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Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Spieler

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Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Spieler

Originalausgabe: Leipzig, Insel-Verlag, 1919

Übersetzung: Hermann Röhl

Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2013 by Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-336-4

Umfang: 239 Normseiten bzw. 255 Buchseiten

www.null-papier.de/derspieler

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Das Buch

»Der Spieler« ist ein Roman von Fjodr Michailowitsch Dosto-jewski.

Erzählt wird die komische, gelegentlich ins Groteske abrut-schende Geschichte einer Gruppe von Menschen, in der jederfür sich kurz vor dem finanziellen Ruin steht. Im erfundenenKurort Roulettenburg lauert man auf den Tod der reichen Erb-tante und die damit eintretende, errettende Erbschaft. Dochstatt der Nachricht über ihr erwartetes Ableben erscheint dieTante selbst, die sich bester Gesundheit erfreut und zum Schre-cken aller das Roulettespiel für sich entdeckt.

»Der Spieler« wird 1866 bald nach »Schuld und Sühne«veröffentlicht. Dostojewski hatte Spielschulden, und sein Ver-leger Stellowski forderte eine schnellstmögliche Fertigstellung.Der Roman trägt autobiographische Züge, so ist in Rouletten-burg unschwer Wiesbaden zu erkennen, wo Dostojewski erst-malig mit Roulette in Berührung kam. Präzise Kenntnisse rundum das Glückspieler-Milieu kennzeichnen diese Geschichte,die der Autor in Rekordzeit seiner Stenotypistin und späterenEhefrau Anna diktierte.

»Der Spieler« ist die Vorlage für Sergei Prokofjews gleich-namige Oper von 1917 sowie für mehrere Verfilmungen.

Informationen über Gratisangebote und Neuveröffentlichungenunter:

www.null-papier.de/newsletter

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Autor und Werk

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (geb. 11. November 1821in Moskau; gest. 9. Februar 1881 in Sankt Petersburg) gilt alseiner der bedeutendsten russischen Schriftsteller.

Fjodor Dostojewski war das zweite Kind von Michail An-drejewitsch Dostojewski und Maria Fjodorowna Netschajewa.Er hatte zwei Brüder und drei Schwestern. Die Familie ent-stammte verarmtem Adel; der Vater war Arzt. Nach dem Todseiner Mutter, 1837, ließ sich Dostojewski mit seinem BruderMichail in St. Petersburg nieder, wo er von 1838 bis 1843 Bau-ingenieurwesen studierte. 1839 soll sein Vater auf dem heimi-schen Landgut durch Leibeigene ermordet worden sein.

Dostojewski war zweimal verheiratet. Seine erste Ehe mitder Witwe Maria Dmitrijewna Isajewa endete 1864 nach siebenJahren mit dem Tod Marias und war kinderlos. Seine zweiteFrau war Anna Grigorjewna Snitkina. Aus der am 15. Februar1867 geschlossenen Ehe, die bis zu Dostojewskis Tod andauer-te, gingen vier Kinder hervor, von denen jedoch nur zwei dasErwachsenenalter erreichten.

Dostojewski begann 1844 mit den Arbeiten zu seinem 1846veröffentlichten Erstlingswerk »Arme Leute«. Mit dessen Er-scheinen wurde er schlagartig berühmt; die zeitgenössischeKritik feierte ihn als Genie. 1847 trat er dem revolutionärenZirkel bei. 1949 denunzierte man ihn, und er wurde zum Todeverurteilt. Eigentlich hätte er am 22. Dezember 3. Januar 1850durch ein Erschießungskommando hingerichtet werden sollen.Erst auf dem Richtplatz begnadigte Zar Nikolaus I. ihn zu vierJahren Verbannung und Zwangsarbeit in Sibirien, mit anschlie-

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ßender Militärdienstpflicht. In der Haft in Omsk wurde bei Do-stojewski zum ersten Mal Epilepsie diagnostiziert.

1854 trat er seine Militärpflicht im Rahmen seiner Verban-nung in Semei (Semipalatinsk) an; 1856 wurde er zum Offizierbefördert. Nach seiner Heirat 1857 und schweren epileptischenAnfällen beantragte er seine Entlassung aus der Armee, die je-doch erst 1859 bewilligt wurde, sodass Dostojewski nach St.Petersburg zurückkehren konnte.

1859, noch zur Zeit seiner sibirischen Verbannung, entstandsein Roman »Onkelchens Traum«, unmittelbar vor den »Auf-zeichnungen aus einem Totenhaus« (1860).

Gemeinsam mit seinem Bruder gründete er die Zeitschrift»Zeit« (Wremja), in der im darauf folgenden Jahr sein Roman»Erniedrigte und Beleidigte« erschien.

Bereits 1863 jedoch fiel die Zeitschrift der Zensur zum Op-fer und wurde verboten. In der 1860er Jahren reist Dostojewskimehrmals durch Europa.

1863 spielte er zum ersten Mal Roulette. 1864 starben inkurzer Folge Dostojewskis erste Frau, sein Bruder und seinFreund Apollon Grigorjew; die Nachfolgezeitschrift der»Zeit«, die »Epoche«, musste er aus Geldmangel einstellen.

1865 verspielte er beim Roulette in der Spielbank in Wies-baden seine Reisekasse. Im Mittelpunkt seines 1866 erschiene-nen Romans »Der Spieler« steht ein Roulettespieler. Im selbenJahr erschien der erste der großen Romane, durch die Dosto-jewskis Werk Teil der Weltliteratur wurde: »Schuld und Süh-

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ne« (oder auch in der Neuübersetzung: »Verbrechen und Stra-fe«).

Kurz nach seiner zweiten Eheschließung, 1867, nach demZusammenbruch der mit seinem Bruder gegründeten zweitenZeitschrift ins Ausland, um sich dem Zugriff seiner Gläubigerzu entziehen. Er wohnte längere Zeit in Dresden.

Erst 1871 kehrte er wieder nach Russland zurück. Entgegender weitverbreiteten Annahme, Dostojewski habe große Beträ-ge am Roulettetisch verloren, war er ein Spieler mit geringenEinsetzen, der oft tagelang mit dem Geld eines gerade verpfän-deten Kleides seiner Frau spielte.

1868 erschien sein zweites Großwerk, »Der Idiot«, die Ge-schichte des Fürsten Myschkin, der (wie Dostojewski selbst)unter Epilepsie leidet und aufgrund seiner Güte, Ehrlichkeitund Tugendhaftigkeit in der St. Petersburger Gesellschaftscheitert.

Zu seinem Ende hin verlief das Leben Dostojewskis in ruhi-geren Bahnen. Er verfasste seine beiden letzten großen Werke,den Roman »Der Jüngling« – in der Neuübersetzung »Ein grü-ner Junge« – und schließlich den Roman »Die Brüder Karama-sow«, den er in den 1860er Jahren, also in der Zeit der Entste-hung von »Schuld und Sühne«, begonnen hatte und der dieEntwicklung der russischen Gesellschaft bis in die 1880er Jah-re behandeln sollte.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski starb am 9. Februar1881 in Sankt Petersburg an einem Lungenemphysem; an sei-nem Begräbnis nahmen 60.000 Menschen teil. Sein Grab befin-

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det sich auf dem Tichwiner Friedhof des Alexander-New-ski-Klosters.

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Die wichtigsten handelnden Personen

Der General: Witwer

Polina Alexêndrowna, auch Praskówja: seine Stieftochter

Alexéj Iwênowitsch: Hauslehrer im Hause des Generals, Spie-ler und Erzähler dieses Romans

Mademoiselle Blanche de Cominges, alias MademoiselleBarberini, alias Mademoiselle Selma, alias Mademoiselle duPlacet: Verlobte und spätere Frau des Generals

Antonída Wassíljewna Tarassewitschewa: Gutsbesitzerin,Tante des Generals

Marquis de Grieux: Gläubiger des Generals

Mister Astley: englischer Zuckerfabrikant

Weitere Personen

Mêrja Filíppowna: Schwester des Generals

Míscha und Nêdja: seine Kinder

Fedósja: Kinderfrau im Hause des Generals

Madame veuve de Cominges: Mutter von MademoiselleBlanche

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Potêpytsch: Haushofmeister von Antonída Wassíljewna Ta-rasséwitschewa

Mêrfa: ihre Zofe

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Erstes Kapitel

ndlich bin ich nach vierzehntägiger Abwesenheit zu-rückgekehrt. Die Unsrigen befinden sich schon seit dreiTagen in Roulettenburg. Ich hatte geglaubt, sie warte-

ten bereits auf mich mit der größten Ungeduld; indes ist diesmeinerseits ein Irrtum gewesen. Der General zeigte eine sehrstolze, selbstbewußte Miene, sprach mit mir ein paar Wortesehr von oben herab und schickte mich dann zu seiner Schwes-ter. Offenbar waren sie auf irgendwelche Weise zu Geld ge-kommen. Es kam mir sogar so vor, als sei es dem General eini-germaßen peinlich, mich anzusehen. Marja Filippowna hatteaußerordentlich viel zu tun und redete nur flüchtig mit mir; dasGeld nahm sie aber in Empfang, rechnete es nach und hörtemeinen ganzen Bericht an. Zum Mittagessen erwarteten sieHerrn Mesenzow, außerdem noch einen kleinen Franzosen undeinen Engländer. Das ist bei ihnen einmal so Brauch: sobaldGeld da ist, werden auch gleich Gäste zum Diner eingeladen,ganz nach Moskauer Art. Als Polina Alexandrowna mich er-blickte, fragte sie mich, was ich denn solange gemacht hätte;aber sie entfernte sich dann, ohne meine Antwort abzuwarten.Selbstverständlich tat sie das mit Absicht. Indessen müssen wiruns notwendigerweise miteinander aussprechen. Es hat sichviel Stoff angesammelt.

E

Es wurde mir ein kleines Zimmer im vierten Stock des Ho-tels angewiesen. Hier ist bekannt, daß ich »zur Begleitung desGenerals« gehöre. Aus allem war zu entnehmen, daß sie es be-reits verstanden hatten, sich ein Ansehen zu geben. Den Gene-ral hält hier jedermann für einen steinreichen russischenGroßen. Noch vor dem Diner gab er mir, außer anderen Kom-

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missionen, auch den Auftrag, zwei Tausendfrancscheine, die ermir einhändigte, zu wechseln. Ich bewerkstelligte das im Bürodes Hotels. Nun werden wir, wenigstens eine ganze Wochelang, für Millionäre gehalten werden. Ich wollte mit Mischaund Nadja spazierengehen, wurde aber, als ich schon auf derTreppe war, zum General zurückgerufen; er hielt es für nötig,mich zu fragen, wohin ich mit den Kindern gehen wolle. DieserMann ist schlechterdings nicht imstande, mir gerade in die Au-gen zu sehen; in dem Wunsch, es doch fertigzubringen, ver-sucht er es öfters; aber ich antworte ihm jedesmal mit einem sounverwandten, respektlosen Blick, daß er ordentlich verlegenwird. In sehr schwülstiger Redeweise, wobei er eine hohlePhrase an die andere reihte und schließlich völlig in Verwir-rung geriet, gab er mir zu verstehen, ich möchte mit den Kin-dern irgendwo im Park spazierengehen, in möglichst weiterEntfernung vom Kurhaus. Zum Schluß wurde er ganz ärgerlichund fügte in scharfem Ton hinzu: »Also bitte, führen Sie sienicht ins Kurhaus zum Roulett. Nehmen Sie es mir nicht übel;aber ich weiß, Sie sind noch ziemlich leichtsinnig und wärenvielleicht imstande, sich am Spiel zu beteiligen. Ich bin zwarnicht Ihr Mentor und hege auch gar nicht den Wunsch, einesolche Rolle zu übernehmen; aber jedenfalls habe ich wenigs-tens ein Recht darauf, mich von Ihnen nicht kompromittiert zusehen, um mich so auszudrücken.«

»Ich habe ja gar kein Geld«, antwortete ich ruhig. »UmGeld verspielen zu können, muß man doch welches besitzen.«

»Geld sollen Sie sofort erhalten«, erwiderte der General,wühlte in seinem Schreibtisch umher, nahm ein kleines Buchheraus und sah darin nach; es ergab sich, daß er mir ungefährhundertzwanzig Rubel schuldig war.

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»Wie wollen wir also unsere Rechnung erledigen?« sagteer; »wir müssen es in Taler umrechnen. Nehmen Sie da zu-nächst hundert Taler; das ist eine runde Summe; das übrigebleibt Ihnen natürlich sicher.«

Ich nahm das Geld schweigend hin.

»Sie müssen sich durch meine Worte nicht gekränkt fühlen;Sie sind so empfindlich… Ich wollte Sie durch meine Bemer-kung nur sozusagen warnen, und das zu tun habe ich doch na-türlich ein gewisses Recht…«

Als ich vor dem Mittagessen mit den Kindern nach Hausezurückkehrte, fand ich eine ganze Kavalkade vor. Die Unsrigenmachten einen Ausflug, um eine Ruine zu besuchen. Eineschöne Equipage, mit prächtigen Pferden bespannt, hielt vordem Hotel; darin saßen Mademoiselle Blanche, Marja Filip-powna und Polina; der kleine Franzose, der Engländer und un-ser General waren zu Pferde. Die Passanten blieben stehen undschauten; der Effekt war großartig, kam aber dem General ver-hältnismäßig teuer zu stehen. Ich rechnete mir aus: wenn mandie viertausend Franc, die ich mitgebracht hatte, und das Geld,das sie inzwischen augenscheinlich erlangt hatten, zusammen-nahm, so mochten sie jetzt sieben- oder achttausend Franc ha-ben. Das war für Mademoiselle Blanche eine gar zu geringeSumme.

Mademoiselle Blanche wohnt gleichfalls in unserem Hotel,und zwar mit ihrer Mutter; desgleichen auch unser kleinerFranzose. Die Hoteldienerschaft nennt ihn »Monsieur lecomte«, und Mademoiselle Blanches Mutter wird »Madame lacomtesse« betitelt; nun, vielleicht sind sie auch wirklich einGraf und eine Gräfin.

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Ich wußte vorher, daß Monsieur le comte mich nicht erken-nen werde, als wir uns nach dem Mittagessen zusammenfan-den. Dem General kam es natürlich nicht in den Sinn, uns mit-einander bekannt zu machen oder auch nur mich ihm vorzustel-len; Monsieur le comte aber hat sich selbst in Rußland aufge-halten und weiß, was für eine unbedeutende Person ein Haus-lehrer in Rußland ist. Er kennt mich übrigens recht gut. Aber,die Wahrheit zu gestehen, ich erschien beim Mittagessen, ohneüberhaupt dazu aufgefordert zu sein; der General hatte wohlvergessen, eine Anordnung darüber zu treffen; sonst hätte ermich wahrscheinlich geheißen, an der Table d’hôte zu essen.Ich stellte mich von selbst ein, so daß der General mir einenunzufriedenen Blick zuwarf. Die gute Marja Filippowna wiesmir sogleich einen Platz an; aber mein früheres Zusammentref-fen mit Mister Astley half mir aus der Verlegenheit, und sowurde ich, wie wenn das selbstverständlich wäre, als berechtig-tes Mitglied dieser Gesellschaft angesehen.

Mit diesem sonderbaren Engländer war ich zum erstenmalin Preußen zusammengetroffen, im Eisenbahnwagen, wo wiruns gegenübersaßen, als ich in Eile den Unsrigen nachreiste.Dann war ich jetzt auf ihn gestoßen, als ich nach Frankreichhineinfuhr, und endlich in der Schweiz, also während dieserzwei Wochen zweimal. Und nun kam ich mit ihm plötzlich hierin Roulettenburg zusammen. Nie in meinem Leben habe icheinen Menschen gefunden, der schüchterner gewesen wäre; sei-ne Schüchternheit streift schon an Dummheit, und er selbstweiß das natürlich, da er ganz und gar nicht dumm ist. Im übri-gen ist er ein sehr lieber, stiller Mensch. Gleich bei der erstenBegegnung in Preußen faßte er ein solches Zutrauen zu mir,daß er ganz gesprächig wurde. Er teilte mir mit, er sei in die-sem Sommer am Nordkap gewesen und habe große Lust, sichdie Messe in Nischni-Nowgorod anzusehen. Ich weiß nicht,

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wie er mit dem General bekannt wurde; mir scheint, daß er bisüber die Ohren in Polina verliebt ist. Als sie eintrat, wurde seinGesicht rot wie der Himmel beim Aufgang der Sonne. Er freutesich sehr darüber, daß ich bei Tisch neben ihm saß, und scheintmich schon als seinen Busenfreund zu betrachten.

Bei Tisch spielte sich der kleine Franzose stark auf und be-nahm sich gegen alle geringschätzig und hochmütig. Und dabeiweiß ich noch recht gut, wie knabenhaft er in Moskau zu redenpflegte. Er sprach jetzt furchtbar viel über Finanzwesen undüber die russische Politik. Der General raffte sich mitunterdazu auf, ihm zu widersprechen, aber nur in bescheidener Wei-se und lediglich in der Absicht, auf seine Würde nicht völligVerzicht zu leisten.

Ich befand mich in einer eigentümlichen Stimmung. Selbst-verständlich legte ich mir, schon ehe noch die Mahlzeit halb zuEnde war, meine gewöhnliche, stete Frage vor: »Warum gebeich mich mit diesem General ab und bin nicht schon längst vonall diesen Menschen weggegangen?« Mitunter blickte ich zuPolina Alexandrowna hin; sie schenkte mir gar keine Beach-tung. Schließlich wurde ich ärgerlich und bekam Lust, grob zuwerden.

Ich machte den Anfang damit, daß ich mich auf einmalohne jede Veranlassung laut und ungefragt in ein fremdes Ge-spräch einmischte. Namentlich hatte ich den Wunsch, mich mitdem kleinen Franzosen zu zanken. Ich wandte mich an den Ge-neral und bemerkte, indem ich ihn unterbrach, auf einmal sehrlaut und in sehr bestimmtem Ton, es sei in diesem Sommer fürRussen so gut wie unmöglich, in den Hotels an der Tabled’hôte zu speisen. Der General warf mir einen verwundertenBlick zu.

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»Wenn man einige Selbstachtung besitzt«, fuhr ich fort, »sogerät man unfehlbar in Streit und setzt sich argen Beleidigun-gen aus. In Paris und am Rhein, sogar in der Schweiz sitzen ander Table d’hôte so viel Polen und so viel Franzosen, die mitihnen sympathisieren, daß es unmöglich ist, ein Wort zu reden,wenn man bloß Russe ist.«

Ich hatte das auf französisch gesagt. Der General sah michganz verblüfft an und wußte nicht, sollte er sich darüber ärgernoder sich nur darüber wundern, daß ich mich so vergessen hat-te.

»Es hat Ihnen gewiß irgendwo jemand eine Lektion erteilt«,sagte der kleine Franzose in nachlässigem, geringschätzigemTon.

»In Paris stritt ich mich einmal zuerst mit einem Polen her-um«, antwortete ich, »und dann mit einem französischen Offi-zier, der die Partei des Polen nahm. Darauf aber ging ein Teilder Franzosen auf meine Seite über, als ich ihnen erzählte, daßich einmal einem Monsignore hätte in den Kaffee spucken wol-len.«

»Spucken?« fragte der General mit würdevollem Erstaunenund blickte rings um sich. Der kleine Franzose sah mich un-gläubig an.

»Allerdings«, erwiderte ich. »Da ich ganze zwei Tage langglaubte, daß ich in unserer geschäftlichen Angelegenheit mög-licherweise würde für ein Weilchen nach Rom reisen müssen,so ging ich in die Kanzlei der Gesandtschaft des Heiligen Va-ters in Paris, um meinen Paß visieren zu lassen. Dort fand ichso einen kleinen Abbé, etwa fünfzig Jahre alt, ein dürres Männ-

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chen mit kalter Miene; der hörte mich zwar höflich, aber sehrgleichgültig an und ersuchte mich zu warten. Obwohl ich es ei-lig hatte, setzte ich mich natürlich doch hin, um zu warten, zogdie Opinion nationale aus der Tasche und begann eine furcht-bare Schimpferei auf Rußland zu lesen. Währenddessen hörteich, wie jemand durch das anstoßende Zimmer zu dem Monsi-gnore ging, und sah, wie mein Abbé ihn durch eine Verbeu-gung grüßte. Ich wandte mich noch einmal an ihn mit meinerfrüheren Bitte; aber in noch trocknerem Ton ersuchte er michwieder zu warten. Bald darauf trat noch jemand ein, kein Be-kannter, sondern einer, der ein geschäftliches Anliegen hatte,ein Österreicher; er wurde angehört und sogleich nach oben ge-leitet. Da wurde ich nun aber sehr ärgerlich; ich stand auf, tratan den Abbé heran und sagte zu ihm in entschiedenem Ton, dader Monsignore empfange, so könne er auch mich abfertigen.Mit einer Miene des äußersten Erstaunens wankte der Abbé vormir zurück. Es war ihm geradezu unfaßbar, wie so ein wertlo-ser Russe es wagen könne, sich mit den andern Besuchern desMonsignore auf eine Stufe zu stellen. Im unverschämtestenTon, wie wenn er sich darüber freute, mich beleidigen zu kön-nen, rief er, indem er mich vom Kopf bis zu den Füßen mit sei-nen Blicken maß: ›Meinen Sie wirklich, daß Monsignore umIhretwillen seinen Kaffee stehenlassen wird?‹ Nun fing ichgleichfalls an zu schreien, aber noch stärker als er: ›Spuckenwerde ich Ihrem Monsignore in seinen Kaffee; das mögen Sienur wissen! Wenn Sie meinen Paß nicht augenblicklich fertig-machen, so gehe ich zu ihm selbst hin.‹

›Wie? Während der Kardinal bei ihm ist?‹ rief der kleineAbbé, indem er erschrocken von mir wegtrat, zur Tür eilte, dieArme kreuzweis übereinanderlegte und dadurch zu verstehengab, daß er eher sterben als mich durchlassen wolle. Da ant-wortete ich ihm, ich sei ein Ketzer und ein Barbar, que je suis

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hérétique et barbare, und all diese Erzbischöfe, Kardinäle,Monsignori usw. seien mir absolut gleichgültig. Kurz, ichmachte Miene, meinen Willen durchzusetzen. Der Abbé blicktemich mit grenzenlosem Ingrimm an; dann riß er mir meinenPaß aus der Hand und ging mit ihm nach oben. Eine Minutedarauf war er schon visiert. ›Da ist er; wollen Sie ihn sich anse-hen?‹ Ich zog den Paß heraus und zeigte das römische Visum.«

»Aber da haben Sie denn doch…«, begann der General.

»Das hat Sie gerettet, daß Sie sich als einen Barbaren undKetzer bezeichneten«, bemerkte der kleine Franzose lachend.»Cela n’était pas si bête.«

»Sollen wir Russen uns so behandeln lassen? Aber unsereLandsleute sitzen hier, wagen nicht, sich zu mucken, und ver-leugnen wohl gar ihre russische Nationalität. Aber wenigstensin Paris, in meinem Hotel, gingen die Leute mit mir weit re-spektvoller um, nachdem ich allen mein Renkontre mit demAbbé erzählt hatte. Ein dicker polnischer Pan, der an der Tabled’hôte am feindseligsten gegen mich aufgetreten war, sah sichvöllig in den Hintergrund gedrängt. Die Franzosen nahmen essogar geduldig hin, als ich erzählte, daß ich vor zwei Jahreneinen Menschen gesehen hätte, auf den im Jahre 1812 ein fran-zösischer Chasseur geschossen habe, einzig und allein, um seinGewehr zu entladen. Dieser Mensch war damals noch ein zehn-jähriger Knabe gewesen, und seine Familie hatte nicht Zeit ge-funden, aus Moskau zu flüchten.«

»Das ist unmöglich!« fuhr der kleine Franzose auf. »Einfranzösischer Soldat wird nie auf ein Kind schießen!«

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»Und es ist trotzdem wahr«, erwiderte ich. »Der Betreffen-de, nun ein achtungswerter Hauptmann a. D., hat es mir selbsterzählt, und ich habe auf seiner Backe die Schramme von derKugel selbst gesehen.«

Der Franzose opponierte mit großem Wortschwall und inschnellem Tempo. Der General wollte ihm dabei behilflichsein; aber ich empfahl ihm, beispielsweise einzelne Abschnitteaus den Memoiren des Generals Perowski zu lesen, der sich imJahre 1812 in französischer Gefangenschaft befunden hatte.Endlich begann Marja Filippowna, um dieses Gespräch abzu-brechen, von etwas anderem zu reden. Der General war sehrunzufrieden mit mir, weil ich und der Franzose schon beinaheins Schreien hineingeraten waren. Aber Mister Astley hatte,wie es schien, an meinem Streit mit dem Franzosen großes Ge-fallen gefunden; als wir vom Tisch aufstanden, lud er mich ein,mit ihm ein Glas Wein zu trinken.

Am Abend gelang es mir, wie das ja auch dringend erfor-derlich war, eine Viertelstunde lang mit Polina Alexandrownazu sprechen. Unser Gespräch kam auf dem Spaziergang zustan-de. Alle waren in den Park zum Kurhaus gegangen. Polinasetzte sich auf eine Bank, der Fontäne gegenüber, und gestatte-te der kleinen Nadja in ihrer Nähe mit anderen Kindern zuspielen. Ich ließ Mischa gleichfalls zur Fontäne gehen, und soblieben wir beide endlich allein.

Zuerst begannen wir natürlich von den geschäftlichen An-gelegenheiten zu reden. Polina wurde geradezu böse, als ich ihrinsgesamt nur siebenhundert Gulden einhändigte. Sie hatte mitBestimmtheit geglaubt, ich würde ihr aus Paris als Erlös vonder Verpfändung ihrer Brillanten mindestens zweitausend Gul-den oder sogar noch mehr mitbringen.

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»Ich brauche unter allen Umständen Geld«, sagte sie. »Be-schafft muß es werden; sonst bin ich einfach verloren.«

Ich fragte, was sich an Ereignissen während meiner Abwe-senheit zugetragen habe.

»Weiter nichts, als daß wir aus Petersburg zwei Nachrich-ten erhielten: zuerst die, daß es der alten Tante sehr schlechtgehe, und zwei Tage darauf eine andere, daß sie, wie es verlau-te, schon gestorben sei. Diese letztere Nachricht stammt vonTimofej Petrowitsch«, fügte Polina hinzu, »und das ist ein ver-läßlicher Mensch. Wir warten nun auf die letzte, endg ültigeNachricht.«

»Also befinden sich hier alle in gespannter Erwartung?«fragte ich.

»Gewiß, allesamt; seit einem halben Jahr leben sie nur vondieser Hoffnung.«

»Und auch Sie hoffen darauf?«

»Verwandt bin ich ja mit ihr eigentlich überhaupt nicht; ichbin nur eine Stieftochter des Generals. Aber ich glaube be-stimmt, daß sie in ihrem Testament meiner gedacht habenwird.«

»Ich meine, es wird Ihnen eine bedeutende Summe zufal-len«, erwiderte ich zustimmend.

»Ja, sie hatte mich gern; aber wie kommen gerade Sie zudieser Meinung?«

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»Sagen Sie«, antwortete ich mit einer Frage, »unser Mar-quis ist wohl gleichfalls in alle Familiengeheimnisse einge-weiht?«

»Warum interessiert Sie denn das?« fragte Polina, indemsie mich kühl und unfreundlich anblickte.

»Nun, das ist doch sehr natürlich. Wenn ich nicht irre, hatder General schon Geld von ihm geborgt.«

»Ihre Vermutung trifft durchaus zu.«

»Nun also; hätte der denn etwa das Geld hergegeben, wenner nicht über die alte Tante orientiert wäre? Haben Sie nicht beiTisch bemerkt: als er irgend etwas von ihr sagte, nannte er sieetwa dreimal ›Großmamachen‹. Was für ein vertrauliches,freundschaftliches Verhältnis!«

»Ja, Sie haben recht. Und sobald er erfahren wird, daß auchmir etwas durch das Testament zufällt, wird er sofort zu mirkommen und um mich werben. Das wollten Sie doch wohlgern wissen.«

»Er wird erst noch werben? Ich dachte, er täte das schonlängst.«

»Sie wissen recht gut, daß das nicht der Fall ist«, sagte Poli-na ärgerlich. »Wo sind Sie denn mit diesem Engländer früherschon zusammengetroffen?« fügte sie nach kurzem Still-schweigen hinzu.

»Das habe ich doch gewußt, daß Sie nach dem sofort fragenwürden.« Ich erzählte ihr von meinen früheren Begegnungenmit Mister Astley auf Reisen.

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»Er ist schüchtern und liebebedürftig, und natürlich ist erschon in Sie verliebt?«

»Ja, er ist in mich verliebt«, antwortete Polina.

»Und er ist selbstverständlich zehnmal so reich wie derFranzose. Besitzt denn der Franzose wirklich etwas? Ist dasnicht sehr zweifelhaft?«

»Nein, zweifelhaft ist das nicht. Er besitzt ein Château.Noch gestern hat der General zu mir mit aller Bestimmtheit da-von gesprochen. Genügt Ihnen das?«

»Ich würde an Ihrer Stelle unbedingt den Engländer heira-ten.«

»Warum?« fragte Polina.

»Der Franzose ist schöner, aber er hat einen schlechtenCharakter; der Engländer dagegen ist nicht nur ein ehrenhafterMann, sondern auch zehnmal so reich wie der andere«, erklärteich in entschiedenem Ton.

»Ja, aber dafür ist der Franzose ein Marquis und klüger«,entgegnete sie mit größter Seelenruhe.

»Aber ist das auch sicher?« fragte ich wie vorher.

»Vollständig sicher.«

Polina war über meine Fragen sehr ungehalten, und ich sah,daß sie mich durch den scharfen Ton ihrer Antwort ärgernwollte. Das hielt ich ihr denn auch sofort vor.

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»Nun ja, es amüsiert mich wirklich, wie grimmig Sie wer-den«, entgegnete sie darauf. »Schon allein dafür, daß ich Ihnenerlaube, solche Fragen zu stellen und solche Mutmaßungen zuäußern, müssen Sie einen Preis bezahlen.«

»Ich halte mich in der Tat für berechtigt, Ihnen solche Fra-gen zu stellen«, antwortete ich ganz ruhig, »namentlich deswe-gen, weil ich bereit bin, dafür jeden Preis zu zahlen, den Sieverlangen, und mein Leben jetzt für nichts achte.«

Polina lachte.

»Sie haben das letztemal auf dem Schlangenberg zu mir ge-sagt, Sie seien bereit, sich auf das erste Wort von mir kopf-über hinabzustürzen, und es geht dort, glaube ich, tausend Fußtief hinunter. Ich werde später einmal dieses Wort aussprechen,lediglich um zu sehen, wie Sie Ihrer Verpflichtung nachkom-men, und seien Sie überzeugt, daß ich nicht aus der Rolle fallenwerde. Sie sind mir verhaßt, besonders weil ich Ihnen soviel er-laubt habe, und in noch höherem Grade deshalb, weil ich Sie sonötig habe. Aber solange Sie mir nötig sind, darf ich Sie nichtzu Schaden kommen lassen.«

Sie stand auf. Sie hatte in gereiztem Ton gesprochen. In derletzten Zeit schloß sie jedes Gespräch, das sie mit mir führte,mit Ingrimm, Gereiztheit und ernstlichem Zorn.

»Gestatten Sie mir die Frage: was für eine Person ist eigent-lich diese Mademoiselle Blanche?« fragte ich. Ich wollte sienicht fortlassen, ohne einige Auskunft von ihr erhalten zu ha-ben.

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»Was für eine Person Mademoiselle Blanche ist, das wissenSie selbst. Neues hat sich seit Ihrer Abreise weiter nicht bege-ben. Mademoiselle Blanche wird wahrscheinlich Frau Genera-lin werden, selbstverständlich nur, wenn sich das Gerücht vondem Tod der Tante bestätigt; denn Mademoiselle Blanche undihre Mutter und ihr entfernter Vetter, der Marquis, wissen allesehr genau, daß wir ruiniert sind.«

»Ist denn der General ernstlich in sie verliebt?«

»Das geht uns jetzt nichts an. Hören Sie einmal zu, was ichsagen will, und merken Sie es sich genau: nehmen Sie diesesiebenhundert Gulden und spielen Sie damit! Gewinnen Siemir damit am Roulett, soviel Sie nur können: ich brauche jetztum jeden Preis Geld!«

Hierauf rief sie die kleine Nadja heran und ging nach demKurhaus, wo sie sich an die ganze Gesellschaft der Unsrigenanschloß. Ich meinerseits schlug, nachdenklich und verwun-dert, den erstbesten Steig nach links ein. Von ihrem Auftrag,zum Roulett zu gehen, fühlte ich mich wie vor den Kopf ge-schlagen. Es ging mir seltsam: ich hatte doch so vieles, wor-über ich hätte nachdenken können und sollen; aber dennochvertiefte ich mich vollständig in eine kritische Prüfung meinerEmpfindungen gegenüber Polina. Wahrlich, während meinervierzehntägigen Abwesenheit war mir leichter ums Herz gewe-sen als jetzt am Tag meiner Rückkehr, obgleich ich auf derReise mich wie ein Unsinniger nach ihr gesehnt hatte, wie einVerrückter umhergerannt war und sogar im Schlaf sie alle Au-genblicke vor mir gesehen hatte. Als ich einmal im Waggoneingeschlafen war (es war in der Schweiz), fing ich laut mitPolina zu sprechen an, zur großen Erheiterung aller Mitreisen-den. Und jetzt legte ich mir noch einmal die Frage vor: »Liebe

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ich sie?« Und auch diesmal wieder verstand ich nicht auf dieseFrage zu antworten, das heißt, richtiger gesagt, ich antwortetemir zum hundertsten Male wieder, daß ich von Haß gegen sieerfüllt sei. Ja, ich haßte sie. Es gab Augenblicke (namentlichjedesmal am Schluß unserer Gespräche), wo ich mein halbesLeben dafür gegeben hätte, sie zu erwürgen. Ich schwöre es:wenn ich ihr hätte ein spitzes Messer langsam in die Brust boh-ren können, so hätte ich, wie ich glaube, nach diesem Messermit Wonne gegriffen. Und trotzdem schwöre ich bei allem, washeilig ist: hätte sie auf dem Schlangenberg, auf jenem Aus-sichtspunkt, wirklich zu mir gesagt: »Stürzen Sie sich hinab!«,so würde ich mich sogleich hinabgestürzt haben, und sogar mitWonne; das weiß ich sicher. Aber nun mußte, so oder so, dieEntscheidung kommen. Polina hat für all dies ein überaus fei-nes Verständnis, und der Gedanke, daß ich mit vollkommenerKlarheit und Richtigkeit ihre ganze Unerreichbarkeit für mich,die ganze Unmöglichkeit der Erfüllung meiner Träumereieneinsehe, dieser Gedanke gewährt ihr (davon bin ich überzeugt)einen außerordentlichen Genuß; könnte sie, eine so vorsichtige,kluge Person, denn sonst mit mir in so familiärer, offenherzigerArt verkehren? Mir scheint, als habe sie von mir bis jetzt eineähnliche Anschauung gehabt wie jene Kaiserin des Altertumsvon ihrem Sklaven, in dessen Gegenwart sie sich entkleidete,weil sie ihn nicht für einen Menschen hielt. Ja, sie hat michviele, viele Male nicht als einen Menschen angesehen.

Aber nun hatte sie mir einen Auftrag erteilt: am Roulett zugewinnen, zu gewinnen um jeden Preis. Ich hatte keine Zeit,darüber nachzudenken, zu welchem Zweck und wie schnelldieser Geldgewinn nötig sei, und was für neue Pläne in diesemfortwährend spekulierenden Kopf entstanden sein mochten.Außerdem hatte sich in diesen vierzehn Tagen offenbar eineUnmenge neuer Ereignisse zugetragen, von denen ich noch

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keine Ahnung hatte. All dies mußte ich enträtseln, in all diesklaren Einblick gewinnen, und zwar so schnell wie möglich.Aber vorläufig, im Augenblick hatte ich dazu keine Zeit: ichmußte zum Roulett.

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