 (1963), S. 159. 6 J. Baradez, Les nouvelles fouilles de Tipasa et les opérations d’Antonin le Pieux en Maurétanie, in: Archaeologia: Fouilles et Découvertes 4 (Mai-Juni 1965), S. 23. Kapitel 10: Ägypten 1 H.-C. Puech, Les nouveaux Écrits gnostiques découverts en Haute-Égypte (premier inventaire et essai d’identification), Coptic Studies in Honour of W.E. Crum. Washington 1950, S. 91. 2 Oxyrhynchus Papyrus Nr. 1452. 3 M. Hombert und C. Préaux, Recherches sur le recensement dans l’Égypte romaine. Leiden 1952, S. 27–29. 4 S.L. Wallace, Taxation in Egypt from Augustus to Diocletian. Princeton 1938. 5 H.A. Musurillo, The Acts of the Pagan Martyrs: Acta Alexandrinorum. Oxford 1954. 6 G. Chalon, L’Édit de Tiberius Julius Alexander. Olten-Lausanne 1964. 7 A. Fuks, Aspects of the Jewish Revolt in AD 115–17, in: JRS 51 (1961), S. 98. 8 H.I. Bell, Antinoopolis: A Hadrianic Foundation in Egypt, in: JRS 30 (1940), S. 133. 9 J.R. Knipfing, The Libelli of the Decian Persecution, in: Harvard Theological Review 16 (1923), S. 345.

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10 J. Schwartz, Les Palmyréniens en Égypte, in: Bulletin de la Société d’Archéologie d’Alexandrie 40 (1953), S. 63. 11 T.C. Skeat und E.P. Wegener, A Trial before the Prefect of Egypt Appius Sabinus c. 250 AD, in: Journal of Egyptian Archaeology, 21 (1935), S. 224. Kapitel 11: Die griechischen Provinzen 1 Erster Bericht von Y. Yadin, in: Israel Exploration Journal 1965. 2 Y. Yadin, The Finds from the Bar-Kokhba Period in the Cave of Letters. Jerusalem 1963. 3 Allgemeiner Überblick in: M. Rostovtzeff, Dura- Europus and its Art. Oxford 1938. 4 I.A. Richmond, The Roman Siege-works of Masada, Israel, in: JRS 52 (1962), S. 142. 5 Siehe C.M. Bennett, The Nabataeans in Petra, in: Archaeology 15 (1962), S. 233; P. Parr, in: VIIe Congrès international d’archéologie classique 1963 (Paris 1965), S. 527. 6 Über Herodes Atticus: P. Graindor, Un milliardaire antique, Hérode Atticus et sa famille. Kairo 1930. 7 F. Millar, A Study of Cassius Bio. Oxford 1964. 8 P. Graindor, Athènes sous Hadrien. Kairo 1934. 9 A. Boulanger, Aelius Aristide et la sophistique dans la province d’Asie au 2e siècle de notre ère. Paris 1923. 10 Siehe J. Schwartz, Biographie de Lucien de Samosate. Brüssel 1965. 11 J. Keil, Ein ephesischer Anwalt des dritten Jahrhunderts durchreist das Imperium Romanum, Sitz.- Ber. Bay. Akad. Wiss. 1956, S. 3. 12 F. Jacoby, Die Fragmente der Griechischen Historiker, Nr. 100, Frag. 28. 13 H.A. Thompson, Athenian Twilight: AD 267–600, in: JRS 49 (1959), S. 61.

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14 I.A. Richmond, Palmyra under the Aegis of the Romans, in: JRS 53 (1963), S. 43. Kapitel 12: Der Balkan und die Donauprovinzen 1 Siehe R. Egger, Die Stadt auf dem Magdalensberg: ein Großhandelsplatz. Wien 1961. 2 B. Gerov, Römische Bürgerrechtsverleihung und Kolonisation in Thrakien vor Trajan, in: Studii Classici 3 (1961), S. 107. 3 Text bei D.M. Pippida, in: Dacia 2 (1958), S. 227; J.H. Oliver, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 6 (1965), S. 143. 4 R. Vulpe, Le nombre des colonies et des municipes de la Mésie Inférieur, in: Acta Antiqua Philippopolitana: Stud. Hist. et Phil. 1963, S. 147. 5 Siehe J. Garbsch, Die Norisch-Pannonische Frauentracht im 1. und 2. Jahrhundert. München 1965. 6 I. Stoian, De nouveau sur la plainte des paysans du territoire d’Histria, in: Dacia 3 (1959), S. 369. 7 Inscriptiones Graecae in Bulgaria Repertae (IG Bulg.), 3. 2. 1869. 8 E.B. Thomas, Römische Villen in Pannonien. Budapest 1964. 9 E. Swoboda, Carnuntum. 4. Aufl. Graz-Köln 1964. 10 J. Szilágyi, Aquincum. Budapest-Berlin 1956. 11 D. Protase, Considérations sur la continuité des Daco-Romains en Dacie post-aurélienne, in: Dacia 8 (1964), S. 177. 12 D. Tudor, La fortificazione delle citta romane della Dacia nel sec. III. dell’ e.n., in: Historia 14 (1965), S. 368. 13 F. Wagner, Das Ende der römischen Herrschaft in Raetien, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 18–19 (1951–52), S. 26. Kapitel 13: Das Reich und die Krise des 3. Jahrhunderts

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1 E.A. Thompson, Christianity and the Northern Barbarians, in: A. Momigliano (Hg.): The Conflict between Paganism and Christianity in the Fourth Century. Oxford 1963, S. 56. 2 J.P. Callu, Les monnaies de compte et le monnayage du bronze entre 253 et 295, Congresso int. di Numismatica 1961, Bd. 2, 1965, S. 363. 3 Siehe A.H.M. Jones, Inflation under the Roman Empire, in: Economic History Review 5 (1953), S. 293; T. Pekáry, Studien zur römischen Währungs- und Finanzgeschichte von 161 bis 235 n. Chr. in: Historia 8 (1959), S. 443. 4 O. Hirschfeld, Die Sicherheitspolizei im römischen Kaiserreich, in: Kleine Schriften, S. 576. 5 Siehe A.E.R. Boak, Manpower Shortage and the Fall of the Roman Empire in the West. Ann Arbor / Michigan 1955; M.I. Finley, in: JRS 48 (1958), S. 156. 6 Siehe J. Geffcken, Der Ausgang des griechisch-römischen Heidentums. Heidelberg 1920, Kap. 2. 7 J. Bidez, Vie de Porphyre. Gent-Leipzig 1913. 8 Eusebius, Kirchengeschichte, 6, 43, 11. Kapitel 14: Iran in parthischer und sassanidischer Zeit 1 Catalogue de Monnaies grecques et romaines, Nr. XII, Collection A. de Petrowicz. Genf 1926, S. 133 u. 137. 2 J. de Morgan, Manuel de Numismatique orientale. Bd. I. Paris 1923–36, S. 164; Dinkart (hrsg. v. D.M. Madan) 1 (Bombay 1911), S. 412. Die englische Übersetzung von P.D.B. Sanjana in: Dinkart 9 (Bombay 1900), S. 577 ist unbrauchbar. 3 Vgl. R.N. Frye, The Heritage of Persia. Deutsche Ausgabe: Persien bis zum Einbruch des Islam. München-Zürich 1962. 4 U. Kahrstedt, Artabanos III. und seine Erben, Bern 1950, S. 80. Vieles beruht nur auf Mutmaßungen.

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5 Es gibt jetzt zwei Meinungen darüber: Die eine, die z.B.S.P. Tolstov und V.A. Livschitz in Decipherment of the Khwarezmian Inscriptions from Tok Kala, in: Acta Antiqua Hungaricae 12 (1964), S. 250 vertreten, legt das Jahr 78 n. Chr. zugrunde. Der anderen Meinung, die für das Jahr 225 n. Chr. plädiert, folgt z.B.B.R. Göbl, Zwei neue Termini für ein zentrales Datum der Alten Geschichte Mittelasiens, das Jahr 1 des Kušānkönigs Kaniška, in: Anzeiger der Phil.- Hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1964, S. 151. Einige Gelehrte halten eine dazwischenliegende Datierung auf etwa 125 n. Chr. für möglich. 6 B. Nanjio, Catalogue of the Chinese Translation of the Buddhist Tripitaka. Oxford 1883, S. 381. 7 R.N. Frye, a.a.O. 8 M.E. Masson und G.A. Pugachenkova, Parfyanskie Ritony Nisa, Moskau 1956, bes. Tafel 56 u. 62; I.M. Dyakonov und V.A. Livschitz, Dokumenty iz Nisy, Moskau 1960. 9 D. Schlumberger, Descendants non-méditerranéens de l’Art grec, in: Syria 37 (1960), S. 136–142. 10 Vgl. R.N. Frye, a.a.O.R. Ettinghausen hat eine Untersuchung über Hinweise in der bildenden Kunst auf den Dionysoskult in Iran vorgenommen und wird einen Aufsatz darüber veröffentlichen. 11 J. Neusner, A History of the Jews in Babylonia. Bd. I: The Parthian Period, Leiden 1965. 12 Vgl. G. Widengren, Die Mandäer, in: Handbuch der Orientalistik, hrsg. v. B. Spuler. Bd. 8: Religion. Leiden 1961, S. 83–100. 13 Vgl. B. Laufer, Sino-Iranica. Chikago 1919; E. Schafer, The Golden Peaches of Samarkand. Berkeley / Kalif. 1963, S. 117–155. 14 Zu dem Teppich von Pazyryk siehe K. Jettmar, Die frühen Steppenvölker in: Kunst der Welt. Baden- Baden 1964, S. 114 u. 123. 15 M. Boyce, The Parthian ›gōsān‹ and Iranian Minstrel Tradition, in: JRAS 1957, S. 10–45. 16 Vgl. W.B. Henning, Mitteliranisch, in: Handbuch der Orientalistik, hrsg. v. B. Spuler. Bd. 4. Leiden 1958, S. 27–37.

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17 B. Simonetta, Vologese V, Artabano V e Artavasde, in: Numismatica 19 (1953), S. 1–4; F. Cumont, in: Comptes-rendus de l’Académie des inscriptions et belles lettres 1930, S. 217. 18 Vgl. R.N. Frye, The Charisma of Kingship in Ancient Iran, in: Iranica Antiqua 6 (Leiden 1964), S. 46–50. 19 R. Ghirshman, Inscription du monument de Châpour Ier, in: Revue des arts asiatiques 10 (Paris 1937), S. 123–129. 20 Vgl. R.N. Frye, The Middle Persian Inscription of Kartīr at Naqš-i Rajab, in: Indo-Iranian Journal 8 (Den Haag 1965), S. 211 bis 225; M.L. Chaumont, L’inscription de Kartir à la Kaaba de Zoroastre, in: Journal Asiatique 1960. 21 Chaumont, a.a.O. Ich emendiere mktky zu mntky, doch könnte es sich hierbei auch um eine unbekannte mesopotamische Religion handeln. 22 H.J. Polotsky, Manichäische Homilien. Bd. I. Stuttgart 1934, S. 45; W.B. Henning, Mani’s Last Journey, in: Bulletin of the School of Oriental Studies 10 (1939), S. 948 u. 952. Sein Name wurde wahrscheinlich Kerdīr ausgesprochen. 23 E. Herzfeld, Paikuli. Bd. I. Berlin 1923, S. 208. Vielleicht ist Tōsar (Tansar), der in islamischen Quellen als der Begründer der sassanidischen zoroastrischen Kirche erwähnt wird, mit Kartīr identisch. 24 Vgl. A. Maricq’s Übersetzung in: Syria 35 (Paris 1958), S. 295 bis 360. 25 Das Jahr 256 als Datum für die Einnahme von Antiochia wurde erstmals vorgeschlagen in: Bibliotheca Orientalis 8 (1951), S. 103 bis 105. 26 R. Ghirshman, Bichapour II. Paris 1956; A. Christensen, L’Iran sous les Sassanides. Kopenhagen 1944, S. 127. 27 Vgl. meinen Aufsatz The Development of Persian Literature under the Samanids and Qarakhanids, in: Festschrift für Jan Rypka zum achtzigsten Geburtstag. Prag 1966. 28 Die charakteristischen Kronen der einzelnen Sassaniden-Könige helfen den Kunsthistorikern bei der Identifizierung und Datierung der Silberschalen und anderer Kunstgegenstände dieser Zeit (s. S. 269). Kapitel 15: Die Daker im 1. Jahrhundert n. Chr. Die römische Eroberung

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Keine Anmerkungen Kapitel 16: Die skythisch-sarmatischen Stämme Südosteuropas Keine Anmerkungen Kapitel 17: Die Germanen Keine Anmerkungen Literaturverzeichnis Kapitel 1: Einleitung Allgemeines: Rostovtzeff, M., Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich. Leipzig 1931. The Cambridge Ancient History X (1934), XI (1936), XII (1939) Mazzarino, S., Trattato di Storia Romana II: L’Impero Romano. Rom 1956 Syme, R., Tacitus. Bd. 1–2. Oxford 1958 (ist für das 1. Jahrhundert unentbehrlich) Wirtschaft: Tenney Frank (Hg.), Economic Survey of Ancient Rome: Bd. II (1936): Roman Egypt; Bd. III (1937): Britain, Spain, Sicily, Gaul; Bd. IV (1938): Africa, Syria, Greece, Asia; Bd. V (1940): Rome and Italy of the Empire. Religion: Latte, K., Römische Religionsgeschichte. München 1960 Lietzmann, M., Geschichte der alten Kirche. Bd. 1–3. Berlin 1932–38 Nilsson, M.P., Geschichte der griechischen Religion. Bd. II. 2. Aufl. München 1961 Gesellschaft: Friedländer, L., Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms, hrsg. v. Wissowa. Leipzig 1919–20 Gagé, J., Les Classes sociales dans l’Empire romain. Paris 1964

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Kapitel 2: Rom, das römische Volk und der Senat Rom: van Berchem, D., Les distributions de blé et d’argent à la plèbe romaine sous l’Empire. Genf 1939 Homo, L., Rome impériale et l’urbanisme dans l’antiquité. Paris 1951 Der Senat: Bleicken, J., Senatsgericht und Kaisergericht. Abh. Akad. Wiss. Göttingen, Phil. Hist. Klasse III, 53 (1962) Brunt, P.A., Charges of Provincial Maladministration under the Early Principate, in: Historia 10 (1961), S. 189 –, The Lex Valeria Cornelia, in: JRS 51 (1961), S. 71 Hammond, M., The Composition of the Senate AD 68–235, in: JRS 47 (1957), S. 74 Morris, J., Leges Annales under the Principate, in: Listy Filologické 87 (1964), S. 314 O’Brien-Moore, ›Senatus‹, in: RE Supp. VI (1935), Sp. 660–812 Kapitel 3: Die Kaiser Alföldi, A., Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhofe, in: Mitt. Deutsch. Arch. Inst. Röm. Abt. 49 (1934), S. 1 –, Insignien und Tracht der römischen Kaiser, a.a.O. 50 (1935), S. 1 Béranger, J., Recherches sur l’aspect idéologique du principat. Basel 953 Hammond, M., The Augustan Principate. Cambridge (Mass.) 1933 –, The Antonine Monarchy. Rom 1959 Parsi, B., Désignation et investiture de l’empereur romain. Paris 1963 Wickert, L., ›Princeps‹, in: RE 22 (1954), Sp. 1998–2296 Kapitel 4: Regierung und Verwaltung Verwaltung: Hirschfeld, O., Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten. 2. Aufl. Berlin 1905 Jones, A.H.M., Studies in Roman Government and Law. Oxford 1960 Millar, F., The Aerarium and its Officials under the Empire, in: JRS 54 (1964), S. 33 –, The Emperor, the Senate and the Provinces, in: JRS 56 (1966)

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Das Kaiserliche Consilium: Crook, J., Consilium Principis. Cambridge 1955 Beamte aus Ritterstand: Millar, F., Historia 13 (1964), S. 180; 14 (1965), S. 362 (über Jurisdiktion und Vollmachten der Prokuratoren) Petersen, H., Senatorial and Equestrian governors in the Third Century AD, in: JRS 45 (1955), S. 47 Pflaum, H.G., Les procurateurs équestres. Paris 1950 –, Les carrières procuratoriennes équestres. Bd. 1–3. Paris 1960–61 Sherwin-White, A.N., Procurator Augusti, in: Papers of the British School at Rome 15 (1939), S. 11 Münzen: Bolin, S., State and Currency in the Roman Empire. Stockholm 1958 Mattingly, H., Roman Coins. 2. Aufl. London 1960 Kapitel 5: Staat und Untertan: die Städte Abbott, F.F. und Johnson, A.C., Municipal Administration in the Roman Empire. Princeton 1926 van Berchem, D., L’Annone militaire dans l’Empire romain au IIIe siècle, in: Mém. Soc. Nat. Ant. France 8.10 (1937), S. 117 Grelle, F., Stipendium vel Tributum. Neapel 1963 Jones, A.H.M., The Greek City. Oxford 1940 Pflaum, H.G., Essai sur le cursus publicus sous le Haut-Empire romain, in: Mém. prés. à l’Acad. des Ins. 14 (1940), S. 189 Schwahn, W., ›Tributum‹, in: RE VIIA (1948), Sp. 1–78 Sherwin-White, A.N., The Roman Citizenship. Oxford 1939 –, Roman Society and Roman Law in the New Testament. Oxford 1963 Kapitel 6: Die Armee und die Grenzen Brunt, P.A., Pay and Superannuation in the Roman Army, in: Papers of the British School at Rome 5 (1950), S. 50 Cheesman, G.L., The Auxilia of the Roman Imperial Army. Oxford 1914

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Forni, G., Il reclutamento delle legioni da Augusto a Diocleziano. Mailand-Rom 1953 Grosse, R., Römische Militärgeschichte von Gallienus bis zum Beginn der Byzantinischen Themenverfassung. Berlin 1920 Kromayer, J. und Veith, G., Heerwesen und Kriegführung der Griechen und Römer. München 1928 MacMullen, R., Soldier and Civilian in the Later Roman Empire. Cambridge (Mass.) 1963 Parker, H.M.D., The Roman Legions. 2. Aufl. Cambridge 1958 Petrikovits, H.v., Das römische Rheinland: Archaeologische Forschungen seit 1945. Köln-Opladen 1960 Richmond, I.A. (Hg.), Roman and Native in North Britain. Edinburgh 1958 Schleiermacher, W., Der römische Limes in Deutschland. Berlin 1959 Watson, G.R., The Pay of the Roman Army, in: Hi storia 5 (1956), S. 332 –, The Pay of the Roman Army: the Auxiliary Forces, in: Historia 8 (1959), S. 372 Kongresse über Grenzstudien: Birley, E. (Hg.), The Congress of Roman Frontier Studies 1949. Durham 1952 Swoboda, E. (Hg.), Carnuntina. Graz-Köln, 1956 Limes-Studien. Basel 1959 Limes Romanus Konferenz. Nitra. Preßburg 1959 Quintus Congressus Internationalis Limitis Romani Studiosorum 1961. Zagreb 1963 Kapitel 7: Italien Chilver, G.E.F., Cisalpine Gaul. Oxford 1941 Sirago, V.A., L’Italia agraria sotto Traiano. Löwen 1958 Kapitel 8: Die westlichen Provinzen: Gallien, Spanien und Britannien Gallien: Brogan, O., Roman Gaul. London 1953 Griffe, E., La Gaule chrétienne à l’époque romaine. 2. Aufl. Paris 1964 Hatt, J.-J., Histoire de la Gaule romaine. Paris 1959 Jullian, C., Histoire de la Gaule. Bd. 4–7. Paris 1913–26 Koethe, H., Zur Geschichte Galliens im dritten Viertel des 3. Jahrhunderts, 32. Bericht, Röm.-Germ. Kom. 1942 (1944), S. 199

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Spanien: Étienne, R., Le culte impériale dans la péninsule iberique d’Auguste à Diocletian. Paris 1958 Menéndez Pidal, R. (Hg.), Historia de España. Bd. II: España Romana. 2. Aufl. Madrid 1955 Sutherland, C.H.V., The Romans in Spain 217 BC-AD 117. London 1939 Thouvenot, R., Essai sur la province romaine de Bétique. Paris 1940 Britannien: Harris, E. und Harris, J.R., The Oriental Cults in Roman Britain Leiden 1965 Richmond, I.A., Roman Britain. 2. Aufl. Harmondsworth 1963 Rivet, A.L.F., Town and Country in Roman Britain. London 1958 Toynbee, J.M.C., Art in Britain under the Romans. Oxford 1964 Kapitel 9: Afrika Frend, W.H.C., The Donatist Church. Oxford 1952 Picard, G.-C., La civilisation de l’Afrique romaine. Paris 1959 Romanelli, P., Storia delle province romane dell’Africa. Rom 1959 Kapitel 10: Ägypten Bell, H.I., Egypt from Alexander the Great to the Arab Conquest. Oxford 1948 –, Cults and Creeds in Graeco-Roman Egypt. Liverpool 1953 Jones, A.H.M., Cities of the Eastern Roman Provinces. Oxford 1937, Kap. 11 Mitteis, L. und Wilcken, U., Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde. Bd. 1–2. Leipzig-Berlin 1912 Reinmuth, O.W., The Prefect of Egypt from Augustus to Diocletian, in: Klio, Beiheft 34. N. F / 4 (1935) Tcherikover, V.A. und Fuks, A., Corpus Papyrorum Judaicarum. Bd. 1–2. Harvard 1957–60 (für alle Aspekte der Geschichte der Juden in Ägypten). Winter, J.G., Life and Letters in the Papyri. Ann Arbor (Michigan) 1933 Kapitel 11: Die griechischen Provinzen Bengtson, H., Griechische Geschichte. 3. Aufl. München 1965, S. 507 ff. Jones, A.H.M., Cities of the Eastern Roman Provinces. Oxford 1937, Kap. 2–10 –, The Greek City. Oxford 1940

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Kleinasien: Chapot, V., La province romaine proconsulaire d’Asie. Paris 1904 Magie, D., Roman Rule in Asia Minor. Princeton 1950 Syrien: Downey, G., A History of Antioch in Syria from Seleucus to the Arab Conquest. Princeton 1961 Hitti, P.K., History of Syria. 2. Aufl. London 1957 Die Juden: Avi-Yonah, M., Geschichte der Juden im Zeitalter des Talmud. Berlin 1962 Schürer, E., Geschichte des Jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. 3. u. 4. Aufl. Leipzig 1901–09 Kapitel 12: Der Balkan und die Donauprovinzen Norikum: Polaschek, E., ›Noricum‹, in: RE XVII (1937), Sp. 971–1048 Pannonien: Mócsy, A., ›Pannonia‹, in: RE Supp. IX (1962), Sp. 516–776 Oliva, P., Pannonia and the Onset of Crisis in the Roman Empire. Prag 1962 Dalmatien: Alföldy, G., Bevölkerung und Gesellschaft der römischen Provinz Dalmatien. Budapest 1965 Mösien: Mócsy, A., Untersuchungen zur Geschichte der römischen Provinz Moesia Superior, Acta Arch. Acad. Sc. Hung. 11 (1959), S. 283 Zlatovskaia, T.D., Mjosia v 1–11 vjekach naschē eri. Moskau 1951 Dakien:

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Daicoviciu, C., Siebenbürgen im Altertum. Bukarest 1943 (Bibliographie zu Kapitel 15) Thrakien: Jones, A.H.M., Cities of the Eastern Roman Provinces. Oxford 1937, Kap. 1 Wiesner, J., The Thraker. Stuttgart 1963 Kapitel 13: Das Reich und die Krise des 3. Jahrhunderts Rémondon, R., La crise de l’Empire romain de Marc- Aurèle à Anastase. Paris 1964 Schtajerman, E.M., Die Krise der Sklavenhalterordnung im Westen des römischen Reiches. Berlin 1964 Walser, G. und Pekáry, T., Die Krise des römischen Reiches: Bericht über die Forschung zur Geschich te des 3. Jahrhunderts (193–284 n. Chr.) von 1939 bis 1959. Berlin 1962 Kapitel 14: Iran in parthischer und sassanidischer Zeit Eine allgemeine Einführung und Bibliographie bietet Frye, R.N., Persien bis zum Einbruch des Islam, Zürich-München 1962, S. 354 ff. Debevoise, N.C., A Political History of Parthia. Chikago 1938, S. 303 ff. ist das grundlegende Werk über die Parther. Ziegler, K.H., Die Beziehungen zwischen Rom und dem Partherreich. Wiesbaden 1964, S. 158 ff. gibt einen Überblick mit einer umfassenden Bibliographie. Walser, G. und Pekáry, T., Die Krise des römischen Reiches. Berlin 1962, S. 146 ff. bietet eine kommentierte Bibliographie für die erste Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Luckonin, V.G., Iran v epokhu pervykh sasanidov. Leningrad 1961, S. 79 ff. gibt einen guten Überblick über die frühen Sassaniden. Gagé, J., La montée des Sassanides. Paris 1964, S. 398 ff. gibt eine Zusammenfassung der Ereignisse nebst Übersetzungen aus verschiedenen Quellen. The Cambridge History of Iran. Bd. 3 (in Vorbereitung) wird den neuesten Stand der Forschung auf diesem Gebiet wiedergeben. Kapitel 15: Die Daker im 1. Jahrhundert n. Chr.

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Die römische Eroberung. Über die Thraker und Geto-Daker: Pârvan, V., Getica. O protoistorie a Daciei. Bukarest 1926 Daicoviciu, C., in: Istoria României ( = Geschichte Rumäniens). Bd. I (1960), S. 225–338 Wiesner, Joseph, Die Thraker. Stuttgart 1963 Die antiken Quellen über die Daker und Geten sind gesammelt in: Izvoare privind istoria României I (Fontes ad historiam Dacoromaniae pertinentes I: Ab Hesiodo usque ad Itinerarium Antonini) Bukarest 1964 Über Transsylvanien: Daicoviciu, C., La Transsylvanie dans l’antiquité. Bukarest 1945 Über das Vordringen der Römer im unteren Donauraum im 1. Jahrhundert n. Chr.: Pippidi, D.M. und Berciu, D.: Din istoria Dobrogei (Über die Geschichte der Dobrudscha) I. Bukarest 1965 Zur Geschichte der Daker und ihrer Zivilisation: Daicoviciu, H., Dacii (Die Daker). Bukarest 1965 Daicoviciu, C., Le problème de l’État et de la culture des Daces à la lumière des nouvelles recherches, in: Nouvelles Études d’histoire. Bukarest 1955 Über die Kontinuität der Daker und der dakischen Rumänen: Daicoviciu, C., Petrovici, Em. und Stefan, G., La formation du peuple Roumain et de sa langue. Bukarest 1963 Kapitel 16: Die skythisch-sarmatischen Stämme Südosteuropas Artamonov, M.I., K Voprosu o proiskhojhd’eni’e Skifov. Leningrad 1950 Ginters, B., Das Schwert der Skythen und Sarmaten in Südrußland. Berlin 1928 Harmatta, J., Studies on the History of the Scythians. Budapest 1950 Kondakov, N. und Tolstoi, J., Antiquités de la Russie Méridionale, Paris 1891 (für Einzelheiten zum Novocherkask-Schatz) Párducz, M., Denkmäler der Sarmatenzeit Ungarns, in: Archaeologia Hungarica 25 (1941); 28 (1944); 30 (1950)

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Richmond, I.A., The Sarmatae, Bremetennacum Veteranorum and the Regio Bremetennacensis, in: JRS 35 (1945), S. 15 Rostovtzeff, M., Antichnaya Dekorativnaya Zhivopic’na jug’e Roccii. St. Petersburg 1914 –, Le culte de la grande déesse la Russie méridionale, in: Revue des Etudes Grecques 32 (1919), S. 462 Trever, C.V., Tête de Senmuro en argent des collections de l’Ermitage, in: Iranica Antiqua IV, Fasc. 2, S. 162–170. Leiden 1964 Kapitel 17: Die Germanen I. Quellen: Capelle, W., Das alte Germanien. Die Nachrichten der griechischen und römischen Schriftsteller. Jena 1937 (Sammlung in deutscher Übersetzung) II. Allgemeine Darstellungen (Geschichte, Kulturgeschichte, Archäologie): Brøndsted, I. Nordische Vorzeit. Bd. 3: Eisenzeit in Dänemark. Neumünster 1963 Eggers, H.J., Zur absoluten Chronologie der römischen Kaiserzeit im Freien Germanien, in: Jahrb. d. Röm.-Germ. Zentralmuseums Mainz 2 (1955) Hoops, J., Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Bd. 1–4. Straßburg 1911–19 Müllenhoff, K., Deutsche Altertumskunde. Bd. 1–5. 2. Aufl. Berlin 1890–1929 Reinerth, H. (Hg.), Vorgeschichte der deutschen Stämme. Bd. 1–3. Leipzig 1940 Roeren, R., Zur Archäologie und Geschichte Südwestdeutschlands im 3. bis 5. Jahrhundert n. Chr., in: Jahrb. d. Röm.-Germ. Zentralmuseums Mainz 7 (1960) Schmidt, L., Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Die Ostgermanen. 2. Aufl. München 1941. – Die Westgermanen. Teil 1. 2. Aufl. München 1938. Teil 2, 1., 2. Aufl. München 1940 Schneider, H. (Hg.), Germanische Altertumskunde. 2. Aufl. München 1951 Uslar, R.v., Bemerkungen zu einer Karte germanischer Funde der älteren Kaiserzeit, in: Germania 29 (1951) (dort Angabe der regionalen archäologischen Literatur) –, Archäologische Fundgruppen und germanische Stammesgebiete vornehmlich aus der Zeit um Christi Geburt, in: Hist. Jahrb. 71 (1952) Zwikker, W., Studien zur Markussäule. Bd. 1. Amsterdam 1941 III. Soziale und politische Gliederung: Dannenbauer, H., Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen, in: Hist. Jahrb. 61 (1941). Wege der Forschung, Bd. 2. Darmstadt 1956

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Kuhn, H., Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft, in: Zeitschr. d. Savigny-Stiftg. für Rechtsgesch., Germ. Abtlg. 73 (1956) Schlesinger, W., Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in: Hist. Zeitschr. 176 (1953) = Wege der Forschung, Bd. 2. Darmstadt 1956 Wenskus, R., Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen Gentes. Köln- Graz 1961 IV. Fürstengräber: Eggers, H.J., Lübsow. Ein germanischer Fürstensitz der älteren Kaiserzeit, in: Prähist. Zeitschr. 34 / 35, 2. Hälfte (1953) Schulz, W., Leuna. Ein germanischer Bestattungs platz der spätrömischen Kaiserzeit, in: Schrft. d. Sektion f. Vor- u. Frühgesch. d. dtsch. Akad. d. Wissensch. Berlin. Bd. 1. Berlin 1953 Werner, J., Pfeilspitzen aus Silber und Bronze in germanischen Adelsgräbern der Kaiserzeit, in: Hist. Jahrb. 74 (1955) V. Bild und Schrift: Eggers, H.J., Die Kunst der Germanen in der Eisenzeit, in: Kunst der Welt. Baden-Baden 1964 Werner, J., Die beiden Zierscheiben des Thorsberger Moorfundes, in: Röm.-Germ.-Forschg., Bd. 16. Berlin 1941 VI. Opferplätze: Behm-Blancke, G., Germanische Mooropferplätze in Thüringen, in: Ausgrabungen und Funde 2 (1957) –, Das germanische Tierknochenopfer und sein Ursprung, in: Ausgrabungen und Funde 10 (1965) Jankuhn, H., Zur Deutung der Moorleichenfunde von Windeby, in: Prähist. Zeitschr. 36 (1958) –, Moorfunde, in: Neue Ausgrabungen in Deutschland. Berlin 1958 VII. Bewaffnung: Jahn, M., Die Bewaffnung der Germanen in der älteren Eisenzeit, in: Mannus-Bibliothek, Bd. 16. Leipzig 1916 Raddatz, K., Ringknaufschwerter aus germanischen Kriegergräbern, in: Offa 17 / 18 (1959 / 61) –, Pfeilspitzen aus dem Moorfund von Nydam, in: Offa 20 (1963)

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VIII. Siedlungswesen: Giffen, E. van, Prähistorische Hausformen auf Sandböden in den Niederlanden, in: Germania 36 (1958) Haarnagel, W., Die Ergebnisse der Grabung Feddersen Wierde in Niedersachsen im Jahre 1961, in: Germania 41 (1963) Hagen, A., Studier i Jernalderns Gårdssamfunn, in: Universitetets Oldsaksamlings Skrifter, Bd. 4. Oslo 1953 Hougen, H., Fra Seter til Gard. Oslo 1947 Jankuhn, H. Terra ... silvis horrida (zu Tacitus, Germania cap. 5), in: Archaeologia Geographica 10 / 11 (1961 / 63) Verzeichnis und Nachweis der Abbildungen � 1 The British Museum, London � 2 Staatliche Museen, Berlin � 3 nach einer Vorlage von Herrn Dr. Fergus Millar, Oxford � 4 nach einer Vorlage von Herrn Dr. Fergus Millar, Oxford � 5 Walter de Gruyter & Co., Berlin � 6 Fototeca di Architettura e Topografia dell’Italia Antica, Rom � 7 Foto Marburg � 8 Musée Archéologique de Dijon � 9 The Warburg Institute, London � 10 Service des Antiquités de l’Algerie, Algier � 11 The British Museum, London � 12 Österreichisches Archäologisches Institut, Wien � 13 Dr. Jochen Garbsch, München � 14 nach einer Vorlage von Herrn Prof. Richard N. Frye, Harvard University, Cambridge / Mass.

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� 15 nach K. Erdmann, Die Entwicklung der sassanidischen Krone, in: Ars Islamica XV (1951), S. 123 � 16 Prof. Dr. D. Berciu, Bukarest � 17 Fogg Art Museum, Cambridge / Mass.

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