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Erstes Kapitel

Endlich bin ich nach vierzehntägiger Abwesenheit zurückgekehrt. Die Unsrigen befinden sich schonseit drei Tagen in Roulettenburg. Ich hatte geglaubt, sie warteten bereits auf mich mit der größtenUngeduld; indes ist dies meinerseits ein Irrtum gewesen. Der General zeigte eine sehr stolze,selbstbewußte Miene, sprach mit mir ein paar Worte sehr von oben herab und schickte mich dann zuseiner Schwester. Offenbar waren sie auf irgendwelche Weise zu Geld gekommen. Es kam mir sogarso vor, als sei es dem General einigermaßen peinlich, mich anzusehen. Marja Filippowna hatteaußerordentlich viel zu tun und redete nur flüchtig mit mir; das Geld nahm sie aber in Empfang,rechnete es nach und hörte meinen ganzen Bericht an. Zum Mittagessen erwarteten sie HerrnMesenzow, außerdem noch einen kleinen Franzosen und einen Engländer. Das ist bei ihnen einmal soBrauch: sobald Geld da ist, werden auch gleich Gäste zum Diner eingeladen, ganz nach MoskauerArt. Als Polina Alexandrowna mich erblickte, fragte sie mich, was ich denn solange gemacht hätte;aber sie entfernte sich dann, ohne meine Antwort abzuwarten. Selbstverständlich tat sie das mitAbsicht. Indessen müssen wir uns notwendigerweise miteinander aussprechen. Es hat sich viel Stoffangesammelt.

Es wurde mir ein kleines Zimmer im vierten Stock des Hotels angewiesen. Hier ist bekannt, daß ich»zur Begleitung des Generals« gehöre. Aus allem war zu entnehmen, daß sie es bereits verstandenhatten, sich ein Ansehen zu geben. Den General hält hier jedermann für einen steinreichen russischenGroßen. Noch vor dem Diner gab er mir, außer anderen Kommissionen, auch den Auftrag, zweiTausendfrancscheine, die er mir einhändigte, zu wechseln. Ich bewerkstelligte das im Büro desHotels. Nun werden wir, wenigstens eine ganze Woche lang, für Millionäre gehalten werden. Ichwollte mit Mischa und Nadja spazierengehen, wurde aber, als ich schon auf der Treppe war, zumGeneral zurückgerufen; er hielt es für nötig, mich zu fragen, wohin ich mit den Kindern gehen wolle.Dieser Mann ist schlechterdings nicht imstande, mir gerade in die Augen zu sehen; in dem Wunsch, esdoch fertigzubringen, versucht er es öfters; aber ich antworte ihm jedesmal mit einem sounverwandten, respektlosen Blick, daß er ordentlich verlegen wird. In sehr schwülstiger Redeweise,wobei er eine hohle Phrase an die andere reihte und schließlich völlig in Verwirrung geriet, gab ermir zu verstehen, ich möchte mit den Kindern irgendwo im Park spazierengehen, in möglichst weiterEntfernung vom Kurhaus. Zum Schluß wurde er ganz ärgerlich und fügte in scharfem Ton hinzu: »Alsobitte, führen Sie sie nicht ins Kurhaus zum Roulett. Nehmen Sie es mir nicht übel; aber ich weiß, Siesind noch ziemlich leichtsinnig und wären vielleicht imstande, sich am Spiel zu beteiligen. Ich binzwar nicht Ihr Mentor und hege auch gar nicht den Wunsch, eine solche Rolle zu übernehmen; aberjedenfalls habe ich wenigstens ein Recht darauf, mich von Ihnen nicht kompromittiert zu sehen, ummich so auszudrücken.«

»Ich habe ja gar kein Geld«, antwortete ich ruhig. »Um Geld verspielen zu können, muß man dochwelches besitzen.«

»Geld sollen Sie sofort erhalten«, erwiderte der General, wühlte in seinem Schreibtisch umher, nahmein kleines Buch heraus und sah darin nach; es ergab sich, daß er mir ungefähr hundertzwanzig Rubelschuldig war.

»Wie wollen wir also unsere Rechnung erledigen?« sagte er; »wir müssen es in Taler umrechnen.

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Nehmen Sie da zunächst hundert Taler; das ist eine runde Summe; das übrige bleibt Ihnen natürlichsicher.«

Ich nahm das Geld schweigend hin.

»Sie müssen sich durch meine Worte nicht gekränkt fühlen; Sie sind so empfindlich... Ich wollte Siedurch meine Bemerkung nur sozusagen warnen, und das zu tun habe ich doch natürlich ein gewissesRecht...«

Als ich vor dem Mittagessen mit den Kindern nach Hause zurückkehrte, fand ich eine ganzeKavalkade vor. Die Unsrigen machten einen Ausflug, um eine Ruine zu besuchen. Eine schöneEquipage, mit prächtigen Pferden bespannt, hielt vor dem Hotel; darin saßen Mademoiselle Blanche,Marja Filippowna und Polina; der kleine Franzose, der Engländer und unser General waren zuPferde. Die Passanten blieben stehen und schauten; der Effekt war großartig, kam aber dem Generalverhältnismäßig teuer zu stehen. Ich rechnete mir aus: wenn man die viertausend Franc, die ichmitgebracht hatte, und das Geld, das sie inzwischen augenscheinlich erlangt hatten, zusammennahm,so mochten sie jetzt sieben-oder achttausend Franc haben. Das war für Mademoiselle Blanche einegar zu geringe Summe.

Mademoiselle Blanche wohnt gleichfalls in unserem Hotel, und zwar mit ihrer Mutter; desgleichenauch unser kleiner Franzose. Die Hoteldienerschaft nennt ihn »Monsieur le comte«, undMademoiselle Blanches Mutter wird »Madame la comtesse« betitelt; nun, vielleicht sind sie auchwirklich ein Graf und eine Gräfin.

Ich wußte vorher, daß Monsieur le comte mich nicht erkennen werde, als wir uns nach demMittagessen zusammenfanden. Dem General kam es natürlich nicht in den Sinn, uns miteinanderbekannt zu machen oder auch nur mich ihm vorzustellen; Monsieur le comte aber hat sich selbst inRußland aufgehalten und weiß, was für eine unbedeutende Person ein Hauslehrer in Rußland ist. Erkennt mich übrigens recht gut. Aber, die Wahrheit zu gestehen, ich erschien beim Mittagessen, ohneüberhaupt dazu aufgefordert zu sein; der General hatte wohl vergessen, eine Anordnung darüber zutreffen; sonst hätte er mich wahrscheinlich geheißen, an der Table d'hôte zu essen. Ich stellte mich vonselbst ein, so daß der General mir einen unzufriedenen Blick zuwarf. Die gute Marja Filippownawies mir sogleich einen Platz an; aber mein früheres Zusammentreffen mit Mister Astley half mir ausder Verlegenheit, und so wurde ich, wie wenn das selbstverständlich wäre, als berechtigtes Mitglieddieser Gesellschaft angesehen.

Mit diesem sonderbaren Engländer war ich zum erstenmal in Preußen zusammengetroffen, imEisenbahnwagen, wo wir uns gegenübersaßen, als ich in Eile den Unsrigen nachreiste. Dann war ichjetzt auf ihn gestoßen, als ich nach Frankreich hineinfuhr, und endlich in der Schweiz, also währenddieser zwei Wochen zweimal. Und nun kam ich mit ihm plötzlich hier in Roulettenburg zusammen.Nie in meinem Leben habe ich einen Menschen gefunden, der schüchterner gewesen wäre; seineSchüchternheit streift schon an Dummheit, und er selbst weiß das natürlich, da er ganz und gar nichtdumm ist. Im übrigen ist er ein sehr lieber, stiller Mensch. Gleich bei der ersten Begegnung inPreußen faßte er ein solches Zutrauen zu mir, daß er ganz gesprächig wurde. Er teilte mir mit, er seiin diesem Sommer am Nordkap gewesen und habe große Lust, sich die Messe in Nischni-Nowgorodanzusehen. Ich weiß nicht, wie er mit dem General bekannt wurde; mir scheint, daß er bis über dieOhren in Polina verliebt ist. Als sie eintrat, wurde sein Gesicht rot wie der Himmel beim Aufgang

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der Sonne. Er freute sich sehr darüber, daß ich bei Tisch neben ihm saß, und scheint mich schon alsseinen Busenfreund zu betrachten.

Bei Tisch spielte sich der kleine Franzose stark auf und benahm sich gegen alle geringschätzig undhochmütig. Und dabei weiß ich noch recht gut, wie knabenhaft er in Moskau zu reden pflegte. Ersprach jetzt furchtbar viel über Finanzwesen und über die russische Politik. Der General raffte sichmitunter dazu auf, ihm zu widersprechen, aber nur in bescheidener Weise und lediglich in derAbsicht, auf seine Würde nicht völlig Verzicht zu leisten.

Ich befand mich in einer eigentümlichen Stimmung. Selbstverständlich legte ich mir, schon ehe nochdie Mahlzeit halb zu Ende war, meine gewöhnliche, stete Frage vor: »Warum gebe ich mich mitdiesem General ab und bin nicht schon längst von all diesen Menschen weggegangen?« Mitunterblickte ich zu Polina Alexandrowna hin; sie schenkte mir gar keine Beachtung. Schließlich wurde ichärgerlich und bekam Lust, grob zu werden.

Ich machte den Anfang damit, daß ich mich auf einmal ohne jede Veranlassung laut und ungefragt inein fremdes Gespräch einmischte. Namentlich hatte ich den Wunsch, mich mit dem kleinen Franzosenzu zanken. Ich wandte mich an den General und bemerkte, indem ich ihn unterbrach, auf einmal sehrlaut und in sehr bestimmtem Ton, es sei in diesem Sommer für Russen so gut wie unmöglich, in denHotels an der Table d'hôte zu speisen. Der General warf mir einen verwunderten Blick zu.

»Wenn man einige Selbstachtung besitzt«, fuhr ich fort, »so gerät man unfehlbar in Streit und setzt sichargen Beleidigungen aus. In Paris und am Rhein, sogar in der Schweiz sitzen an der Table d'hôte soviel Polen und so viel Franzosen, die mit ihnen sympathisieren, daß es unmöglich ist, ein Wort zureden, wenn man bloß Russe ist.«

Ich hatte das auf französisch gesagt. Der General sah mich ganz verblüfft an und wußte nicht, sollte ersich darüber ärgern oder sich nur darüber wundern, daß ich mich so vergessen hatte.

»Es hat Ihnen gewiß irgendwo jemand eine Lektion erteilt«, sagte der kleine Franzose innachlässigem, geringschätzigem Ton.

»In Paris stritt ich mich einmal zuerst mit einem Polen herum«, antwortete ich, »und dann mit einemfranzösischen Offizier, der die Partei des Polen nahm. Darauf aber ging ein Teil der Franzosen aufmeine Seite über, als ich ihnen erzählte, daß ich einmal einem Monsignore hätte in den Kaffeespucken wollen.«

»Spucken?« fragte der General mit würdevollem Erstaunen und blickte rings um sich. Der kleineFranzose sah mich ungläubig an.

»Allerdings«, erwiderte ich. »Da ich ganze zwei Tage lang glaubte, daß ich in unserer geschäftlichenAngelegenheit möglicherweise würde für ein Weilchen nach Rom reisen müssen, so ging ich in dieKanzlei der Gesandtschaft des Heiligen Vaters in Paris, um meinen Paß visieren zu lassen. Dort fandich so einen kleinen Abbé, etwa fünfzig Jahre alt, ein dürres Männchen mit kalter Miene; der hörtemich zwar höflich, aber sehr gleichgültig an und ersuchte mich zu warten. Obwohl ich es eilig hatte,setzte ich mich natürlich doch hin, um zu warten, zog die Opinion nationale aus der Tasche undbegann eine furchtbare Schimpferei auf Rußland zu lesen. Währenddessen hörte ich, wie jemanddurch das anstoßende Zimmer zu dem Monsignore ging, und sah, wie mein Abbé ihn durch eine

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Verbeugung grüßte. Ich wandte mich noch einmal an ihn mit meiner früheren Bitte; aber in nochtrocknerem Ton ersuchte er mich wieder zu warten. Bald darauf trat noch jemand ein, kein Bekannter,sondern einer, der ein geschäftliches Anliegen hatte, ein Österreicher; er wurde angehört und sogleichnach oben geleitet. Da wurde ich nun aber sehr ärgerlich; ich stand auf, trat an den Abbé heran undsagte zu ihm in entschiedenem Ton, da der Monsignore empfange, so könne er auch mich abfertigen.Mit einer Miene des äußersten Erstaunens wankte der Abbé vor mir zurück. Es war ihm geradezuunfaßbar, wie so ein wertloser Russe es wagen könne, sich mit den andern Besuchern desMonsignore auf eine Stufe zu stellen. Im unverschämtesten Ton, wie wenn er sich darüber freute,mich beleidigen zu können, rief er, indem er mich vom Kopf bis zu den Füßen mit seinen Blickenmaß: ›Meinen Sie wirklich, daß Monsignore um Ihretwillen seinen Kaffee stehenlassen wird?‹ Nunfing ich gleichfalls an zu schreien, aber noch stärker als er: ›Spucken werde ich Ihrem Monsignore inseinen Kaffee; das mögen Sie nur wissen! Wenn Sie meinen Paß nicht augenblicklich fertigmachen, sogehe ich zu ihm selbst hin.‹

›Wie? Während der Kardinal bei ihm ist?‹ rief der kleine Abbé, indem er erschrocken von mirwegtrat, zur Tür eilte, die Arme kreuzweis übereinanderlegte und dadurch zu verstehen gab, daß ereher sterben als mich durchlassen wolle. Da antwortete ich ihm, ich sei ein Ketzer und ein Barbar,que je suis hérétique et barbare, und all diese Erzbischöfe, Kardinäle, Monsignori usw. seien mirabsolut gleichgültig. Kurz, ich machte Miene, meinen Willen durchzusetzen. Der Abbé blickte michmit grenzenlosem Ingrimm an; dann riß er mir meinen Paß aus der Hand und ging mit ihm nach oben.Eine Minute darauf war er schon visiert. »Da ist er; wollen Sie ihn sich ansehen?« Ich zog den Paßheraus und zeigte das römische Visum.

»Aber da haben Sie denn doch ...«, begann der General.

»Das hat Sie gerettet, daß Sie sich als einen Barbaren und Ketzer bezeichneten«, bemerkte der kleineFranzose lachend. »Cela n'était pas si bête.«

»Sollen wir Russen uns so behandeln lassen? Aber unsere Landsleute sitzen hier, wagen nicht, sich zumucken, und verleugnen wohl gar ihre russische Nationalität. Aber wenigstens in Paris, in meinemHotel, gingen die Leute mit mir weit respektvoller um, nachdem ich allen mein Renkontre mit demAbbé erzählt hatte. Ein dicker polnischer Pan, der an der Table d'hôte am feindseligsten gegen michaufgetreten war, sah sich völlig in den Hintergrund gedrängt. Die Franzosen nahmen es sogar geduldighin, als ich erzählte, daß ich vor zwei Jahren einen Menschen gesehen hätte, auf den im Jahre 1812ein französischer Chasseur geschossen habe, einzig und allein, um sein Gewehr zu entladen. DieserMensch war damals noch ein zehnjähriger Knabe gewesen, und seine Familie hatte nicht Zeitgefunden, aus Moskau zu flüchten.«

»Das ist unmöglich!« fuhr der kleine Franzose auf. »Ein französischer Soldat wird nie auf ein Kindschießen!«

»Und es ist trotzdem wahr«, erwiderte ich. »Der Betreffende, nun ein achtungswerter Hauptmann a.D., hat es mir selbst erzählt, und ich habe auf seiner Backe die Schramme von der Kugel selbstgesehen.«

Der Franzose opponierte mit großem Wortschwall und in schnellem Tempo. Der General wollte ihmdabei behilflich sein; aber ich empfahl ihm, beispielsweise einzelne Abschnitte aus den Memoiren

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des Generals Perowski zu lesen, der sich im Jahre 1812 in französischer Gefangenschaft befundenhatte. Endlich begann Marja Filippowna, um dieses Gespräch abzubrechen, von etwas anderem zureden. Der General war sehr unzufrieden mit mir, weil ich und der Franzose schon beinahe insSchreien hineingeraten waren. Aber Mister Astley hatte, wie es schien, an meinem Streit mit demFranzosen großes Gefallen gefunden; als wir vom Tisch aufstanden, lud er mich ein, mit ihm ein GlasWein zu trinken.

Am Abend gelang es mir, wie das ja auch dringend erforderlich war, eine Viertelstunde lang mitPolina Alexandrowna zu sprechen. Unser Gespräch kam auf dem Spaziergang zustande. Alle waren inden Park zum Kurhaus gegangen. Polina setzte sich auf eine Bank, der Fontäne gegenüber, undgestattete der kleinen Nadja in ihrer Nähe mit anderen Kindern zu spielen. Ich ließ Mischa gleichfallszur Fontäne gehen, und so blieben wir beide endlich allein.

Zuerst begannen wir natürlich von den geschäftlichen Angelegenheiten zu reden. Polina wurdegeradezu böse, als ich ihr insgesamt nur siebenhundert Gulden einhändigte. Sie hatte mit Bestimmtheitgeglaubt, ich würde ihr aus Paris als Erlös von der Verpfändung ihrer Brillanten mindestenszweitausend Gulden oder sogar noch mehr mitbringen.

»Ich brauche unter allen Umständen Geld«, sagte sie. »Beschafft muß es werden; sonst bin ich einfachverloren.«

Ich fragte, was sich an Ereignissen während meiner Abwesenheit zugetragen habe.

»Weiter nichts, als daß wir aus Petersburg zwei Nachrichten erhielten: zuerst die, daß es der altenTante sehr schlecht gehe, und zwei Tage darauf eine andere, daß sie, wie es verlaute, schon gestorbensei. Diese letztere Nachricht stammt von Timofej Petrowitsch«, fügte Polina hinzu, »und das ist einverläßlicher Mensch. Wir warten nun auf die letzte, endg ültige Nachricht.«

»Also befinden sich hier alle in gespannter Erwartung?« fragte ich.

»Gewiß, allesamt; seit einem halben Jahr leben sie nur von dieser Hoffnung.«

»Und auch Sie hoffen darauf?«

»Verwandt bin ich ja mit ihr eigentlich überhaupt nicht; ich bin nur eine Stieftochter des Generals.Aber ich glaube bestimmt, daß sie in ihrem Testament meiner gedacht haben wird.«

»Ich meine, es wird Ihnen eine bedeutende Summe zufallen«, erwiderte ich zustimmend.

»Ja, sie hatte mich gern; aber wie kommen gerade Sie zu dieser Meinung?«

»Sagen Sie«, antwortete ich mit einer Frage, »unser Marquis ist wohl gleichfalls in alleFamiliengeheimnisse eingeweiht?«

»Warum interessiert Sie denn das?« fragte Polina, indem sie mich kühl und unfreundlich anblickte.

»Nun, das ist doch sehr natürlich. Wenn ich nicht irre, hat der General schon Geld von ihm geborgt.«

»Ihre Vermutung trifft durchaus zu.«

»Nun also; hätte der denn etwa das Geld hergegeben, wenn er nicht über die alte Tante orientiertwäre? Haben Sie nicht bei Tisch bemerkt: als er irgend etwas von ihr sagte, nannte er sie etwa

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dreimal ›Großmamachen‹. Was für ein vertrauliches, freundschaftliches Verhältnis!«

»Ja, Sie haben recht. Und sobald er erfahren wird, daß auch mir etwas durch das Testament zufällt,wird er sofort zu mir kommen und um mich werben. Das wollten Sie doch wohl gern wissen.«

»Er wird erst noch werben? Ich dachte, er täte das schon längst.«

»Sie wissen recht gut, daß das nicht der Fall ist«, sagte Polina ärgerlich. »Wo sind Sie denn mitdiesem Engländer früher schon zusammengetroffen?« fügte sie nach kurzem Stillschweigen hinzu.

»Das habe ich doch gewußt, daß Sie nach dem sofort fragen würden.« Ich erzählte ihr von meinenfrüheren Begegnungen mit Mister Astley auf Reisen.

»Er ist schüchtern und liebebedürftig, und natürlich ist er schon in Sie verliebt?«

»Ja, er ist in mich verliebt«, antwortete Polina.

»Und er ist selbstverständlich zehnmal so reich wie der Franzose. Besitzt denn der Franzose wirklichetwas? Ist das nicht sehr zweifelhaft?«

»Nein, zweifelhaft ist das nicht. Er besitzt ein Château. Noch gestern hat der General zu mir mit allerBestimmtheit davon gesprochen. Genügt Ihnen das?«

»Ich würde an Ihrer Stelle unbedingt den Engländer heiraten.«

»Warum?« fragte Polina.

»Der Franzose ist schöner, aber er hat einen schlechten Charakter; der Engländer dagegen ist nicht nurein ehrenhafter Mann, sondern auch zehnmal so reich wie der andere«, erklärte ich in entschiedenemTon.

»Ja, aber dafür ist der Franzose ein Marquis und klüger«, entgegnete sie mit größter Seelenruhe.

»Aber ist das auch sicher?« fragte ich wie vorher.

»Vollständig sicher.«

Polina war über meine Fragen sehr ungehalten, und ich sah, daß sie mich durch den scharfen Tonihrer Antwort ärgern wollte. Das hielt ich ihr denn auch sofort vor.

»Nun ja, es amüsiert mich wirklich, wie grimmig Sie werden«, entgegnete sie darauf. »Schon alleindafür, daß ich Ihnen erlaube, solche Fragen zu stellen und solche Mutmaßungen zu äußern, müssen Sieeinen Preis bezahlen.«

»Ich halte mich in der Tat für berechtigt, Ihnen solche Fragen zu stellen«, antwortete ich ganz ruhig,»namentlich deswegen, weil ich bereit bin, dafür jeden Preis zu zahlen, den Sie verlangen, und meinLeben jetzt für nichts achte.«

Polina lachte.

»Sie haben das letztemal auf dem Schlangenberg zu mir gesagt, Sie seien bereit, sich auf das ersteWort von mir kopf- über hinabzustürzen, und es geht dort, glaube ich, tausend Fuß tief hinunter. Ichwerde später einmal dieses Wort aussprechen, lediglich um zu sehen, wie Sie Ihrer Verpflichtungnachkommen, und seien Sie überzeugt, daß ich nicht aus der Rolle fallen werde. Sie sind mir verhaßt,

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besonders weil ich Ihnen soviel erlaubt habe, und in noch höherem Grade deshalb, weil ich Sie sonötig habe. Aber solange Sie mir nötig sind, darf ich Sie nicht zu Schaden kommen lassen.«

Sie stand auf. Sie hatte in gereiztem Ton gesprochen. In der letzten Zeit schloß sie jedes Gespräch,das sie mit mir führte, mit Ingrimm, Gereiztheit und ernstlichem Zorn.

»Gestatten Sie mir die Frage: was für eine Person ist eigentlich diese Mademoiselle Blanche?« fragteich. Ich wollte sie nicht fortlassen, ohne einige Auskunft von ihr erhalten zu haben.

»Was für eine Person Mademoiselle Blanche ist, das wissen Sie selbst. Neues hat sich seit IhrerAbreise weiter nicht begeben. Mademoiselle Blanche wird wahrscheinlich Frau Generalin werden,selbstverständlich nur, wenn sich das Gerücht von dem Tod der Tante bestätigt; denn MademoiselleBlanche und ihre Mutter und ihr entfernter Vetter, der Marquis, wissen alle sehr genau, daß wirruiniert sind.«

»Ist denn der General ernstlich in sie verliebt?«

»Das geht uns jetzt nichts an. Hören Sie einmal zu, was ich sagen will, und merken Sie es sich genau:nehmen Sie diese siebenhundert Gulden und spielen Sie damit! Gewinnen Sie mir damit am Roulett,soviel Sie nur können: ich brauche jetzt um jeden Preis Geld!«

Hierauf rief sie die kleine Nadja heran und ging nach dem Kurhaus, wo sie sich an die ganzeGesellschaft der Unsrigen anschloß. Ich meinerseits schlug, nachdenklich und verwundert, denerstbesten Steig nach links ein. Von ihrem Auftrag, zum Roulett zu gehen, fühlte ich mich wie vor denKopf geschlagen. Es ging mir seltsam: ich hatte doch so vieles, worüber ich hätte nachdenken könnenund sollen; aber dennoch vertiefte ich mich vollständig in eine kritische Prüfung meinerEmpfindungen gegenüber Polina. Wahrlich, während meiner vierzehntägigen Abwesenheit war mirleichter ums Herz gewesen als jetzt am Tag meiner Rückkehr, obgleich ich auf der Reise mich wieein Unsinniger nach ihr gesehnt hatte, wie ein Verrückter umhergerannt war und sogar im Schlaf siealle Augenblicke vor mir gesehen hatte. Als ich einmal im Waggon eingeschlafen war (es war in derSchweiz), fing ich laut mit Polina zu sprechen an, zur großen Erheiterung aller Mitreisenden. Und jetztlegte ich mir noch einmal die Frage vor: »Liebe ich sie?« Und auch diesmal wieder verstand ich nichtauf diese Frage zu antworten, das heißt, richtiger gesagt, ich antwortete mir zum hundertsten Malewieder, daß ich von Haß gegen sie erfüllt sei. Ja, ich haßte sie. Es gab Augenblicke (namentlichjedesmal am Schluß unserer Gespräche), wo ich mein halbes Leben dafür gegeben hätte, sie zuerwürgen. Ich schwöre es: wenn ich ihr hätte ein spitzes Messer langsam in die Brust bohren können,so hätte ich, wie ich glaube, nach diesem Messer mit Wonne gegriffen. Und trotzdem schwöre ich beiallem, was heilig ist: hätte sie auf dem Schlangenberg, auf jenem Aussichtspunkt, wirklich zu mirgesagt: »Stürzen Sie sich hinab!«, so würde ich mich sogleich hinabgestürzt haben, und sogar mitWonne; das weiß ich sicher. Aber nun mußte, so oder so, die Entscheidung kommen. Polina hat für alldies ein überaus feines Verständnis, und der Gedanke, daß ich mit vollkommener Klarheit undRichtigkeit ihre ganze Unerreichbarkeit für mich, die ganze Unmöglichkeit der Erfüllung meinerTräumereien einsehe, dieser Gedanke gewährt ihr (davon bin ich überzeugt) einen außerordentlichenGenuß; könnte sie, eine so vorsichtige, kluge Person, denn sonst mit mir in so familiärer,offenherziger Art verkehren? Mir scheint, als habe sie von mir bis jetzt eine ähnliche Anschauunggehabt wie jene Kaiserin des Altertums von ihrem Sklaven, in dessen Gegenwart sie sich entkleidete,weil sie ihn nicht für einen Menschen hielt. Ja, sie hat mich viele, viele Male nicht als einen

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Menschen angesehen.

Aber nun hatte sie mir einen Auftrag erteilt: am Roulett zu gewinnen, zu gewinnen um jeden Preis. Ichhatte keine Zeit, darüber nachzudenken, zu welchem Zweck und wie schnell dieser Geldgewinn nötigsei, und was für neue Pläne in diesem fortwährend spekulierenden Kopf entstanden sein mochten.Außerdem hatte sich in diesen vierzehn Tagen offenbar eine Unmenge neuer Ereignisse zugetragen,von denen ich noch keine Ahnung hatte. All dies mußte ich enträtseln, in all dies klaren Einblickgewinnen, und zwar so schnell wie möglich. Aber vorläufig, im Augenblick hatte ich dazu keine Zeit:ich mußte zum Roulett.

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Zweites Kapitel

Ich muß gestehen: dieser Auftrag war mir nicht angenehm. Ich hatte mir zwar vorgenommen gehabt,mich gleichfalls am Spiel zu beteiligen, dabei aber in keiner Weise angenommen, daß ich damitanfangen würde, es für andere zu tun. Das stieß mir gewissermaßen meine Pläne über den Haufen,und so betrat ich denn die Spielsäle in einer recht verdrießlichen Stimmung. Unausstehlich ist mir dieLakaienhaftigkeit in den Feuilletons der Zeitungen der ganzen Welt und namentlich unserer russischenZeitungen, wo fast in jedem Frühjahr unsere Feuilletonisten von zwei Dingen erzählen: erstens vonder prachtvollen, luxuriösen Einrichtung der Spielsäle in den Roulettstädten am Rhein, und zweitensvon den Haufen Goldes, die angeblich auf den Tischen liegen. Bezahlt werden ja die Schriftstellerdafür nicht; sie erzählen das aus eigenem Antrieb, aus uneigennütziger Dienstfertigkeit. Von Pracht istin diesen dürftigen Sälen nicht die Rede, und Gold bekommt man überhaupt kaum zu sehen,geschweige denn, daß es in Haufen auf den Tischen läge. Allerdings, manchmal erscheint im Laufeder Saison plötzlich irgendeine wunderliche Persönlichkeit, ein Engländer oder ein Asiat oder wie indiesem Sommer ein Türke, und verliert oder gewinnt auf einmal eine sehr große Summe; aber alleübrigen spielen um ein paar lumpige Gulden, und im großen und ganzen liegt auf den Tischen immernur sehr wenig Geld.

Als ich in den Spielsaal trat (es war das erstemal in meinem Leben), konnte ich mich eine Zeitlangnicht dazu entschließen mitzuspielen. Ich fühlte mich durch das dichte Gedränge abgestoßen. Aberauch wenn ich allein dagewesen wäre, auch dann wäre ich wohl am liebsten bald wiederweggegangen und hätte nicht angefangen zu spielen. Ich bekenne: das Herz klopfte mir stark, und ichwar nicht kaltblütig; ich glaubte zuverlässig und sagte mir das schon lange mit aller Bestimmtheit, daßes mir nicht beschieden sein werde, aus Roulettenburg so ohne weiteres wieder fortzukommen, daßsich da mit Sicherheit etwas zutragen werde, was für mein Lebensschicksal von tiefgehender,entscheidender Bedeutung sei. Das sei ein Ding der Notwendigkeit und werde so geschehen.

Mag es auch lächerlich sein, daß ich vom Roulett soviel für mich erwarte, für noch lächerlicher halteich die landläufige, beliebte Meinung, daß es töricht und sinnlos sei, vom Spiel überhaupt etwas zuerwarten. Und warum soll denn das Spiel schlechter sein als irgendein anderes Mittel desGelderwerbs, zum Beispiel schlechter als der Handel? Das ist ja richtig, daß von hundert nur einergewinnt. Aber was geht mich das an?

Jedenfalls beschloß ich, zunächst nur zuzusehen und an diesem Abend nichts Ernstliches zuunternehmen. Wenn an diesem Abend überhaupt etwas geschah, so sollte es nur zu-fällig undnebenbei geschehen; das war meine Absicht. Überdies mußte ich doch auch das Spiel selbst erstlernen; denn trotz tausend Beschreibungen des Rouletts, die ich stets mit großer Gier gelesen hatte,verstand ich, ehe ich nicht seine Einrichtung selbst gesehen hatte, schlechterdings nichts davon.

Von vornherein erschien mir alles überaus schmutzig, ich meine im übertragenen Sinne garstig undschmutzig. Ich rede nicht von jenen gierigen, unruhigen Gesichtern, die zu Dutzenden, ja zu Hundertendie Spieltische umgeben. Ich sehe absolut nichts Schmutziges in dem Wunsch, möglichst schnell undmöglichst viel Geld zu gewinnen; als sehr dumm ist mir immer der Gedanke eines behäbigen,wohlsituierten Moralphilosophen erschienen, der auf jemandes Entschuldigung: »Es wird ja nurniedrig gespielt«, antwortete: »Um so schlimmer, da dann der Eigennutz kleinlich ist.« Als ob

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kleinlicher Eigennutz und großartiger Eigennutz nicht auf dasselbe hinauskämen! Das sind nur relativeBegriffe. Was für Rothschild eine Kleinigkeit ist, das ist für mich eine große Summe; aber wasGewinn und Profit anlangt, so geht das Streben der Menschen nicht etwa nur beim Roulett, sondernauf allen Gebieten nur darauf, einander etwas wegzunehmen oder abzugewinnen. Ob Profitmachenund Gewinnen überhaupt etwas Garstiges ist, das ist eine andere Frage, auf deren Beantwortung ichmich jetzt nicht einlasse. Da ich selbst im höchsten Grade von dem Wunsch, zu gewinnen, erfüllt war,so hatte all dieser Eigennutz und, wenn man es so ansehen will, all dieser Schmutz des Eigennutzesbeim Eintritt in den Saal für mich sozusagen etwas Vertrautes und Verwandtes. Das beste ist, wenneiner dem andern gegenüber keine gewundenen Redensarten macht, sondern offen und ehrlichverfährt; und nun gar sich selbst zu betrügen, was hat das für einen Zweck? Eine ganz wertlose,unökonomische Tätigkeit!

Besonders häßlich erschien mir auf den ersten Blick bei dem unfeinen Teil der Roulettspieler dieWichtigkeit, die sie ihrer Tätigkeit beilegten, das ernste, sogar respektvolle Wesen, mit dem sie alledie Tische umringten. Darum wird hier scharf unterschieden zwischen derjenigen Art zu spielen, dieals »mauvais genre« bezeichnet wird, und derjenigen, die einem anständigen Menschen gestattet ist.Es gibt eben zwei Arten zu spielen: eine gentlemanhafte und eine plebejische, selbstische, das ist dieder unfeinen Menge, des Pöbels. Hier wird dazwischen ein strenger Unterschied gemacht; und doch,wie wertlos ist in Wirklichkeit dieser Unterschied! Ein Gentleman wird zum Beispiel fünf oder zehnLouisdor, selten mehr, setzen oder auch, wenn er sehr reich ist, tausend Franc; aber er darf daslediglich um des Spieles willen tun, nur zum Zeitvertreib, eigentlich nur um den Vorgang desGewinnens oder Verlierens zu verfolgen; für den Gewinn selbst darf er durchaus kein Interessezeigen. Hat er gewonnen, so darf er zum Beispiel laut lachen, zu einem der Umstehenden eineBemerkung machen; er darf sogar noch einmal setzen und dabei verdoppeln, aber einzig und alleinaus Wißbegierde, um die Chancen zu beobachten und Berechnungen anzustellen, aber nicht in demplebejischen Wunsch zu gewinnen. Kurz, all diese Spieltische, Rouletts und Trente-et-quarante-Spiele darf er nur als einen Zeitvertreib betrachten, der lediglich zu seinem Amüsement eingerichtetist. Von der Gewinnsucht und den Fallstricken, die die Grundlage und Einrichtung der Spielbankbilden, darf er nicht einmal eine Ahnung haben. Sehr gut wäre es sogar, wenn es ihm schiene, daßauch alle übrigen Spieler, dieser Pöbel, der um einen Gulden bangt und zittert, daß auch sieebensolche reichen Leute und Gentlemen seien wie er selbst und nur zur Zerstreuung und zumZeitvertreib spielten. Eine solche völlige Unkenntnis der Wirklichkeit und harmlose Meinung von denMenschen wäre gewiß sehr aristokratisch. Ich sah, daß viele Mütter ihre unschuldigen, hübschen,fünfzehn-oder sechzehnjährigen Töchter zum Spieltisch vorwärtsschoben, ihnen einige Goldstückegaben und sie über das Spiel belehrten. Die jungen Damen gewannen oder verloren, lächelten aber injedem Falle und traten sehr zufrieden wieder zurück. Unser General kam in gemessenem Schritt undwürdevoller Haltung zum Spieltisch; ein Diener eilte herbei, um ihm einen Stuhl zu reichen; aber erbemerkte den Diener gar nicht. Sehr langsam zog er seine Börse heraus, sehr langsam entnahm er ihrdreihundert Franc in Gold, setzte sie auf Schwarz und gewann. Er nahm den Gewinn nicht, sondernließ ihn auf dem Tisch. Wieder kam Schwarz; auch diesmal nahm er nichts an sich, und als nun beimdrittenmal Rot kam, verlor er mit einem Schlag zwölfhundert Franc. Er ging lächelnd weg und fielnicht aus der Rolle. Ich bin überzeugt, daß sein Herz sich krampfhaft zusammenzog, und daß, wäreder Einsatz zwei-oder dreimal so groß gewesen, er seiner Rolle nicht treu geblieben wäre, sondernseine Erregung verraten hätte. Übrigens gewann in meiner Gegenwart ein Franzose bis zu

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dreißigtausend Franc und verlor dann diese Summe wieder, beides mit heiterer Miene und ohne jedesichtbare Erregung. Ein wirklicher Gentleman darf, selbst wenn er sein ganzes Vermögen im Spielverlöre, sich nicht darüber aufregen. Das Geld muß so tief unter der Würde eines Gentleman stehen,daß es kaum wert erscheint, daß man sich darum kümmere. Gewiß, es würde sehr aristokratisch sein,die ganze moralische Unsauberkeit des gesamten Pöbels und der gesamten Umgebung überhaupt nichtzu bemerken. Manchmal indessen ist das entgegengesetzte Verfahren nicht minder aristokratisch,nämlich dieses ganze Pack zu bemerken, das heißt, es zu betrachten, es etwa durch die Lorgnette inAugenschein zu nehmen, aber nur in der Weise, daß man diesen ganzen Schwarm und diesen ganzenSchmutz als eine Art von Zerstreuung auffaßt, gleichsam als eine zur Unterhaltung der Gentlemenarrangierte Vorstellung. Man kann sich selbst in dieser Menge mit herumdrängen, muß dabei aber mitder festen Überzeugung um sich blicken, daß man eigentlich nur ein Beobachter ist und in keinerWeise zu dieser Gattung gehört. Übrigens würde es auch wieder ungehörig sein, wenn man all diessehr aufmerksam betrachten wollte; das wäre wieder nicht gentlemanhaft, weil dieses Schauspieljedenfalls eine längere und besonders aufmerksame Betrachtung nicht verdient. Überhaupt gibt eswenige Schauspiele, die einer besonders aufmerksamen Betrachtung von seiten eines Gentlemanwürdig wären. Persönlich war ich trotzdem der Meinung, daß all dies recht wohl einer sehraufmerksamen Betrachtung wert sei, namentlich für denjenigen, der nicht allein um der Betrachtungwillen gekommen ist, sondern sich selbst offen und ehrlich zu diesem ganzen Pack zählt. Was abermeine innersten moralischen Überzeugungen anlangt, so ist für die natürlich in meinen jetzigenÜberlegungen kein Platz vorhanden. Mag es meinetwegen so sein; ich rede, um mein Gewissen zuerleichtern. Aber eines möchte ich hervorheben: in der ganzen letzten Zeit ist es mir sehr zuwidergewesen, meine Handlungen und Gedanken an irgendwelchen moralischen Maßstab zu halten. Etwasganz anderes hat die Herrschaft über meine Seele übernommen...

Die Art, in der der Pöbel spielt, ist tatsächlich sehr unsauber. Ich kann mich sogar des Gedankensnicht erwehren, daß dort am Tisch manchmal ganz gewöhnlicher Diebstahl vorkommt. Die Croupiers,die an den Enden der Tische sitzen, nach den Einsätzen sehen und die Zahlungen berechnen, habeneine gewaltige Arbeit. Die gehören auch mit zum Pöbel. Es sind größtenteils Franzosen. Übrigensverfolge ich hier bei meinen Beobachtungen und Bemerkungen ganz und gar nicht den Zweck, dasRoulett zu beschreiben; ich stelle diese Beobachtungen vielmehr im Hinblick auf mich selbst an, umzu wissen, wie ich mich künftig zu verhalten habe. Ich bemerkte zum Beispiel als einen sehrgewöhnlichen Hergang folgendes: wenn ein am Tisch Sitzender gewonnen hat, so streckt sich aufeinmal von hinten her der Arm eines anderen vor und nimmt sich den Gewinn. Dann beginnt Streit undnicht selten lautes Geschrei; und nun soll einmal der erste beweisen und Zeugen dafür suchen, daß derEinsatz der seinige war! Anfangs war das ganze Spiel mir so unverständlich wie Chinesisch; was icherriet und merkte, war nur, daß auf die Zahlen, auf Paar und Unpaar und auf die Farben gesetzt wurde.Von Polina Alexandrownas Geld beschloß ich es an diesem Abend mit hundert Gulden zu versuchen.Der Gedanke, daß ich mich auf das Spiel nicht für mich, sondern für einen andern einließ, verwirrtemich einigermaßen; diese Empfindung war sehr unangenehm, und ich wünschte, sie so schnell wiemöglich loszuwerden. Es kam mir vor, als unter-grübe ich mein eigenes Glück dadurch, daß ich damitanfinge, für Polina zu spielen. Kann man denn mit dem Spieltisch nicht in Berührung kommen, ohnesogleich vom Aberglauben angesteckt zu werden? Ich begann damit, daß ich fünf Friedrichsdorherausnahm, das sind fünfzig Gulden, und sie auf Paar setzte. Das Rad drehte sich, und es kamDreizehn; ich hatte verloren. Mit einer peinlichen Empfindung, lediglich um irgendwie loszukommen

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und wegzugehen, setzte ich noch fünf Friedrichsdor auf Rot. Es kam Rot. Ich setzte alle zehnFriedrichsdor; es kam wieder Rot. Ich setzte wieder das Ganze auf einmal; es kam wieder Rot.Nachdem ich so vierzig Friedrichsdor erhalten hatte, setzte ich zwanzig auf die zwölf mittlerenZahlen, ohne zu wissen, was dabei herauskommen kann. Es wurde mir das Dreifache ausgezahlt. Aufdiese Art hatte ich statt zehn Friedrichsdor auf einmal achtzig. Eine mir bisher fremde, sonderbareEmpfindung bedrückte mich dermaßen, daß ich beschloß wegzugehen. Es schien mir, daß ich in ganzanderer Weise spielen würde, wenn ich für mich selbst spielte. Jedoch setzte ich alle achtzigFriedrichsdor noch einmal auf Paar. Diesmal kam Vier; es wurden mir noch achtzig Friedrichsdorhingeschüttet; ich ergriff den ganzen Haufen von hundertsechzig Friedrichsdor und ging, um PolinaAlexandrowna zu suchen.

Sie promenierten alle im Park, und ich fand erst nach dem Abendessen die Möglichkeit, mit ihr alleinzu sprechen. Beim Abendessen war diesmal der Franzose nicht anwesend, und der General ginginfolgedessen mehr aus sich heraus: unter anderem hielt er für nötig noch einmal zu bemerken, erwünsche nicht, mich am Spieltisch zu sehen. Nach seiner Meinung würde es ihn sehrkompromittieren, wenn ich große Spielverluste haben sollte. »Aber selbst wenn Sie sehr vielgewönnen, so würde auch das für mich kompromittierend sein«, fügte er ernst und bedeutsam hinzu.»Gewiß, ich habe kein Recht, Ihnen über Ihre Handlungen Vorschriften zu machen; aber Sie werdenselbst zugeben...« Hier brach er nach seiner Gewohnheit mitten im Satz ab.

Ich erwiderte ihm trocken, ich hätte nur sehr wenig Geld und könne folglich keine erheblichenSummen verspielen, selbst wenn ich zu spielen anfinge. Als ich nach meinem Zimmer hinaufging,hatte ich die Möglichkeit, Polina ihren Gewinn einzuhändigen; ich erklärte ihr, ein zweites Malwürde ich nicht mehr für sie spielen.

»Warum denn nicht?« fragte sie aufgeregt.

»Weil ich für mich selbst spielen will«, antwortete ich, indem ich sie erstaunt ansah, »und das störtmich.«

»Also verbleiben Sie fest bei Ihrer Ansicht, daß das Roulett Ihr einziger Rettungsanker ist?« fragtesie spöttisch.

Ich bejahte diese Frage ernst und fügte hinzu, was meine Überzeugung betreffe, daß ich bestimmtgewinnen werde, so möge diese ja lächerlich sein, das wolle ich zugeben; aber man möge mich darinnicht zu beirren suchen.

Polina Alexandrowna bestand darauf, ich solle unter allen Umständen von dem heutigen Gewinn dieHälfte für mich nehmen, und wollte mir achtzig Friedrichsdor abgeben; sie machte mir den Vorschlag,ich möchte auch in Zukunft das Spiel unter dieser Festsetzung fortsetzen. Ich weigerte michentschieden, die Hälfte anzunehmen, und erklärte auf das bestimmteste, ich könne für andere nichtspielen, nicht etwa, weil ich keine Lust dazu hätte, sondern weil ich aller Wahrscheinlichkeit nachverlieren würde.

»Und doch«, sagte sie nachdenklich, »mag es auch eine Dummheit sein, setze auch ich selbst meineHoffnung fast nur auf das Roulett. Und darum müssen Sie unbedingt weiterspielen, halbpart mit mir;und das werden Sie selbstverständlich auch tun.«

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Nach diesen Worten ging sie von mir weg, ohne auf meine weiteren Erwiderungen hinzuhören.

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Drittes Kapitel

Gestern aber sprach sie den ganzen Tag über mit mir nicht ein einziges Wort vom Spiel. Undüberhaupt vermied sie es gestern, mit mir zu reden. Ihr früheres Benehmen gegen mich hatte keineVeränderung erfahren. Dieselbe völlige Gleichgültigkeit im Verkehr und bei Begegnungen und sogareine gewisse Geringschätzung und eine Art von Haß. Überhaupt gibt sie sich keine Mühe, ihreAbneigung gegen mich zu verbergen; das sehe ich deutlich. Trotzdem verbirgt sie mir andrerseits auchnicht, daß sie mich zu irgendwelchem Zweck nötig hat und mich dazu aufspart. Es hat sich zwischenuns ein sonderbares Verhältnis herausgebildet, das mir in vieler Hinsicht unverständlich ist, wenn ichihren Stolz und Hochmut allen gegenüber in Betracht ziehe. Sie weiß zum Beispiel, daß ich sie bis zurRaserei liebe, gestattet mir sogar, von meiner Leidenschaft zu sprechen, und sicherlich könnte sie mirihre Geringschätzung durch nichts deutlicher ausdrücken, als eben durch diese Erlaubnis, frei undunbehindert zu ihr von meiner Liebe zu reden. Sie sagt damit gewissermaßen zu mir: »Ich schätzedeine Gefühle so gering, daß es mir völlig gleichgültig ist, worüber du mit mir redest, und was du fürmich empfindest.« Von ihren eigenen Angelegenheiten hat sie auch früher viel mit mir gesprochen, istaber nie ganz offenherzig gewesen. Und nicht genug damit, in ihrer Geringschätzung gegen mich liegenauch noch gewisse Feinheiten: weiß sie zum Beispiel, daß mir irgendein Umstand ihres Lebens oderetwas von ihren Gemütsbewegungen bekannt ist, so erzählt sie mir unaufgefordert etwas von sich,wenn sie meiner irgendwie für ihre Zwecke zu Sklaven-oder Laufburschendiensten bedarf; aber sieerzählt mir immer nur gerade so viel, als jemand zu wissen nötig hat, der zu solchen Diensten benutztwird, so daß mir der ganze Zusammenhang der Dinge noch unbekannt bleibt. Aber obgleich sie dannselbst sieht, welche Pein und Aufregung ich meinerseits über ihre Pein und Aufregung empfinde, soläßt sie sich doch nie dazu herab, mich durch freundschaftliche Offenherzigkeit zu beruhigen. Unddoch wäre sie meiner Ansicht nach dazu verpflichtet, offenherzig gegen mich zu sein, da sie michnicht selten zu recht mühevollen, ja gefährlichen Aufträgen benutzt. Ist es denn der Mühe wert, sichum meine Gefühle zu kümmern, sich darum zu kümmern, daß ich mich gleichfalls aufrege und michvielleicht über ihre Sorgen und Nöte dreimal so sehr ängstige und quäle als sie selbst?

Ich wußte schon seit ungefähr drei Wochen von ihrer Absicht, am Roulett zu spielen. Sie hatte mirsogar angekündigt, ich müsse mit ihr zusammen spielen, weil es für sie selbst nicht schicklich sei zuspielen. An dem Ton, in dem sie sprach, hatte ich schon damals gemerkt, daß sie irgendeine ernsteSorge hatte und nicht etwa nur so einfach den Wunsch hegte, Geld zu gewinnen. Was liegt ihr denn andem Geld an und für sich! Da muß eine bestimmte Absicht dahinterstecken, irgendwelche Umstände,die ich vielleicht erraten kann, bis jetzt aber nicht kenne. Natürlich könnte der Zustand derErniedrigung und Sklaverei, in dem sie mich hält, mir die Möglichkeit geben (und er gibt sie mirwirklich sehr oft), sie dreist und geradezu selbst zu fragen. Da ich für sie ein Sklave bin und in ihrenAugen nicht die geringste Bedeutung habe, so hat sie keinen Anlaß, sich durch meine dreiste Neugierbeleidigt zu fühlen. Aber die Sache ist die, daß sie mir zwar erlaubt, Fragen zu stellen, sie aber nichtbeantwortet. Manchmal beachtet sie sie überhaupt nicht. So stehen wir zueinander.

Gestern wurde bei uns viel von einem Telegramm gesprochen, das schon vor vier Tagen nachPetersburg abgeschickt, auf das aber noch keine Antwort eingegangen war. Der General ist sichtlichaufgeregt und mit seinen Gedanken beschäftigt. Es handelt sich natürlich um die alte Tante. Auch derFranzose ist in Aufregung. So sprachen sie gestern nach dem Mittagessen lange und ernst miteinander.

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Der Ton des Franzosen ist uns allen gegenüber sehr hochmütig und geringschätzig. Es geht hier genaunach dem Sprichwort: »Wenn man ihn an den Tisch nimmt, so legt er gleich die Füße darauf.« Sogargegen Polina benimmt er sich geringschätzig bis zur Ungezogenheit; jedoch nimmt er mit Vergnügenan den gemeinsamen Spaziergängen im Kurpark und an den Ausflügen zu Pferde und zu Wagen in dieUmgegend teil. Mir ist schon längst etwas von den Beziehungen bekannt, die zwischen dem Franzosenund dem General bestehen: in Rußland wollten sie zusammen eine Fabrik errichten; ich weiß nicht,ob das Projekt aufgegeben ist, oder ob sie noch immer davon sprechen. Außerdem ist mir zufällig einTeil eines Familiengeheimnisses bekanntgeworden: der Franzose hat im vorigen Jahr dem Generalwirklich aus einer bösen Klemme geholfen, indem er ihm dreißigtausend Rubel gab zur Deckungeines Defizits bei den Staatsgeldern, das sich herausstellte, als der General sein Amt abgab. Und nunhat er natürlich den General im Schraubstock; jetzt aber, gerade jetzt spielt in allen diesen Dingendoch Mademoiselle Blanche die Hauptrolle, und ich bin überzeugt, daß ich auch hierin mich nichtirre.

Was ist diese Mademoiselle Blanche für eine Person? Hier bei uns wird gesagt, sie sei einevornehme Französin, die mit ihrer Mutter zusammen lebe und ein kolossales Vermögen besitze. Es istauch bekannt, daß sie eine Verwandte unseres Marquis ist, aber eine sehr entfernte Verwandte, eineweitläufige Cousine. Man sagt, vor meiner Abreise nach Paris hätten der Franzose und MademoiselleBlanche sich gegeneinander weit förmlicher benommen und ihr Verkehr hätte sich in viel feinerer,gewählterer Form vollzogen; jetzt sähen ihre Bekanntschaft, Freundschaft und Verwandtschaftungenierter und intimer aus. Vielleicht erscheint ihnen unsere Lage schon als dermaßen schlecht, daßsie es nicht für nötig erachten, vor uns erst noch viele Umstände zu machen und sich zu verstellen. Ichbemerkte schon vorgestern, daß Mister Astley Mademoiselle Blanche und ihre Mutter aufmerksambetrachtete. Es machte mir den Eindruck, als kenne er sie beide schon. Es schien mir auch, daß unserFranzose bereits früher mit Mister Astley zusammengetroffen sei. Indes ist Mister Astley soschüchtern, schwach und schweigsam, daß man sicher sein kann, er wird keine Indiskretion begehen.Wenigstens grüßt ihn der Franzose kaum und sieht ihn beinah nicht an, wonach anzunehmen ist, daß ersich nicht vor ihm fürchtet. Das kann man noch verstehen; aber warum sieht Mademoiselle Blancheihn gleichfalls nicht an? Sie tat es nicht einmal, als der Marquis sich gestern verplapperte: bei einemGespräch, an dem sich alle beteiligten, sagte er auf einmal, ich weiß nicht mehr aus welchem Anlaß,Mister Astley sei kolossal reich, das wisse er; da jedenfalls hätte doch Mademoiselle Blanche MisterAstley ansehen müssen! Der General befindet sich fast immer in Unruhe. Es ist begreiflich, welcheBedeutung jetzt für ihn ein Telegramm über den Tod der Tante haben würde!

Es schien mir zwar, als ob Polina ein Gespräch mit mir absichtlich vermied; aber nun nahm auch ichmeinerseits eine kühle, gleichgültige Miene an; ich meinte, sie werde sich mir allmählich dochwieder nähern. Dafür wandte ich gestern und heute meine Aufmerksamkeit vorzugsweiseMademoiselle Blanche zu. Der arme General, er ist ganz hin! Mit fünfundfünfzig Jahren sich soleidenschaftlich zu verlieben, das ist gewiß ein Unglück. Wenn man dazu noch seinen Witwerstandbedenkt und seine Kinder und seine total ruinierten Vermögensverhältnisse und seine Schulden undschließlich die Frauensperson, in die er sich verliebt hat! Mademoiselle Blanche ist eine schöneErscheinung. Aber ich weiß nicht, ob man mich versteht, wenn ich sage: sie hat eines von denGesichtern, vor denen man erschrecken kann. Ich wenigstens habe mich vor solchen Weibern immergefürchtet. Sie ist wahrscheinlich ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Sie ist hochgewachsen und

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breitschultrig; ihre Schultern zeigen eine schöne Rundung, Hals und Brust sind prachtvoll, dieHautfarbe zwischen gelblich und bräunlich, das Haar dunkelschwarz und so reich und üppig, daß esfür zwei Köpfe ausreichen würde. Die Augen sind schwarz, das Weiße darin gelblich, der Blickdreist, die Zähne sehr weiß, die Lippen immer pomadisiert; sie riecht nach Moschus. Sie kleidet sichauffallend, reich, eigenartig, aber mit viel Geschmack. Ihre Füße und Hände sind wundervoll. IhreStimme ist ein heiserer Alt. Mitunter lacht sie laut auf und zeigt dabei all ihre Zähne; aber gewöhnlichverhält sie sich schweigsam und blickt nur dreist um sich, wenigstens in Polinas und MarjaFilippownas Gegenwart. (Ein sonderbares Gerücht: es heißt, Marja Filippowna werde wieder nachRußland zurückfahren.) Wie mir scheint, ist Mademoiselle Blanche ohne alle Bildung, vielleichtsogar nicht einmal klug, aber dafür mißtrauisch und schlau. Ich vermute, daß ihr Leben nicht ohneAbenteuer gewesen ist. Wenn ich alles sagen soll, so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daßder Marquis vielleicht überhaupt nicht ihr Verwandter und ihre Mutter gar nicht ihre Mutter ist. Aberman glaubt zu wissen, daß sie und ihre Mutter in Berlin, wo wir mit ihnen zusammentrafen, einigeanständige Bekanntschaften hatten. Was den Marquis selbst betrifft, so zweifle ich bis auf diesenAugenblick, daß er ein Marquis ist; aber daß er zur anständigen Gesellschaft gerechnet wird, sowohlbei uns, zum Beispiel in Moskau, als auch an manchen Orten Deutschlands, unterliegt, wie es scheint,keinem Zweifel. Ich weiß nicht, was er eigentlich in Frankreich vorstellt; es heißt, er besitze dort einChâteau. Ich hatte vor meiner Abreise geglaubt, es werde in diesen vierzehn Tagen sich mancherleizutragen, weiß aber immer noch nicht sicher, ob zwischen Mademoiselle Blanche und dem Generalein entscheidendes Wort gesprochen ist. Alles hängt jetzt von unserer Lage ab, das heißt davon, obder General ihnen viel Geld zeigen kann. Wenn zum Beispiel die Nachricht käme, daß die alte Tantenicht gestorben sei, so würde (davon bin ich überzeugt) Mademoiselle Blanche sofort verschwinden.Es ist mir selbst erstaunlich und lächerlich, was ich für eine Klatschschwester geworden bin. Oh, wieekelhaft mir das alles ist! Mit welchem Vergnügen würde ich mich von all diesen Menschen und vonall diesen Verhältnissen losmachen! Aber kann ich denn von Polina weggehen? Kann ich es dennunterlassen, um sie herum zu spionieren? Gewiß, das Spionieren ist etwas Gemeines; aber waskümmert mich das?

Interessant war mir gestern und heute auch Mister Astley. Ja, ich bin überzeugt, daß er in Polinaverliebt ist! Es ist merkwürdig und lächerlich, wieviel manchmal der Blick eines schüchternen,reinen und keuschen Menschen, den die Liebe ergriffen hat, ausdrücken kann, namentlich inAugenblicken, wo der Betreffende lieber in die Erde versinken als durch ein Wort oder einen Blicketwas verraten möchte. Mister Astley begegnet uns sehr oft bei Spaziergängen. Er nimmt den Hut abund geht vorbei, obgleich er natürlich von dem sehnsüchtigen Wunsch, sich uns anzuschließen,gequält wird. Wenn er dazu aufgefordert wird, lehnt er sofort ab. An Erholungsorten, im Kurhaus, beider Musik oder bei der Fontäne, steht er mit Sicherheit irgendwo in der Nähe unserer Bank, und wowir auch immer sind, im Park oder im Wald oder auf dem Schlangenberg, brauchen wir nur dieAugen aufzumachen und uns umzuschauen, um unfehlbar irgendwo, entweder auf dem nächsten Steigoder hinter einem Gebüsch, ein Stückchen von Mister Astley zu erblicken. Es kommt mir vor, alssuche er eine Gelegenheit, mit mir allein zu reden. Heute früh begegneten wir einander undwechselten einige Worte. Er spricht mitunter ganz ohne Zusammenhang. Kaum hatte er guten Taggesagt, da fuhr er fort:

»Ah, Mademoiselle Blanche!... Ich habe schon viele solche Damen kennengelernt wie Mademoiselle

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Blanche!« Dann schwieg er und sah mich bedeutsam an. Was er damit sagen wollte, weiß ich nicht;denn auf meine Frage, was das heißen solle, nickte er nur schlau lächelnd mit dem Kopf und fügtehinzu: »Ja, ja, so ist das... Hat Mademoiselle Polina Freude an Blumen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Ich kann es schlechterdings nicht sagen.«

»Wie? Das wissen Sie nicht einmal?« rief er mit dem größten Erstaunen.

»Ich weiß es nicht, ich habe gar nicht darauf geachtet«, wiederholte ich lachend.

»Hm, das bringt mich auf einen besonderen Gedanken.«

Nach diesen Worten nickte er mit dem Kopf und ging weiter. Übrigens machte er ein zufriedenesGesicht. Unser Gespräch war in einem schrecklichen Französisch geführt worden.

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Viertes Kapitel

Heute war ein komischer, sinnloser, verrückter Tag. Jetzt ist es elf Uhr nachts. Ich sitze in meinemZimmerchen und überdenke das Geschehene. Es fing damit an, daß ich mich am Morgen genötigt sah,zum Roulett zu gehen, um für Polina Alexandrowna zu spielen. Ich nahm zu diesem Zwecke ihreganzen hundertsechzig Friedrichsdor von ihr in Empfang, aber unter zwei Bedingungen: erstens, ichwolle mit ihr nicht auf Halbpart spielen, das heißt, im Falle des Gewinnens wolle ich nichts für michnehmen, und zweitens, Polina solle mir am Abend Aufklärung darüber geben, wozu sie es eigentlichso nötig habe, Geld zu gewinnen, und wieviel Geld sie haben müsse. Ich konnte mir doch gar nichtvorstellen, daß dabei das Geld ihr letzter Zweck sein sollte. Offenbar war da irgendein besondererZweck, zudem sie das Geld nötig hatte, und zwar mit solcher Eile. Sie versprach, mir die verlangteAufklärung zu geben, und ich ging hin.

In den Spielsälen herrschte ein furchtbares Gedränge. Wie unverschämt und gierig all diese Leuteaussahen! Ich drängte mich nach der Mitte hindurch und kam dicht neben einen Croupier zu stehen.Dann probierte ich das Spielen schüchtern, indem ich jedesmal zwei oder drei Goldstücke setzte.Währenddessen stellte ich meine Beobachtungen an und bemerkte dies und das; es schien mir, daß dieBerechnungen eigentlich herzlich wenig zu bedeuten haben und ganz und gar nicht die Wichtigkeitbesitzen, die ihnen viele Spieler beimessen. Sie sitzen mit liniierten Papierblättern da, notieren dieeinzelnen Resultate, zählen, folgern daraus Chancen, rechnen, setzen endlich und – verlieren geradeebenso wie wir gewöhnlichen Sterblichen, die wir ohne Berechnung spielen.

Dafür aber abstrahierte ich mir eine Regel, die ich für richtig halte: im Laufe der zufälligenEinzelresullate ergibt sich tatsächlich wenn auch nicht ein bestimmtes System, so doch eine gewisseOrdnung – was doch gewiß sehr seltsam ist. Es kommt zum Beispiel vor, daß nach den zwölfmittleren Zahlen die zwölf letzten herankommen; es trifft, sagen wir, zweimal diese letzten zwölf undgeht dann auf die zwölf ersten über. Nachdem die zwölf ersten daran gewesen sind, geht es wiederauf die zwölf mittleren über, trifft drei-, viermal hintereinander auf die mittleren und geht wieder aufdie zwölf letzten über, von wo es, wieder nach zwei Malen, zu den ersten übergeht; es trifft wiedereinmal auf die ersten und geht wieder für drei Treffer zu den mittleren über, und so setzt sich dasanderthalb oder zwei Stunden lang fort. Eins, drei, zwei; eins, drei, zwei. Das ist sehr interessant. Anmanchem Tag oder an manchem Morgen geht es so, daß Rot und Schwarz fast ohne jede Ordnung alleAugenblicke miteinander abwechseln, so daß nie mehr als zwei oder drei Treffer hintereinander aufRot oder auf Schwarz fallen. An einem andern Tag oder an einem andern Abend kommt oftmalshintereinander, vielleicht bis zu zweiundzwanzig Malen, nur eine der beiden Farben, und dann erstwieder die andere, und so geht das unweigerlich längere Zeit hindurch, etwa einen ganzen Tag über.Vieles auf diesem Gebiet erklärte mir Mister Astley, der den ganzen Vormittag über bei denSpieltischen stand, aber selbst nicht ein einziges Mal setzte. Was mich betrifft, so verlor ich alles,alles, und zwar sehr schnell. Ich setzte ohne weiteres mit einemmal zwanzig Friedrichsdor auf Paarund gewann; ich setzte wieder und gewann wieder, und so noch zwei-oder dreimal. Ich glaube, eshatten sich in etwa fünf Minuten gegen vierhundert Friedrichsdor in meinen Händen angesammelt.Nun hätte ich weggehen sollen; aber es war in mir eine seltsame Empfindung rege geworden, derWunsch, gewissermaßen das Schicksal herauszufordern, ein Verlangen, ihm sozusagen einenNasenstüber zu geben und die Zunge herauszustrecken. Ich setzte den höchsten erlaubten Satz von

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viertausend Gulden und verlor. Hitzig geworden, zog ich alles heraus, was mir geblieben war, setztees auf dieselbe Stelle und verlor wieder, worauf ich wie betäubt vom Tisch zurücktrat. Ich konnte garnicht fassen, was mir widerfahren war, und machte Polina Alexandrowna von meinem Verlust erstkurz vor dem Mittagessen Mitteilung. Bis dahin war ich im Park umhergeirrt. Bei Tisch befand ichmich wieder in erregter Stimmung, ebenso wie zwei Tage vorher. Der Franzose und MademoiselleBlanche speisten wieder mit uns. Es kam zur Sprache, daß Mademoiselle Blanche am Vormittag inden Spielsälen gewesen war und mein kühnes Spiel mitangesehen hatte. Sie erwies mir diesmal imGespräch etwas mehr Aufmerksamkeit. Der Franzose schlug ein kürzeres Verfahren ein und fragtemich geradezu, ob das mein eigenes Geld gewesen sei, das ich verloren hätte. Mir scheint, er hatPolina im Verdacht. Kurz, da steckt etwas dahinter. Ich log ohne Zaudern und sagte, es sei dasmeinige gewesen. Der General wunderte sich sehr, woher ich so viel Geld gehabt hätte. Ich sagte zurErklärung, ich hätte mit zehn Friedrichsdor angefangen; sechs oder sieben glückliche Treffernacheinander, bei jedesmaliger Verdoppelung des Einsatzes, hätten mich bis auf fünf-odersechstausend Gulden gebracht, und dann hätte ich alles auf zwei Einsätze wieder eingebüßt. All diesklang ja wahrscheinlich. Während ich diese Erklärung vortrug, warf ich einen Blick nach Polina,konnte aber aus ihrem Gesicht keinen besonderen Ausdruck erkennen. Aber sie ließ mich doch lügen,ohne mich zu korrigieren; daraus schloß ich, daß ich in ihrem Sinne gehandelt hatte, wenn ich log undes verheimlichte, daß ich für sie gespielt hatte. In jedem Fall, dachte ich bei mir, ist sie verpflichtet,mir Aufklärung zu geben; sie hat mir ja vor kurzem versprochen, mir einiges zu enthüllen.

Ich dachte, der General würde mir irgendeine Bemerkung machen; indes er sehwieg. Wohl aberbemerkte ich auf seinem Gesicht eine gewisse Erregung und Unruhe. Vielleicht war es ihm in seinenbedrängten Verhältnissen lediglich eine schmerzliche Empfindung, zu hören, daß ein so erklecklicherHaufe Gold innerhalb einer Viertelstunde einem so unpraktischen Dummkopf wie mir zugefallen unddann wieder entglitten war.

Ich vermute, daß er gestern abend mit dem Franzosen ein scharfes Renkontre gehabt hat. Sie sprachenhinter verschlossenen Türen lange und hitzig miteinander über irgend etwas. Der Franzose ginganscheinend in gereizter Stimmung weg, kam aber heute frühmorgens wieder zum General,wahrscheinlich um das gestrige Gespräch fortzusetzen.

Als der Franzose von meinem Spielverlust hörte, bemerkte er, zu mir gewendet, in scharfem undgeradezu boshaftem Ton, ich hätte verständiger sein sollen. Ich weiß nicht, weshalb er nochhinzufügte, es spielten zwar viele Russen, nach seiner Meinung verständen die Russen aber gar nichtzu spielen.

»Aber nach meiner Meinung«, sagte ich, »ist das Roulett geradezu für die Russen erfunden.«

Und als der Franzose über meine Antwort geringschätzig lächelte, bemerkte ich ihm, die Wahrheit seientschieden auf meiner Seite; denn wenn ich von der Neigung der Russen zum Spiel spräche, so seidas weit mehr ein Tadel als ein Lob, und deshalb könne man es mir glauben.

»Worauf gründen Sie denn Ihre Meinung?« fragte der Franzose.

»Meine Begründung ist folgende. In den Katechismus der Tugenden und Vorzüge, der im zivilisiertenwestlichen Europa gilt, hat infolge der historischen Entwicklung auch die Fähigkeit, Kapitalien zuerwerben, Aufnahme gefunden, ja sie bildet darin beinahe das wichtigste Hauptstück. Aber der Russe

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ist nicht nur unfähig, Kapitalien zu erwerben, sondern er vergeudet sie auch, wenn er sie besitzt, inganz sinnloser und unverständiger Weise. Dennoch«, fuhr ich fort, »brauchen auch wir Russen Geld,und infolgedessen greifen wir mit freudiger Gier nach solchen Mitteln wie das Roulett, wo man in derZeit von zwei Stunden, ohne sich anzustrengen, reich werden kann. Das hat für uns einen großen Reiz;und da wir nun unbedachtsam und ohne rechte Bemühung spielen, so ruinieren wir uns durch dasSpiel völlig.«

»Daran ist etwas Wahres«, bemerkte der Franzose selbstzufrieden.

»Nein, das ist nicht wahr, und Sie sollten sich schämen, so über Ihr Vaterland zu reden«, sagte derGeneral in strengem, nachdrücklichem Ton.

»Aber ich bitte Sie«, antwortete ich ihm, »es ist ja noch nicht ausgemacht, was garstiger ist: dasrussische wüste Wesen oder die deutsche Art, durch ehrliche Arbeit Geld zusammenzu-bringen.«

»Was für ein sinnloser Gedanke!« rief der General.

»Ein echt russischer Gedanke!« rief der Franzose.

Ich lachte; ich hatte die größte Lust, sie beide ein bißchen zu reizen.

»Ich meinerseits«, sagte ich, »möchte lieber mein ganzes Leben lang mit den Kirgisen als Nomadeumherziehen und mein Zelt mit mir führen, als das deutsche Idol anbeten.«

»Was für ein Idol?« fragte der General, der schon anfing, ernstlich böse zu werden.

»Die deutsche Art, Reichtümer zusammenzuscharren. Ich bin noch nicht lange hier; aber was ichbemerkt und beobachtet habe, erregt mein tatarisches Blut. Bei Gott, solche Tugenden wünsche ichmir nicht! Ich bin hier gestern zehn Werst weil umhergegangen: es ist ganz ebenso wie in denmoralischen deutschen Bilderbüchern. Überall, in jedem Hause, gibt es hier einen Hausvater, derfurchtbar tugendhaft und außerordentlich redlich ist, schon so redlich, daß man sich fürchten muß, ihmnäherzutreten. Ich kann solche redlichen Leute nicht ausstehen, denen näherzutreten man sich fürchtenmuß. Jeder derartige Hausvater hat eine Familie, und abends lesen alle einander laut belehrendeBücher vor. Über dem Häuschen rauschen Ulmen und Kastanien. Sonnenuntergang, auf dem Dach einStorch, alles höchst rührend und poetisch... Werden Sie nur nicht böse, General; lassen Sie mich nurvon solchen rührsamen Dingen reden! Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit, wie meinseliger Vater ebenfalls unter den Lindenbäumen im Vorgärtchen abends mir und meiner Mutter solcheBüchelchen vorlas; ich habe daher über dergleichen selbst ein richtiges Urteil. Nun also, so lebt hierjede solche Familie beim Hausvater in vollständiger Knechtschaft und Untertänigkeit. Alle arbeitenwie die Ochsen, und alle scharren Geld zusammen wie die Juden. Gesetzt, ein Vater hat schon einebestimmte Menge Gulden zusammengebracht und beabsichtigt, dem ältesten Sohn sein Geschäft odersein Stückchen Land zu übergeben; dann erhält aus diesem Grunde die Tochter keine Mitgift und mußeine alte Jungfer werden, und den jüngeren Sohn verkaufen sie als Knecht oder als Soldaten undschlagen den Erlös zum Familienkapital. Wirklich, so geht das hier zu; ich habe mich erkundigt. Alldas geschieht nur aus Redlichkeit, aus übertriebener Redlichkeit, dergestalt, daß auch der jüngere,verkaufte Sohn glaubt, man habe ihn nur aus Redlichkeit verkauft; und das ist doch ein idealerZustand, wenn das Opfer selbst sich darüber freut, daß es zum Schlachten geführt wird. Und nunweiter. Auch der ältere Sohn hat es nicht leicht: da hat er so eine Amalia, mit der er herzenseins ist;

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aber heiraten kann er sie nicht, weil noch nicht genug Gulden zusammengescharrt sind. Nun warten siegleichfalls treu und sittsam und gehen mit einem Lächeln zur Schlachtbank. Amalias Wangen fallenschon ein, und sie trocknet zusammen. Endlich, nach etwa zwanzig Jahren, hat das Vermögen diegewünschte Höhe erreicht; die richtige Anzahl von Gulden ist auf redliche, tugendhafte Weiseerworben. Der Vater segnet seinen vierzigjährigen ältesten Sohn und die fünfunddreißigjährigeAmalia mit der eingetrockneten Brust und der roten Nase. Dabei weint er, hält eine moralischeAnsprache und stirbt. Der Älteste verwandelt sich nun selbst in einen tugendhaften Vater, und esbeginnt wieder dieselbe Geschichte von vorn. Nach etwa fünfzig oder siebzig Jahren besitzt derEnkel des ersten Vaters wirklich schon ein ansehnliches Kapital und übergibt es seinem Sohn, dieserdem seinigen, der wieder dem seinigen, und nach fünf oder sechs Generationen ist das Resultat so einBaron Rothschild oder Hoppe & Co. oder etwas Ähnliches. Nun, ist das nicht ein erhebendesSchauspiel: hundert-oder zweihundertjährige sich vererbende Arbeit, Geduld, Klugheit, Redlichkeit,Charakterfestigkeit, Ausdauer, Sparsamkeit, der Storch auf dem Dach! Was wollen Sie noch weiter?Etwas Höheres als dies gibt es ja nicht, und in dieser Überzeugung sitzen die Deutschen selbst überdie ganze Welt zu Gericht, und wer da schuldig befunden wird, das heißt ihnen irgendwie unähnlichist, über den fällen sie sofort ein Verdammungsurteil. Also, wovon wir sprachen: ich ziehe es vor, aufrussische Manier ein ausschweifendes Leben zu führen oder meine Vermögensverhältnisse beimRoulett aufzubessern; ich will nicht nach fünf Generationen Hoppe & Co. sein. Geld brauche ich fürmich selbst; ich bin mir Selbstzweck und nicht nur ein zur Kapitalbeschaffung notwendiger Apparat.Ich weiß, daß ich viel törichtes Zeug zusammengeredet habe; aber wenn auch, das ist nun einmalmeine Überzeugung.«

»Ich weiß nicht, ob von dem, was Sie gesagt haben, viel richtig ist«, bemerkte der Generalnachdenklich. »Aber das weiß ich sicher, daß Sie sich sofort in einer unerträglichen Weiseaufspielen, wenn man Ihnen auch nur im geringsten ...«

Nach seiner Gewohnheit brachte er den Satz nicht zu Ende. Wenn unser General von etwas zusprechen anfängt, das einen auch nur ein klein wenig tieferen Inhalt hat als die gewöhnlichen,alltäglichen Gespräche, so redet er nie zu Ende. Der Franzose hatte, die Augen etwas aufreißend,nachlässig zugehört und von dem, was ich gesagt hatte, fast nichts verstanden. Polina blickte mit einerArt von hochmütiger Gleichgültigkeit vor sich hin. Es schien, als seien nicht nur meineAuseinandersetzungen, sondern überhaupt alles, was diesmal bei Tisch gesprochen war, ungehört anihrem Ohr vorbeigegangen.

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Fünftes Kapitel

Sie war ungewöhnlich nachdenklich; aber unmittelbar nachdem wir vom Tisch aufgestanden waren,forderte sie mich auf, sie auf einem Spaziergang zu begleiten. Wir nahmen die Kinder mit undbegaben uns in den Park zur Fontäne.

Da ich mich in besonders erregter Stimmung befand, so platzte ich dumm und plump mit der Frageheraus, warum denn unser Marquis des Grieux, der kleine Franzose, sie jetzt auf ihren Ausgängen garnicht mehr begleite, ja ganze Tage lang nicht mir ihr spreche.

»Weil er ein Lump ist«, war ihre sonderbare Antwort.

Ich hätte noch nie von ihr eine solche Äußerung über de Grieux gehört und schwieg dazu, weil ichmich davor fürchtete, den Grund dieser Gereiztheit zu erfahren.

»Haben Sie wohl bemerkt«, fragte ich, »daß er sich heute mit dem General nicht in gutemEinvernehmen befand?«

»Sie möchten gern wissen, was vorliegt«, erwiderte sie in trockenem, gereiztem Ton. »Sie wissen,daß der General bei ihm tief in Schulden steckt; das ganze Gut ist ihm verpfändet, und wenn die alteTante nicht stirbt, so gelangt der Franzose in kürzester Zeit in den Besitz alles dessen, was ihmverpfändet ist.«

»Also ist das wirklich wahr, daß alles verpfändet ist? Ich hatte so etwas gehört, wußte aber nicht,daß es sich dabei um das ganze Besitztum handelt.«

»Allerdings.«

»Unter diesen Umständen ist es dann wohl mit Mademoiselle Blanche nichts«, bemerkte ich. »Dannwird sie nicht Generalin werden. Wissen Sie, ich glaube, der General ist so verliebt, daß er sich amEnde gar erschießt, wenn Mademoiselle Blanche ihm den Laufpaß gibt. In seinen Jahren ist esgefährlich, sich so zu verlieben.«

»Ich fürchte selbst, daß mit ihm noch etwas passiert«, erwiderte Polina Alexandrowna nachdenklich.

»Und eigentlich«, rief ich, »ist es doch prachtvoll: einen handgreiflicheren Beweis dafür kann es jagar nicht geben, daß sie nur das Geld heiraten wollte! Nicht einmal der Anstand ist hier gewahrtworden; alles ist ganz ungeniert vorgegangen. Erstaunlich! Aber was die Tante betrifft, was kannkomischer und gemeiner sein als ein Telegramm nach dem anderen abzusenden und sich zuerkundigen: ›Ist sie gestorben, ist sie gestorben?‹ Wie gelallt Ihnen das, Polina Alexandrowna?«

»Das ist ja alles dummes Zeug«, unterbrach sie mich verdrossen. »Ich wundere mich im Gegenteildarüber, daß Sie in so heiterer Stimmung sind. Worüber freuen Sie sich denn so? Etwa darüber, daßSie mein Geld verspielt haben?«

»Warum haben Sie es mir zum Verspielen gegeben? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich für anderenicht spielen kann, und am allerwenigsten für Sie. Ich gehorche jedem Befehl, den Sie mir erteilen;aber das Resultat hängt nicht von mir ab. Ich habe Sie ja gewarnt und darauf hingewiesen, daß dabeinichts Gutes herauskommen werde. Sagen Sie, sind Sie sehr niedergeschlagen, weil Sie soviel Geldverloren haben? Wozu brauchen Sie denn so viel?«

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»Wozu diese Fragen?«

»Aber Sie haben mir doch selbst versprochen, mir Aufklärung zu geben... Wissen Sie was: ich binfest überzeugt, wenn ich für mich selbst zu spielen anfange (und ich habe zwölf Friedrichsdor), sowerde ich gewinnen. Dann, bitte, nehmen Sie von mir an, soviel Sie brauchen!«

Sie machte eine verächtliche Miene.

»Nehmen Sie mir diesen Vorschlag nicht übel!« fuhr ich fort. »Ich bin völlig durchdrungen von demBewußtsein, daß ich in Ihren Augen eine Null bin; daher können Sie ruhig von mir Geld annehmen.Ein Geschenk von mir kann Sie nicht beleidigen. Überdies habe ich Ihnen ja Ihr Geld verspielt.«

Sie richtete einen schnellen Blick auf mich, und da sie meinen gereizten, sarkastischenGesichtsausdruck bemerkte, brach sie das Gespräch über diesen Punkt wieder ab.

»An meinen Umständen kann Sie nichts interessieren. Wenn Sie es wissen wollen: ich habe einfachSchulden. Ich habe mir Geld geliehen und möchte es gern zurückgeben. Da kam ich auf den seltsamen,sinnlosen Gedanken, ich würde hier am Spieltisch sicher gewinnen. Woher ich das dachte, dasbegreife ich selbst nicht; aber ich glaubte es fest. Wer weiß, vielleicht glaubte ich es deshalb, weilmir keine andere Chance blieb.«

»Oder weil bei Ihnen das Bedürfnis zu gewinnen schon zu groß war. Es ist dieselbe Geschichte wiemit dem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift. Sie werden zugeben: wenn er nicht nahe amErtrinken wäre, würde er den Strohhalm nicht für einen Baumast halten.«

Polina war erstaunt.

»Aber sie selbst setzen doch auch Ihre Hoffnung darauf?« fragte sie. »Vor vierzehn Tagen haben Siemir doch selbst lang und breit auseinandergesetzt, Sie seien vollständig davon überzeugt, hier amRoulett zu gewinnen, und haben mich inständig gebeten, ich möchte Sie nicht für einen Irrsinnigenansehen. Oder haben Sie damals nur gescherzt? Aber ich erinnere mich, Sie sprachen so ernsthaft,daß es ganz unmöglich war, es für Scherz zu halten.«

»Das ist wahr«, antwortete ich nachdenklich. »Ich bin bis auf diesen Augenblick völlig davonüberzeugt, daß ich gewinnen werde. Ich will Ihnen sogar gestehen, Sie haben mich soeben veranlaßt,mir die Frage vorzulegen: wie geht es zu, daß mein heutiger sinnloser, häßlicher Verlust in mir keinenZweifel hat rege werden lassen? Denn trotz alledem bin ich vollständig überzeugt, daß, sowie ichanfange für mich selbst zu spielen, ich unfehlbar gewinnen werde.«

»Warum sind Sie denn davon so fest überzeugt?«

»Die Wahrheit zu sagen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich gewinnen muß, daß dies auch fürmich die einzige Rettung ist. Vielleicht ist das für mich der Grund zu glauben, daß mir ein guterErfolg sicher ist.«

»Also ist auch bei Ihnen die Notlage sehr arg, wenn Sie eine so fanatische Überzeugung hegen?«

»Ich möchte wetten, Sie zweifeln daran, daß ich für eine ernstliche Notlage einEmpfindungsvermögen habe?«

»Das ist mir ganz gleich«, antwortete Polina ruhig und in gleichgültigem Ton. »Wenn Sie es hören

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wollen: ja, ich zweifle, daß sie jemals eine ernsthafte Not gequält hat. Auch Sie mögen dies und dashaben, was Sie quält, aber nicht ernsthaft. Sie sind ein unordentlicher, haltloser Mensch. Wozu habenSie Geld nötig? Unter all den Gründen, die Sie mir damals anführten, habe ich keinen einzigenernsthaften gefunden.«

»Apropos«, unterbrach ich sie, »Sie sagten, Sie müßten eine Schuld zurückzahlen. Nun gut, also eineSchuld. Wem sind Sie denn schuldig? Dem Franzosen?«

»Was sind das für Fragen? Sie sind heute besonders dreist. Sie sind doch wohl nicht betrunken?«

»Sie wissen, daß ich mir erlaube, alles zu sagen, was mir in den Sinn kommt, und mitunter sehroffenherzig frage. Ich wiederhole es Ihnen, ich bin Ihr Sklave, und vor einem Sklaven schämt mansich nicht, und ein Sklave kann einen nicht beleidigen.«

»Das ist lauter dummes Zeug! Ihr Gerede vom Sklaven ist mir zuwider.«

»Beachten Sie, daß ich von meiner Sklaverei nicht deshalb spreche, weil ich den Wunsch hätte, IhrSklave zu sein; sondern ich spreche ganz einfach von einer Tatsache, die gar nicht von meinem Willenabhängt.«

»Sagen Sie doch geradezu: wozu brauchen Sie Geld?«

»Wozu möchten Sie das wissen?« fragte ich zurück.

»Wie Sie wollen«, antwortete sie mit einer stolzen Kopfbewegung.

»Das Gerede vom Sklaven ist Ihnen zuwider; aber die Sklaverei verlangen Sie: ›Antworten, ohne zuräsonieren!‹ Nun gut, meinetwegen! Wozu ich Geld brauche, fragen Sie? Wozu? Nun, für Geld istdoch alles zu haben.«

»Das weiß ich recht wohl; aber wenn jemand es sich nur so ganz im allgemeinen wünscht, so wird ernicht in solchen Wahnsinn hineingeraten! Sie sind ja ebenfalls schon bis zur Raserei gekommen, biszum Fatalismus. Da steckt etwas dahinter, irgendein besonderer Zweck. Sprechen Sie ohneAusflüchte; ich verlange das von Ihnen!«

Sie schien zornig zu werden, und ich war sehr zufrieden damit, daß sie mich in so erregter Artausfragte.

»Natürlich habe ich dabei einen Zweck«, sagte ich, »aber ich weiß nicht näher zu erklären, worin erbesteht. Ich kann weiter nichts sagen, als daß ich mit Geld auch in Ihren Augen ein anderer Menschwerde und kein Sklave mehr bleibe.«

»Wie können Sie das erreichen?«

»Wie ich das erreichen kann? Sie können sich nicht einmal vorstellen, daß ich das erreichen kann,von Ihnen für etwas anderes als für einen Sklaven angesehen zu werden? Sehen Sie, eben das kannich nicht leiden, diese Verwunderung und Verständnislosigkeit!«

»Sie sagten, diese Sklaverei sei für Sie ein Genuß. Und das habe ich auch selbst geglaubt.«

»Sie haben das geglaubt!« rief ich mit einem eigenartigen Wonnegefühl. »Ach, wie hübsch ist dieseNaivität von Ihrer Seite! Ja, ja, Ihr Sklave zu sein, das ist mir ein Genuß. Es liegt wirklich ein Genuß

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darin, auf der untersten Stufe der Erniedrigung und Herabwürdigung zu stehen!« fuhr ich in meineraufgeregten Rederei fort. »Wer weiß, vielleicht gewährt auch die Knute einen Genuß, wenn sie aufden Rücken niedersaust und das Fleisch in Fetzen reißt ... Aber möglicherweise beabsichtige ich auchandere Genüsse kennenzulernen. Eben erst hat mir der General für die siebenhundert Rubel jährlich,die ich vielleicht gar nicht von ihm bekommen werde, in Ihrer Gegenwart bei Tisch Vorhaltungengemacht. Der Marquis de Grieux starrt mich mit emporgezogenen Augenbrauen an und bemerkt michgleichzeitig nicht einmal. Vielleicht hege ich meinerseits den leidenschaftlichen Wunsch, den Marquisde Grieux in Ihrer Gegenwart bei der Nase zu nehmen!«

»Das sind Reden eines unreifen jungen Menschen. In jeder Lebenslage kann man sich eine würdigeStellung schaffen. Wenn das einen Kampf kostet, so erniedrigt ein solcher Kampf den Menschen nicht,sondern er dient sogar dazu, ihn zu erhöhen.«

»Ganz wie die Vorschriften im Schreibheft! Sie nehmen an. ich verstände vielleicht nur nicht, mireine würdige Stellung zu schaffen, das heißt, es möge ja immerhin sein, daß ich ein Mensch sei, dereine gewisse Würde besitze; aber mir eine würdige Stellung zu schaffen, das verstände ich nicht. Siesehen ein, daß es so sein kann? Aber alle Russen sind von dieser Art, und wissen Sie, warum? Weildie Russen zu reich und vielseitig begabt sind, um für ihr Benehmen schnell die anständige Form zufinden. Hier kommt alles auf die Form an. Wir Russen sind größtenteils so reich begabt, daß wir, umdie anständige Form zu treffen, Genialität nötig hätten. Aber an Genialität fehlt es bei uns freilich sehroft, weil die überhaupt nur selten vorkommt. Nur bei den Franzosen und vielleicht auch bei einigenanderen europäischen Völkern hat sich die Form so bestimmt herausgebildet, daß man höchst würdigaussehen und dabei der unwürdigste Mensch sein kann. Deshalb wird bei ihnen auf die Form auch soviel Wert gelegt. Der Franzose erträgt eine Beleidigung, eine wirkliche, ernste Beleidigung, ohne dieStirn kraus zu ziehen; aber einen Nasenstüber läßt er sich um keinen Preis gefallen, weil das eineVerletzung der konventionellen, für alle Zeit festgesetzten Form des Auslands ist. Daher sind auchunsere Damen in die Franzosen so vernarrt, weil diese so gute Formen haben. Oder richtiger: zuhaben scheinen; denn meiner Ansicht nach besitzt der Franzose eigentlich gar keine Form, sondern istlediglich ein Hahn, le coq gaulois. Indessen verstehe ich davon nichts; ich bin kein Frauenzimmer.Vielleicht sind die Hähne wirklich schön. Aber ich bin da in ein törichtes Schwatzen hineingeraten,und Sie unterbrechen mich auch nicht. Unterbrechen Sie mich nur öfter, wenn ich mit Ihnen rede; dennich neige dazu, alles herauszusagen, alles, alles. Es kommt mir dabei all und jede Form abhanden. Ichgebe sogar zu, daß ich nicht nur keine Form besitze, sondern auch keinerlei wertvolle Eigenschaften.Das spreche ich Ihnen gegenüber offen aus. Es ist mir an derartigen Eigenschaften auch gar nichtsgelegen. Jetzt ist in meinem Innern alles ins Stocken geraten. Sie wissen selbst, woher. Ich habekeinen einzigen verständigen Gedanken im Kopf. Ich weiß schon seit langer Zeit nicht mehr, was inder Welt passiert, in Rußland oder hier. Ich bin durch Dresden hindurchgefahren und kann mich nichterinnern, wie diese Stadt aussieht. Sie wissen selbst, was mich so vollständig absorbiert hat. Da ichgar keine Hoffnung habe und in Ihren Augen eine Null bin, so rede ich offen: ich sehe überall nur Sie,und alles übrige ist mir gleichgültig. Warum ich Sie liebe, und wie das so gekommen ist – ich weißes nicht. Wissen Sie wohl, daß Sie vielleicht überhaupt nicht gut sind? Denken Sie nur an: ich weißgar nicht, so Sie gut sind oder nicht, nicht einmal, ob Sie schön von Gesicht sind. Ihr Herz istwahrscheinlich nicht gut und Ihre Denkweise nicht edel; das ist gut möglich.«

»Vielleicht spekulieren Sie eben deswegen darauf, mich mit Geld zu erkaufen«, sagte sie, »weil Sie

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bei mir keine edle Gesinnung voraussetzen.«

»Wann habe ich darauf spekuliert, Sie mit Geld zu erkaufen?« rief ich.

»Sie sind aus dem Konzept gefallen und haben mehr gesagt, als Sie eigentlich sagen wollten. WennSie nicht mich selbst zu erkaufen hofften, so dachten Sie doch, meine Achtung sich durch Geld zuerwerben.«

»Nicht doch, es ist ganz und gar nicht so. Ich habe Ihnen gesagt, daß es mir schwerfällt, mich klarauszudrücken. Ihre Anwesenheit nimmt mir die Denkkraft. Seien Sie über mein Geschwätz nicht böse!Sie sehen ja wohl, warum man mir nicht zürnen kann: ich bin eben ein Wahnsinniger. Übrigens ist miralles gleich; meinetwegen mögen Sie mir auch zürnen. Wenn ich bei mir oben m meinem Zimmerchenbin und mich nur an das Rascheln Ihres Kleides erinnere und mir das vorstelle, dann möchte ich mirdie Hände zerbeißen. Und warum wollen Sie mir böse sein? Weil ich mich als Ihren Sklavenbezeichne? Nutzen Sie meine Dienste aus; ja, tun Sie das! Wissen Sie auch, daß ich Sie später einmaltöten werde? Ich werde Sie töten, nicht etwa weil meine Liebe zu Ihnen ein Ende genommen hätteoder ich eifersüchtig wäre, sondern ohne solchen Grund, einfach weil ich manchmal einen Drangverspüre, Sie aufzufressen. Sie lachen ...«

»Ich lache durchaus nicht«, sagte sie zornig. »Ich befehle Ihnen zu schweigen.«

Sie hielt inne, da sie vor Zorn kaum Atem holen konnte. Wahrhaftig, ich weiß nicht, ob sie schön vonGestalt war; aber ich sah sie zu gern, wenn sie so vor mir stand und ihr die Sprache versagte, unddarum machte ich mir auch oft die Freude, sie zum Zorn zu reizen. Vielleicht hatte sie das bemerktund stellte sich absichtlich zornig. Ich sprach ihr diese Vermutung aus.

»Was für ein garstiges Gerede!« rief sie mit dem Ausdruck des Widerwillens.

»Mir ist alles gleich«, fuhr ich fort. »Aber noch eins: wissen Sie, daß es gefährlich ist, wenn wirbeide allein zusammen gehen? Es ist in mir oft ein unwiderstehliches Verlangen aufgestiegen, Sie zuprügeln, zu verstümmeln, zu erwürgen.

Und was glauben Sie, wird es nicht dahin kommen? Sie versetzen mich in eine fieberhafte Raserei.Meinen Sie, daß ich mich vor einem öffentlichen Skandal fürchte? Oder vor Ihrem Zorn? Waskümmert mich Ihr Zorn? Ich liebe Sie ohne Hoffnung und weiß, daß ich Sie nach einer solchen Tatnoch tausendmal mehr lieben werde. Wenn ich Sie einmal töte, so werde ich ja auch mich selbst tötenmüssen; aber ich werde den Selbstmord möglichst lange hinausschieben, um den unerträglichenSchmerz, daß Sie nicht mehr da sind, auszukosten. Ich will Ihnen etwas sagen, was kaum zu glaubenist: ich liebe Sie mit jedem Tag mehr, und doch ist das beinah unmöglich. Und bei alledem soll ichnicht Fatalist sein? Erinnern Sie sich doch, vorgestern auf dem Schlangenberg flüsterte ich, von Ihnenherausgefordert, Ihnen zu: >Sagen Sie ein Wort, und ich springe in diesen Abgrund!< Hätten Siedieses Wort gesprochen, so wäre ich damals hinuntergesprungen. Glauben Sie etwa nicht, daß ichhinuntergesprungen wäre?«

»Was für ein törichtes Geschwätz!« rief sie.

»Ob es töricht oder klug ist, das ist mir ganz gleich!« rief ich.

»Ich weiß, daß ich in Ihrer Gegenwart reden muß, immer reden und reden, und so rede ich denn. In

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Ihrer Gegenwart verliere ich allen Ehrgeiz, und alles wird mir gleichgültig.«

»Weshalb hätte ich Sie veranlassen sollen, vom Schlangenberg hinunterzuspringen?« fragte sie ineinem trockenen Ton, der besonders beleidigend klang. »Davon hätte ich doch nicht den geringstenNutzen gehabt.«

»Vorzüglich!« rief ich. »Sie bedienen sich absichtlich dieses vorzüglichen Ausdrucks ›nicht dengeringsten Nutzen‹, um mich zu demütigen. Ich durchschaue Sie vollständig. ›Nicht den geringstenNutzen‹, sagen Sie? Aber ein Vergnügen hat immer einen Nutzen, und die Ausübung einer wilden,unbegrenzten Gewalt (und wär's auch nur über eine Fliege), das ist in seiner Art doch auch einGenuß. Der Mensch ist von Natur ein Despot und liebt es, andere Wesen zu quälen. Sie lieben es imhöchsten Grade.«

Ich erinnere mich, sie sah mich lange und unverwandt an. Wahrscheinlich drückte mein Gesicht indiesem Augenblick alle meine törichten, unsinnigen Gedanken aus. Mein Gedächtnis sagt mir jetzt,daß unser Gespräch damals tatsächlich fast Wort für Wort so stattfand, wie ich es hier aufgezeichnethabe. Meine Augen waren mit Blut unterlaufen. An den Rändern meiner Lippen hatte sich Schaumgebildet. Was den Schlangenberg betrifft, so schwöre ich auf meine Ehre, auch jetzt noch: wenn siemir damals befohlen hätte, mich hinabzustürzen, so hätte ich es getan! Auch wenn sie es nur im Scherzgesagt hätte oder aus Geringschätzung und Verachtung, auch dann wäre ich hinuntergesprungen!

»Nein, was hätte es für Zweck gehabt? Daß Sie es getan hätten, glaube ich Ihnen«, sagte sie, aber ineiner Art, wie nur sie manchmal zu sprechen versteht, mit solcher Verachtung und Bosheit und mitsolchem Hochmut, daß ich, bei Gott, sie in diesem Augenblick hätte totschlagen können.

Sie schwebte in Gefahr. Auch hierin hatte ich sie nicht belogen, als ich es ihr sagte.

»Sie sind kein Feigling?« fragte sie mich plötzlich.

»Ich weiß es nicht, vielleicht bin ich einer. Ich weiß es nicht ... ich habe lange nicht darübernachgedacht.«

»Wenn ich zu Ihnen sagte: ›Töten Sie diesen Menschen!‹ – würden Sie ihn töten?«

»Wen?«

»Denjenigen, den ich getötet sehen möchte.«

»Den Franzosen?«

»Fragen Sie nicht, sondern antworten Sie! Denjenigen, den ich Ihnen bezeichnen werde. Ich willwissen, ob Sie soeben im Ernst gesprochen haben.«

Sie wartete mit solchem Ernst und mit solcher Ungeduld auf meine Antwort, daß mir ganz sonderbarzumute wurde.

»Aber werden Sie mir nun endlich sagen, was hier eigentlich vorgeht?« rief ich. »Fürchten Sie sichetwa vor mir? Daß hier ganz tolle Zustände sind, sehe ich schon allein. Sie sind die Stieftochter einesruinierten, verrückten Menschen, der von einer Leidenschaft für diese Teufelin, diese MademoiselleBlanche, befallen ist; dann ist da noch dieser Franzose mit seiner geheimnisvollen Macht über Sie;und nun legen Sie mir mit solchem Ernst eine solche Frage vor! Ich muß doch wenigstens wissen, wie

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das zusammenhängt; sonst werde ich hier verrückt und richte irgend etwas an. Schämen Sie sich etwa,mich Ihres Vertrauens zu würdigen? Können Sie sich denn vor mir schämen?«

»Ich rede mit Ihnen von etwas ganz anderem. Ich habe Sie etwas gefragt und warte auf die Antwort.«

»Natürlich werde ich ihn töten!« rief ich. »Jeden, den Sie mich töten heißen! Aber können Sie denn ...werden Sie mir denn das befehlen?«

»Denken Sie etwa, Sie werden mir leid tun? Ich werde es befehlen und selbst im Hintergrund bleiben.Werden Sie das ertragen? Nein, wie sollten Sie! Sie werden vielleicht auf meinen Befehl denMenschen töten; aber dann werden Sie darangehen, auch mich zu töten, dafür, daß ich gewagt habe,Ihnen einen solchen Auftrag zu geben.«

Bei diesen Worten hatte ich eine Empfindung, als erhielte ich einen heftigen Schlag gegen den Kopf.Allerdings hielt ich auch damals ihre Frage halb und halb für einen Scherz, für ein Auf-die-Probe-Stellen; aber sie hatte doch gar zu ernsthaft gesprochen. Es frappierte mich doch, daß sie sich indieser Weise aussprach, daß sie ein solches Recht über mich in Anspruch nahm, daß sie sieh einesolche Gewalt über mich anmaßte und so geradezu sagte: »Geh ins Verderben, und ich bleibe imHintergrund!« In diesen Worten lag eine zynische Offenheit, die nach meiner Empfindung denn dochzu weit ging. Wofür mußte sie mich ansehen, wenn sie so zu mir redete? Das war ja schlimmer als dieunwürdigste Sklaverei. Und wie sinnlos und absurd auch unser ganzes Gespräch war, so zitterte mirdoch das Herz im Leibe.

Auf einmal ling sie an zu lachen. Wir satten in diesem Augenblick auf einer Bank dicht bei dem Platz,wo die Equipagen hielten und die Leute ausstiegen, um die Allee vor dem Kurhaus entlang zu gehen;die Kinder spielten vor unseren Augen.

»Sehen Sie diese dicke Baronin?« rief sie. »Das ist die Baronin Wurmerhelm. Sie ist erst seit dreiTagen hier. Und sehen Sie da ihren Mann? Der lange, hagere Preuße mit dem Stock in der Hand.Erinnern Sie sich noch, wie er uns vorgestern von unten bis oben musterte? Gehen Sie sogleich hin,treten Sie zu der Baronin heran, nehmen Sie den Hut ab, und sagen Sie zu ihr etwas auf französisch!«

»Wozu?«

»Sie haben neulich geschworen, vom Schlangenberg hinunterzuspringen, und jetzt haben Siegeschworen, Sie seien bereit, einen Menschen zu töten, wenn ich es befehle. Statt all solcherMordtaten und Trauerspiele will ich nur ein Amüsement haben. Machen Sie keine Ausflüchte, undgehen Sie hin! Ich möchte gern sehen, wie der Baron Sie mit seinem Stock durchprügelt.«

»Sie wollen mich auf die Probe stellen; Sie meinen, ich werde es nicht tun?«

»Ja, ich will Sie auf die Probe stellen. Gehen Sie hin; ich will es so!«

»Wenn Sie es wollen, werde ich hingehen, wiewohl es eine tolle Kaprice ist. Nur eins: wird nichtder General Unannehmlichkeiten davon haben, und durch ihn auch Sie? Weiß Gott, ich denke dabeinicht an mich, sondern nur an Sie, nun und auch an den General. Und was ist das für ein Einfall, daßich hingehen soll und eine Dame beleidigen!«

»Nein, Sie sind nur ein Schwätzer, wie ich sehe«, erwiderte sie verächtlich. »Ihre Augen sehen ja seiteiner Weile so blutunterlaufen aus; aber das kommt vielleicht nur daher, daß Sie bei Tisch viel Wein

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getrunken haben. Als ob ich nicht selbst wüßte, daß eine solche Handlung dumm und gemein ist, unddaß der General sich ärgern wird. Aber ich will einfach etwas zum Lachen haben. Ich will, und damitbasta! Und wozu brauchen Sie die Dame erst noch zu beleidigen? Sie werden schon vorher IhrePrügel bekommen.«

Ich drehte mich um und ging schweigend hin, um ihren Auftrag zu erfüllen. Allerdings tat ich es ausDummheit und weil ich mir nicht herauszuhelfen wußte; aber (das ist mir noch deutlich in derErinnerung) als ich mich der Baronin näherte, da fühlte ich, wie mich etwas aufstachelte, eine Art vonschülerhaftem Mutwillen. Auch war ich in sehr gereizter Stimmung, wie betrunken.

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Sechstes Kapitel

Nun sind schon zwei Tage nach jenem dummen Streich vergangen. Und wieviel Geschrei und Lärmund Gerede und Skandal ist die Folge davon gewesen! Und wie häßlich war auch die ganzeGeschichte, wie konfus, wie dumm und wie gemein; und ich bin an allem schuld. Manchmal kommteinem übrigens die Sache lächerlich vor, mir wenigstens. Ich weiß mir nicht Rechenschaft darüber zugeben, was mit mir eigentlich vorgegangen ist: ob ich mich wirklich in einem Zustand der Rasereibefinde, oder ob ich nur aus dem Geleise geraten bin und Tollheiten treibe, bis man mir dasHandwerk legt und mich bindet. Manchmal scheint es mir, daß ich irrsinnig bin; zu andern Zeiten habeich die Vorstellung, ich sei dem Kindesalter und der Schulbank noch nicht lange entwachsen undbeginge nur Schülerungezogenheiten.

Und das bewirkt alles Polina, alles sie! Wenn sie nicht wäre, würde ich mich wohl nicht soschülerhaft benehmen. Wer weiß, vielleicht habe ich das alles aus Verzweiflung getan (mag auchdiese Anschauung noch so dumm sein). Und ich begreife nicht, begreife schlechterdings nicht, was anihr Gutes ist! Schön ist sie übrigens, schön ist sie; schön muß sie wohl sein. Sie bringt ja auch andereLeute als mich um den Verstand. Sie ist hochgewachsen und wohlgebaut. Nur sehr schlank. Es kommtmir vor, als könnte man ihre ganze Gestalt zusammcnknoten oder doppelt zusammenlegen. IhreFußspur ist schmal und lang und hat für mich etwas Peinigendes. Ihr Haar hat einen rötlichenSchimmer. Ihre Augen sind richtige Katzenaugen; aber wie stolz und hochmütig versteht sie mit ihnenzu blicken! Vor vier Monaten, als ich eben meine Stelle angetreten hatte, führte sie einmal abends imSaal mit de Grieux ein langes, hitzig werdendes Gespräch. Und dabei sah sie ihn mit einem solchenBlick an, mit einem solchen Blick, daß ich nachher, als ich auf mein Zimmer gegangen war, um michschlafen zu legen, mir einbildete, sie hätte ihm eine Ohrfeige gegeben und stände nun vor ihm undsähe ihn an. Von diesem Abend an bin ich in sie verliebt gewesen.

Aber zur Sache!

Ich ging auf einem schmalen Sieig nach der Allee, stellte mich mitten in der Allee hin und erwartetedie Baronin und den Baron. Als sie noch fünf Schritte von mir entfernt waren, nahm ich den Hut abund verbeugte mich.

Die Baronin trug, wie ich mich erinnere, ein seidenes Kleid von gewaltigem Umfang und hellgrauerFarbe, mit Falbeln, Krinoline und Schleppe. Sie war klein von Gestalt, aber außerordentlich dick undhatte ein furchtbar dickes, herabhängendes Kinn, so daß der Hals gar nicht zu sehen war. Ihr Gesichtwar dunkelrot, die Augen klein, mit einem boshaften, impertinenten Ausdruck. Sie ging einher, als obsie allen damit eine Ehre antäte. Der Baron war ein hagerer, hochgewachsener Mensch. Sein Gesichtwar schief, wie das bei den Deutschen oft der Fall ist, und mit tausend kleinen Runzeln bedeckt; ertrug eine Brille und mochte fünfundvierzig Jahre alt sein. Die Beine fingen bei ihm fast unmittelbar ander Brust an; das liegt in der Rasse. Er ging stolz wie ein Pfau, aber etwas schwerfällig. Derhammelartige Ausdruck seines Gesichtes vertrat in seiner Weise den Ausdruck ernster Denkarbeit.

All diese Wahrnehmungen drängten sich für mich in einen Zeitraum von drei Sekunden zusammen.

Meine Verbeugung und der Hut, den ich in der Hand hielt, zogen anfangs kaum ihre Aufmerksamkeitauf sich. Nur zog der Baron die Augenbrauen ein wenig zusammen. Die Baronin segelte gerade auf

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mich zu.

»Madame la baronne«, sagte ich absichtlich sehr laut, indem ich jedes Wort besonders deutlichaussprach, »j'ai l'honneur d'être votre esclave.«

Darauf verbeugte ich mich, setzte den Hut wieder auf und ging an dem Baron vorüber, wobei ichhöflich das Gesicht zu ihm hinwandte und lächelte.

Den Hut abzunehmen hatte sie mir befohlen; aber mich zu verbeugen und mich schülermäßig zubenehmen, das war mein eigener Einfall. Weiß der Himmel, was mich dazu trieb. Mir war, als flögeich von einem Berg hinab.

»Nanu!« rief oder, richtiger gesagt, krächzte der Baron, indem er sich mit zorniger Verwunderungnach mir umdrehte.

Ich wandte mich ebenfalls um und blieb in respektvoll wartender Haltung stehen, indem ich ihnfortwährend anblickte und lächelte. Er war offenbar völlig perplex und zog die Augenbrauen so hochhinauf, wie es nur irgend ging. Sein Gesicht wurde immer grimmiger. Auch die Baronin drehte sichnach mir um und musterte mich ebenfalls mit zornigem Erstaunen. Manche Passanten blickten nach unshin; einige blieben sogar stehen.

»Nanu!« krächzte der Baron noch einmal mit verdoppelter Energie und verdoppeltem Zorn.

»Jawohl!« sagte ich auf deutsch. Ich sprach die beiden Silben sehr gedehnt und blickte ihm dabeigerade in die Augen.

»Sind Sie rasend?« rief er. Er schwang seinen Stock, schien jedoch gleichzeitig ein wenig den Mut zuverlieren. Vielleicht verwirrte ihn mein Kostüm. Ich war sehr anständig, sogar elegant gekleidet, wiejemand, der durchaus zur besten Gesellschaft gehört.

»Jawo-o-ohl!« schrie ich plötzlich aus voller Kehle, indem ich das o langzog, wie es die Berlinertun, die im Gespräch alle Augenblicke den Ausdruck »jawohl« gebrauchen und dabei den Vokal ozum Ausdruck verschiedener Nuancen der Gedanken und Empfindungen mehr oder weniger in dieLänge, ziehen.

Der Baron und die Baronin wandten sich schnell um und entfernten sich, vor Schreck beinahe laufend,von mir. Einige aus dem Publikum sprachen miteinander über den Vorfall; andere sahen mich erstauntan. Aber ich erinnere mich nicht genau daran.

Ich machte kehrt und ging in meinem gewöhnlichen Schritt auf Polina Alexandrowna zu. Aber als ichnoch ungefähr hundert Schritte von ihrer Bank entfernt war, sah ich, daß sie aufstand und mit denKindern die Richtung nach dem Hotel einschlug.

Ich holte sie an den Stufen beim Portal ein. »Ich habe es getan... ich habe die Dummheit begangen«,sagte ich, sobald ich mich neben ihr befand.

»Nun schön! Sehen Sie jetzt zu, wie Sie aus der Geschichte herauskommen!« antwortete sie, ohnemich auch nur anzusehen, ging hinein und die Treppe hinauf.

Diesen ganzen Abend wanderte ich im Park umher. Den Park und dann einen Wald durchschreitend,gelangte ich sogar in ein anderes Fürstentum. In einem Bauernhaus aß ich einen Eierkuchen und trank

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Wein dazu; für dieses idyllische Mahl nahm man mir ganze anderthalb Taler ab.

Erst um elf Uhr kehrte ich nach Hause zurück. Ich wurde sogleich zum General gerufen.

Die Unsrigen haben im Hotel vier Zimmer belegt. Das erste, große, dient als Salon, und es steht einFlügel darin. Daneben liegt ein gleichfalls großes Zimmer, das Wohnzimmer des Generals. Hiererwartete er mich; er stand in sehr großartiger Pose mitten im Zimmer. De Grieux saß, halb liegend,auf dem Sofa.

»Mein Herr, gestatten Sie die Frage, was Sie da angerichtet haben«, begann der General, zu mirgewendet.

»Es wäre mir lieb, General, wenn Sie gleich zur Sache kämen«, antwortete ich. »Sie wollenwahrscheinlich von meinem heutigen Renkontre mit einem Deutsehen sprechen?«

»Mit einem Deutschen?! Dieser Deutsche ist der Baron Wurmerhelm und eine hochangesehenePersönlichkeit! Sie haben sich gegen ihn und die Baronin ungezogen benommen.«

»Ganz und gar nicht.«

»Sie haben die Herrschaften brüskiert, mein Herr!« rief der General.

»Keineswegs. Schon in Berlin ärgerte mich der Ausdruck ›Jawohl‹, den die Leute dort unaufhörlicheinem jeden gegenüber wiederholen und in einer widerwärtigen Weise in die Länge ziehen. Als ichdem Baron und der Baronin in der Allee begegnete, kam mir (ich weiß nicht, woher) auf einmaldieses ›Jawohl‹ ins Gedächtnis und wirkte auf mich aufreizend ... Und außerdem hat die Baronin (dasist schon dreimal vorgekommen), wenn sie mir begegnet, die Gewohnheit, gerade auf mich lozugehen,als wäre ich ein Wurm, den sie mit dem Fuß zertreten könnte. Auch ich darf mein Selbstgefühl haben,das werden Sie selbst zugeben müssen. Ich nahm den Hut ab und sagte höflich (ich versichere Sie,daß ich es ganz höflich sagte): ›Madame, j'ai l'honneur d'être votre esclave‹. Als der Baron sichumwandte und ›Nanu!‹ sagte, spürte ich einen unwiderstehlichen Drang, ihm ›Jawohl‹ zu erwidern.Und so sagte ich das zweimal, das erstemal in gewöhnlicher Weise, das zweitemal sehr laut undlanggezogen. Das ist die ganze Geschichte.«

Ich muß gestehen, daß mir diese meine knabenhafte Darstellung das größte Vergnügen bereitete. Esreizte mich außerordentlich, den ganzen Hergang in möglichst absurder Weise auszumalen.

Und je länger ich sprach, um so mehr kam ich auf den Geschmack.

»Sie wollen sich wohl über mich lustig machen?« rief der General. Er wandte sich zu dem Franzosenund teilte ihm auf französisch mit, ich hätte es entschieden auf einen Skandal angelegt gehabt. DeGrieux lächelte geringschätzig und zuckte die Achseln.

»Denken Sie das nicht; das ist durchaus nicht richtig!« rief ich dem General zu. »Mein Benehmen warallerdings nicht schön; das gebe ich Ihnen mit größter Offenherzigkeit zu. Man kann das, was ich getanhabe, sogar einen dummen, unpassenden Schülerstreich nennen, mehr aber auch nicht. Und wissenSie, General, ich bereue das Getane tief. Aber es ist da noch ein Umstand, der mich in meinen Augenbeinah sogar der Verpflichtung zu bereuen enthebt. In der letzten Zeit, in den letzten zwei, dreiWochen, fühle ich mich nicht wohl: ich bin krank, nervös, reizbar, phantastisch und verlieremanchmal vollständig die Gewalt über mich. Wirklich, es überkam mich mehrmals plötzlich ein

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heftiges Verlangen, mich zu dem Marquis de Grieux zu wenden und ... Aber ich will den Satz nicht zuEnde sprechen; es könnte für ihn beleidigend sein. Mit einem Wort, das sind Krankheitssymptome. Ichweiß nicht, ob die Baronin Wurmerhelm diesen Umstand mit in Betracht ziehen wird, wenn ich sie umEntschuldigung bitte; denn das beabsichtige ich zu tun. Ich fürchte, daß sie es nicht tun wird,namentlich auch da, soweit mir bekannt, man in letzter Zeit in juristischen Kreisen angefangen hat, mitder Verwertung dieses Umstandes Mißbrauch zu treiben: die Advokaten verteidigen jetzt inKriminalprozessen sehr oft ihre Klienten, die Verbrecher, mit der Behauptung, diese hätten imAugenblick des Verbrechens keine Besinnung gehabt, und das sei gewissermaßen eine Krankheit. ›Erhat zugeschlagen‹ sagen sie, ›und hat keine Erinnerung dafür.‹ Und denken Sie sich, General: diemedizinische Wissenschaft stimmt ihnen bei, sie behauptet tatsächlich, es gebe eine solche Krankheit,eine solche zeitweilige Geistesstörung, wo der Mensch beinah keine Erinnerung hat oder nur einehalbe oder viertel Erinnerung. Aber der Baron und die Baronin sind Leute alten Schlages und gehörenüberdies noch zum preußischen Junker-und Gutsbesitzerstande. Ihnen ist dieser Fortschritt in dergerichtlichen Medizin wahrscheinlich noch unbekannt, und daher werden sie meine entschuldigendeErklärung nicht annehmen. Was meinen Sie darüber, General?«

»Genug, mein Herr!« sagte der General in scharfem Ton, mühsam seinen Grimm unterdrückend,»genug! Ich werde bemüht sein, mich ein für allemal von jeder Beziehung zu Ihren törichten Streichenfreizumachen. Bei der Baronin und dem Baron werden Sie sich nicht entschuldigen. Jeder Verkehr mitIhnen, auch wenn dieser nur in Ihrer Bitte um Verzeihung bestände, würde unter ihrer Würde sein.Der Baron, der erfahren hatte, daß Sie zu meinem Haus gehören, hat sich bereits mit mir im Kurhausausgesprochen, und ich muß Ihnen bekennen, es fehlte nicht viel daran, daß er von mir Genugtuungverlangt hätte. Begreifen Sie wohl, mein Herr, in was für eine unangenehme Situation Sie michgebracht haben? Ich, ich sah mich genötigt, den Baron um Entschuldigung zu bitten, und gab ihm meinWort, daß Sie unverzüglich, noch heute, aus meinem Haus ausscheiden würden.«

»Erlauben Sie, erlauben Sie, General, er hat also selbst entschieden verlangt, daß ich, wie Sie sichauszudrücken belieben, aus Ihrem Haus ausscheiden solle?«

»Nein, aber ich erachtete mich selbst für verpflichtet, ihm diese Genugtuung zu geben, und der Baronerklärte sich natürlich dadurch für befriedigt. Wir scheiden also hiermit voneinander, mein Herr. Siehaben von mir diese vier Friedrichsdor hier und drei Gulden nach hiesigem Geld zu erhalten. Hier istdas Geld, und hier ist auch ein Zettel mit der Berechnung; Sie können sie nachprüfen. Leben Sie wohl!Von jetzt an kennen wir einander nicht mehr. Ich habe von Ihnen nichts gehabt als Mühe undUnannehmlichkeiten. Ich werde sogleich den Kellner rufen und ihm mitteilen, daß ich vom morgigenTage an für Ihre Ausgaben im Hotel nicht mehr aufkomme. Ergebenster Diener!«

Ich nahm das Geld und den Zettel, auf dem mit Bleistift eine Berechnung geschrieben stand, machtedem General eine Verbeugung und sagte zu ihm in durchaus ernstem Ton: »General, die Sache kanndamit nicht erledigt sein. Es tut mir sehr leid, daß Sie von seiten des Barons Unannehmlichkeitengehabt haben; aber (nehmen Sie es mir nicht übel!) daran sind Sie selbst schuld. Warum übernahmenSie es, dem Baron gegenüber für meine Handlungsweise einzustehen? Was bedeutet der Ausdruck,daß ich zu Ihrem Haus gehöre? Ich bin einfach bei Ihnen Hauslehrer, nichts weiter. Ich bin nicht Ihrleiblicher Sohn, stehe auch nicht unter Ihrer Vormundschaft; für das, was ich tue, tragen Sie keineVerantwortung. Ich bin im juristischen Sinne eine selbständige Persönlichkeit. Ich bin fünfundzwanzig

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Jahre alt, habe die Universität besucht und als Kandidat verlassen, gehöre zum Adelsstande und steheIhnen ganz fremd gegenüber. Nur meine unbegrenzte Hochachtung vor Ihren vortrefflichenEigenschaften hält mich davon ab, von Ihnen jetzt Genugtuung zu verlangen, sowie auch weitereRechenschaft darüber, daß Sie sich das Recht beigelegt haben, an meiner Statt zu antworten.«

Der General war dermaßen erstaunt, daß er die Arme auseinanderbreitete; dann wandte er sichplötzlich zu dem Franzosen und erzählte ihm eilig, ich hätte ihn soeben beinahe zum Duell gefordert.Der Franzose schlug ein lautes Gelächter auf.

»Aber den Baron beabsichtige ich das nicht so leicht hingehen zu lassen«, fuhr ich höchst kaltblütigfort, ohne mich im geringsten durch das Lachen dieses Monsieur de Grieux beirren zu lassen, »und daSie, General, sich heute dazu verstanden haben, die Beschwerde des Barons anzuhören, auf seineSeite getreten sind und sich dadurch gewissermaßen zum Mitgenossen bei dieser ganzenAngelegenheit gemacht haben, so habe ich die Ehre, Ihnen zu vermelden, daß ich gleich morgen frühin meinem eigenen Namen von dem Baron eine förmliche Angabe der Gründe verlangen werde, ausdenen er, obwohl er es mit mir zu tun hatte, sich über meinen Kopf hinweg an eine andere Persongewandt hat, als ob ich nicht imstande oder nicht würdig wäre, mich ihm gegen- über selbst zuverantworten.«

Was ich vorhergesehen hatte, trat ein. Als der General diese neue Dummheit hörte, bekam er es heftigmit der Angst. »Was? Haben Sie wirklich vor, diese verfluchte Geschichte noch weiterfortzusetzen?« schrie er. »Was schüren Sie mir da an, gerechter Gott! Wagen Sie es nicht, wagen Siees nicht, mein Herr, oder ich schwöre Ihnen ... Auch hier gibt es eine Obrigkeit, und ich ... ich ... miteinem Wort, bei meinem Rang ... und der Baron gleichfalls ... mit einem Wort, Sie werden arretiertund unter polizeilicher Bewachung von hier entfernt werden, damit Sie hier keine Gewalttätigkeitenverüben. Das lassen Sie sich gesagt sein!« Er war so zornig, daß er kaum Luft bekam; aber trotzdemhatte er schreckliche Angst.

»General«, erwiderte ich mit einer Ruhe, die er gar nicht ertragen konnte, »für Gewalttätigkeiten kannman nicht eher arretiert werden, ehe man sie nicht verübt hat. Ich habe meine Aussprache mit demBaron noch nicht begonnen, und es ist Ihnen noch vollständig unbekannt, in welchem Sinne und mitwelcher Begründung ich in dieser Angelegenheit vorzugehen beabsichtige. Ich wünsche nur die fürmich beleidigende Annahme richtigzustellen, daß ich mich unter der Vormundschaft einer andernPerson befände, die gewissermaßen Gewalt über meinen freien Willen hätte. Sie erregen undbeunruhigen sich ohne jeden Grund.«

»Um Gottes willen, um Gottes willen, Alexej Iwanowitsch, stehen Sie von diesem unsinnigenVorhaben ab!« murmelte der General, indem er seinen zornigen Ton plötzlich mit einem flehendenvertauschte und mich sogar bei den Händen ergriff. »Überlegen Sie doch nur, was die Folge davonsein wird! Eine neue Unannehmlichkeit! Sie müssen doch selbst einsehen, daß ich hier ganzbesonders darauf bedacht sein muß, meine Stellung zu wahren, namentlich jetzt! Namentlich jetzt! ...Ach, Sie kennen meine ganze Lage nicht; Sie kennen sie nicht! ... Wenn wir von hier wegreisen, binich gern bereit, Ihnen Ihre bisherige Stellung wieder zu übertragen. Ich muß nur jetzt so ... nun, miteinem Wort, Sie verstehen ja doch meine Gründe!« rief er ganz verzweifelt. »Alexej Iwanowitsch,Alexej Iwanowitsch!«

Mich zur Tür zurückziehend, bat ich ihn nochmals dringend, sich nicht zu beunruhigen; ich versprach,

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es solle alles einen guten, anständigen Verlauf nehmen, und beeilte mich hinauszukommen.

Mitunter sind die Russen im Ausland gar zu feige und haben eine schreckliche Angst davor, was dieLeute von ihnen sagen könnten, und wofür man sie ansehen werde, und ob auch dies und das anständigsei. Mit einem Wort, sie benehmen sich, als ob sie ein Korsett trügen, namentlich diejenigen, die denAnspruch erheben, etwas vorzustellen. Am liebsten befolgen sie sklavisch irgendeinvorgeschriebenes, ein für allemal festgesetztes Schema: in den Hotels, auf den Spaziergängen, in denGesellschaften, auf der Reise ... Aber der General hatte sich verplappert, wenn er sagte, es lägen fürihn noch außerdem besondere Umstände vor, und er habe besondern Anlaß, seine Stellung zu wahren.Das also war der Grund gewesen, weshalb er auf einmal so kleinmütig und ängstlich geworden warund mir gegenüber den Ton gewechselt hatte. Ich nahm das zur Kenntnis und merkte es mir. Denn daes nicht ausgeschlossen war, daß er sich morgen aus Dummheit an irgendeine Behörde wandte, sohatte ich wirklich allen Grund, vorsichtig zu sein.

Übrigens war mir gar nichts daran gelegen, gerade den General zornig zu machen; wohl aber hatte ichjetzt die größte Lust, Polina zu ärgern. Polina hatte mich äußerst grausam behandelt und michabsichtlich auf diesen dummen Weg gedrängt; daher wünschte ich lebhaft, sie so weit zu bringen, daßsie mich selbst bäte einzuhalten. Wenn ich knabenhafte Streiche beging, so konnte das schließlichauch sie kompromittieren. Außerdem wurden in mir auch noch andere Gefühle und Wünsche rege;wenn ich auch vor ihr freiwillig zu einem Nichts werde, so bedeutet das noch keineswegs, daß ichauch vor den Leuten als begossener Pudel dazustehen Lust hätte; und jedenfalls stand es dem Baronnicht zu, mich mit dem Stock zu schlagen. Ich wünschte, sie alle auszulachen und selbst als einforscher junger Mann zu erscheinen. Da mochten sie mich dann anstaunen. Sie hat gewiß Angst voreinem Skandal und wird mich wieder zu sich rufen. Und auch wenn sie das nicht tut, soll sie dochsehen, daß ich kein begossener Pudel bin.

Eine wunderbare Nachricht: soeben höre ich von unserer Kinderfrau, die ich auf der Treppe traf, daßMarja Filippowna heute ganz allein mit dem Abendzug nach Karlsbad zu ihrer Cousine gefahren ist.Was steckt dahinter? Die Kinderfrau sagt, sie habe das schon längst vorgehabt; aber wie geht es dannzu, daß niemand etwas davon gewußt hat? Möglicherweise bin ich übrigens der einzige, der es nichtwußte. Die Kinderfrau teilte mir mit, Marja Filippowna habe noch vorgestern mit dem General einenheftigen Wortwechsel gehabt. Ich merke: es handelt sich wahrscheinlich um Mademoiselle Blanche.Ja, bei uns steht ein entscheidendes Ereignis bevor.

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Siebentes Kapitel

Am Morgen rief ich den Kellner und teilte ihm mit, meine Rechnung solle von nun an gesondertgeschrieben werden. Mein Zimmer war nicht so teuer, daß der Preis mich erschreckt und veranlaßthätte, ganz aus dem Hotel auszuziehen. Ich besaß sechzehn Friedrichsdor, und dort ... dort fielen mirvielleicht Reichtümer zu! Sonderbar: ich habe noch nicht gewonnen; aber ich benehme mich inmeinen Gefühlen und Gedanken wie ein reicher Mann und kann mir gar nicht vorstellen, daß ich dasnicht wäre.

Ich gedachte, trotz der frühen Stunde mich sogleich zu Mister Astley in das Hotel d'Angleterre zubegeben, das ganz in der Nähe des unsrigen liegt, als plötzlich de Grieux bei mir eintrat. Das warnoch nie vorgekommen, und überdies hatte ich mit diesem Herrn in der ganzen letzten Zeit in einemsehr kühlen und gespannten Verhältnis gestanden. Er hatte aus seiner Geringschätzung gegen mich inkeiner Weise ein Hehl gemacht, sondern im Gegenteil sie offen an den Tag zu legen gesucht; und ichmeinerseits hatte meine besonderen Gründe, weshalb ich ihm nicht gewogen war. Kurz, ich haßtediesen Menschen. Sein Kommen setzte mich in großes Erstaunen. Ich sagte mir sofort, da müsse etwasBesonderes im Gange sein.

Er benahm sich bei seinem Eintritt sehr liebenswürdig und sagte mir ein Kompliment über meinZimmer. Da er sah, daß ich den Hut in der Hand hatte, so erkundigte er sich, ob ich denn schon sofrüh spazierengehen wolle. Als er hörte, ich wolle zu Mister Astley gehen, um mit ihm zu reden,dachte er einen Augenblick nach und legte sich das zurecht; dabei nahm sein Gesicht einen sehrernsten Ausdruck an.

De Grieux war wie alle Franzosen, das heißt heiter und liebenswürdig, wenn dies nötig undvorteilhaft war, aber unerträglich langweilig, wenn die Nötigung, heiter und liebenswürdig zu sein,wegfiel. Der Franzose ist selten aus eigener Natur liebenswürdig, sondern immer wie auf Befehl, ausBerechnung. Erkennt er es etwa als notwendig, sich phantasievoll und originell zu zeigen, so sind dieProdukte seiner Phantasie von der dümmsten und unnatürlichsten Art und setzen sich ausaltkonventionellen, längst schon vulgär gewordenen Formen zusammen. Der Franzose, wie erwirklich von Natur ist, besteht aus durchaus kleinbürgerlichem, geringwertigem, gewöhnlichem Stoff;kurz gesagt, er ist das langweiligste Wesen von der Welt. Nach meiner Meinung können nur Neulingeund namentlich junge russische Damen sich von den Franzosen blenden lassen. Jeder vernünftigeMensch wird diese ein für allemal festgesetzten Formen der salonmäßigen Liebenswürdigkeit,Gewandtheit und Heiterkeit, eine Art von Nationaleigentum, sofort erkennen und unerträglich finden.

»Ich komme aus besonderem Anlaß zu Ihnen«, begann er sehr ungezwungen, wiewohl durchaushöflich, »und ich verberge Ihnen nicht, daß ich in der Eigenschaft eines Abgesandten oder, richtigerausgedrückt, eines Vermittlers vom General zu Ihnen komme. Da ich nur sehr schlecht Russisch kann,so habe ich gestern so gut wie nichts verstanden; aber der General hat mir nachher eingehendeMitteilungen gemacht, und ich muß gestehen ...«

»Aber hören Sie einmal, Monsieur de Grieux«, unterbrach ich ihn, »Sie haben also auch in dieserAngelegenheit die Rolle eines Vermittlers übernommen. Ich bin ja allerdings nur ein Hauslehrer undhabe auf die Ehre, ein naher Freund dieses Hauses zu sein, und auf irgendwelche intimerenBeziehungen zu demselben niemals Anspruch erhoben und bin daher auch nicht mit allen

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Verhältnissen vertraut; aber erklären Sie mir doch eines: Gehören Sie denn jetzt vollständig zu denMitgliedern dieser Familie? Weil Sie doch an allem solchen Anteil nehmen und bei allem sofortunfehlbar als Vermittler auftreten ...«

Meine Frage gefiel ihm nicht. Sie war ihm zu unverfroren, und er hatte keine Lust, mir zuvielmitzuteilen.

»Es verbinden mich mit dem General sowohl geschäftliche Beziehungen als auch gewisse besondereUmstände«, erwiderte er trocken. »Der General hat mich hergeschickt, um Sie zu bitten, Sie möchtendie gestern von Ihnen ausgesprochene Absicht unausgeführt lassen. Alles, was Sie vortrugen, ist ohneZweifel sehr scharfsinnig; aber er ersuchte mich namentlich, Ihnen vorzustellen, daß Ihnen dieAusführung Ihrer Absicht schlechterdings nicht gelingen wird; ja, der Baron wird Sie gar nichtempfangen, und schließlich stehen ihm ja jedenfalls alle erforderlichen Mittel zur Verfügung, umweiterer Unannehmlichkeiten von Ihrer Seite überhoben zu sein. Das müssen Sie doch selbsteinsehen. Ich bitte Sie, was für einen Zweck hat es, der Sache noch eine Fortsetzung zu geben? DerGeneral gibt Ihnen das bestimmte Versprechen, Sie wieder in sein Haus zu nehmen, sobald dieVerhältnisse es nur irgend gestatten, und Ihr Gehalt, vos appointements, bis dahin weiterlaufen zulassen. Das ist doch für Sie ein recht vorteilhaftes Anerbieten, nicht wahr?«

Ich erwiderte ihm sehr ruhig, daß er sich da doch einigermaßen irre und der Baron mich vielleichtdoch nicht werde fortjagen lassen, sondern mich anhören werde, und bat ihn einzugestehen, daß er(was ich für wahrscheinlich hielte) gekommen sei, um in Erfahrung zu bringen, wie ich eigentlich inder ganzen Sache zu verfahren vorhätte.

»Aber, mein Gott, da der General bei der Angelegenheit so interessiert ist, so wird es ihmselbstverständlich angenehm sein zu erfahren, was Sie tun wollen, und wie. Das ist ja so natürlich!«

Ich begann meine Auseinandersetzung, und er hörte zu; er hatte sich sehr bequem hingesetzt und beugteden Kopf ein wenig zur Seite nach mir hin; auf seinem Gesicht lag offen und unverhohlen ein leiserAusdruck von Ironie. Überhaupt benahm er sich sehr von oben herab. Ich suchte mir aus allen Kräftenden Anschein zu geben, als sähe ich die Sache im allerernstesten Licht. Ich erklärte ihm, indem derBaron sich mit einer Beschwerde über mich an den General gewandt habe, als ob ich ein Diener desGenerals wäre, habe er mich erstens um meine Stelle gebracht und mich zweitens wie jemandenbehandelt, der nicht imstande sei, für sich selbst einzustehen, und mit dem zu reden nicht der Müheverlohne. Insofern hätte ich allerdings ein Recht, mich für beleidigt zu erachten; indes in Anbetrachtdes Unterschiedes der Jahre und der gesellschaftlichen Stellung usw. usw. (an dieser Stelle konnteich kaum das Lachen zurückhalten) wolle ich nicht noch eine neue Unbesonnenheit begehen, das heißtvom Baron geradezu Genugtuung verlangen oder ihm diesen Weg auch nur vorschlagen.Nichtsdestoweniger hielte ich mich für völlig berechtigt, ihm und besonders der Baronin meine Bitteum Entschuldigung anzubieten, um so mehr, da ich mich tatsächlich in der letzten Zeit unwohl gefühltund Spuren geistiger Zerrüttung sowie eine Neigung zu Exzentrizitäten an mir wahrgenommen hätteusw. usw. Jedoch habe der Baron selbst durch seine gestrige für mich beleidigende Beschwerde beimGeneral und durch die Forderung, daß der General mich aus meiner Stelle wegschicken solle, mich ineine solche Lage gebracht, daß ich jetzt ihm und der Baronin meine Bitte um Entschuldigung nichtmehr aussprechen könne, da er und die Baronin und alle Leute dann sicher denken würden, es bewegemich zu der Abbitte nur der Wunsch, meine Stelle wiederzubekommen. Das Resultat all dieser

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Erwägungen sei dieses: ich hielte mich jetzt für genötigt, den Baron zu bitten, er möge sich vor allenDingen selbst bei mir entschuldigen; dabei würden mir die maßvollsten Ausdrücke genügen; erbrauche zum Beispiel nur zu sagen, daß er keineswegs die Absicht gehabt habe, mich zu beleidigen.Wenn der Baron das ausspreche, dann würden mir dadurch die Hände frei gemacht sein, und ichwürde offen und ehrlich ihm auch meinerseits meine Bitte um Entschuldigung vorlegen. »Kurz«,schloß ich, »um was ich bitte, ist nur dies, daß der Baron mir die Hände frei macht.«

»Ach, was für Pedanterie und was für Spitzfindigkeiten! Und wozu brauchen Sie sich zuentschuldigen? Nun, geben Sie es nur zu, Monsieur ... Monsieur ..., daß Sie diese ganze Geschichteabsichtlich ins Werk gesetzt haben, um den General zu ärgern ... aber vielleicht hatten Sie nochirgendwelche besonderen Absichten ... mon cher monsieur ... pardon, j'ai oublié votre nom, monsieurAlexis?... N'est-ce pas?«

»Aber erlauben Sie, mon cher marquis, was geht Sie das an?«

»Mais le général...«

»Und was geht es den General an? Er redete gestern so etwas, er müsse seine Stellung wahren ... unddabei war er so ängstlich ... aber ich habe nichts davon begriffen.«

»Es ist da ... es liegt da gerade ein besonderer Umstand vor«, fiel de Grieux in bittendem Ton ein,dem aber immer mehr der Ärger anzuhören war. »Sie kennen Mademoiselle de Cominges?...«

»Sie meinen Mademoiselle Blanche?«

»Nun ja, Mademoiselle Blanche de Cominges ... et madame sa mère ... Sie müssen selbst zugeben,der General ... mit einem Wort, der General ist verliebt, und es wird hier vielleicht sogar ... sogar zurEheschließung kommen. Und nun stellen Sie sich vor, wenn dabei allerlei Skandalgeschichten undhäßliche Vorfälle ...«

»Ich weiß von keinen Skandalgeschichten und häßlichen Vorfällen, die mit dieser Eheschließungetwas zu tun hätten«

»Aber le baron est si irascible, un caractère prussien, vous savez, enfin il fera une querelled'Allemand.«

»Das wird sich dann doch gegen mich richten und nicht gegen Sie, da ich nicht mehr zum Hausegehöre ...« (Ich bemühte mich absichtlich, möglichst sinnlos zu reden.) »Aber erlauben Sie, ist denndas schon entschieden, daß Mademoiselle Blanche den General heiraten wird? Warum warten siedenn noch damit? Ich meine, warum halten Sie die Sache geheim und machen nicht wenigstens uns,den Angehörigen des Hauses, Mitteilung davon?«

»Ich kann Ihnen nicht ... übrigens ist das noch nicht ganz ... indessen ... Sie wissen wohl, der Generalerwartet Nachrichten aus Rußland; er muß seine Angelegenheiten ordnen ...«

»Ach so, die liebe, alte Tante!«

De Grieux warf mir einen haßerfüllten Blick zu.

»Kurz«, unterbrach er mich, »ich verlasse mich vollständig auf Ihre angeborene Liebenswürdigkeit,auf Ihre Klugheit, auf Ihr Taktgefühl ... Sie werden das gewiß für eine Familie tun, in der Sie wie ein

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Sohn aufgenommen und geliebt und geehrt wurden ...«

»Aber ich bitte Sie! Weggejagt hat man mich! Sie versichern jetzt freilich, das sei nur so zum Scheingeschehen; aber sagen Sie selbst, wenn einer zu Ihnen sagt: ›Ich will dich nicht an den Ohren ziehen;aber erlaube, daß ich es zum Schein tue‹, so kommt das beinah auf dasselbe heraus!«

»Wenn es so steht und Bitten auf Sie nichts vermögen«, begann er in strengem, hochmütigem Ton, »sogestatten Sie mir, Sie zu benachrichtigen, daß die erforderlichen Maßregeln gegen Sie werdenergriffen werden. Es gibt hier eine Obrigkeit; Sie werden noch heute von hier weggeschafft werden,que diable! Un blanc bec comme vous will eine solche Persönlichkeit wie den Baron zum Duellherausfordern! Glauben Sie etwa, daß man Sie unbehelligt lassen wird? Verlassen Sie sich darauf:Furcht hat hier vor Ihnen niemand! Wenn ich Sie bat, so tat ich das mehr von mir aus, weil Sie denGeneral beunruhigt hatten. Können Sie wirklich etwas anderes erwarten, als daß der Baron Sieeinfach durch einen Diener wegjagen läßt?«

»Ich werde ja doch nicht selbst hingehen«, antwortete ich mit großer Ruhe. »Sie irren sich, Monsieurde Grieux; es wird sich alles in weit anständigeren Formen abspielen, als Sie glauben. Ich werdemich jetzt sofort zu Mister Astley begeben und ihn bitten, mein Mittelsmann, kurz gesagt, meinSekundant zu sein. Dieser Mann ist mir freundlich gesinnt und wird es mir aller Wahrscheinlichkeitnach nicht abschlagen. Er wird zum Baron gehen, und der Baron wird ihn empfangen. Wenn auch ichselbst nur ein Hauslehrer bin und als ein Mensch in subalterner Stellung angesehen werde und hierschutzlos dastehe, so ist doch Mister Astley der Neffe eines Lords, eines wirklichen Lords, das istallgemein bekannt, des Lord Peabroke, und dieser Lord ist hier anwesend. Sie können sich daraufverlassen, daß der Baron gegen Mister Astley höflich sein und ihn anhören wird. Und wenn er ihnnicht anhört, so wird Mister Astley das als eine persönliche Beleidigung auffassen (Sie wissen, wieenergisch die Engländer sind) und dem Baron von sich aus einen Freund zuschicken, und er hatangesehene Freunde. Nun können Sie sich sagen, daß es vielleicht ganz anders kommt, als Sieannehmen.«

Der Franzose bekam es entschieden mit der Angst; in der Tat, all dies klang sehr wahrscheinlich, undes ergab sich also daraus, daß ich wirklich imstande war, einen Skandal hervorzurufen.

»Aber ich bitte Sie«, begann er in geradezu flehendem Ton, »unterlassen Sie doch all so etwas! Ihnenmacht es ordentlich Freude, wenn es zu einem Skandal kommt! Es liegt Ihnen nicht daran, Genugtuungzu erhalten, sondern ein häßliches Aufsehen zu erregen! Ich sagte schon, daß das alles interessant undsogar geistreich klingt, worauf Sie es auch vielleicht angelegt haben; aber mit einem Wort«, schloßer, da er sah, daß ich aufstand und nach meinem Hut griff, »ich kam, um Ihnen diese Zeilen von einergewissen Person zu übergeben. Lesen sie es durch; ich bin beauftragt, auf Antwort zu warten.« Beidiesen Worten zog er ein kleines, zusammengefaltetes, mit einer Oblate zugeklebtes Papier aus derTasche und reichte es mir.

Darin stand, von Polinas Hand geschrieben:

»Ich hatte den Eindruck, als beabsichtigten Sie, dieser häßlichen Geschichte noch eine Fortsetzung zugeben. Sie sind in Erregung geraten und beginnen nun, schlechte Streiche zu machen. Aber es liegenhier besondere Umstände vor, und ich werde sie Ihnen vielleicht später erklären; darum seien Sie sogut aufzuhören und sich zu beruhigen! Was sind das alles für Dummheiten! Ich bedarf Ihrer, und Sie

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selbst haben versprochen, mir zu gehorchen. Denken Sie an den Schlangenberg! Ich bitte Sie,gehorsam zu sein, und wenn es nötig ist, befehle ich es Ihnen. Ihre P.

P.S. Wenn Sie mir wegen des gestrigen Vorfalls böse sind, so verzeihen Sie mir!«

Als ich diese Zeilen gelesen hatte, drehte sich mir alles vor den Augen herum. Die Lippen waren mirblaß geworden, und ein Zittern befiel mich.

Der verdammte Franzose verlieh seiner Miene einen besonderen Ausdruck von Diskretion undwandte die Augen von mir weg, als wolle er meine Verwirrung nicht sehen. Es wäre mir liebergewesen, wenn er über mich laut aufgelacht hätte.

»Gut«, erwiderte ich. »Bestellen Sie, Mademoiselle möge beruhigt sein! Erlauben Sie mir aber dieFrage«, fügte ich in scharfem Ton hinzu, »warum Sie so lange damit gewartet haben, mir diesesSchreiben zu übergeben. Statt leeres Geschwätz zu machen, mußten Sie, wie mir scheint, geradedamit anfangen, wenn Sie wirklich mit diesem Auftrag kamen.«

»Oh, ich wollte ... Diese ganze Sache ist überhaupt so seltsam, daß Sie meine natürliche Ungeduldentschuldigen werden. Es lag mir daran, möglichst schnell persönlich von Ihnen selbst Auskunft überIhre Absichten zu erhalten. Übrigens weiß ich gar nicht, was in diesem Schreiben steht, und meinte,es sei immer noch Zeit, es zu übergeben.«

»Ich verstehe; es ist Ihnen einfach befohlen worden, dieses Blatt nur im äußersten Notfall zuübergeben und, wenn es Ihnen gelänge, die Sache auf mündlichem Wege in Ordnung zu bringen, seineÜberreichung ganz zu unterlassen. Ist es nicht so? Sprechen Sie offen, Monsieur de Grieux!«

»Peut-être«, sagte er, indem er eine Miene besonderer Zurückhaltung annahm und mich mit einemeigentümlichen Blick ansah.

Ich nahm den Hut; er nickte mit dem Kopf und ging hinaus. Es kam mir vor, als ob um seine Lippenein spöttisches Lächeln spielte. Und wie war es auch anders möglich?

»Ich werde schon noch mit dir abrechnen, elender Franzose; wir messen uns noch miteinander!«murmelte ich, als ich die Treppe hinunterstieg. Ich konnte noch zu keinem klaren Gedanken kommen;es war mir, als hätte ich einen heftigen Schlag auf den Kopf erhalten. Die Luft erfrischte mich einwenig.

Nach einigen Minuten, sobald ich wieder ordentlich denken konnte, traten mir zwei Gedanken mitaller Deutlichkeit vor die Seele: erstens das Erstaunen darüber, daß aus solchen Kleinigkeiten, ausein paar knabenhaften, unwahrscheinlichen Drohungen eines jungen Menschen, die gestern so obenhinausgesprochen waren, sich eine so allgemeine Beunruhigung entwickelt hatte! Und zweitens dieFrage: Welchen Einfluß hat dieser Franzose auf Polina? Es genügt ein Wort von ihm, und sie tut alles,was er verlangt, schreibt einen Brief und bittet mich sogar. Gewiß, das Verhältnis der beiden warimmer für mich ein Rätsel gewesen, von Anfang an, gleich von der Zeit an, wo ich sie kennenlernte;aber in diesen Tagen hatte ich doch an Polina eine entschiedene Abneigung, ja sogar Verachtunggegen ihn wahrgenommen, und er seinerseits hatte sie gar nicht einmal angesehen, ja war sogargeradezu unhöflich gegen sie gewesen. Das hatte ich wohl bemerkt. Und Polina selbst hatte zu mir vonihrer Abneigung gesprochen; es waren bei ihr schon sehr bedeutsame Geständnisse zum Vorscheingekommen ... Also er hatte sie völlig in seiner Gewalt; sie befand sich sozusagen in seinen Fesseln ...

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Achtes Kapitel

Auf der »Promenade«, wie man das hier nennt, das heißt in der Kastanienallee, traf ich meinenEngländer.

»Oh, oh!« begann er, als er mich erblickte, »ich wollte zu Ihnen, und Sie zu mir. Also Sie haben sichvon den Ihrigen schon getrennt?«

»Sagen Sie mir zuerst, woher Sie das alles wissen«, fragte ich erstaunt. »Ist das denn schon soallgemein bekannt?«

»O nein, allgemein bekannt ist es nicht. Es hat ja auch keiner ein Interesse daran, daß es bekanntwürde; und daher redet niemand davon.«

»Also woher wissen Sie es denn?«

»Ich habe es so zufällig erfahren. Wo werden Sie denn nun von hier hinfahren? Ich meine es gut mitIhnen und wollte deshalb zu Ihnen gehen.«

»Sie sind ein prächtiger Mensch, Mister Astlcy«, sagte ich (ich war übrigens ganz verblüfft: woherwußte er es?), »und da ich noch nicht Kaffee getrunken habe und Sie wahrscheinlich nur schlechten,so kommen Sie mit in das Café im Kurhaus; da wollen wir uns hinsetzen und rauchen, und ich werdeIhnen alles erzählen ... und Sie mir auch ...«

Das Café war nur hundert Schritt entfernt. Wir setzten uns; es wurde uns Kaffee gebracht, und ichzündete mir eine Zigarette an. Mister Astley rauchte nicht; mich unverwandt ansehend, machte er sichbereit zuzuhören.

»Ich fahre nirgend hin; ich bleibe hier«, begann ich.

»Ich war davon überzeugt, daß Sie hierbleiben würden«, äußerte Mister Astley beifällig.

Als ich mich auf den Weg zu Mister Astley machte, hatte ich nicht die Absicht gehabt, ihm etwas vonmeiner Liebe zu Polina zu sagen; ja, ich wollte es sogar absichtlich vermeiden. All diese Tage herhatte ich mit ihm kein Wort darüber gesprochen. Überdies war er sehr zartfühlend; ich hatte gleichvon Anfang an bemerkt, daß Polina auf ihn außerordentlichen Eindruck gemacht hatte; aber er hattenie ihren Namen ausgesprochen. Jedoch es ging mir seltsam: jetzt, sowie er sich nur hingesetzt undseine starren, zinnernen Augen auf mich gerichtet hatte, jetzt bekam ich (ich weiß nicht warum)plötzlich die größte Lust, ihm alles zu erzählen, die ganze Geschichte meiner Liebe mit all ihrenEinzelheiten und Schattierungen. Ich erzählte eine ganze halbe Stunde lang und hatte dabei eine höchstangenehme Empfindung; es war das erstemal, daß ich jemandem davon erzählte! Da ich bemerkte,daß er bei einigen besonders feurigen Stellen unruhig wurde, steigerte ich die Glut meiner Erzählungnoch geflissentlich. Nur eines bereue ich: daß ich über den Franzosen vielleicht etwas mehr gesagthabe, als gut war ...

Während Mister Astley zuhörte, saß er mir gegenüber, ohne sich zu regen und ohne ein Wort zusprechen oder einen Laut von sich zu geben, und blickte mir in die Augen; aber als ich von demFranzosen zu sprechen anfing, fiel er mir plötzlich ins Wort und fragte in strengem Ton, ob ich einRecht hätte, diesen nicht zur Sache gehörigen Umstand zu erwähnen. Mister Astley stellte seine

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Fragen immer in so sonderbarer Weise.

»Sie haben recht; ich fürchte, nein«, antwortete ich.

»Sie können über diesen Marquis und über Miß Polina nur bloße Vermutungen vorbringen, nichtsZuverlässiges?«

Wieder wunderte ich mich über eine so energische Frage von seiten eines so schüchternen Menschenwie Mister Astley.

»Nein, Zuverlässiges nicht«, erwiderte ich, »das freilich nicht.«

»Wenn dem so ist, so haben Sie schlecht gehandelt, nicht nur insofern, als Sie mit mir davon zusprechen anfingen, sondern sogar schon insofern, als Sie bei sich dergleichen gedacht haben.«

»Nun ja, nun ja, ich will es zugeben; aber darum handelt es sich jetzt nicht«, unterbrach ich ihn, imstillen sehr verwundert. Hierauf erzählte ich ihm den ganzen gestrigen Vorfall mit allen Einzelheiten:Polinas tollen Einfall, meine Affäre mit dem Baron, meine Entlassung, die auffallende Ängstlichkeitdes Generals, und endlich berichtete ich ihm eingehend von de Grieux' heutigem Besuch in allenseinen Phasen; zum Schluß zeigte ich ihm das Briefchen.

»Was schließen Sie nun daraus?« fragte ich. »Ich ging eben deswegen zu Ihnen, um Ihre Meinung zuhören. Was mich betrifft, so möchte ich diesen nichtswürdigen Franzosen am liebsten totschlagen, undvielleicht tue ich es auch noch.«

»Ich auch«, erwiderte Mister Astley. »Was Miß Polina betrifft, so ... Sie wissen, wir treten mitunterauch zu Leuten, die uns verhaßt sind, in Beziehung, wenn uns die Notwendigkeit dazu zwingt. Hierkönnen Beziehungen vorliegen, die Ihnen unbekannt sind, Beziehungen, die von andersartigenUmständen abhängen. Ich glaube, daß Sie sich beruhigen dürfen, wenigstens zum Teil,selbstverständlich. Was ihr gestriges Benehmen anlangt, so ist es allerdings sonderbar, nichtdeswegen, weil sie Sie lozuwerden wünschte und Sie der Gefahr aussetzte, mit dem Stock des BaronsBekanntschaft zu machen (ich begreife übrigens nicht, warum er von seinem Stock keinen Gebrauchmachte, da er ihn doch in der Hand hatte), sondern weil ein derartiger toller Streich für eine so ... füreine so vortreffliche junge Dame sich nicht schickt. Natürlich konnte sie nicht voraussehen, daß Sieihren komischen Wunsch buchstäblich ausführen würden ...«

»Wissen Sie was?« rief ich plötzlich und sah dabei Mister Astley unverwandt an. »Mir scheint, Siehaben das alles bereits gehört, wissen Sie von wem? Von Miß Polina selbst!«

Mister Astley blickte mich verwundert an.

»Ihre Augen funkeln ja nur so, und ich lese in ihnen einen Argwohn«, sagte er, seine Ruhe sofortwiedergewinnend. »Aber Sie haben nicht das geringste Recht, Ihren Argwohn zu äußern. Ich kann einsolches Recht nicht anerkennen und lehne es durchaus ab, Ihre Frage zu beantworten.«

»Nun, lassen Sie es gut sein! Es ist ja auch nicht nötig!« rief ich in starker Aufregung; ich begriffnicht, woher mir das hatte in den Sinn kommen können! Wann, wo und auf welche Weise hätte MisterAstley von Polina zum Vertrauten erwählt sein können? In der letzten Zeit hatte ich allerdings MisterAstley zum Teil aus den Augen verloren gehabt, und Polina war immer für mich ein Rätsel gewesen,dergestalt ein Rätsel, daß ich zum Beispiel jetzt, wo ich es unternommen hatte, Mister Astley die

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ganze Geschichte meiner Liebe zu erzählen, während des Erzählens davon überrascht war, daß ichüber meine Beziehungen zu ihr fast nichts Bestimmtes und Positives sagen konnte. Im Gegenteil, alleswar phantastisch, sonderbar, haltlos und geradezu unerhört.

»Nun gut, gut«, antwortete ich; ich konnte vor Erregung kaum Luft bekommen. »Ich bin ganz inVerwirrung geraten und kann mir jetzt vieles noch nicht zurechtlegen. Aber Sie sind ein guter Mensch.Jetzt handelt es sich um etwas andres, und ich bitte Sie nicht um Ihren Rat, sondern um Ihre Ansicht.«

Ich schwieg einen Augenblick und begann dann:

»Wie denken Sie darüber: warum wurde der General so ängstlich? Warum haben sie aus meinemtörichten Narrenstreich alle eine so große Geschichte gemacht? Eine so große Geschichte, daß sogarde Grieux selbst für nötig fand sich einzumischen (und er mischt sich nur bei den wichtigstenAngelegenheiten ein), mich besuchte (was noch nie dagewesen ist!), mich bat, anflehte, er, de Grieux,mich! Beachten Sie endlich auch dies: er kam, ehe es noch neun Uhr war, und doch befand sich MißPolinas Brief bereits in seinen Händen. Wann, frage ich, war er denn geschrieben worden? Vielleichtist Miß Polina dazu erst aufgeweckt worden? Ich ersehe daraus, daß Miß Polina seine Sklavin ist, dasie sogar mich um Verzeihung bittet; aber außerdem: was geht diese ganze Sache denn sie, siepersönlich an? Warum interessiert sie sich so dafür? Weshalb haben sie vor so einem beliebigenBaron Angst bekommen? Und was ist das für eine Geschichte, daß der General MademoiselleBlanche de Cominges heiraten wird? Sie sagen, infolge dieses Umstandes müßten sie ganz besondersdarauf achten, ihre Stellung zu wahren; aber das ist doch gar zu eigentümlich, sagen Sie selbst! Wiedenken Sie darüber? Ich sehe es Ihnen an den Augen an, daß Sie auch hiervon mehr wissen als ich!«Mister Astley lächelte und nickte mit dem Kopf.

»In der Tat weiß ich, wie es scheint, auch hiervon wesentlich mehr als Sie«, erwiderte er. »Beidieser ganzen Geschichte handelt es sich einzig und allein um Mademoiselle Blanche; daß das dievolle Wahrheit ist, davon bin ich überzeugt.«

»Nun, was ist denn mit Mademoiselle Blanche?« rief ich ungeduldig; es erwachte auf einmal inmeinem Herzen die Hoffnung, ich würde jetzt eine Enthüllung über Mademoiselle Polina zu hörenbekommen.

»Es scheint mir, daß Mademoiselle Blanche im gegenwärtigen Augenblick ein besonderes Interessedaran hat, unter allen Umständen eine Begegnung mit dem Baron und der Baronin zu vermeiden, undnamentlich eine unangenehme Begegnung und nun gar eine, die mit häßlichem Aufsehen verbundenwäre.«

»So, so!«

»Mademoiselle Blanche war schon einmal, vor zwei Jahren während der Saison, hier inRoulettenburg. Ich befand mich zu jener Zeit gleichfalls hier. Mademoiselle Blanche nannte sichdamals nicht Mademoiselle de Cominges; auch existierte ihre Mutter, Madame veuve Cominges,damals nicht; wenigstens wurde nie von ihr gesprochen. Einen de Grieux, de Grieux gab es hiergleichfalls nicht. Ich hege die feste Überzeugung, daß die beiden miteinander gar nicht verwandt sind,ja sich sogar erst seit kurzer Zeit kennen. Marquis ist dieser de Grieux auch erst ganz kürzlichgeworden; davon bin ich überzeugt, aus einem triftigen Grunde. Man kann sogar vermuten, daß er erstneuerdings angefangen hat, sich de Grieux zu nennen. Ich kenne hier jemand, der ihm früher unter

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einem andern Namen begegnet ist.«

»Aber er besitzt doch tatsächlich einen soliden Bekanntenkreis.«

»Oh, das kann schon sein. Selbst Mademoiselle Blanche besitzt möglicherweise einen solchen. Abervor zwei Jahren erhielt Mademoiselle Blanche infolge einer Beschwerde eben dieser Baronin vonder hiesigen Polizei die Aufforderung, die Stadt zu verlassen, und verließ sie denn auch.«

»Wie kam das?«

»Sie erschien damals hier zuerst mit einem Italiener, irgendeinem Fürsten mit einem historischenNamen, so etwas wie Barberini oder so ähnlich. Dieser Mensch trug eine Unmenge von Ringen undBrillanten an seinem Leibe, und sie waren nicht einmal falsch. Sie fuhren immer in einerwundervollen Equipage. Mademoiselle Blanche spielte beim Trente-et-quarante anfangs mit gutemErfolg; dann aber trat bei ihr ein starker Glückswechsel ein; ich erinnere mich dessen recht wohl. Ichweiß noch, eines Abends verspielte sie eine außerordentlich hohe Summe. Aber noch schlimmer wares, daß un beau matin ihr Fürst verschwunden war, ohne daß man gewußt hätte, wo er geblieben war,und auch die Pferde waren verschwunden und die Equipage, mit einem Wort, alles. Die Schuld imHotel war erschreckend hoch. Mademoiselle Selma (aus einer Barberini hatte sie sich plötzlich ineine Mademoiselle Selma verwandelt) befand sich in größter Verzweiflung. Sie heulte und kreischte,daß man es durch das ganze Hotel hörte, und zerriß in einem Anfall von Raserei ihr Kleid. Indemselben Hotel logierte ein polnischer Graf (alle reisenden Polen sind Grafen), und MademoiselleSelma, die sich ihre Kleider zerrissen und sich ihr Gesicht mit ihren schönen, in Parfüm gewaschenenHänden wie eine Katze zerkratzt hatte, machte auf ihn einen starken Eindruck. Sie verhandeltenmiteinander, und beim Diner hatte sie sich bereits getröstet. Am Abend erschien er mit ihr Arm inArm im Kurhaus. Mademoiselle Selma lachte nach ihrer Gewohnheit sehr laut und benahm sich nochungenierter als sonst. Sie trat nun geradezu in die Klasse jener roulettspielenden Damen ein, die,wenn sie an den Spieltisch treten, durch einen kräftigen Stoß mit der Schulter einen Spieler beiseitedrängen, um sich einen Platz frei zu machen. Das ist bei ihnen ein besonderer Kunstgriff. Sie habendiese Damen gewiß auch schon bemerkt?«

»O ja.«

»Sie sind nicht wert, daß man sie beachtet. Zum Ärger des anständigen Publikums lassen sie sich hiernicht vertreiben, wenigstens nicht diejenigen von ihnen, die täglich am Spieltisch Tausendfrancnotenwechseln. Allerdings, sobald sie aufhören, solche Banknoten zu wechseln, ersucht man sie sogleich,sich zu entfernen. Mademoiselle Selma wechselte noch immer Banknoten; aber sie hatte im Spielimmer mehr Unglück. Sie können die Beobachtung machen, daß diese Damen sehr oft mit Glückspielen; denn sie besitzen eine erstaunliche Selbstbeherrschung. Übrigens nähert sich meineGeschichte damit dem Ende. Ebenso, wie vorher der Fürst, verschwand nun auch der Graf.Mademoiselle Selma erschien an diesem Abend bereits ohne Begleitung beim Spiel; diesmal warniemand da, der ihr den Arm geboten hätte. In zwei Tagen hatte sie alles verloren, was sie besaß.Nachdem sie den letzten Louisdor gesetzt und verloren hatte, sah sie sich rings um und erblickteneben sich den Baron Wurmerhelm, der sie sehr aufmerksam und mit starkem Mißfallen betrachtete.Aber Mademoiselle Selma bemerkte dieses Mißfallen nicht, wandte sich mit ihrem bekanntenLächeln an den Baron und bat ihn, für sie auf Rot zehn Louisdor zu setzen. Infolgedessen erhielt sieauf eine Beschwerde der Baronin hin am Abend die Weisung, nicht mehr im Kurhaus zu erscheinen.

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Wenn Sie sich darüber wundern, daß mir all diese kleinen, wenig anständigen Einzelheiten bekanntsind, so erklärt sich das daher, daß ich sie als sicher von Mister Feader, einem Verwandten von mir,gehört habe, der an demselben Abend Mademoiselle Selma in seinem Wagen von Roulettenburg nachSpaa mitnahm. Nun werden Sie verstehen: Mademoiselle Blanche möchte Frau Generalin werden,wahrscheinlich um in Zukunft nicht wieder von der Polizei eines Kurortes solche Weisungen zuerhalten wie vor zwei Jahren. Jetzt beteiligt sie sich nicht mehr am Spiel; aber das hat seinen Grunddarin, daß sie jetzt, nach allen Anzeichen zu urteilen, ein Kapital besitzt, das sie hiesigen Spielerngegen Prozente vorstreckt. Das ist ein weit vorsichtigeres finanzielles Verfahren. Ich vermute sogar,daß sich auch der unglückliche General unter ihren Schuldnern befindet. Vielleicht ist auch de Grieuxihr Schuldner. Es kann aber auch sein, daß de Grieux mit ihr ein Kompaniegeschäft hat. Da werdenSie sich selbst sagen können, daß sie wenigstens bis zur Hochzeit nicht wünschen kann, dieAufmerksamkeit der Baronin und des Barons auf irgendwelche Weise auf sich zu lenken. Kurz, inihrer Lage müßte ihr ein öffentlicher Skandal äußerst nachteilig sein. Sie aber stehen in engerBeziehung zu der Familie des Generals, und Ihre Handlungen können einen solchen Skandal für siehervorrufen, um so mehr, da sie täglich Arm in Arm mit dem General oder mit Miß Polina in derÖffentlichkeit erscheint. Verstehen Sie jetzt?«

»Nein, ich verstehe es nicht!« rief ich und schlug dabei mit aller Kraft auf den Tisch, so daß derKellner erschrocken herbeigelaufen kam.

»Sagen Sie, Mister Astley«, fuhr ich wütend fort, »wenn Ihnen diese ganze Geschichte schon bekanntwar und Sie somit genau wußten, wes Geistes Kind diese Mademoiselle Blanche de Cominges ist,warum haben Sie dann nicht wenigstens mir davon Mitteilung gemacht, oder dem General selbst, oderendlich, was das Wichtigste, das Allerwichtigste gewesen wäre, Miß Polina, die sich hier imKurhaus in aller Öffentlichkeit Arm in Arm mit Mademoiselle Blanche zeigt? Wie konnten Sie dennda schweigen?«

»Ihnen etwas davon mitzuteilen hatte keinen Zweck, weil Sie doch nichts bei der Sache tun konnten«,antwortete Mister Astley ruhig. »Und dann: wovon hätte ich denn Mitteilung machen sollen? DerGeneral weiß über Mademoiselle Blanche vielleicht noch mehr als ich und geht trotzdem mit ihr undmit Miß Polina spazieren. Der General ist ein unglücklicher Mensch. Ich sah gestern, wieMademoiselle Blanche auf einem schönen Pferd mit Monsieur de Grieux und diesem kleinenrussischen Fürsten dahingaloppierte, und hinter ihnen her jagte auf einem Fuchs der General. Er hatteam Morgen gesagt, er habe Schmerzen in den Beinen; aber sein Sitz war gut. Und sehen Sie, in diesemAugenblick schoß mir auf einmal der Gedanke durch den Kopf, daß er ein vollständig verlorenerMensch ist. Außerdem geht mich das alles eigentlich nichts an, und daß ich die Ehre hatte, Miß Polinakennenzulernen, ist noch nicht lange her. Übrigens«, unterbrach sich Mister Astley plötzlich, »habeich Ihnen bereits gesagt, daß ich Ihnen keine Berechtigung zuerkennen kann, mir irgendwelche Fragenzu stellen, obwohl ich Sie von Herzen gern habe ...«

»Genug«, sagte ich, indem ich aufstand. »Jetzt ist es mir sonnenklar, daß auch Miß Polina überMademoiselle Blanche vollkommen Bescheid weiß, sich aber von ihrem Franzosen nicht trennenkann und sich deshalb dazu versteht, mit Mademoiselle Blanche spazierenzugehen. Sie können sichersein, daß sie sich durch keinen andern Einfluß dazu bringen lassen würde, dies zu tun und nochaußerdem mich in ihrem Schreiben flehentlich zu bitten, ich möchte dem Baron nur ja nichts zuleide

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tun. Hier muß entschieden jene Einwirkung vorliegen, der sich hier alles fügt! Und dennoch ist sie esja gerade gewesen, die mich auf den Baron gehetzt hat! Hol's der Teufel, klug wird man aus der Sachenicht!«

»Sie vergessen erstens, daß diese Mademoiselle de Cominges die Braut des Generals ist, undzweitens, daß Miß Polina, die Stieftochter des Generals, noch einen kleinen Bruder und eine kleineSchwester hat, die leiblichen Kinder des Generals, um die dieser Wahnsinnige sich schon gar nichtmehr kümmert, und an deren Eigentum er, wie es scheint, sich bereits vergriffen hat.«

»Ja, ja! So ist es! Wenn sie wegginge, so hieße das, die Kinder völlig dem Verderben preisgeben;wenn sie dagegen hierbleibt, kann sie sich ihrer annehmen und vielleicht noch Reste des Vermögensfür sie retten. Ja, ja, das ist alles richtig. Aber trotzdem, trotzdem! Oh, ich verstehe, warum sie sichjetzt alle so für die alte Tante interessieren!«

»Für wen?« fragte Mister Astley.

»Für jene alte Hexe in Moskau, die nicht sterben will, und über deren Tod sie ein Telegrammerwarten.«

»Nun ja, natürlich konzentriert sich jetzt auf die das allgemeine Interesse. Alles kommt jetzt auf dieErbschaft an! Sobald der General die Erbschaft hat, heiratet er; Miß Polina wird dann gleichfallsHerrin ihrer selbst, und de Grieux ...«

»Nun, und de Grieux?«

»De Grieux bekommt sein Geld zurückbezahlt; darauf wartet er hier doch nur.«

»Nur darauf? Meinen Sie wirklich, daß er nur darauf wartet?«

»Weiter weiß ich nichts«, erwiderte Mister Astley; er schien entschlossen, hartnäckig zu schweigen.

»Aber ich weiß mehr, ich weiß mehr!« rief ich wütend. »Er wartet ebenfalls auf die Erbschaft, weilPolina dann eine Mitgift erhält und, sobald sie Geld hat, sich ihm sofort an den Hals werfen wird.Alle Weiber sind von der Art! Und gerade die stolzesten unter ihnen, das werden die niedrigstenSklavinnen! Polina ist keiner andern als einer leidenschaftlichen Liebe fähig! Das ist mein Urteil übersie! Betrachten Sie sie nur einmal aufmerksam, namentlich wenn sie allein sitzt und ihren Gedankennachhängt: es ist, als ob sie zu einem bestimmten Schicksal prädestiniert, verurteilt, verdammt wäre!Sie ist fähig, alle Glut der Leidenschaft zu empfinden und allen Schrecken des Lebens zu trotzen, ...sie ... sie ... Aber wer ruft mich da?« unterbrach ich mich plötzlich. »Wer mag das sein? Ich hörtejemanden auf russisch rufen: ›Alexej Iwanowitsch!‹ Es war eine weibliche Stimme. Hören Sie nur,hören Sie nur!«

Wir näherten uns in diesem Augenblick schon unserm Hotel. Wir hatten schon längst, fast ohne unsselbst dessen bewußt zu werden, das Café verlassen.

»Ich hörte, daß eine Frauenstimme rief; aber ich weiß nicht, wer gerufen wurde; russisch war es. Jetztsehe ich, von wo gerufen wird«, sagte Mister Astley und wies mit der Hand hin; »die Dame dort ruft,die auf einem großen Lehnstuhl sitzt und gerade von vielen Dienern die Stufen vor dem Portalhinangetragen wird. Hinter ihr werden Koffer gebracht; es ist offenbar soeben ein Zug angekommen.«

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»Aber warum ruft sie mich? Sie ruft wieder; sehen Sie, sie winkt uns.«

»Ja, ich sehe, daß sie winkt«, erwiderte Mister Astley. »Alexej Iwanowitsch! Alexej Iwanowitsch!Nein, was ist das hier doch für ein Tölpel!« hörte ich vom Hoteleingang her heftig rufen.

Wir eilten im schnellsten Schritt zum Portal. Ich stieg vor demselben die Stufen zur Plattform hinan,und ... die Arme sanken mir vor Erstaunen am Leib hinunter, und meine Füße schienen am Bodenfestgewachsen zu sein.

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Neuntes Kapitel

Oben auf der breiten Plattform vor dem Portal des Hotels saß in einem Lehnstuhl, auf dem sie dieStufen hinangetragen war, umgeben von ihrer Dienerschaft und dem zahlreichen, diensteifrigenHotelpersonal mit Einschluß des Oberkellners selbst, der herausgekommen war, um die hoheBesucherin zu begrüßen, die mit so viel Lärm und Geräusch, mit eigener Dienerschaft und mit einersolchen Unmenge von Koffern und Schachteln angereist kam – ja, wer saß da? Die alte Tante!

Ja, sie war es selbst, die gebieterische, reiche, fünfundsiebzigjährige Antonida WassiljewnaTarassewitschewa, Gutsbesitzerin und Moskauer Hausbesitzerin, die Tante, um derentwillen so vieleTelegramme abgeschickt und eingelaufen waren, die Tante, die immer im Sterben gelegen hatte unddoch nicht gestorben war, und die nun auf einmal selbst in höchsteigener Person wie ein Blitz ausheiterem Himmel bei uns erschien. Sie war erschienen, obgleich sie nicht gehen konnte; sie ließ sicheben, wie stets während der letzten fünf Jahre, im Sessel tragen; aber sie war wie immer: energisch,kampflustig, selbstzufrieden, saß gerade, redete laut und herrisch, schimpfte auf alle Menschen, kurz,sie war genau ebenso, wie ich sie bei zwei, drei Gelegenheiten zu sehen die Ehre gehabt hatte, seitich in das Haus des Generals als Hauslehrer eingetreten war. Sehr natürlich, daß ich vor ihr ganzstarr vor Verwunderung dastand. Sie hatte mich mit ihren Luchsaugen schon auf hundert SchrittEntfernung erblickt, als sie auf ihrem Stuhl ins Hotel getragen wurde, hatte mich erkannt und beimeinem Vornamen und Vatersnamen gerufen, wie sie denn solche Namen, wenn sie sie einmal gehörthatte, für immer im Gedächtnis zu behalten pflegte. »Und von einer solchen Frau haben sie gehofft, siewürden sie im Sarg und beerdigt sehen und ihre Erbschaft antreten!« Das war der Gedanke, der mirdurch den Kopf schoß. »Die wird uns alle und die ganze Bewohnerschaft des Hotels überleben!Aber, um Gottes willen, was wird nun aus den Unsrigen, was wird aus dem General! Sie wird nundas ganze Hotel auf den Kopf stellen!«

»Nun, lieber Freund, warum stehst du denn so vor mir da und reißt die Augen auf?« schrie mich diealte Dame an. »Eine Verbeugung zu machen und guten Tag zu sagen, das verstehst du wohl nicht, he?Oder bist du stolz geworden und willst es nicht tun? Oder hast du mich vielleicht nichtwiedererkannt? Hörst du wohl, Potapytsch«, wandte sie sich an einen grauhaarigen Alten in Frackund weißer Krawatte und mit einer rosenfarbenen Glatze, ihren Haushofmeister, der sie auf der Reisebegleitete, »hörst du wohl, er erkennt mich nicht wieder! Sie haben mich schon begraben! EinTelegramm schickten sie über das andere: ›Ist sie gestorben oder nicht?‹ Ja, ja, ich weiß alles! Abersiehst du wohl, ich bin noch fuchsmunter.«

»Aber ich bitte Sie, Antonida Wassiljewna, wie sollte es mir in den Sinn kommen, Ihnen Übles zuwünschen?« erwiderte ich in heiterem Ton, sobald ich meine Gedanken wieder gesammelt hatte. »Ichwar nur zu erstaunt ... Und wie sollte man sich auch da nicht wundern, wenn Sie so unerwartet ...«

»Was ist dir dabei verwunderlich? Ich habe mich auf die Bahn gesetzt und bin hergefahren. ImWaggon fährt es sich ruhig; der stößt nicht wie ein Wagen. Du bist wohl spazierengegangen, wie?«

»Ja, ich war nach dem Kurhaus gegangen.«

»Hier ist es hübsch«, sagte die Tante, sich umschauend. »Es ist warm, und da sind herrliche Bäume.Das habe ich gern! Sind unsere Leute zu Hause? Auch der General?«

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»Oh, gewiß werden sie zu Hause sein; zu dieser Stunde sind sie sicher alle zu Hause.«

»Haben sie etwa auch hier Empfangsstunden eingeführt und alle möglichen andern Zeremonien? Siegeben ja wohl den Ton in der Gesellschaft an. Ich habe gehört, sie halten sich Equipage, les seigneursrusses! Wenn sie sich in Rußland durch ihre Verschwendung ruiniert haben, dann heißt's: nun insAusland! Ist auch Praskowja[R1] bei ihnen?«

»Ja, Polina Alexandrowna ist auch hier.«

»Auch der kleine Franzose? Na, ich werde sie ja bald alle selbst sehen. Alexej Iwanowitsch, zeigemir den Weg direkt zu ihm. Geht es dir hier gut?«

»Es macht sich ja, Antonida Wassiljewna.«

»Und du, Potapytsch, sage diesem Tölpel von Kellner, er solle mir ein bequemes Logis anweisen, einhübsches Logis, nicht zu hoch gelegen; und dahin laß auch gleich die Sachen bringen! Aber warumdrängen sich denn alle dazu, mich zu tragen? Warum sind sie so aufdringlich? So ein Sklavenpack!Wen hast du da bei dir?« wandte sie sich wieder zu mir.

»Das ist Mister Astley«, erwiderte ich.

[F1: Ein vulgärer Name, wohl Polinas Taufname, der in der Familie des Generals durch denausländischen Polina ersetzt worden war. (A. d. Ü.)] »Was für ein Mister Astley?«

»Ein vielgereister Marnn und ein guter Bekannter von mir; er ist auch mit dem General bekannt.«

»Ein Engländer. Na ja, darum glotzt er mich auch so an und bringt die Zähne nicht auseinander.Übrigens mag ich die Engländer gern. Na also, dann tragt mich nach oben, geradeswegs zu ihnen inihre Wohnung; wo wohnen sie denn hier?«

Die Tante wurde weitergetragen; ich ging auf der breiten Hoteltreppe voran. Unser Zug machte einengroßartigen Effekt. Alle, auf die wir trafen, blieben stehen und betrachteten uns mit weit geöffnetenAugen. Unser Hotel gilt als das beste, teuerste und aristokratischste dieses Badeortes. Auf der Treppeund den Korridoren begegnet man stets sehr elegant gekleideten Damen und vornehmen Engländern.Viele erkundigten sich unten beim Oberkellner, der seinerseits einen außerordentlichen tiefenEindruck empfangen hatte. Er antwortete selbstverständlich allen Fragern, es sei eine sehr vornehmeAusländerin, une russe, une comtesse, grande dame, und sie nehme dasselbe Quartier, das eineWoche vorher la grande-duchessc de N. innegehabt habe. Den Haupteffekt machte das herrische undgebieterische äußere Wesen, das die Tante zeigte, während sie auf ihrem Stuhl nach oben getragenwurde. Bei der Begegnung mit jeder neuen Person maß sie diese sofort mit einem neugierigen Blickund befragte mich laut nach allen. Die Tante war aus einer Familie von stämmigem Körperbau, undobgleich sie von ihrem Stuhl nicht aufstand, so merkte man doch, wenn man sie ansah, daß sie sehrhochgewachsen war. Den Rücken hielt sie gerade wie ein Brett und lehnte sich nicht im Stuhl hintenan. Den grauhaarigen, großen Kopf mit den derben, scharfen Gesichtszügen trug sie hoch aufgerichtet;ihre Miene hatte dabei sogar etwas Hochmütiges und Herausforderndes. Es war deutlich, daß ihrBlick und ihre Bewegungen vollkommen natürlich waren. Trotz ihrer fünfundsiebzig Jahre sah ihrGesicht noch ziemlich frisch aus, und selbst die Zähne hatten nicht allzuviel gelitten. Ihr Anzugbestand aus einem schwarzen Seidenkleid und einer weißen Haube.

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»Sie interessiert mich außerordentlich«, flüsterte mir Mister Astley zu, der neben mir die Treppehinaufstieg.

»Von den Telegrammen weiß sie«, dachte ich bei mir; »de Grieux ist ihr ebenfalls bekannt; aber vonMademoiselle Blanche weiß sie anscheinend noch wenig.« Ich teilte dies sogleich Mister Astley mit.

Ich bin doch ein recht schändlicher Mensch! Kaum hatte sich mein erstes Erstaunen gelegt, da freuteich mich furchtbar über den Donnerschlag, der unser Erscheinen im nächsten Augenblick für denGeneral sein mußte. Ich hatte ein Gefühl, als ob mich innerlich etwas aufstachelte, und ging in sehrheiterer Stimmung voran.

Die Unsrigen wohnten in der dritten Etage; ich ließ uns nicht anmelden und klopfte nicht einmal an derTür an, sondern schlug einfach die Flügel weit zurück, und die Tante wurde im Triumphhereingetragen. Alle befanden sich, wie durch eine besondere Fügung, im Zimmer des Generalsbeisammen. Es war zwölf Uhr, und sie besprachen, wie es schien, gerade einen geplanten Ausflugteils zu Wagen, teils zu Pferde; es sollte daran die ganze Gesellschaft teilnehmen, und es warenaußerdem noch einige Bekannte aufgefordert. Außer dem General, Polina, den Kindern und ihrerKinderfrau waren im Zimmer anwesend: de Grieux, Mademoiselle Blanche, wieder im Reitkleid,ihre Mutter, Madame veuve Cominges, der kleine Fürst und endlich ein gelehrter Reisender, einDeutscher, den ich bei ihnen zum erstenmal sah.

Die Träger setzten den Stuhl mit der Tante gerade in der Mitte des Zimmers, drei Schritte vomGeneral entfernt, nieder. Gott im Himmel, nie werde ich den Eindruck vergessen, den dashervorbrachte! Vor unserm Eintritt hatte der General etwas erzählt und de Grieux es berichtigt. Esmuß bemerkt werden, daß Mademoiselle Blanche und de Grieux schon seit zwei, drei Tagen ausirgendwelchem Grunde dem kleinen Fürsten stark den Hof machten, worüber sich der arme Generalärgerte. Die ganze Gesellschaft befand sich, wenn das auch vielleicht nur gekünstelt war, in derheitersten Stimmung, und das Gespräch wurde in munterem, familiärem Ton geführt. Beim Anblickder Tante wurde der General plötzlich starr, riß den Mund auf und verstummte mitten in einem Wort.Die Augen traten ihm ordentlich aus dem Kopf, und er schaute sie an, als wäre er durch den Blickeines Basilisken bezaubert. Die Tante schaute ihn ebenfalls schweigend und ohne sich zu rühren an;aber was war das für ein triumphierender, herausfordernder, spöttischer Blick! So sahen sie einanderwohl zehn volle Sekunden lang an, unter tiefem Schweigen aller Anwesenden. De Grieux warzunächst wie versteinert gewesen; aber sehr bald kam auf seinem Gesicht eine heftige Unruhe zumAusbruch. Mademoiselle Blanche zog die Augenbrauen in die Höhe, machte den Mund auf undrichtete ihre verstörten Blicke auf die Tante. Der Fürst und der Gelehrte betrachteten mitverständnislosem Staunen dieses ganze Bild, das sich ihnen darbot. In Polinas Blick drückte sich einegrenzenlose Verwunderung aus; aber auf einmal wurde sie bleich wie Leinwand; einen Augenblickdarauf schlug ihr das Blut schnell ins Gesicht zurück, so daß ihre Wangen dunkelrot wurden. Ja, daswar für sie alle eine Katastrophe! Ich ließ meine Augen fortwährend zwischen der Tante und derganzen Gesellschaft hin und her wandern. Mister Astley stand etwas beiseite, wie gewöhnlich inruhiger, wohlanständiger Haltung.

»Na, da bin ich also: Persönlich, statt eines Telegramms!« Mit diesen Worten unterbrach die Tanteendlich das Schweigen. »Nicht wahr, das hattet ihr wohl nicht erwartet?«

»Antonida Wassiljewna ... Liebe Tante ... Aber wie geht es nur zu ...«, murmelte der unglückliche

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General.

Hätte die Tante noch ein paar Sekunden länger geschwiegen, so würde ihn vielleicht der Schlaggerührt haben.

»Wie es zugeht? Ich habe mich auf die Eisenbahn gesetzt und bin hergefahren. Wozu wäre denn dieEisenbahn sonst da? Und ihr habt alle gedacht, ich hätte schon die Augen für immer zugemacht undeuch meine Erbschaft hinterlassen? Siehst du, ich weiß, daß du von hier eine Menge Telegrammeabgeschickt hast. Du wirst einen tüchtigen Batzen Geld dafür bezahlt haben, denke ich mir. Von soweit her ist das nicht billig. Aber ich habe mich aufgemacht und bin hierhergefahren. Ist das derFranzose von früher? Monsieur de Grieux, wenn mir recht ist?«

»Oui, madame«, erwiderte de Grieux, »et croyez, je suis si enchanté ... votre santé ... c'est un miracle... vous voir ici ... une surprise charmante ...«

»So, so, charmante; ich kenne dich, du Heuchler; ich glaube dir auch nicht so viel!« Dabei zeigte siees ihm an ihrem kleinen Finger. »Was ist denn das für eine?« fragte sie, indem sie sich umwandte undauf Mademoiselle Blanche wies. Die hübsche Französin, im Reitkleid, die Reitpeitsche in der Hand,erregte offenbar ihr lebhaftes Interesse. »Wohl eine von hier, wie?«

»Das ist Mademoiselle Blanche de Cominges, und dort ist auch ihre Mutter, Madame de Cominges;sie wohnen ebenfalls hier im Hotel«, berichtete ich.

»Ist die Tochter verheiratet?« erkundigte sich die Tante ganz ungeniert.

»Mademoiselle de Cominges ist ledig«, antwortete ich möglichst respektvoll und absichtlich nurhalblaut.

»Ist sie eine lustige Person?«

Der Sinn dieser Frage war mir nicht sofort klar.

»Ist sie im Umgang amüsant? Kann sie Russisch? Dieser de Grieux hat ja bei uns in Moskau auch einpaar Brocken Russisch aufgeschnappt.«

Ich bemerkte ihr, Mademoiselle de Cominges sei nie in Rußland gewesen.

»Bonjour«, sagte die Tante, sich plötzlich mit scharfer Drehung des Körpers zu MademoiselleBlanche hinwendend.

»Bonjour, madame«, erwiderte Mademoiselle Blanche mit einem zeremoniellen, eleganten Knicks;sie bemühte sich, unter dem Schleier besonderer Bescheidenheit und Höflichkeit durch den gesamtenAusdruck ihres Gesichts und ihrer Gestalt ihr großes Befremden über die seltsamen Fragen und dieeigentümliche Anrede zum Ausdruck zu bringen.

»Oh, sie hat die Augen niedergeschlagen, benimmt sich förmlich und ziert sich; da sieht man gleich,was das für ein Vogel ist; gewiß eine Schauspielerin? Ich habe hier im Hotel weiter unten Wohnunggenommen«, wandte sie sich auf einmal wieder an den General. »Ich werde also deine Hausgenossinsein; freust du dich darüber oder nicht?«

»Oh, liebe Tante, Sie können überzeugt sein, daß ich mich aufrichtig ... aufrichtig darüber freue«,erwiderte der General eilig. Es war ihm bereits gelungen, seine Gedanken einigermaßen zu sammeln,

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und da er es verstand, bei gegebener Gelegenheit gewandt, würdig und bis zu einem gewissen Gradeeffektvoll zu reden, so schickte er sich auch jetzt an, sich etwas ausführlicher zu äußern. »Wir wareninfolge der Nachrichten über Ihre Krankheit in solcher Unruhe und Aufregung ... Die Telegramme, diewir erhielten, klangen so hoffnungslos, und nun auf einmal ...«

»Du schwindelst, du schwindelst«, unterbrach ihn die Tante sofort.

»Aber wie in aller Welt«, unterbrach sie nun seinerseits der General möglichst schnell und sprachdabei absichtlich lauter, um den Schein zu erwecken, als habe er ihre Zwischenbemerkung ›duschwindelst‹ überhört, »wie in aller Welt haben Sie sich nur zu einer solchen Reise entschließenkönnen? Sie werden zugeben, bei Ihren Jahren und bei Ihrem Gesundheitszustand ist dies allesmindestens so unerwartet, daß unser Erstaunen begreiflich ist. Aber ich freue mich so sehr ... und wiralle« (hier wurde auf seinem Gesicht ein Lächeln der Rührung und des Entzückens sichtbar) »werdenuns aus allen Kräften bemühen, Ihnen Ihren hiesigen Aufenthalt zu einer Zeit schönsten, angenehmstenGenusses zu machen ...«

»Na, hör nur auf; es ist ja doch alles nur leeres Geschwätz; du plapperst nach deiner Gewohnheitallerlei Unsinn zusammen; ich weiß schon allein, wie ich mein Leben einzurichten habe. Übrigenshabe ich auch nichts dagegen, mit euch zu verkehren; ich trage euch nichts nach. Wie ich mich dazuhabe entschließen können, fragst du? Aber was ist da zu verwundern? Das ist auf die allereinfachsteWeise zugegangen. Warum sind nur alle Leute darüber so erstaunt? Guten Tag, Praskowja. Wasmachst du denn hier?«

»Guten Tag, liebes Großmütterchen«, begrüßte Polina sie freundlich und trat zu ihr hin. »Sind Sielange unterwegs gewesen?«

»Na, seht mal, diese Frage von ihr war gescheiter als euer maßloses Erstaunen: ›Oh!‹ und ›Ach!‹Also, siehst du wohl: ich lag immerzu zu Bette, und die Ärzte kurierten an mir herum; da jagte ich siedavon und ließ mir einen Kirchendiener von der Nikolauskirche kommen. Der hatte schon frühereinmal eine alte Frau von derselben Krankheit mit Tee von Heustaub geheilt. Na also, der hat auchmir geholfen; am dritten Tag fing ich am ganzen Leibe stark zu schwitzen an, und dann stand ich auf.Nun traten meine deutschen Ärzte wieder zur Beratung zusammen, setzten sich ihre Brillen auf undkamen zu dem Resultat: ›Wenn Sie jetzt im Ausland eine Badekur durchmachen könnten, dann würdendie Blutstockungen ganz behoben werden.‹ ›Na, warum nicht?‹ dachte ich. Da schlugen dieHansnarren die Hände über dem Kopf zusammen: ›Wie können Sie nur daran denken, eine so großeReise zu unternehmend!‹ Aber hast du gesehen: an einem Tag packte ich, und am Freitag der vorigenWoche nahm ich mein Mädchen und Potapytsch und den Diener Fjodor mit; diesen Fjodor habe ichaber von Berlin aus wieder zurückgeschickt, weil ich sah, daß ich ihn gar nicht nötig hatte; ich hättesogar vollständig allein reisen können. Auf der Bahn nehme ich mir ein besonderes Abteil; undGepäckträger sind auf allen Stationen vorhanden; die tragen einen für ein Zwanzigkopekenstück,wohin man will ... Nun seht mal an, was ihr hier für ein schönes Logis habt!« schloß sie, indem siesich rings umsah. »Aus was für Mitteln leistest du dir denn das, Freundchen? Dein ganzerGrundbesitz ist doch verpfändet. Und was bist du schon allein diesem Franzosen hier für eine Summeschuldig! Ja, ja, ich weiß alles, weiß alles!«

»Liebe Tante ...«, begann der General äußerst verlegen, »ich wundere mich, liebe Tante ... ich kanndoch, möchte ich meinen, auch ohne Kontrolle von seiten eines andern ... Überdies übersteigen meine

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Ausgaben durchaus nicht meine Mittel, und wir leben hier ...«

»Übersteigen nicht? Übersteigen nicht? Was du sagst! Und deinen Kindern wirst du wohl schon dasletzte, was sie hatten, geraubt haben. Ein netter Vormund!«

»Wenn Sie so denken und mir dergleichen sagen ...«, fing der General unwillig an, »so weiß ichwirklich nicht ...«

»Ja, ja, du weißt nicht, du weißt nicht! Vom Roulett kommst du hier wohl gar nicht mehr weg? Bistwohl ganz ausgebeutelt?«

Der General war so perplex, daß er vor Aufregung beinah erstickte.

»Vom Roulett! Ich? Bei meinem Stande ... Ich? Kommen Sie zur Besinnung, liebe Tante; Sie sindgewiß noch krank ...«

»Na, du schwindelst, du schwindelst; bist gewiß vom Spieltisch gar nicht wegzukriegen; immerschwindelst du! Aber ich werde mir einmal ansehen, was es mit diesem Roulett für eine Bewandtnishat, heute noch. Du, Praskowja, erzähle mir mal, was hier alles zu sehen ist, und auch AlexejIwanowitsch da kann mich instruieren; und du, Potapytsch, notiere alle Orte, wo wir hinfahren sollen.Was ist hier zu sehen?« wandte sie sich plötzlich wieder an Polina.

»Hier in der Nähe ist eine Burgruine, und dann der Schlangenberg.«

»Was ist das, der Schlangenberg? Wohl ein Park, nicht wahr?«

»Nein, es ist nicht ein Park, sondern ein Berg. Da ist ein Aussichtspunkt, der höchste Punkt auf demBerge, ein mit einem Geländer umgebener Platz. Von da hat man eine herrliche Aussicht.«

»Also soll ich meinen Stuhl auf den Berg tragen lassen? Werden sie ihn hinaufkriegen oder nicht?«

»Oh, Träger werden sich schon finden lassen«, erwiderte ich.

In diesem Augenblick näherte sich der alten Dame die Kinderfrau Fedosja, um sie zu begrüßen, undführte ihr auch die Kinder des Generals zu.

»Na, das Küssen laßt nur beiseite! Ich mag Kinder nicht küssen; alle Kinder haben Schmutznasen.Nun, wie geht es dir hier, Fedosja?«

»Hier ist es sehr, sehr schön, Mütterchen Antonida Wassiljewna«, antwortete Fedosja. »Wie ist esIhnen denn gegangen, Mütterchen? Wir haben Sie so bedauert.«

»Ich weiß, du bist eine gute Seele. Was sind denn das hier für Leute bei euch, wohl alles Besuch,nicht wahr?« wandte sie sich wieder an Polina. »Wer ist denn der widerliche Mensch da mit derBrille?«

»Fürst Nilski, Großmütterchen«, flüsterte ihr Polina zu.

»Ach so, es ist ein Russe? Ich hatte gedacht, er verstände nicht, was ich sagte! Na, vielleicht hat er esnicht gehört. Mister Astley habe ich schon gesehen. Da ist er ja wieder«, fuhr sie fort, da sie seiner indiesem Augenblick ansichtig wurde. »Guten Tag!« wandte sie sich an ihn.

Mister Astley machte ihr schweigend eine Verbeugung.

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»Nun, was werden Sie mir Gutes sagen? Sagen Sie doch etwas! Übersetze es ihm, Praskowja.«

Polina übersetzte es.

»Ich möchte also sagen: es ist mir ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen, und ich freue mich, daßSie sich in guter Gesundheit befinden«, antwortete Mister Astley ernsthaft und mit größterBereitwilligkeit. Seine Worte wurden der Alten übersetzt und gefielen ihr offenbar sehr.

»Was doch die Engländer immer für nette Antworten geben«, bemerkte sie. »Ich habe die Engländerimmer sehr gern gehabt; gar kein Vergleich mit dem Franzosenvolk! Besuchen Sie mich!« wandte siesich wieder an Mister Astley. »Ich werde mich bemühen, Ihnen nicht allzu lästig zu fallen. Übersetzeihm das und sage ihm, daß ich hier unten wohne, hier unten, hören Sie wohl, unten, unten«,wiederholte sie für Mister Astley und zeigte dabei mit dem Finger nach unten.

Mister Astley war über die Einladung sehr erfreut.

Nun betrachtete die Tante mit einem aufmerksamen, zufriedenen Blick Polina vom Kopf bis zu denFüßen.

»Ich würde dich sehr lieb haben«, sagte sie dann ohne weiteres, »du bist ein prächtiges Mädchen,besser als sie alle; aber einen eigentümlichen Charakter hast du, o weh, o weh! Na, ich habe ja auchmeinen besonderen Charakter. Dreh dich mal um; hast du da auch nicht eine falsche Einlage imHaar?«

»Nein, Großmütterchen, es ist alles mein eigenes.«

»Na ja, die jetzige dumme Mode kann ich nicht leiden. Hübsch bist du. Wenn ich ein Mann wäre,würde ich mich in dich verlieben. Warum verheiratest du dich nicht? Na, aber nun habe ich keine Zeitmehr. Ich möchte eine Spaziertetour machen; dieses ewige Im-Waggon-Sitzen! ... Nun, und du? Bistdu immer noch böse?« wandte sie sich an den General.

»Aber ich bitte Sie, liebe Tante, sprechen wir nicht davon!« fiel der erfreute General schnell ein.»Ich verstehe vollkommen, daß, wer in Ihren Jahren steht ...«

»Cette vieille est tombée en enfance«, flüsterte nur de Grieux zu.

»Ich will mir hier alles ansehen«, erklärte die Tante. Und zu dem General gewendet fügte sie hinzu:»Willst du mir Alexej Iwanowitsch abtreten?«

»Oh, so lange Sie wünschen. Aber ich könnte ja auch selbst ... und Polina und Monsieur de Grieux ...uns allen wird es ein Vergnügen sein, Sie zu begleiten.«

»Mais, madame, cela sera un plaisir...«, beeilte sich de Grieux mit einem bezaubernden Lächelnhinzuzufügen.

»So, so, plaisir. Du kommst mir sehr komisch vor, Freundchen. Geld werde ich dir übrigens nichtgeben«, fuhr sie, sich an den General wendend, unvermittelt fort. »Na, jetzt also nach meinem Logis;ich muß es doch in Augenschein nehmen; und dann wollen wir überallhin, wo es etwas zu sehen gibt.Na, nun hebt mich auf!«

Die Träger hoben sie wieder in die Höhe, und fast alle Anwesenden zogen in dichtem Haufen hinterdem Stuhl her die Treppe hinunter. Der General ging, als wäre er von einem Knittelschlag über den

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Kopf betäubt. De Grieux schien etwas zu überlegen. Mademoiselle Blanche hatte eigentlichzurückbleiben wollen, änderte dann aber ihre Absicht und schloß sich den andern an. Sofort folgte ihrauch der Fürst, und oben, in der Wohnung des Generals, blieben nur der Deutsche und Madame veuveCominges zurück.

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Zehntes Kapitel

In den Badeorten (und, wie es scheint, auch im ganzen übrigen westlichen Europa) lassen sich dieHoteliers und Oberkellner, wenn sie den Gästen ihr Logis anweisen, nicht sowohl von derenForderungen und Wünschen leiten, als vielmehr von ihrem eigenen persönlichen Urteil über sie, undman muß zugeben, daß sie dabei nur selten Irrtümer begehen. Aber der Tante war (warumeigentlich?) ein so großartiges Quartier angewiesen, daß sie denn doch überschätzt war: vierprachtvoll möblierte Zimmer, nebst einem Badezimmer, den erforderlichen Räumlichkeiten für dieDienerschaft, einem besonderen Zimmerchen für die Zofe usw. usw. In diesen Zimmern hattetatsächlich eine Woche vorher eine Großherzogin logiert, was denn auch natürlich den neuenBewohnern sofort mitgeteilt wurde, um damit eine weitere Erhöhung des an sich schon hohenWohnungspreises zu rechtfertigen. Die Tante wurde in allen Zimmern umhergetragen oder, richtigergesagt, in ihrem Rollstuhl umhergefahren und unterzog sie einer aufmerksamen, strengen Musterung.Der Oberkellner, ein schon bejahrter Mann mit kahlem Kopf, begleitete sie respektvoll bei dieserersten Besichtigung.

Wofür eigentlich alle die Tante hielten, weiß ich nicht genau; aber anscheinend taxierte man sie füreine sehr vornehme Persönlichkeit und, was die Hauptsache war, für außerordentlich reich. In dasFremdenbuch wurde sogleich eingetragen: Madame la générale princesse de Tarassevitcheva,obwohl die Tante ganz und gar keine Fürstin war.

Die eigene Dienerschaft, das besondere Abteil auf der Eisenbahn, die Unmenge unnötiger Koffer,Schachteln und Kisten, die sie mit sich führte, hatten für diese Wertschätzung wahrscheinlich denGrund gelegt; und der Lehnstuhl, der entschiedene Ton, die scharfe Stimme der alten Dame und dieabsonderlichen Fragen, die sie in der ungeniertesten, keinen Widerspruch duldenden Weise stellte,kurz, ihr ganzes Wesen, rücksichtslos, scharf, gebieterisch, steigerte die allgemeine Hochachtung vorihr noch um ein Beträchtliches.

Bei der Besichtigung ließ die Tante ein paarmal den Rollstuhl plötzlich anhalten, zeigte auf ein oderdas andere Stück des Meublements und wandte sich mit unerwarteten Fragen an den respektvolllächelnden, aber bereits etwas ängstlich werdenden Oberkellner. Sie stellte ihre Fragen auffranzösisch, das sie aber ziemlich schlecht sprach, so daß ich es meistens erst noch übersetzen mußte.Die Antworten des Oberkellners mißfielen ihr größtenteils und schienen ihr unbefriedigend. Aber siefragte auch fortwährend nach Gott weiß was für Dingen. So machte sie zum Beispiel auf einmal voreinem Gemälde halt, einer ziemlich schwachen Kopie irgendeines bekannten Originals, das einWesen der Mythologie darstellte.

»Wessen Porträt ist das?«

Der Oberkellner erwiderte, es werde wohl eine Gräfin sein.

»Wie kommt es, daß du das nicht weißt? Wohnst hier und weißt das nicht! Wozu ist das Bildüberhaupt hier? Und warum schielen auf ihm die Augen so?«

Auf all diese Fragen war der Oberkellner nicht imstande, befriedigend zu antworten und wurde ganzverlegen.

»So ein Tölpel!« rief die alte Tante auf russisch.

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Sie wurde weitergefahren. Dieselbe Geschichte wiederholte sich bei einer kleinen MeißnerPorzellanfigur, die die Alte lange betrachtete und dann (niemand wußte, warum) fortzuschaffenbefahl. Endlich brachte sie den Oberkellner mit der Frage in Bedrängnis, was die Teppiche imSchlafzimmer gekostet hätten, und wo sie gewebt seien. Der Oberkellner versprach, sich danach zuerkundigen.

»Was sind das hier für Esel!« brummte die Tante und richtete nun ihre ganze Aufmerksamkeit auf dasBett.

»So ein luxuriöser Baldachin! Schlagt mal den Vorhang zurück!« Der Bettvorhang wurdezurückgeschlagen.

»Noch weiter, noch weiter, schlagt ihn ganz zurück! Nehmt die Kissen weg, das Laken; hebt dasFederbett in die Höhe!« Alles wurde umgewälzt. Die Tante schaute aufmerksam hin.

»Gut, daß keine Wanzen da sind. Weg mit der ganzen Bettwäsche! Das Bett soll mit meinen eigenenKissen und mit meiner eigenen Bettwäsche zurechtgemacht werden. Aber all das ist viel zu luxuriös;wozu brauche ich alte Frau eine solche Wohnung? Da langweile ich mich nur darin, wenn ich alleinbin. Alexej Iwanowitsch, komm recht oft zu mir, wenn du mit dem Unterricht der Kinder fertig bist!«

»Ich bin seit gestern nicht mehr in Stellung beim General«, antwortete ich. »Ich wohne im Hotel alsganz selbständiger Gast.«

»Woher ist denn das gekommen?«

»Es ist hier neulich ein vornehmer deutscher Baron mit seiner Gemahlin, der Baronin, aus Berlinangekommen. Ich redete die beiden gestern auf der Promenade deutsch an, ohne mich an die BerlinerAussprache zu halten.«

»Nun, und was weiter?«

»Er hielt das für eine Frechheit und beschwerte sich beim General, und der General entließ michgestern aus meiner Stellung.«

»Du hast ihn wohl beschimpft, den Baron, nicht wahr? Aber wenn du das auch getan hättest, soschadete es nichts!«

»O nein, das habe ich nicht getan. Im Gegenteil, der Baron hat den Stock gegen mich erhoben.«

»Und du, schlapper Kerl, hast es geduldet, daß jemand deinen Hauslehrer so behandelt?« wandte siesich brüsk an den General, »und hast ihn obendrein aus dem Dienst gejagt? Schlafmützen seid ihrhier, lauter Schlafmützen, das sehe ich schon.«

»Regen Sie sich nicht auf, liebe Tante«, erwiderte der General mit einer halb hochmütigen, halbfamiliären Tonfärbung; »ich weiß schon allein in meinen Angelegenheiten das Richtige zu treffen.Außerdem hat Alexej Iwanowitsch Ihnen die Sache nicht ganz zutreffend dargestellt.«

»Und du hast dir das gefallen lassen?« wandte sie sich zu mir.

»Ich wollte den Baron zum Duell fordern«, erwiderte ich möglichst bescheiden und ruhig. »Aber derGeneral widersetzte sich meinem Vorhaben.«

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»Warum hast du dich denn dem widersetzt?« wandte sich die Alte wieder zum General. »Du, meinFreundchen«, redete sie, zum Oberkellner gewendet, weiter, »kannst jetzt weggehen und brauchst erstwiederzukommen, wenn du gerufen wirst. Es hat keinen Zweck, daß du hier stehst und den Mundaufsperrst. Ich kann diese Puppenfratze nicht ausstehen!« Der Oberkellner verbeugte sich und ging,natürlich ohne das Kompliment, das ihm die Alte gemacht hatte, verstanden zu haben.

»Aber ich bitte Sie, liebe Tante, sind denn Duelle zulässig?« erwiderte der General lächelnd.

»Warum sollen sie nicht zulässig sein? Alle Männer sind Kampfhähne; da mögen sie miteinanderkämpfen. Aber ihr seid hier alle Schlafmützen, wie ich sehe, und versteht nicht für die Ehre euresVaterlandes einzutreten. Na, nun hebt mich auf! Potapytsch, sorge dafür, daß immer zweiDienstmänner bereit sind; engagiere sie und mache mit ihnen alles ab! Mehr als zwei sind nicht nötig.Zu tragen brauchen sie mich nur auf den Treppen; wo es eben ist, auf der Straße, müssen sie michschieben; das setze ihnen auseinander! Und bezahle ihnen ihr Geld im voraus; dann sind solche Leuterespektvoller. Du selbst bleibe immer um mich, und du, Alexej Iwanowitsch, zeige mir doch diesenBaron auf der Promenade; ich möchte mir diesen ›Herrn Baron von‹ doch wenigstens einmal ansehen.Nun also, wo ist denn dieses Roulett?«

Ich berichtete ihr, das Roulett sei im Kurhaus untergebracht, in den dortigen Sälen. Nun folgtenweitere Fragen: ob viele Roulettspiele da seien, ob viele Leute spielten, ob den ganzen Tag übergespielt werde, wie das Spiel eingerichtet sei. Ich antwortete schließlich, das beste wäre, es miteigenen Augen anzusehen; denn es bloß so zu beschreiben sei eine recht schwere Aufgabe.

»Na gut, dann schafft mich geradewegs dorthin! Geh voran, Alexej Iwanowitsch!«

»Wie, liebe Tante! Wollen Sie sich denn wirklich nicht einmal erst von der Reise erholen?« fragteder General sorglich. Er war in eine gewisse Unruhe geraten, und auch die andern waren alleeinigermaßen verlegen geworden und wechselten Blicke miteinander. Wahrscheinlich genierten siesich ein bißchen oder schämten sich sogar, die alte Tante geradeswegs nach dem Kurhaus zubegleiten, wo sie selbstverständlich irgendwelche Wunderlichkeiten begehen konnte, und zwar, wasdas Schlimmste war, in aller Öffentlichkeit. Indes erboten sich trotzdem alle, sie dorthin zu begleiten.

»Wozu brauche ich mich erst noch zu erholen? Ich bin nicht müde; ich habe ohnehin fünf Tage langgesessen. Und dann wollen wir uns ansehen, was es hier für Brunnen und Heilquellen gibt, und wosie sind. Und dann ... dann wollen wir nach dem Aussichtspunkt, von dem du sagtest, Praskowja, Undwas gibt es hier sonst noch zu sehen?«

»Da ist noch vielerlei, Großmütterchen«, erwiderte Polina, die sich nicht gleich zu helfen wußte.

»Na, du weißt es wohl selbst nicht. Maria, du kommst auch mit mir mit«, sagte sie zu ihrer Zofe.

»Aber wozu soll denn die mitkommen, liebe Tante?« wandte der General beunruhigt ein. »Es wirdauch gar nicht gehen; auch Potapytsch wird schwerlich in das Kurhaus hereingelassen werden.«

»Ach, dummes Zeug! Bloß weil sie eine Dienerin ist, sollte ich mich nicht um sie kümmern? Sie ist jadoch auch ein lebendiger Mensch; nun haben wir schon eine Woche auf der Bahn gesessen, da wirdsie auch Lust haben, etwas zu sehen. Und mit wem soll sie ausgehen als mit mir? Allein würde sie janicht wagen, auch nur die Nase auf die Straße zu stecken.«

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»Aber, Großmütterchen ...«

»Schämst du dich etwa, mit mir zu gehen? Dann bleib doch zu Hause; es bittet dich ja niemandmitzukommen. Nun seh einer so einen vornehmen General! Aber ich bin ja auch selbst eine FrauGeneralin. Und was hat das überhaupt für einen Zweck, wenn ihr alle hinter mir herzieht? Das ist jaeine ordentliche Schleppe! Ich kann mir auch mit Alexej Iwanowitsch allein alles besehen ...«

Aber de Grieux bestand energisch darauf, daß alle sie begleiten müßten, und erging sich in denliebenswürdigsten Redewendungen über das Vergnügen, mit ihr gehen zu dürfen usw. So setzten sichdenn alle in Bewegung.

»Elle est tombée en enfance«, sagte de Grieux noch einmal, wie vorher zu mir, so jetzt leise zumGeneral; »seule, elle fera des bêtises ...« Was er weiter sagte, konnte ich nicht verstehen; aberoffenbar hatte er irgendwelche Absichten, und vielleicht waren bei ihm auch schon wiederHoffnungen rege geworden.

Bis zum Kurhaus waren etwa neunhundert Schritt. Unser Weg ging durch die Kastanienallee zu einemviereckigen Platz mit Anlagen; um diesen mußte man herumgehen und trat dann unmittelbar insKurhaus. Der General hatte sich etwas beruhigt, weil unser Aufzug, wiewohl er ziemlich auffälligwar, doch in Ordnung und mit Anstand vonstatten ging. Und es war ja auch nichts Verwunderliches andem Umstand, daß eine kranke, schwache Person, die nicht gehen konnte, sich in diesem Kurorteingefunden hatte. Aber augenscheinlich fürchtete der General den Eindruck, den unser Erscheinen inden Spielsälen machen mußte. Was hat ein kranker Mensch, der nicht gehen kann, und noch dazu einealte Dame, beim Roulett zu suchen? Polina und Mademoiselle Blanche gingen jede an einer Seite desRollstuhls. Mademoiselle Blanche lachte, zeigte eine bescheidene Heiterkeit und scherzte sogarmitunter in liebenswürdigster Weise mit der Tante, so daß diese sie schließlich lobte. Polina, die aufder andern Seite ging, mußte auf die zahllosen Fragen antworten, die die Tante alle Augenblicke ansie richtete, Fragen von dieser Art: »Wer war das, der da eben vorbeiging? Was fuhr da für eineDame? Ist die Stadt groß? Ist der Park groß? Was sind das für Bäume? Was sind das für Berge?Fliegen da Adler? Was ist das für ein komisches Dach?« Mister Astley ging neben mir und flüstertemir zu, er erwarte von diesem Vormittag vieles. Potapytsch und Marfa gingen unmittelbar hinter demRollstuhl, Potapytsch in seinem Frack und mit seiner weißen Krawatte, aber jetzt mit einerSchirmmütze, Marfa, ein etwa vierzigjähriges Mädchen mit frischem Teint, aber bereits ergrauendemHaar, in einem Kattunkleid, mit einem Häubchen und mit derbledernen, knarrenden Schuhen. DieTante drehte sich sehr häufig zu ihnen um und sprach mit ihnen. De Grieux, der mit dem Generalredete, zeigte eine energische Miene; vielleicht sprach er ihm Mut zu, und augenscheinlich erteilte erihm Ratschläge. Aber die Tante hatte vorhin bereits das fatale Wort gesprochen: »Geld werde ich dirnicht geben.« Möglicherweise meinte de Grieux, diese Ankündigung sei wohl nicht so ernst gemeint;aber der General kannte sein liebes Tantchen. Ich beobachtete, daß de Grieux und MademoiselleBlanche fortfuhren, miteinander verstohlene Blicke zu wechseln. Den Fürsten und den deutschenReisenden bemerkte ich ganz hinten am Ende der Allee; sie waren zurückgeblieben und bogen nun,um sich von uns zu trennen, seitwärts ab.

Das Kurhaus betraten wir wie ein Triumphzug. Der Portier und die Diener legten dieselberespektvolle Ehrerbietung an den Tag wie die Hoteldienerschaft, betrachteten uns aber dabei doch miteiner gewissen Neugier. Die Tante ließ sich zunächst durch alle Säle fahren; manches lobte sie, gegen

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andres blieb sie völlig gleichgültig; nach allem fragte sie. Endlich gelangten wir auch zu denSpielsälen. Der Diener, der als Schildwache an der geschlossenen Tür stand, schlug, höchlichstüberrascht, schnell beide Türflügel weit zurück.

Das Erscheinen der Tante beim Roulett machte einen starken Eindruck auf das Publikum. Um dieRoulettische und den Tisch mit Trente-et-quarante, der am anderen Ende des Saales aufgestellt war,drängten sich vielleicht hundertfünfzig bis zweihundert Spieler in mehreren Reihen hintereinander.Diejenigen, denen es gelungen war, sich bis unmittelbar an einen Tisch durchzudrängen, behauptetenihre Plätze wie gewöhnlich mit zäher Energie und gaben sie nicht früher auf, als bis sie alles verspielthatten; denn nur so als bloße Zuschauer dazustehen und nutzlos einen Platz innezuhaben, an demgespielt werden konnte, war nicht gestattet. Wiewohl um den Tisch herum Stühle aufgestellt sind,setzen sich doch nur wenige Spieler hin, besonders bei starkem Andrang des Publikums. Denn imStehen nimmt man weniger Raum ein und kann darum leichter einen Platz ergattern; auch seineEinsätze macht man mit mehr Bequemlichkeit, wenn man steht. Gegen die erste Reihe drückte vonhinten eine zweite und dritte, in der die Menschen darauf lauerten, wann sie selbst darankommenwürden; aber mitunter schob sich aus der zweiten Reihe ungeduldig eine Hand durch die erstehindurch, um einen Einsatz zu machen. Sogar aus der dritten Reihe praktizierte ein oder der andereauf diese Weise mit besonderer Geschicklichkeit seinen Einsatz auf den Tisch; die Folge davon war,daß keine zehn oder auch nur fünf Minuten vergingen, ohne daß es an einem der Tische zuSkandalszenen wegen strittiger Einsätze gekommen wäre. Übrigens ist die Polizei des Kurhausesrecht gut. Gegen das Gedränge läßt sich natürlich nichts tun; im Gegenteil freut man sich über denAndrang des Publikums wegen des damit verbundenen Vorteils; aber die acht Croupiers, die an denTischen sitzen, passen mit angestrengter Aufmerksamkeit auf die Einsätze auf; sie sind es auch, diedie Gewinne auszahlen und, falls Streitigkeiten entstehen, diese entscheiden. Schlimmstenfalls rufensie die Polizei herbei, und dann wird die Sache im Umsehen erledigt. Die Polizisten sind dauernd imSaal stationiert und befinden sich in Zivilkleidung unter den Zuschauern, so daß man sie nichterkennen kann. Sie passen besonders auf Diebe und Gauner auf, deren es wegen der außerordentlichbequemen Ausübung dieses Gewerbes beim Roulett sehr viele gibt. Und in der Tat, überall sonst mußman aus Taschen und verschlossenen Behältnissen stehlen, und das endet im Falle des Mißlingenssehr unangenehm. Hier aber braucht man es nur ganz einfach folgendermaßen zu machen: man gehtzum Roulett, fängt an zu spielen, nimmt sich auf einmal offen und vor aller Augen einen fremdenGewinn und steckt ihn in seine Tasche; entsteht ein Streit, so behauptet der Gauner laut und mit allerBestimmtheit, der Einsatz sei der seinige. Wenn das geschickt gemacht wird und die Zeugen sich ihrerSache nicht ganz sicher sind, so gelingt es dem Dieb oft, sich das Geld anzueignen, selbstverständlichnur dann, wenn die Summe nicht sehr beträchtlich ist. Im letzteren Fall pflegt sie schon vorher dieAufmerksamkeit des Croupiers oder eines der Mitspieler erregt zu haben. Ist aber die Summe nicht sobedeutend, so verzichtet der wirkliche Eigentümer mitunter sogar aus Scheu vor einem Skandal aufeine Fortsetzung des Streites und geht davon. Gelingt es dagegen, einen Dieb zu überführen, so wirder sogleich unter großem Aufsehen abgeführt.

Alles das sah sich die Tante von weitem und mit scheuer Neugier an. Es gefiel ihr sehr, daß ein paarDiebe hinaustransportiert wurden. Das Trente-et-quarante erweckte ihr Interesse nur in geringemGrade; besser gefiel ihr das Roulett mit dem herumlaufenden Kügelchen. Endlich bekam sie Lust, dasSpiel aus größerer Nähe mit anzusehen. Ich begreife nicht, wie es möglich war, aber die Saaldiener

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und einige eifrige Kommissionäre (es sind dies vorzugsweise Polen, die ihr ganzes Geld verspielthaben und nun glücklicheren Spielern sowie allen Ausländern ihre Dienste aufdrängen) fanden trotzdes argen Gedränges einen Platz, den sie für die Tante frei machten, gerade in der Mitte des Tischesneben dem Obercroupier, und rollten ihren Stuhl dorthin. Eine Menge von Besuchern, die nicht selbstspielten, sondern nur aus einiger Entfernung dem Spiel zuschauten (in der Hauptsache Engländer mitihren Familien), drängte sich sogleich zu diesem Tisch, um hinter den Spielern stehend die alte Damezu beobachten. Viele Lorgnetten richteten sich auf sie. Die Croupiers gaben sich besonderenHoffnungen hin: von einem so originellen Spieler konnte man allerdings etwas Ungewöhnlicheserwarten. Eine fünfundsiebzigjährige Dame, die nicht gehen konnte und spielen wollte, das warfreilich ein Fall, wie er nicht alle Tage vorkam. Ich drängte mich gleichfalls zum Tisch durch undstellte mich neben die Tante. Potapytsch und Marfa hatten in weiter Entfernung zurückbleiben müssenund standen dort irgendwo mitten im Menschenschwarm. Der General, Polina, de Grieux undMademoiselle Blanche standen gleichfalls ziemlich weit entfernt von uns unter den Zuschauern.

Die Tante betrachtete zunächst die Spieler und flüsterte mir in ihrem scharfen Ton kurze Fragen zu:»Was ist das für einer? Wer ist diese Dame?« Besonders gefiel ihr an einem Ende des Tisches einnoch sehr junger Mensch, der hoch spielte, Tausende mit einem Male setzte und, wie unter denUmstehenden geflüstert wurde, bereits gegen vierzigtausend Franc gewonnen hatte, die in einemHäufchen vor ihm lagen, Gold und Banknoten. Er sah blaß aus; seine Augen glänzten, die Händezitterten ihm; er setzte bereits, ohne überhaupt zu zählen, soviel er mit der Hand gerade erfaßte, unddabei gewann er fortwährend und häufte immer mehr Geld zusammen. Die Saaldiener waren eifrig umihn beschäftigt; sie rückten ihm von hinten einen Sessel heran und hielten um ihn herum etwas Raumfrei, damit er sich besser bewegen könne und von den andern nicht so gedrängt werde – alles inErwartung eines reichen Trinkgeldes. Denn manche Spieler geben von ihrem Gewinn den Dienern,ohne zu zählen, in der Freude ihres Herzens, soviel sie mit der Hand in der Tasche zu fassenbekommen. Neben dem jungen Mann hatte bereits ein Pole Aufstellung genommen, der sich aus allenKräften um ihn bemühte und ihm respektvoll, aber ohne Unterlaß etwas zuflüsterte, Anweisungen, wieer setzen solle, Ratschläge und Belehrungen das Spiel betreffend – natürlich erwartete er ebenfallsnachher ein Geldgeschenk! Aber der Spieler sah fast gar nicht nach ihm hin, setzte, wie es sich geradetraf, und strich immer neue Gewinne ein. Er wußte offenbar gar nicht mehr, was er tat.

Die Alte beobachtete ihn ein paar Minuten lang.

»Sage ihm doch«, wandte sie sich plötzlich voller Eifer an mich, indem sie mich anstieß, »sage ihmdoch, er möchte aufhören, er möchte schleunigst sein Geld nehmen und davongehen. Er wirdverlieren, im nächsten Augenblick wird er alles verlieren!« Sie konnte vor Aufregung kaum atmen.»Wo ist Potapytsch? Schicke doch Potapytsch zu ihm hin! Sage es ihm doch, sage es ihm doch!«wiederholte sie, mich wieder anstoßend. »Aber wo in aller Welt ist denn Potapytsch? Sortez,sortez!« begann sie selbst dem jungen Mann zuzurufen. Ich beugte mich zu ihr herunter und flüsterteihr nachdrücklich zu, so zu rufen sei hier nicht gestattet, nicht einmal laut zu reden, da das dieBerechnungen störe; es sei zu befürchten, daß wir sofort hinausgewiesen würden.

»So ein Ärger! Der Mensch ist verloren! Na, es ist sein eigener Wille ... ich mag gar nicht nach ihmhinsehen; mir wird ganz übel davon. So ein Dummkopf!« Bei diesen Worten drehte sich die Tanteschnell nach der anderen Seite.

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Dort, zur Linken, an der andern Hälfte des Tisches, zog unter den Spielern eine junge Dame, nebender ein Zwerg stand, die Aufmerksamkeit auf sich. Wer dieser Zwerg war, weiß ich nicht; ob es einVerwandter von ihr war, oder ob sie ihn nur so um Aufsehen zu erregen, mitnahm. Diese Dame hatteich schon früher bemerkt; sie erschien am Spieltisch täglich um ein Uhr mittags und ging pünktlich umzwei. Sie war schon allgemein bekannt, und es wurde ihr bei ihrem Erscheinen sofort ein Sesselhingestellt. Sie zog ein paar Goldstücke oder ein paar Tausendfrancscheine aus der Tasche undbegann zu setzen, ruhig, kaltblütig, mit Überlegung; auf einem Blatt Papier notierte sie mit Bleistiftdie Zahlen, die herausgekommen waren, und suchte die systematische Ordnung zu erkennen, in dersich diese gruppierten. Ihre Einsätze waren von ansehnlicher Höhe. Sie gewann täglich ein-, zwei-,höchstens dreitausend Franc, nicht mehr, und ging, sobald sie die gewonnen hatte, sofort weg. DieTante beobachtete sie längere Zeit.

»Na, die da wird nicht verlieren! Die wird nicht verlieren! Was ist das für eine? Kennst du sie nicht?Wer ist sie?«

»Es ist eine Französin, wahrscheinlich so eine«, flüsterte ich.

»Ah, man erkennt den Vogel am Fluge. Die hat offenbar scharfe Krallen. Jetzt erkläre mir, was jederUmlauf der Kugel bedeutet, und wie man setzen muß!«

Ich setzte der Tante nach Möglichkeit auseinander, was es mit den zahlreichen Arten des Setzens füreine Bewandtnis hat: mit rouge et noir, pair et impair, manque et passe, sowie endlich mit denverschiedenen Variationen beim Setzen auf Zahlen. Die Tante hörte aufmerksam zu, merkte sich, wasich sagte, fragte, wo sie etwas nicht verstand, und gewann so einen guten Einblick. Für jede Gattungvon Einsätzen konnte ich ihr sofort Beispiele vor Augen führen, so daß sie vieles sehr leicht undschnell begriff und sich einprägte. Die Tante war sehr befriedigt.

»Aber was bedeutet zéro? Dieser Croupier da, der krausköpfige, der oberste von ihnen, hat ebengerufen: >zéro

»Zéro, Großmütterchen, das ist der Vorteil für die Bank. Wenn die Kugel auf zéro fällt, so gehörenalle Einsätze auf dem Tisch der Bank, ohne weitere Berechnung. Allerdings hat man noch dieMöglichkeit des Quittspiels; aber dann zahlt im Falle des Gewinnes die Bank nichts.«

»Na, so etwas! Und ich bekomme gar nichts?«

»Nicht doch, Großmütterchen; wenn Sie vorher auf zéro gesetzt haben und zéro dann herauskommt, sowird Ihnen das Fünfunddreißigfache bezahlt.«

»Was? Das Fünfunddreißigfache? Und kommt das oft heraus? Warum setzen sie denn nicht darauf, dieDummköpfe?«

»Es sind sechsunddreißig Chancen dagegen, Großmütterchen.«

»Ach was, Unsinn! Potapytsch, Potapytsch! Warte mal, ich habe selbst Geld bei mir – da!« Sie zogeine wohlgespickte Geldbörse aus der Tasche und entnahm ihr einen Friedrichsdor. »Da! Setz dasgleich mal auf zéro!«

»Großmütterchen, zéro ist eben herausgekommen«, sagte ich, »also wird es jetzt lange Zeit nichtherauskommen. Sie werden viel verlieren, wenn Sie bis dahin immer auf zéro setzen wollen. Warten

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Sie lieber noch ein Weilchen!«

»Rede nicht dummes Zeug! Setze nur!«

»Wie Sie wünschen; aber es kommt vielleicht bis zum Abend nicht wieder heraus; Sie könnenTausende von Francs verlieren; das ist alles schon vorgekommen.«

»Ach, Unsinn, Unsinn! Wer sich vor dem Wolf fürchtet, der muß nicht in den Wald gehen. Was? Ichhabe verloren? Setz noch einmal!«

Auch der zweite Friedrichsdor ging verloren: wir setzten den dritten. Die Tante konnte kaumstillsitzen; mit heißen Augen folgte sie der Kugel, die an den Zacken des sich drehenden Radeshinsprang. Auch der dritte ging verloren. Die Tante war außer sich; sie rückte auf ihrem Sitzfortwährend hin und her und schlug sogar mit der Faust auf den Tisch, als der Croupier »trente-six«rief, statt des erwarteten zéro.

»Na so ein Kerl!« ereiferte sich die Tante. »Wird denn dieses verdammte zéro nicht baldherauskommen? Ich will des Todes sein, wenn ich nicht sitzenbleibe, bis es herauskommt! Das machtalles dieser verdammte krausköpfige Croupier da; bei dem kommt es nie heraus! Alexej Iwanowitsch,setze zwei Goldstücke mit einemmal! Du setzt ja so wenig, daß, auch wenn zéro wirklich kommt, wirnichts Ordentliches einnehmen.«

»Großmütterchen!«

»Setze, setze! Es ist nicht dein Geld!«

Ich setzte zwei Friedrichsdor. Die Kugel flog lange im Rad herum; endlich begann sie an den Zackenzu springen. Die alte Dame war ganz starr und preßte meine Hand zusammen. Und auf einmal kam's:

»Zéro!« rief der Croupier.

»Siehst du, siehst du?« wandte sich die Tante schnell zu mir; sie strahlte über das ganze Gesicht undwar selig. »Ich habe es dir ja gesagt! Das hat mir Gott selbst eingegeben, gleich zwei Goldstücke zusetzen! Na, wieviel bekomme ich nun? Warum zahlen sie mir denn das Geld nicht aus? Potapytsch.Marfa! Wo sind sie denn? Wo sind die Unsrigen alle geblieben? Potapytsch, Potapytsch!«

»Großmütterchen, alles nachher, nachher!« flüsterte ich ihr zu. »Potapytsch steht an der Tür, man läßtihn nicht bis hierher. Sehen Sie, Großmütterchen, da zahlen sie Ihnen das Geld aus; nehmen Sie es inEmpfang!« Man warf ihr eine schwere, versiegelte Rolle in blauem Papier, die fünfzig Friedrichsdorenthielt, hin und zählte ihr noch zwanzig lose Friedrichsdor auf. Dieses ganze Geld zog ich mit einerKrücke zu der Tante heran.

»Faites le jeu, messieurs! Faites le jeu, messieurs! Rien ne va plus?« rief der Croupier, zum Setzenauffordernd, und schickte sich an, das Roulett zu drehen.

»Mein Gott! Wir kommen zu spät! Er dreht gleich los! Setze, setze!« rief die Tante eifrig. »So trödledoch nicht, schnell!« Sie geriet ganz außer sich und stieß mich aus Leibeskräften an.

»Worauf soll ich denn setzen, Großmütterchen?«

»Auf zéro, auf zéro! Wieder auf zéro! Setz soviel wie möglich! Wieviel haben wir im ganzen?Siebzig Friedrichsdor? Mit denen wollen wir nicht knausern; setze immer zwanzig Friedrichsdor auf

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einmal!«

»Aber überlegen Sie doch, Großmütterchen! Zéro kommt mitunter bei zweihundert Malen keineinziges Mal heraus! Ich versichere Sie, Sie werden die ganze Summe wieder verlieren.«

»Törichtes Geschwätz! So setze doch! Papperlapapp! Ich weiß, was ich tue«, sagte die Tante, die vorAufregung bebte.

»Nach dem Reglement ist es nicht gestattet, auf einmal mehr als zwölf Friedrichsdor auf zéro zusetzen, Großmütterchen. Nun, die habe ich jetzt gesetzt.«

»Wieso ist das nicht erlaubt? Redest du mir auch nichts vor? Monsieur, monsieur!« Sie stieß denCroupier an, der unmittelbar an ihrer linken Seite saß und sich bereit machte, das Rad zu drehen.»Combien zéro? Douze? Douze?«

Mit möglichster Eile verdeutlichte ich ihm auf französisch den Sinn der Frage.

»Oui, madame«, bestätigte der Croupier höflich und fügte zur Erklärung hinzu: »So wie auch jederandere einzelne Einsatz die Summe von viertausend Gulden nicht übersteigen darf, nach demReglement.«

»Na, dann ist nichts zu machen. Setze zwölf!«

»Le jeu est fait!« rief der Croupier. Das Rad drehte sich, und es kam die Dreißig heraus. Wir hattenverloren!

»Noch mal, noch mal, noch mal! Setz noch mal!« rief die Alte. Ich versuchte keine Widerrede mehrund setzte achselzuckend noch zwölf Friedrichsdor. Das Rad drehte sich lange. Die Tante, die dasRad gespannt beobachtete, zitterte am ganzen Leib. »Kann sie wirklich glauben, daß zéro wiedergewinnen wird?« dachte ich, während ich sie erstaunt anblickte. Auf ihrem strahlenden Gesicht lagder Ausdruck der festen Überzeugung, daß sie gewinnen werde, der bestimmten Erwartung, es werdeim nächsten Augenblick gerufen werden: »Zéro!« Die Kugel sprang in ein Fach.

»Zéro!« rief der Croupier.

»Na also!« wandte sich die Tante mit einer Miene wilden Triumphes zu mir.

Ich war selbst Spieler; dessen wurde ich mir in eben diesem Augenblick bewußt. Hände und Füßezitterten mir; in meinem Kopf hämmerte es. Allerdings, das war ein seltener Zufall, daß unter etwazehn Malen dreimal zéro herausgekommen war; aber etwas besonders Erstaunliches war nicht dabei.Ich war selbst Zeuge gewesen, wie zwei Tage vorher zéro dreimal nacheinander herauskam, unddabei hatte ein Spieler, der sich auf einem Blatt Papier eifrig die einzelnen Resultate notierte, lautgeäußert, daß erst am vorhergehenden Tag zéro den ganzen Tag über nur ein einziges Mal gekommensei.

Da die Tante den größten Gewinn gemacht hatte, der möglich war, so vollzog sich die Auszahlung inbesonders höflicher, respektvoller Manier. Sie hatte gerade vierhundertundzwanzig Friedrichsdor zubekommen, oder viertausend Gulden und zwanzig Friedrichsdor. Die zwanzig Friedrichsdor gab manihr in Gold, die viertausend Gulden in Banknoten.

Diesmal rief die Tante nicht mehr nach Potapytsch; sie war mit anderem beschäftigt. Auch stieß sie

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mich nicht an und zitterte äußerlich nicht; aber innerlich, wenn man sich so ausdrücken kann, innerlichzitterte sie. Sie hatte alle ihre Gedanken auf einen Punkt konzentriert, sie auf ein ganz bestimmtes Zielgerichtet.

»Alexej Iwanowitsch! Er hat gesagt, auf einmal könne man nur viertausend Gulden setzen? Na, dannnimm hier diese ganzen viertausend und setze sie auf Rot!« befahl sie.

Es wäre nutzlos gewesen, ihr davon abzureden. Das Rad begann sich zu drehen.

»Rouge!« verkündete der Croupier.

Wieder ein Gewinn von viertausend Gulden, also im ganzen achttausend.

»Viertausend gib mir her, und die anderen viertausend setze wieder auf Rot!« kommandierte dieTante.

Ich setzte wieder viertausend.

»Rouge!« rief der Croupier von neuem.

»In summa zwölftausend! Gib sie alle her! Das Gold schütte hier hinein, in die Börse, und dieBanknoten verwahre für mich in deiner Tasche! Nun genug! Nach Hause! Rollt meinen Stuhl von hierweg!«

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Elftes Kapitel

Der Stuhl wurde zur Tür nach dem andern Ende des Saales hingerollt. Die Tante strahlte. DieUnsrigen umdrängten sie sogleich alle mit Glückwünschen. Mochte auch das Benehmen der Tantesehr exzentrisch sein, ihr Triumph deckte vieles zu, und der General fürchtete jetzt nicht mehr, sich inder Öffentlichkeit durch seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu einer so sonderbaren Dame zukompromittieren. Mit einem leutseligen, vertraulichheiteren Lächeln, wie wenn er mit einem KindScherz triebe, beglückwünschte er seine Tante. Übrigens war er augenscheinlich im höchsten Gradeüberrascht, wie auch alle andern Zuschauer. Ringsherum sprach man von der Tante und wies auf siehin. Viele gingen absichtlich an ihr vorbei, um sie aus der Nähe anzusehen. Mister Astley redete ineiniger Entfernung mit zwei seiner englischen Bekannten über sie. Einige stolze Damen betrachtetensie mit hochmütiger Verwunderung, wie wenn sie eine Art Wundertier wäre ... De Grieux leisteteUnglaubliches in Komplimenten und stetem Lächeln.

»Quelle victoire!« sagte er.

»Mais, madame, c'etait du feu!« fügte Mademoiselle Blanche mit einem scherzhaften Lächeln hinzu.

»Na ja, ich bin einfach hierhergekommen und habe zwölftausend Gulden gewonnen! Was sage ich,zwölftausend; da ist ja noch das Gold! Mit dem Gold kommen beinah dreizehntausend heraus.Wieviel ist das nach unserem Geld? Es werden etwa sechstausend Rubel sein, nicht wahr?«

Ich bemerkte, daß es sogar siebentausend Rubel übersteige und nach dem jetzigen Kurs vielleicht anachttausend herankommen möge.

»Ein schöner Spaß, achttausend Rubel! Und ihr sitzt hier still, ihr Schlafmützen, und tut nichts!Potapytsch, Marfa, habt ihr es gesehen?«

»Mütterchen, wie haben Sie das nur angefangen? Achttausend Rubel!« rief Marfa und krümmte sichdabei ganz zusammen.

»Da! Hier hat jeder von euch fünf Goldstücke! Da, nehmt!« Potapytsch und Marfa griffen nach denHänden der Tante, um sie stürmisch zu küssen.

»Auch die Dienstmänner sollen jeder einen Friedrichsdor haben. Gib jedem von ihnen ein Goldstück,Alexej Iwanowitsch! Warum verbeugt sich dieser Saaldiener, und der andre auch? Sie gratulieren?Gib ihnen auch jedem einen Friedrichsdor!«

»Madame la princesse... un pauvre expatrié... malheur continuel... les princes russes sont sigénéreux...« Mit diesen Worten scharwenzelte um den Rollstuhl herum ein schnurrbärtiges Subjekt inabgetragenem Oberrock und bunter Weste, die Mütze in der Hand, das Gesicht zu einemkriecherischen Lächeln verziehend.

»Gib ihm auch einen Friedrichsdor!... Nein, gib ihm zwei! Nun aber soll's genug sein; sonst nimmtdas mit diesen Menschen kein Ende. Hebt an und tragt mich weiter! Praskowja«, wandte sie sich anPolina Alexandrowna, »ich werde dir morgen Stoff zu einem Kleid kaufen, und der hier auch, dieserMademoisdelle, wie heißt sie doch? Mademoiselle Blanche, gut, der werde ich auch Stoff zu einemKleid kaufen. Übersetze es ihr, Praskowja!«

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»Merci, madame«, erwiderte Mademoiselle Blanche mit einem graziösen Knicks und tauschte dannspöttisch lächelnd mit de Grieux und dem General einen Blick aus. Der General wurde einigermaßenverlegen und war sehr froh, als wir endlich die Allee erreicht hatten.

»Da fällt mir Fedosja ein, wie die sich jetzt wundern wird«, sagte die Tante, die gerade an die ihrwohlbekannte Kinderfrau im Haushalt des Generals dachte. »Der muß ich auch Zeug zu einem Kleidschenken. Höre, Alexej Iwanowitsch, Alexej Iwanowitsch, gib diesem Bettler etwas!«

Ein zerlumpter Mensch mit gekrümmtem Rücken ging auf dem Weg an uns vorbei und sah uns an.

»Aber das ist vielleicht gar kein Bettler, Großmütterchen, sondern irgendein Vagabund.«

»Gib nur, gib! Gib ihm einen Gulden!«

Ich trat an ihn heran und gab ihm das Geld. Er sah mich mit scheuer Verwunderung an, nahm aberschweigend den Gulden hin. Er roch stark nach Branntwein.

»Hast du denn noch nicht dein Glück probiert, Alexej Iwanowitsch?«

»Nein, Großmütterchen.«

»Aber die Augen brannten dir am Spieltisch nur so; ich habe es wohl gesehen.«

»Ich werde schon noch mein Glück versuchen, Großmütterchen, ganz bestimmt, ein andermal.«

»Und setze nur geradezu auf zéro! Dann wirst du schon sehen! Wieviel Geld hast du denn?«

»Ich habe im ganzen nur zwanzig Friedrichsdor, Großmütterchen.«

»Das ist wenig. Ich will dir fünfzig Friedrichsdor borgen, wenn du willst. Hier, du kannst gleichdiese Rolle nehmen. – Aber du, lieber Freund«, wandte sie sich auf einmal an den General, »mach dirkeine Hoffnungen; dir gebe ich nichts!«

Der General zuckte zusammen; aber er schwieg. De Grieux machte ein finsteres Gesicht.

»Que diable, c'est une terrible vieille!« flüsterte er durch die Zähne dem General zu.

»Ein Bettler, ein Bettler, wieder ein Bettler!« rief die Tante. »Alexej Iwanowitsch, gib dem aucheinen Gulden!«

Diesmal war derjenige, der uns begegnete, ein grauköpfiger alter Mann mit einem Stelzfuß; er trugeinen blauen Rock mit langen Schößen und hatte einen langen Rohrstock in der Hand. Er sah aus wieein alter Soldat. Aber als ich ihm den Gulden hinhielt, trat er einen Schritt zurück und blickte michgrimmig an.

»Zum Teufel, was soll das vorstellen?« schrie er und fügte dem noch eine Reihe von Schimpfwortenhinzu.

»Na, so ein Dummkopf!« rief die Tante. »Dann läßt er's bleiben! Fahrt mich weiter! Ich bin ganzhungrig geworden! Nun wollen wir gleich zu Mittag essen; dann will ich mich ein Weilchen hinlegenund mich dann wieder dorthin begeben.«

»Sie wollen wieder spielen, Großmütterchen?« rief ich. »Was hast du dir denn gedacht? Weil ihr allehier still sitzt und die Hände in den Schoß legt, soll ich es euch wohl nachmachen!«

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»Mais, madame«, bemerkte nähertretend de Grieux, »les chances peuvent tourner, une seule mauvaisechance et vous perdrez tout... surtout avec votre jeu... c'était horrible!« »Vous perdrez absolument«,zwitscherte Mademoiselle Blanche.

»Was geht denn das euch alle an? Wenn ich verliere, verliere ich ja nicht euer Geld, sondern meins!Aber wo ist denn dieser Mister Astley?« fragte sie mich.

»Er ist im Kurhaus geblieben, Großmütterchen.«

»Schade; das ist ein sehr netter Mensch.«

Als wir nach Hause gekommen waren, begegneten wir auf der Treppe dem Oberkellner, und dieTante rief ihn sogleich heran und rühmte sich ihres Spielgewinns; darauf ließ sie Fedosja rufen,schenkte ihr drei Friedrichsdor und befahl, das Mittagessen aufzutragen. Fedosja und Marfa zerrissensich bei Tisch fast vor Dienstfertigkeit gegen sie.

»Ich sah so nach Ihnen hin, Mütterchen«, schwatzte Marfa, »und da sagte ich zu Potapytsch: ›Was willunser Mütterchen nur da machen?‹ Und auf dem Tisch lag Geld, eine Unmenge Geld, o Gott, o Gott!In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viel Geld gesehen. Und darum herum saßenHerrschaften, lauter vornehme Herrschaften. Und ich sagte: ›Wo mögen bloß all diese vielenHerrschaften hier herkommen, Potapytsch?‹ Ich dachte bei mir: ›Möge ihr die Mutter Gottes selbstbeistehen!‹ Und ich betete für Sie, Mütterchen; aber mein Herz war mir so beklommen, ganzbeklommen war es mir, und ich zitterte nur so, am ganzen Leibe zitterte ich. ›Gott gebe ihr allesGute!‹ dachte ich; na, und sehen Sie, da hat Gott Ihnen denn auch seinen Segen geschickt. Bis diesenAugenblick zittere ich noch, Mütterchen; sehen Sie nur, wie ich am ganzen Leibe zittre!«

»Alexej Iwanowitsch, nach Tisch, so um vier Uhr, dann mach dich fertig; dann wollen wir wiederhin. Jetzt aber, für die Zwischenzeit, adieu! Und vergiß auch nicht, mir so einen Doktorherzuschicken; ich muß doch auch Brunnen trinken. Tu's nur bald, sonst vergißt du es am Ende noch!«

Als ich von der Tante herauskam, war ich wie betäubt. Ich suchte mir eine Vorstellung davon zumachen: was wird jetzt aus den Unsrigen allen werden, und welche Wendung werden die Dingenehmen? Ich sah klar, daß die Unsrigen, und ganz besonders der General, noch nicht einmal von derersten Überraschung wieder recht zur Besinnung gekommen waren. Die Tatsache, daß die alte Tantein Person eingetroffen war, statt der von Stunde zu Stunde erwarteten Nachricht von ihrem Tod unddamit auch der Nachricht von der Erbschaft, diese Tatsache hatte den ganzen Aufbau ihrer Absichtenund Pläne so gründlich zerstört, daß sie nun den Großtaten der Tante am Roulettisch völlig verblüfft,ja gewissermaßen wie von einem Starrkrampf befallen gegenüberstanden. Und doch fiel diese zweiteTatsache, das Glücksspiel der Tante, fast noch schwerer in die Waagschale als die erste. Denn wennauch die Alte zweimal erklärt hatte, sie werde dem General kein Geld geben – nun, wer weiß, manbrauchte darum doch nicht alle Hoffnungen aufzugeben. So gab denn auch de Grieux, der an allenAngelegenheiten des Generals stark beteiligt war, die Hoffnung nicht auf. Und ich war überzeugt, daßauch Mademoiselle Blanche, die gleichfalls bei der Sache höchst interessiert war (na, und ob! wo sieFrau Generalin zu werden und in den Besitz einer bedeutenden Erbschaft zu gelangen hoffte!), daßauch sie die Hoffnung nicht verlieren, sondern der Tante gegenüber alle Künste der Koketterie zurAnwendung bringen würde – ganz im Gegensatz zu der stolzen Polina, die zu ungelehrig war und nichtverstand, sich einzuschmeicheln. Aber jetzt, jetzt, wo die Tante so großartige Erfolge beim Roulett

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aufzuweisen hatte, jetzt, wo sich deren ganzes Wesen ihnen allen in voller Klarheit und Deutlichkeitals der Typus eines eigensinnigen, herrschsüchtigen, kindisch gewordenen alten Weibes enthüllt hatte,jetzt war vielleicht alles verloren. Sie freute sich ja über ihren Gewinn wie ein kleines Kind, und sowar zu erwarten, daß sie, wie das so zu gehen pflegt, alles verspielen werde. »Mein Gott«, dachteich, und Gott verzeihe mir, daß ich dabei recht schadenfroh lachte, »mein Gott, jeder Friedrichsdor,den die Alte vorhin setzte, hat gewiß dem General einen Stich ins Herz gegeben und diesen Monsieurde Grieux schwer geärgert und Mademoiselle de Cominges in Wut versetzt; dieser letzteren magzumute gewesen sein, als ob man den vollen Löffel ihr erst gezeigt und dann an dem begehrlichgeöffneten Mund vorbeigeführt hätte. Und dann war da noch eine bedenkliche Tatsache: sogar als dieTante den großen Spielgewinn gemacht hatte und voll Freude darüber war und an alle möglichenLeute Geld verteilte und jeden Passanten für einen unterstützungswürdigen Armen ansah, selbst dahatte sie zu dem General schroff gesagt: ›Dir werde ich trotzdem nichts geben!‹ Das hieß doch: ›Ichhabe mich auf diesen Gedanken versteift, es mir fest vorgenommen, mir selbst das Wort daraufgegeben.‹ Eine böse, böse Sache!«

Alle diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich von dem Logis der Tante die breiteTreppe nach der obersten Etage hinanstieg, in der mein Zimmerchen lag. All diese Vorgänge erregtenmein lebhaftes Interesse. Zwar hatte ich schon früher die wichtigsten, stärksten Fäden erraten können,durch die die Akteure des vor meinen Augen sich abspielenden Dramas miteinander verknüpft waren;aber alle Hilfsmittel und Geheimnisses dieses Spieles kannte ich trotzdem noch nicht. Polina wargegen mich nie ganz offenherzig gewesen. Mitunter war es ja allerdings vorgekommen, daß sie michanscheinend unwillkürlich einen Blick in ihr Herz tun ließ; aber ich hatte bemerkt, daß sie oft, ja fastimmer nach solchen Fällen von Offenherzigkeit entweder alles, was sie gesagt hatte, auf das Gebietdes Scherzes hinüberspielte oder es nachträglich wieder verwirrte und allein absichtlich einenfalschen Sinn beilegte. Oh, sie verheimlichte mir vieles! Jedenfalls hatte ich das Vorgefühl, daß dieletzte Phase dieses ganzen Zustandes geheimnisvoller Spannung herannahte. Noch ein Schlag, undalles war beendet und aufgedeckt. Um mein eigenes Schicksal machte ich mir, obwohl ich an derEntwicklung dieser Dinge ein hohes Interesse hatte, fast keine Sorgen. Ich befand mich in einersonderbaren Gemütsverfassung: in der Tasche hatte ich nur zwanzig Friedrichsdor; ich befand michfern von der Heimat in fremdem Lande, ohne Stellung und ohne Existenzmittel, ohne Hoffnung undohne Pläne – und machte mir darüber keine Sorgen! Wäre nicht der Gedanke an Polina gewesen, sohätte ich einfach mein ganzes Interesse auf die Komik der bevorstehenden Lösung gerichtet und ausvollem Halse gelacht. Aber der Gedanke an sie regte mich auf; ihr Schicksal mußte sich jetztentscheiden, das ahnte ich; aber, ich bekenne es, ihr Schicksal beunruhigte mich gar nicht. Ichwünschte, in ihre Geheimnisse einzudringen; ich hätte gewünscht, daß sie zu mir gekommen wäre undgesagt hätte: »Ich liebe dich ja«, und wenn das nicht geschah, wenn das eine undenkbare Verrücktheitwar, dann... ja, was hätte ich dann gewünscht? Wußte ich denn etwa, was ich wünschte? Ich warselbst ganz wirr im Kopf: nur bei ihr sein, in ihrem Strahlenkreis, in dem Glanzschimmer, der sieumgibt, immer, unaufhörlich, das ganze Leben lang! Von weiteren Wünschen wußte ich nichts! Warich denn überhaupt imstande, von ihr fortzugehen?

Als ich in der dritten Etage auf dem Korridor war, an dem die Zimmer der Unsrigen liegen, hatte icheine Empfindung, als ob mich jemand anstieße. Ich drehte mich um und erblickte in einer Entfernungvon zwanzig oder noch mehr Schritten Polina, die aus einer Tür herauskam. Sie schien auf mich

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gewartet und nach mir Ausschau gehalten zu haben und winkte mich sogleich zu sich heran.

»Polina Alexandrowna...«

»Leiser, leiser«, sagte sie in gedämpftem Ton.

»Können Sie sich das vorstellen«, flüsterte ich, »es war mir soeben, als stieße mich jemand von derSeite an; ich drehte mich um – und da stehen Sie! Gerade als wenn eine Art Elektrizität von Ihnenausginge!«

»Nehmen Sie diesen Brief«, sagte Polina, die eine sorgenvolle düstere Miene zeigte; das, was ichgesagt hatte, hatte sie wahrscheinlich gar nicht ordentlich gehört, »und übergeben Sie ihn persönlichMister Astley, aber sogleich! So schnell wie irgend möglich; ich bitte Sie darum. Eine Antwort istnicht nötig. Er wird schon selbst...«

Sie sprach den begonnenen Satz nicht zu Ende.

»Mister Astley?« fragte ich erstaunt.

Aber Polina war schon hinter der Tür verschwunden.

»Aha! Also sie haben eine Korrespondenz miteinander!«

Selbstverständlich machte ich mich eiligst auf, um Mister Astley aufzusuchen, zuerst in seinem Hotel,wo ich ihn nicht antraf, dann im Kurhaus, wo ich durch alle Säle lief; als ich endlich ärgerlich undbeinahe in Verzweiflung nach Hause zurückging, begegnete ich ihm zufällig: er ritt mit einerKavalkade von Engländern und Engländerinnen spazieren. Durch Winken mit der Hand veranlagte ichihn anzuhalten und übergab ihm den Brief. Wir hatten kaum Zeit, einander ordentlich anzusehen; aberich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, daß Mister Astley mit Absicht sein Pferd schnellwieder in Bewegung setzte.

Quälte mich Eifersucht? Ich weiß nicht, ob das der Fall war, aber jedenfalls befand ich mich in sehrgedrückter Stimmung. Es lag mir nicht einmal daran, zu erfahren, worüber sie eigentlichkorrespondierten. Also das war ihr Vertrauensmann. »Er ist ihr Freund, ihr Freund«, dachte ich; »dasist klar (nur: wann hat er Zeit gefunden, ihr Freund zu werden?); aber liegt hier auch Liebe vor?«»Nein, gewiß nicht«, flüsterte mir die Vernunft zu. Aber die Vernunft allein vermag in solchen Fällenwenig. Jedenfalls mußte ich auch diesen Punkt klarstellen. Die Angelegenheit komplizierte sich ineiner unangenehmen Weise.

Kaum hatte ich das Hotel wieder betreten, als mir der Portier sowie der Oberkellner, der aus seinemBüro herauskam, mitteilten, die Herrschaften wünschten mich zu sprechen, ließen mich suchen undhätten sich schon dreimal erkundigen lassen, wo ich sei; ich würde gebeten, so schnell wie möglich indas Logis des Generals zu kommen. Ich war in der garstigsten Gemütsverfassung. Im Zimmer desGenerals fand ich außer dem General selbst Monsieur de Grieux und Madernoiselle Blanche, letztereallein, ohne ihre Mutter. Die Mutter war zweifellos eine erkaufte Person, die nur zu Paradezweckendiente; sobald ernste Angelegenheiten materieller Art vorlagen, handelte Mademoiselle Blancheallein. Und jene hatte von solchen Angelegenheiten ihrer angenommenen Tochter auch kaumirgendwelche Kenntnis.

Sie waren in hitziger Beratung über irgend etwas begriffen und hatten sogar die Zimmertür

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zugeschlossen, was sonst noch nie geschehen war. Als ich mich der Tür näherte, hörte ich lauteStimmen und unterschied de Grieux' dreiste, boshafte Redeweise, Mademoiselle Blanches zornigesKreischen und freches Schimpfen und die klägliche Stimme des Generals, der sich offenbar überetwas, was ihm zum Vorwurf gemacht wurde, rechtfertigte. Bei meinem Eintritt suchten alle zu einemmaßvollen Benehmen zurückzukehren und ihre Mienen und ihre äußere Erscheinung wieder inOrdnung zu bringen. De Grieux strich sich die Haare zurecht und verwandelte sein Gesicht aus einemzornigen in ein lächelndes; es war jenes widerwärtige, konventionellhöfliche französische Lächeln,das mir so verhaßt ist. Der General, der den Eindruck starker Bedrücktheit und Niedergeschlagenheitgemacht hatte, bemühte sich, sein würdevolles Aussehen wiederzugewinnen, wiewohl nur inmechanischer Weise, als ob er mit seinen Gedanken nicht dabei wäre. Nur Mademoiselle Blancheänderte ihren wütenden Gesichtsausdruck mit den zornig funkelnden Augen fast gar nicht undbeschränkte sich darauf, zu verstummen, wobei sie auf mich einen Blick ungeduldiger Erwartungrichtete. Beiläufig bemerkt: sie hatte mich bisher mit einer unglaublichen Geringschätzung behandelt,nicht einmal meine Verbeugungen erwidert und mich überhaupt völlig ignoriert.

»Alexej Iwanowitsch«, begann der General im Ton milden Vorwurfs, »gestatten Sie mir dieBemerkung, daß ich Ihr Verhalten gegen mich und meine Familie ... mit einem Wort, ich finde essonderbar, im höchsten Grade sonderbar, daß Sie ... mit einem Wort ...«

»Eh! ce n'est pas ça«, unterbrach ihn de Grieux ärgerlich und geringschätzig; es war klar, daß er hierdas Kommando führte. »Mon cher monsieur, notre cher général« (aber ich will seine Worte aufrussisch wiedergeben) »hat sich im Ton vergriffen; aber er wollte Ihnen sagen ... daß heißt Sie davorwarnen oder, richtiger gesagt, Sie inständig bitten, ihn nicht zugrunde zu richten – nun ja, ihn nichtzugrunde zu richten! Ich bediene mich absichtlich dieses Ausdrucks ...«

»Aber wodurch tue ich denn das? Wodurch?« unterbrach ich ihn.

»Ich bitte Sie, Sie haben das Amt eines Mentors (oder wie soll ich mich ausdrücken?) bei dieseralten Dame, cette pauvre terrible vieille, übernommen« (hier geriet de Grieux selbst in Verwirrung);»aber sie wird ja alles verspielen; sie wird alles verspielen bis auf den letzten Groschen! Sie habenselbst gesehen. Sie waren selbst Zeuge, in welcher Art sie spielte! Wenn sie erst einmal ins Verlierenkommt, wird sie aus Hartnäckigkeit und Ingrimm nicht mehr vom Spieltisch weggehen, und wirdimmerzu spielen und spielen; aber auf die Art bringt man Spielverluste nie wieder ein, und dann ...dann ...«

»Und dann«, fiel der General ein, »dann richten Sie die ganze Familie zugrunde! Ich und meineFamilie, wir sind ihre Erben; nähere Verwandte als uns hat sie nicht. Ich will Ihnen offen sagen:meine Vermögensverhältnisse sind zerrüttet, völlig zerrüttet. Zum Teil werden Sie das selbst schongewußt haben ... Wenn sie nun eine bedeutende Summe verspielt oder vielleicht am Ende gar ihrganzes Vermögen (mein Gott, mein Gott!), was soll dann aus ... aus meinen Kindern werden?« (DerGeneral wendete sich nach de Grieux um.) »Und aus mir selbst?« (Er blickte zu MademoiselleBlanche, die sich aber mit verächtlicher Miene von ihm abwandte.) »Alexej Iwanowitsch, retten Sieuns, retten Sie uns!«

»Aber wodurch denn? Sagen Sie selbst, General, wodurch kann ich denn ... Was habe ich denn dabeizu sagen?«

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»Weigern Sie sich, ihr weiter beim Spiel behilflich zu sein; machen Sie sich von ihr los ...!«

»Dann wird sich ein anderer finden!« rief ich.

»Ce n'est pas ça, ce n'est pas ça«, mischte sich wieder de Grieux hinein, »que diable! Nein, machenSie sich nicht von ihr los; aber versuchen sie wenigstens, ihr Rat zu geben, sie zu überreden, siezurückzuhalten ... Kurz gesagt, lassen Sie sie nicht allzuviel verspielen; halten Sie sie auf irgendeineWeise zurück!«

»Aber wie soll ich das anfangen? Vielleicht wäre es das beste, wenn Sie es selbst übernähmen,Monsieur de Grieux«, fügte ich hinzu, mich möglichst naiv stellend.

In diesem Augenblick bemerkte ich, daß Mademoiselle Blanche dem Franzosen einen raschen,funkelnden, fragenden Blick zuwarf. Über dessen eigenes Gesicht huschte ein eigentümlicherAusdruck, als ob unwillkürlich seine wahre Gesinnung zum Vorschein käme.

»Das ist es ja eben, daß sie mich jetzt nicht an sich herankommen läßt!« rief er, mißmutig den Armschwenkend. »Ja, wenn ... dann ...«

Er blickte Mademoiselle Blanche schnell und bedeutsam an.

»Oh, mon cher monsieur Alexis, soyez si bon!« sagte nun Mademoiselle Blanche selbst, mit einembezaubernden Lächeln auf mich zutretend, ergriff meine beiden Hände und drückte sie kräftig. Hol'sder Teufel! Dieses diabolische Gesicht verstand es, sich in einem Augenblick vollständig zuverändern. Jetzt hatte ich auf einmal ein so inständig bittendes, ein so liebenswürdiges, kindlichlächelndes und sogar schelmisches Gesicht vor mir; und am Ende dieses Satzes zwinkerte sie mir,geheim vor den anderen, in einer ganz spitzbübischen Weise zu: sie legte es darauf an, mich miteinem Schlag zu gewinnen! Und es kam nicht übel heraus, nur allerdings zu derb, gar zu derb.

Nach ihr eilte der General auf mich zu:

»Alexej Iwanowitsch, verzeihen Sie, daß ich zu Ihnen vorhin zuerst nicht in der richtigen Art redete;ich meinte es aber ganz und gar nicht schlimm ... Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, ich verbeuge mich vorIhnen bis zum Gürtel, wie wir Russen sagen – Sie sind der einzige, der uns retten kann, Sie allein! Ichund Mademoiselle de Cominges bitten Sie inständig – Sie verstehen, Sie verstehen ja wohl?«

So redete er in flehendem Ton und deutete mit den Augen auf Mademoiselle Blanche. Er bot einenüberaus kläglichen Anblick.

In diesem Augenblick wurde dreimal leise und respektvoll an die Tür geklopft, und als geöffnetwurde, stand ein Kellner da und einige Schritte hinter ihm Potapytsch. Sie waren von der Tantegeschickt und hatten den Auftrag, mich zu suchen und unverzüglich zu ihr zu bringen. »Die gnädigeFrau sind schon ärgerlich«, berichtete Potapytsch.

»Aber es ist ja erst halb vier«, sagte ich.

»Die gnädige Frau konnten gar nicht einschlafen, sondern wälzten sich immer umher, standen dann aufeinmal auf, verlangten den Rollstuhl und schickten nach Ihnen. Die gnädige Frau sind jetzt schon vordem Portal ...«

»Quelle mégère!« rief de Grieux.

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In der Tat fand ich die Tante bereits vor dem Portal, außer sich vor Ungeduld darüber, daß ich nichtda war. Sie hatte es nicht bis vier Uhr aushalten können.

»Na, dann schafft mich hin!« rief sie, und wir begaben uns wieder zum Roulett.

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Zwölftes Kapitel

Die Tante befand sich in sehr ungeduldiger, reizbarer Stimmung; es war deutlich, daß sie an weiternichts dachte als an das Roulett. Für alles andere hatte sie keine Aufmerksamkeit übrig und warüberhaupt im höchsten Grade zerstreut. So zum Beispiel fragte sie unterwegs nach nichts mit demInteresse wie am Vormittag. Als sie eine prächtige Equipage sah, die an uns vorbeisauste, hob siewohl die Hand ein wenig auf und sagte: »Was war das? Wem gehörte die?« schien aber dann meineAntwort gar nicht zu verstehen. Sie saß in Gedanken versunken da, unterbrach aber dieseVersunkenheit fortwährend durch heftige, ungeduldige Körperbewegungen und scharfe Worte. Als ichihr (wir waren nicht mehr weit vom Kurhaus) in einiger Entfernung den Baron und die BaroninWurmerhelm zeigte, sagte sie zerstreut und in ganz gleichgültigem Ton: »Ah!«, drehte sich dann hastigzu Potapytsch und Marfa um, die hinter ihr gingen, und herrschte sie an:

»Na, wozu kommt ihr denn wieder mitgelaufen? Jedesmal kann ich euch nicht mitnehmen! Macht, daßihr nach Hause kommt! Ich habe an dir genug«, fügte sie, zu mir gewendet, hinzu, während jene beidensich eilig verbeugten und nach Hause umkehrten.

Im Spielsaal erwartete man die Tante bereits. Es wurde ihr sofort wieder derselbe Platz neben demCroupier freigemacht. Es will mir scheinen, daß diese Croupiers, die sich immer so wohlanständigbenehmen und sich als gewöhnliche Beamte geben, denen es so gut wie gleichgültig sei, ob die Bankgewinne oder verliere, es will mir scheinen, daß diese Leute gegen Verluste der Bank durchaus nichtgleichgültig sind, sondern ihre besonderen Instruktionen zur Anlockung von Spielern und zurErhöhung der Einnahmen der Bank haben und als Lohn für besondere Erfolge besondere Prämienerhalten. Wenigstens betrachteten sie die Tante bereits als ihr Schlachtopfer.

Nunmehr geschah, was die Unsrigen vorausgesagt hatten. Die Sache trug sich folgendermaßen zu.

Die Tante stürzte sich ohne weiteres wieder auf Zéro und befahl mir sogleich, jedesmal zwölfFriedrichsdor darauf zu setzen. Wir setzten einmal, ein zweites Mal, ein drittes Mal – Zéro kam nicht.

»Setze nur, setze!« sagte die Tante und stieß mich ungeduldig an.

Ich gehorchte. »Wieviel haben wir schon gesetzt?« fragte sie endlich, mit den Zähnen vor Ungeduldknirschend.

»Ich habe schon zwölfmal gesetzt, Großmütterchen. Hundertvierundvierzig Friedrichsdor haben wirverloren. Ich sage Ihnen, Großmütterchen, es dauert vielleicht bis zum Abend...«

»Schweig!« unterbrach mich die Tante. »Setze auf Zéro, und setze gleich auch auf Rot tausendGulden! Hier ist eine Banknote.«

Rot kam, aber Zéro wieder nicht. Wir erhielten tausend Gulden ausgezahlt.

»Siehst du, siehst du?« flüsterte die Tante. »Wir haben beinahe alles, was wir verloren hatten,wieder eingebracht. Setze wieder auf Zéro; noch ein dutzendmal wollen wir darauf setzen, dannwollen wir es aufgeben.«

Aber beim fünften Mal hatte sie es bereits ganz und gar satt bekommen.

»Hol dieses nichtswürdige Zéro der Teufel; ich will nichts mehr davon wissen. Da, setze diese

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ganzen viertausend Gulden auf Rot!« befahl sie.

»Aber Großmütterchen, das ist doch eine gar zu große Summe; wenn nun Rot nicht kommt?« sagte ichim Ton dringender Bitte; aber die Tante hätte mich beinahe durchgeprügelt. (Beiläufig: sie versetztemir immer solche Stöße, daß man sie fast schon als Schläge bewerten konnte.) Es war nichts zumachen; ich setzte die ganzen viertausend Gulden auf Rot. Das Rad drehte sich. Die Tante saß geradeaufgerichtet mit ruhiger, stolzer Miene da, ohne im geringsten an dem bevorstehenden Gewinn zuzweifeln.

»Zéro!« rief der Croupier.

Zuerst begriff sie nicht, was es damit auf sich hatte; aber als sie sah, daß der Croupier, zusammen mitallem, was sonst noch auf dem Tisch lag, auch ihre viertausend Gulden zu sich heranharkte, und alssie zu der Erkenntnis gelangte, daß dieses Zéro, das so lange nicht gekommen war, und auf das wirüber zweihundert Friedrichsdor verloren hatten, wie mit Absicht nun gerade in dem Augenblickerschienen war, wo sie eben darauf geschimpft und es nicht mehr besetzt hatte, da stöhnte sie laut aufund schlug die Hände zusammen, so daß man es durch den ganzen Saal hörte. Die Leute um sie herumlachten. »Ach herrje, ach herrje, gerade jetzt ist nun dieses nichtswürdige Ding gekommen!« jammertesie. »So ein verfluchtes Ding! Daran bist du schuld! Nur du bist daran schuld!« fuhr sie grimmig aufmich los und versetzte mir Stöße in die Seite. »Du hast mir abgeredet.« »Großmütterchen, was ichgesagt habe, war ganz vernünftig; aber wie kann ich für alle Chancen einstehen?« »Ich werde dichlehren, Chancen!« flüsterte sie wütend. »Scher dich weg von mir!« »Adieu, Großmütterchen!« Ichdrehte mich um und wollte weggehen. »Alexej Iwanowitsch, Alexej Iwanowitsch, bleib doch hier!Wo willst du hin? Na, was ist denn? Was ist denn? Ist der Mensch gleich ärgerlich geworden! DuDummkopf! Na, bleib nur hier, bleib nur noch, ärgere dich nicht, ich bin selbst ein Dummkopf! Na,nun sage, was ich jetzt tun soll!« »Nein, Großmütterchen, ich lasse mich nicht mehr darauf ein, IhnenRat zu geben; denn Sie würden mir nachher doch wieder die Schuld beimessen. Spielen Sie selbst!Geben Sie mir Ihre Anweisungen, und ich werde setzen.« »Nun gut, gut! Na, dann setze nochviertausend Gulden auf Rot! Hier ist meine Brieftasche, nimm!« Sie zog sie aus der Tasche undreichte sie mir. »Na, nimm nur schnell hin; es sind Zwölftausend Gulden Bargeld darin.«»Großmütterchen«, wandte ich stockend ein, »so große Einsätze...« »Ich will nicht am Leben bleiben,wenn ich es nicht wiedergewinne ... Setze!« Wir setzten und verloren. »Setze, setze; setze gleich alleachttausend Gulden!« »Das geht nicht, Großmütterchen; der höchste Einsatz ist viertausend!« »Na,dann setz viertausend!« Dieses Mal gewannen wir. Die Alte faßte wieder Mut. »Siehst du wohl,siehst du wohl«, sagte sie wieder mit einem Puff in meine Seite. »Setze wieder viertausend!« Wirsetzten und verloren; darauf verloren wir noch einmal und noch einmal. »Großmütterchen, die ganzenzwölftausend Gulden sind hin«, meldete ich ihr. »Das sehe ich, daß sie alle hin sind«, erwiderte siemit einer Art von ruhiger Wut, wenn man sich so ausdrücken kann. »Das sehe ich, mein Lieber, dassehe ich«, murmelte sie vor sich hin, ohne sich zu rühren und wie in Gedanken versunken. »Ach was,ich will nicht am Leben bleiben... setze noch einmal viertausend Gulden!« »Aber ist es kein Geldmehr da, Großmütterchen. Hier in der Brieftasche sind nur noch russische fünfprozentigeStaatsschuldscheine und außerdem einige Dokumente; Geld ist nicht mehr da.« »Und in der Börse?«»Es ist nur noch Kleingeld darin übrig, Großmütterchen.« »Gibt es hier ein Wechselgeschäft? Ichhabe mir sagen lassen, hier könne ich alle unsere Papiere umwechseln«, fragte die Tante inentschlossenem Ton. »Oh, Papiere können Sie hier umwechseln, so viele Sie nur wollen! Aber was

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Sie beim Umwechseln verlieren werden... da würde selbst ein Jude einen Schreck bekommen.«»Unsinn! Das gewinne ich alles wieder! Bring mich hin! Rufe diese Tölpel, die Dienstmänner, her!«Ich rollte ihren Stuhl vom Tisch weg; die Dienstmänner erschienen, und wir verließen das Kurhaus.»Schneller, schneller, schneller!« befahl die Alte. »Zeige den Weg, Alexej Iwanowitsch, aber nimmden nächsten Weg... ist es weit?« »Nur ein paar Schritte, Großmütterchen.« Aber in dem Augenblick,als wir von dem Schmuckplatz in die Allee einbogen, begegnete uns unsere ganze Gesellschaft: derGeneral, de Grieux und Mademoiselle Blanche mit ihrer Mama. Polina Alexandrowna war nicht beiihnen, auch Mister Astley nicht.

»Zu, zu! Nicht stehenbleiben!« rief die Tante. »Was wollt ihr denn? Ich habe jetzt für euch keineZeit!«

Ich ging hinter dem Rollstuhl; de Grieux trat hastig auf mich zu.

»Den ganzen vorigen Gewinn hat sie verspielt und dazu noch zwölftausend Gulden eigenes Geld. Jetztgehen wir, Staatsschuldscheine umwechseln«, flüsterte ich ihm schnell zu. De Grieux stampfte mitdem Fuß und beeilte sich, es dem General mitzuteilen. Wir setzten unsern Weg mit der Tante fort.

»Halten Sie sie zurück, halten Sie sie zurück!« flüsterte mir der General ganz außer sich zu.

»Versuchen Sie es einmal, sie zurückzuhalten«, erwiderte ich gleichfalls leise.

»Liebe Tante«, sagte der General, zu ihr herantretend, »liebe Tante ... wir sind gerade im Begriff ...wir sind gerade im Begriff ...« Die Stimme fing ihm an zu zittern und versagte ... »Wir wollen unseinen Wagen nehmen und eine Spazierfahrt in der Umgegend des Ortes machen ... Ein entzückenderBlick ... ein Aussichtspunkt ... wir kamen, um Sie dazu aufzufordern.«

»Ach, laß mich in Ruhe mit deinem Aussichtspunkt!« antwortete die Alte gereizt mit einerwegwerfenden Handbewegung.

»Es ist dort ein Dorf ... da wollen wir Tee trinken...« fuhr der General in heller Verzweiflung fort.

»Nous boirons du lait, sur l'herbe fraîche«, fügte de Grieux mit schändlicher Bosheit hinzu.

Du lait, de l'herbe fraîche, aus diesen beiden Stücken setzt sich für den Pariser Bourgeois das Idealeiner Idylle zusammen; daraus besteht bekanntlich seine ganze Vorstellung von dem, was er la natureet la vérité nennt!

»Du mit deiner Milch! Labbere du sie allein; ich bekomme davon Bauchschmerzen. Aber warumbelästigt ihr mich denn?« schrie die Tante. »Ich habe doch schon gesagt, daß ich keine Zeit habe!«

»Wir sind schon da, Großmütterchen!« sagte ich. »Hier ist es!«

Wir waren bei einem Haus angelangt, in dem sich ein Bankgeschäft befand. Ich ging hinein, um dasUmwechseln zu erledigen; die Tante blieb draußen auf der Straße und wartete; der General, deGrieux und Blanche standen in einiger Entfernung von ihr und wußten nicht, was sie tun sollten. DieAlte warf ihnen zornige Blicke zu; so gingen sie denn fort und schlugen den Weg nach dem Kurhausein.

Was man mir in dem Bankgeschäft für die Wertpapiere bot, war so erschreckend wenig, daß ich nichtglaubte, auf eigene Hand den Verkauf abschließen zu sollen, sondern zur Tante zurückkehrte, um mir

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von ihr Instruktion zu erbitten.

»Ach, diese Räuber!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Na, aber es hilft nichts! Verkaufesie!« fuhr sie kurz entschlossen fort. »Warte mal, rufe doch mal den Bankier zu mir her!«

»Wohl einen von den Kontoristen, Großmütterchen?«

»Na, also einen Kontoristen, ganz gleich! Ach, diese Räuber!«

Der Kontorist fand sich bereit mit hinauszukommen, als er hörte, es lasse ihn eine alte Gräfin bitten,die körperlich leidend sei und nicht gehen könne. Lange Zeit machte ihm die Tante mit lauter Stimmezornige Vorwürfe wegen solcher Gaunerei und suchte mit ihm zu handeln; sie redete dabei einenMischmasch von Russisch, Französisch und Deutsch, bei dem ich als Dolmetscher half. Der ernsteKontorist sah uns beide an und schüttelte schweigend den Kopf. Die Tante betrachtete er sogar miteiner so beharrlichen Neugier, daß es ordentlich unhöflich herauskam; schließlich fing er an zulächeln.

»Na, nun pack dich!« schrie die Alte. »Mögest du an meinem Gelde ersticken! Wechsle es bei ihmum, Alexej Iwanowitsch! Wir haben keine Zeit; sonst könnten wir zu einem andern fahren ...«

»Der Kontorist sagt, bei andern würden wir noch weniger bekommen.«

Genau besinne ich mich nicht mehr auf die Rechnung, die uns damals gemacht wurde; aber sie warschauderhaft. Ich erhielt etwa zwölftausend Gulden in Gold und Banknoten, nahm die Rechnung undtrug alles der Tante hinaus.

»Schon gut, schon gut! Du brauchst es mir nicht erst vorzuzählen!« winkte sie ab. »Nur schnell,schnell, schnell!«

»Nie mehr werde ich auf dieses verwünschte Zéro setzen, und auf Rot auch nicht«, sagte sie vor sichhin, als wir uns dem Kurhaus näherten.

Diesmal bemühte ich mich aus allen Kräften, sie dazu zu bewegen, nur möglichst kleine Einsätze zumachen, indem ich ihr vorstellte, daß sie bei einer günstigen Wendung der Chancen immer noch Zeithabe, größere Summen zu setzen. Aber sie war für ein solches Verfahren zu ungeduldig; obwohl siesich anfänglich damit einverstanden erklärt hatte, war es doch ein Ding der Unmöglichkeit, sie imLaufe des Spiels zurückzuhalten. Kaum fing sie an, auf Einsätze von zehn, zwanzig Friedrichsdor zugewinnen, so hieß es unter Puffen in meine Seite:

»Na, siehst du wohl, siehst du wohl? Gewonnen haben wir; wir hätten viertausend Gulden setzensollen statt der zehn Friedrichsdor; dann hätten wir viertausend Gulden gewonnen; aber was habenwir jetzt? Das ist nur deine Schuld, nur deine Schuld!«

Und wie sehr ich mich auch ärgerte, wenn ich ihre Art zu spielen ansah, so entschied ich michschließlich doch dafür zu schweigen und ihr keine weiteren Ratschläge mehr zu geben.

Auf einmal trat de Grieux eilig zu ihr heran. Auch unsere übrige Gesellschaft war in der Nähe; ichbemerkte, daß Mademoiselle Blanche mit ihrer Mama etwas abseits stand und mit dem kleinenFürsten kokettierte. Der General war in offenbarer Ungnade und so gut wie abgesetzt. Blanche wollteihn nicht einmal ansehen, obwohl er sich aus allen Kräften mit Liebenswürdigkeiten um sie zu

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schaffen machte. Der arme General! Er wurde abwechselnd blaß und rot, zitterte und verfolgte nichteinmal mehr das Spiel der Tante. Schließlich gingen Blanche und der kleine Fürst hinaus; der Generallief ihnen nach.

»Madame, madame«, flüsterte de Grieux der Tante zu, indem er sich ganz dicht an ihr Ohrhinabbeugte, »madame, so geht das nicht mit dem Setzen ... nein, nein, das ist nicht möglich ...«radebrechte er auf russisch, »... nein!« »Aber wie denn? Na, dann belehre mich mal!« antwortete ihmdie Tante.

Nun begann de Grieux sehr schnell Französisch zu plappern und eifrig Ratschläge zu geben; er sagte,man müsse eine Chance abwarten, und führte irgendwelche Zahlen an – die Alte begriff nichts vonalledem. Fortwährend wandte er sich dabei an mich, mit der Bitte, seine Worte zu übersetzen; ertippte mit dem Finger auf den Tisch und demonstrierte dies und das; zuletzt ergriff er einen Bleistiftund begann auf einem Blatt Papier zu rechnen. Schließlich verlor die Alte die Geduld.

»Na, nun scher dich weg! Du schwatzt ja doch nur dummes Zeuge! ›Madame, madame!‹ aber er selbstversteht von der Sache nichts. Scher dich weg!«

»Mais, madame«, schnatterte de Grieux wieder los und fing von neuem an zu schwadronieren und zuzeigen.

Er war in einen unhemmbaren Eifer hineingeraten.

»Na, dann setze einmal so, wie er sagt!« befahl mir die Tante. »Wir wollen mal sehen; vielleichtglückt es wirklich.«

De Grieux wollte sie nur von großen Einsätzen abbringen; er schlug ihr vor, auf Zahlen zu setzen, aufeinzelne Zahlen und auf Zahlengruppen. Ich setzte nach seiner Anweisung je einen Friedrichsdor aufdie ungeraden Zahlen von eins bis zwölf und je fünf Friedrichsdor auf die Zahlengruppe von zwölfbis achtzehn und auf die Zahlengruppe von achtzehn bis vierundzwanzig; im ganzen hatten wirsechzehn Friedrichsdor gesetzt.

Das Rad drehte sich.

»Zéro!« rief der Croupier.

Wir hatten alles verloren.

»So ein Esel!« rief die Alte, indem sie sich zu de Grieux umdrehte. »So ein Jammerkerl vonFranzose! Der gibt noch Ratschläge, der Taugenichts! Scher dich weg, scher dich weg! Verstehtnichts und tut hier wichtig!«

Tief gekränkt zuckte de Grieux mit den Achseln, warf der Tante einen Blick voller Verachtung zu undentfernte sich. Er schämte sich jetzt selbst, daß er sich mit ihr eingelassen hatte; länger hielt er esjedenfalls nicht aus.

Nach einer Stunde hatten wir, trotz allen Kämpfens und Ringens, alles verloren.

»Nach Hause!« schrie die Tante. Ehe wir die Allee erreicht hatten, sprach sie kein Wort.

Als wir in der Allee waren und uns schon dem Hotel näherten, da kamen bei ihr stoßweise die erstenAusrufe:

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»So ein dummes Weib! So ein verrücktes Weib! Du altes, altes, verrücktes Weib du!«

Sobald wir wieder in ihrem Logis waren, schrie sie:

»Bringt mir Tee! Und packt sofort ein! Wir reisen ab!«

»Wohin belieben Sie zu reisen, Mütterchen?« fragte Marfa schüchtern.

»Was geht dich das an? Kümmere dich um deine eigene Nase! Potapytsch, pack alles zusammen,mach alles fertig! Wir fahren zurück, nach Moskau. Ich habe fünfzehntausend Rubel verspielt!«

»Fünfzehntausend Rubel, Mütterchen! Mein Gott, mein Gott!« fing Potapytsch an und schlug, wie tiefergriffen, die Hände zusammen, wahrscheinlich in der Meinung, es damit der Alten recht zu machen.

»Na, na, du Schafskopf! Fang womöglich noch an zu heulen! Schweig still! Pack die Sachen! Undschnell die Rechnung, schnell.«

»Der nächste Zug geht um halb zehn, Großmütterchcn«, bemerkte ich in der Absicht, ihr Toben zuhemmen.

»Und wieviel ist es jetzt?«

»Halb acht.«

»Das ist ärgerlich! Na, ganz egal! Alexej Iwanowitsch, Geld habe ich auch nicht eine Kopeke mehr.Da hast du noch zwei Staatsschuldscheine; lauf und wechsle mir die auch noch um. Sonst habe ichkein Geld zum Fahren.«

Ich ging hin. Als ich nach einer halben Stunde ins Hotel zurückkam, fand ich bei der Tante diesämtlichen Unsrigen vor. Anscheinend waren sie über die Mitteilung, daß die Tante nach Moskauzurückzufahren beabsichtige, noch mehr bestürzt als über deren Spielverlust. Allerdings wurde durchdiese Abreise das übrige Vermögen der alten Dame gerettet; aber auf der anderen Seite: was solltejetzt aus dem General werden? Wer würde de Grieux' Forderungen begleichen? MademoiselleBlanche würde selbstverständlich nicht warten mögen, bis die Alte stürbe, sondern wahrscheinlichgleich jetzt mit dem kleinen Fürsten oder sonst jemandem davongehen. Sie standen alle vor der Tante,trösteten sie und redeten ihr freundlich zu. Polina war wieder nicht dabei. Die Tante schrie ihnengrimmig zu:

»Macht, daß ihr fortkommt, ihr Kanaillen! Was geht euch die ganze Geschichte an? Wozu drängt sichdieser Ziegen-bart« (das war Monsieur de Grieux) »mir immer auf? Und du, kokette Person« (hierwandte sie sich an Mademoiselle Blanche), »was willst du von mir? Warum scharwenzelst du ummich herum?«

»Diantre!« murmelte Mademoiselle Blanche, in deren Augen die Wut funkelte; aber plötzlich lachtesie auf und ging hinaus.

»Elle vivra cent ans!« rief sie in der Tür dem General zu. »So, so! Also du rechnest auf meinenTod?« kreischte die Alte den General an. »Mach, daß du fortkommst! Jage sie alle hinaus, AlexejIwanowitsch! Was geht es euch an? Ich habe mein eigenes Geld verspielt und nicht eures!«

Der General zuckte mit den Achseln und ging in gekrümmter Haltung hinaus. De Grieux folgte ihm.

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»Rufe Praskowja her!« befahl die Tante ihrer Zofe Marfa. Nach fünf Minuten kehrte Marfa mit Polinazurück. Polina hatte diese ganze Zeit über mit den Kindern in ihrem Zimmer gesessen und sichanscheinend vorgenommen, den ganzen Tag nicht auszugehen. Ihr Gesicht war ernst, traurig undsorgenvoll.

»Praskowja«, begann die Tante, »ist das wahr, was ich vor kurzem auf einem Umweg gehört habe,daß dieser Dummkopf, dein Stiefvater, diese dumme, flatterhafte Französin heiraten will? Sie ist jawohl eine Schauspielerin, wenn nicht etwas noch Schlimmeres? Sag, ist das wahr?«

»Sicheres weiß ich darüber nicht, Großmütterchen«, antwortete Polina; »aber aus den eigenenWorten der Mademoiselle Blanche, die es nicht für nötig hält, ein Geheimnis daraus zu machen,schließe ich ...«

»Genug«, unterbrach die Alte sie energisch. »Ich verstehe alles! Ich habe mir gleich gesagt, daß ihmdas ganz ähnlich sehe, und habe ihn von jeher für einen ganz hohlen, leichtsinnigen Menschengehalten. Er hat sich so einen Dünkel zugelegt, weil er General geworden ist (eigentlich war er nurOberst und hat den Generalsrang erst beim Abschied bekommen); darauf ist er nun stolz. Ich weißalles, mein Kind, wie ihr ein Telegramm nach dem andern nach Moskau geschickt habt: ›Wird denndie Alte noch nicht bald die Augen zumachen?‹ Ihr wartetet auf die Erbschaft; wenn der General keinGeld hat, nimmt ihn diese gemeine Dirne (wie heißt sie doch? de Cominges, nicht wahr?) nichteinmal als Lakaien zu sich, noch dazu mit seinen falschen Zähnen. Sie hat, wie es heißt, selbst einetüchtige Menge Geld und verleiht es auf Zinsen, ein netter Erwerbszweig! Dir, Praskowja, mache ichkeine Vorwürfe; du hast keine Telegramme abgeschickt, und an alte Geschichten will ich auch nichtweiter denken. Ich weiß, daß du einen garstigen Charakter hast; du bist die reine Wespe! Wo duhinstichst, da gibt es eine Geschwulst. Aber du tust mir leid; denn ich habe deine Mutter, dieverstorbene Katerina, sehr gern gehabt. Na, willst du? Laß hier alles stehn und liegen und fahr mit mirmit! Du weißt ja doch eigentlich nicht, wo du bleiben sollst, und hier bei denen zu sein paßt sich garnicht einmal für dich. Warte« (Polina hatte schon zu einer Antwort angesetzt; aber die Alte ließ sienicht zu Wort kommen), »ich bin noch nicht fertig. Mein Haus in Moskau ist, wie du weißt, so großwie ein Schloß. Meinetwegen kannst du darin eine ganze Etage bewohnen und brauchst wochenlangnicht zu mir zu kommen, wenn mein Wesen dir nicht zusagt. Nun, willst du oder willst du nicht?«

»Gestatten Sie mir zunächst die Frage: wollen Sie wirklich jetzt gleich fahren?«

»Du denkst wohl, ich mache nur Scherz, mein Kind? Ich habe gesagt, daß ich fahre, und werde esauch tun. Ich habe heute fünfzehntausend Rubel bei eurem dreimal verfluchten Roulett verloren. Aufmeinem Gut bei Moskau habe ich vor fünf Jahren gelobt, eine hölzerne Kirche zu einer steinernenumzubauen, und statt dessen habe ich nun hier mein Geld vergeudet. Jetzt fahre ich hin, mein Kind, umdie Kirche zu bauen.«

»Aber die Brunnenkur, Großmütterchen? Sie sind doch hergekommen, um Brunnen zu trinken?«

»Ach, geh mir mit deinem Brunnen! Mach mich nicht ärgerlich, Praskowja; oder war das geradedeine Absicht? Sag, fährst du mit oder nicht?«

»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar, Großmütterchen«, erwiderte Polina mit warmer Empfindung, »fürdas Asyl, das Sie mit anbieten. Zum Teil haben Sie meine Lage richtig erraten. Ich erkenne Ihr Güteaus vollem Herzen an und werde (seien Sie dessen versichert!) zu Ihnen kommen, vielleicht sogar

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schon sehr bald; aber jetzt habe ich Gründe ... wichtige Gründe ... und ich kann mich so plötzlich, indiesem Augenblick, nicht dazu entschließen. Wenn Sie wenigstens noch ein paar Wochen hierblieben...«

»Also du willst nicht?«

»Ich kann es nicht. Außerdem kann ich jedenfalls meinen Bruder und meine Schwester nichtverlassen; denn ... denn ... denn es könnte sonst wirklich so kommen, daß sie niemand auf der Welthaben, der sich ihrer annimmt. Wenn Sie also mich mitsamt den Kleinen aufnehmen wollen,Großmütterchen, dann werde ich bestimmt zu Ihnen ziehen, und glauben Sie mir: ich werde Ihnen IhreGüte lohnen!« fügte sie warm und herzlich hinzu. »Aber ohne die Kinder kann ich es nicht,Großmütterchen.«

»Na, heule nur nicht!« (Polina war vom Heulen weit entfernt, wie sie denn überhaupt niemalsweinte.) »Es wird sich auch für deine Küchlein schon noch ein Plätzchen finden; mein Hühnerstall istja geräumig. Überdies ist's für sie bald Zeit, daß sie in die Schule kommen. Na, also du fährst jetztnicht mit! Nun, Praskowja, sei auf deiner Hut! Ich meine es gut mit dir; aber ich weiß ja, warum dunicht mitfährst. Ich weiß alles. Praskowja. Dieser Franzose wird dir keinen Segen bringen.«

Polina wurde dunkelrot. Ich fuhr ordentlich zusammen. (Alle wissen Bescheid! Nur ich weiß vonnichts!)

»Nun, nun, du brauchst kein finsteres Gesicht zu machen. Ich will nicht weiter darüber reden. Sei nurauf deiner Hut, daß nichts Schlimmes passiert, verstehst du? Du bist ein verständiges Mädchen; eswürde mir um dich leid tun. Na, nun genug! Hätte ich euch alle nur gar nicht wiedergesehen! Geh!Lebewohl!«

»Ich begleite Sie noch auf den Bahnhof, Großmütterchen«, sagte Polina.

»Nicht nötig; sei mir nicht im Wege: ich habe euch sowieso schon alle satt.«

Polina wollte der Alten die Hand küssen; aber diese zog die Hand weg und küßte selbst Polina aufdie Wange.

Als Polina an mir vorbeiging, sah sie mich mit einem schnellen Blick an und wendete sogleich dieAugen wieder weg.

»Na, dann leb auch du wohl, Alexej Iwanowitsch; es ist nur noch eine Stunde bis zur Abfahrt desZuges. Und du wirst auch von dem Zusammensein mit mir müde geworden sein, denke ich mir. Da,nimm für dich diese fünfzig Goldstücke!«

»Ich danken Ihnen herzlich, Großmütterchen; aber es ist mir peinlich ...«

»Ach was!« schrie die Tante in so energischem, grimmigem Ton, daß ich mich nicht zu weigernwagte und das Geld annahm.

»Wenn du in Moskau bist und da ohne Stellung herumläufst, dann komm zu mir; ich werde dichirgendwohin empfehlen. Na, nun mach, daß du wegkommst!«

Ich ging auf mein Zimmer und legte mich auf das Bett. Ich glaube, etwa eine halbe Stunde lang lag ichda, auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf. Die Katastrophe brach bereits herein; da gab es

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vieles, worüber ich nachdenken mußte. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag mit Polina ein ernstesWort zu reden. Ah, dieser kleine Franzose! Also war es wirklich wahr! Aber dennoch: von welcherArt konnte denn dieses Verhältnis sein? Polina und de Grieux! O Gott, was für eineZusammenstellung!

Das alles war doch geradezu unglaublich. Ich sprang plötzlich, ganz außer mir, vom Bett auf, umsofort wegzugehen und Mister Astley aufzusuchen und ihn um jeden Preis zum Reden zu bringen. Erwußte sicherlich auch hiervon mehr als ich. Mister Astley? Der war mir auch für seine eigene Personnoch ein Rätsel!

Da hörte ich jemand an meine Tür köpfen. Ich sah nach – es war Potapytsch.

»Alexej Iwanowitsch, die gnädige Frau lassen Sie zu sich bitten!«

»Was gibt es denn? Sie will wohl abfahren, nicht wahr? Es sind noch zwanzig Minuten bis zurAbfahrt des Zuges.« »Die gnädige Frau sind so unruhig und können kaum stillsitzen. ›Schnell,schnell!‹ sagen die gnädige Frau, nämlich, daß ich Sie schnell holen soll. Um Christi willen, kommenSie schnell!«

Ich lief sogleich hinunter. Die Tante hatte sich schon auf den Korridor hinaustragen lassen. In derHand hielt sie ihre Brieftasche.

»Alexej Iwanowitsch, geh voran; wir wollen hin!«

»Wohin, Großmütterchcn?«

»Ich will nicht am Leben bleiben, wenn ich es nicht wiedergewinne! Na, marsch, ohne weiter zufragen! Das Spiel dauert dort ja wohl bis Mitternacht?«

Ich war starr, überlegte einen Augenblick, hatte dann aber sofort meinen Entschluß gefaßt.

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Antonida Wassiljewna, ich komme nicht mit.«

»Warum nicht? Was soll das wieder heißen? Ihr seid hier wohl alle nicht recht bei Trost?«

»Nehmen Sie es mir nicht übel; aber ich würde mir nachher selbst Vorwürfe deswegen machen; ichwill nicht. Ich will weder Zeuge noch Teilnehmer sein; dispensieren Sie mich davon, AntonidaWassiljewna! Da haben Sie ihre fünfzig Friedrichsdor zurück; leben Sie wohl!« Ich legte die Rollemit den Friedrichsdor dort auf ein Tischchen, neben dem der Stuhl der Tante gerade vorbeikam,verbeugte mich und ging weg.

»So ein Unsinn!« rief sie mir nach. »Dann laß es bleiben, meinetwegen; ich werde den Weg auchallein finden! Potapytsch, komm du mit! Na, hebt mich auf und tragt mich!« Mister Astley fand ichnicht und kehrte nach Hause zurück. Erst spät, nach Mitternacht, erfuhr ich von Potapytsch, wie dieserTag für die Alte geendet hatte. Sie hatte alles verspielt, was ich ihr kurz vorher eingewechselt hatte,das heißt nach unserem Geld nochmal zehntausend Rubel. Jener selbe Pole, dem sie unlängst zweiFriedrichsdor geschenkt hatte, hatte sich an sie herangemacht und während der ganzen Zeit ihr Spieldirigiert. Zuerst, ehe sich der Pole einfand, hatte sie den Versuch gemacht, ihre Einsätze durchPotapytsch bewerkstelligen zu lassen; aber den hatte sie bald weggejagt, und dann war der Poleeingetreten. Das Unglück wollte, daß er Russisch verstand und sogar einigermaßen sprach, in einem

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Gemisch von drei Sprachen, so daß sie sich leidlich untereinander verständlich machen konnten. DieTante hatte ihm die ganze Zeit über die derbsten Schimpfworte an den Kopf geworfen, und »obgleicher«, erzählte Potapytsch, »sich fortwährend ›der gnädigen Frau zu Füßen legte‹, wurde er von ihrdoch ganz anders behandelt wie Sie, Alexej Iwanowitsch; gar kein Vergleich. Mit Ihnen verkehrte siewie mit einem wirklichen Herrn; aber der ... das war der Richtige! Ich habe es selbst mit meineneigenen Augen gesehen (ich will auf der Stelle des Todes sein!), einfach vom Tisch weg hat er ihrdas Geld gestohlen. Sie hat ihn selbst ein paarmal auf dem Tisch dabei ertappt und ihn ausgescholten,mit allerlei bösen Worten hat sie ihn ausgescholten; sogar an den Haaren hat sie ihn einmal gezogen,wahrhaftig, ich lüge nicht, so daß die Leute, die drum herumstanden, anfingen zu lachen. Alles hat sieverspielt, aber auch geradezu alles, alles, was Sie ihr eingewechselt hatten. Wir haben sie dannwieder hierher gebracht; nur ein bißchen Wasser ließ sie sich zum Trinken geben; dann bekreuzigtesie sich, und zu Bett! Ganz erschöpft war sie, und sie ist sofort eingeschlafen. Gott möge ihrfreundliche Träume senden! Nein, ich sage nur: dieses Ausland!« schloß Potapytsch. »Ich habe esgleich gesagt, daß dabei nichts Gutes herauskommt. Wir sollten so schnell wie möglich nach unseremlieben Moskau zurückfahren! Was haben wir nicht für schöne Dinge bei uns zu Hause, in Moskau!Der Garten, und Blumen, wie sie hier gar nicht wachsen, und der Duft, und die Äpfel werden reif, undwas haben wir da für Raum! Aber nein, wir mußten ins Ausland! O weh, o weh! ...«

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Dreizehntes Kapitel

Beinah ein ganzer Monat ist schon vergangen, seit ich diese meine Aufzeichnungen nicht mehrangerührt habe, die ich damals im Bann unklarer, aber starker Affekte begann. Die Katastrophe, derenHerannahen ich damals vorausfühlte, ist wirklich eingetreten, aber in sehr viel heftigerer Form undanderer Art, als ich es mir gedacht hatte. All diese Vorgänge trugen einen sonderbaren,widerwärtigen, ja tragischen Charakter, wenigstens für mich. Ich habe einzelnes erlebt, was anWunder grenzt; so sehe ich wenigstens noch immer diese Dinge an, wiewohl sie von einem anderenStandpunkt aus, und namentlich wenn man erwägt, in welchem Wirbel ich damals herumgetriebenwurde, nur als Ereignisse von vielleicht nicht ganz gewöhnlicher Art erscheinen mögen. Aber dasAllerwunderbarste ist für mich die Art und Weise, wie ich mich selbst diesen Ereignissen gegenüberverhielt. Noch immer bin ich nicht imstande, mich selbst zu begreifen! Und all das ist dahingeflogenwie ein Traum, sogar meine Leidenschaft, die doch stark und aufrichtig war; aber wo ist die jetztgeblieben? Wirklich: manchmal huscht mir der Gedanke durch den Kopf: habe ich vielleicht damalsden Verstand verloren und dann diese ganze Zeit über irgendwo in einem Irrenhaus gesessen, odersitze ich vielleicht auch jetzt noch in einem solchen und all diese Dinge waren und sind nur Produktemeiner Einbildung? Ich habe meine Blätter zusammengesucht und wieder durchgelesen; vielleichthabe ich es nur in der Absicht getan, mich zu überzeugen, ob ich sie nicht wirklich in einem Irrenhausgeschrieben habe. Jetzt bin ich allein, mutterseelenallein. Der Herbst rückt heran, das Laub wird gelb.Ich sitze in diesem trostlosen Städtchen (oh, wie trostlos sind die kleinen deutschen Städte!), und stattzu überlegen, was ich nun weiter tun soll, lebe ich in den Empfindungen der jüngsten Vergangenheit,in frischen Erinnerungen und überlasse mich dem Gedanken an jenen Wirbelsturm, der mich damalspackte und umherschleuderte und mich nun wieder irgendwohin ausgeworfen hat. Manchmal habe ichdie Vorstellung, als drehte ich mich immer noch in diesem Wirbel herum, und als werde im nächstenAugenblick jener Sturm wieder heranbrausen und im Vorbeijagen mich mit seinem Flügel erfassen,und als werde ich wieder aus dem Geleise herausgerissen werden und alles gesunde Urteil verlierenund im Kreise herumgetrieben werden, immer im Kreise, im Kreise ...

Aber vielleicht komme ich von diesem Zustand des schwindelerregenden Umherkreisens los undgelange wieder zur Ruhe, wenn ich versuche, mir von allem, was in diesem Monat vorgefallen ist,genaue Rechenschaft zu geben. Ich fühle wieder einen Drang, zur Feder zu greifen, und ich habe auchmitunter abends gar nichts zu tun. Sonderbar: um wenigstens eine Beschäftigung zu haben, entnehmeich aus der hiesigen elenden Leihbibliothek als Lektüre Romane von Paul de Kock (in deutscherÜbersetzung!), obwohl ich sie nicht leiden kann; aber ich lese sie und wundere mich über michselbst: es hat fast den Anschein, als fürchtete ich durch die Lektüre eines ernsten Buches oderirgendwelche andere ernste Beschäftigung den Zauberbann zu zerstören, in den mich die letzteVergangenheit geschmiedet hat. Als wäre mir dieser schreckliche Traum nebst allen von ihmzurückgebliebenen Empfindung so lieb und teuer, daß ich nicht einmal mit etwas Neuem an ihn rührenmöchte, damit er nicht in Rauch verfliege! Ist mir das alles so lieb und leuer, wie? Ja, gewiß, es istmir lieb und teuer; vielleicht werde ich noch nach vierzig Jahren mich wehmütig daran erinnern...

Ich beginne also wieder zu schreiben. Aber ich brauche das Folgende nicht mit der Ausführlichkeit zuerzählen wie das Frühere; waren doch auch meine Gefühle und Empfindungen dabei von ganz andererArt.

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Zuerst möchte ich das, was ich von der alten Tante berichtete, zum Abschluß bringen. Am andernTage verspielte sie alles, was sie mithatte, schlechthin alles. Es konnte nicht anders kommen: gerätein Mensch von solchem Charakter auf diesen Weg, so ist es, als ob er im Schlitten einen Schneeberghinabführe: es geht immer schneller und schneller hinunter. Sie spielte den ganzen Tag bis acht Uhrabends. Ich war dabei nicht zugegen; ich weiß davon nur aus Erzählungen.

Potapytsch hielt sich im Kurhaus den ganzen Tag über zu ihrer Verfügung. Die Polen, von denen dieTante sich beim Spiel beraten ließ, wechselten an diesem Tag mehrmals ab. Sie begann damit, daßsie den Polen von gestern, den sie an den Haaren gerissen hatte, wegjagte und einen andern annahm;aber es stellte sich bald heraus, daß dieser andere womöglich noch schlimmer war. Sie jagte alsoauch diesen weg und nahm den ersten wieder an, der nicht weggegangen war und während der ganzenZeit, wo er sich in Ungnade befand, sich dicht dabei, hinter ihrem Stuhl, herumgedrückt und alleAugenblicke seinen Kopf zu ihr hindurchgeschoben hatte. Durch all das geriet die Tante schließlich ineinen Zustand völliger Verzweiflung. Der weggejagte zweite Pole wollte gleichfalls um keinen Preisweichen; der eine postierte sich rechts vom Stuhl der Tante, der andere links. Die ganze Zeit überstritten und schimpften sie untereinander wegen der Höhe der Einsätze und wegen der Auswahl,worauf zu setzen sei, und belegten einander mit dem Titel »Lajdak«, Strolch, und andern polnischenSchmeichelnamen; dann vertrugen sie sich wieder, warfen mit dem Geld ohne alle Ordnung umherund schalteten und walteten damit ganz leichtfertig. Zu Zeiten, wo sie sich gezankt hatten, setzte einjeder von ihnen auf seiner Seite, was ihm beliebte, zum Beispiel der eine auf Rot, der andere aufSchwarz. Schließlich machte all dies die Tante ganz schwindlig und denkunfähig, so daß sie zuletzt,dem Weinen nahe, sich an den Obercroupier wandte, mit der Bitte, sie zu beschützen und die beidenPolen wegzujagen. Diese wurden denn auch unverzüglich fortgewiesen, trotz ihres Geschreis undihrer Proteste: sie schrien beide zugleich und behaupteten, die alte Dame sei vielmehr ihnen Geldschuldig, sie habe sie irgendwie betrogen und sich gegen sie unehrenhaft und gemein benommen.

Der unglückliche Potapytsch erzählte mir alles dies unter Tränen noch an demselben Abend, an demder Spielverlust stattgefunden hatte, und klagte mir, die beiden hätten sich die Taschen voll Geldgestopft; er habe selbst gesehen, wie sie schamlos gestohlen und sich alle Augenblicke etwas in dieTaschen gesteckt hätten. Auch allerlei Kunstgriffe hätten sie angewandt. So habe zum Beispiel dereine die Tante um fünf Friedrichsdor als Belohnung für seine Dienste gebeten und dieses Geldsogleich im Roulett gesetzt, neben den Einsätzen der Tante. Habe nun die Tante gewonnen, so habe ergeschrien, der Einsatz, der gewonnen habe, gehöre ihm, der der Tante habe verloren. Als siefortgewiesen wurden, war dann Potapytsch vorgetreten und hatte der Tante berichtet, daß sie dieganzen Taschen voller Geld hätten. Die Tante hatte sofort den Croupier gebeten, sich der Sacheanzunehmen, und obwohl die beiden Polen ein großes Geschrei vollführten (gerade wie zwei Hähne,die man mit den Händen greift), war die Polizei erschienen und hatte ihnen zum Vorteil der Tante dieTaschen ausgeleert. Solange die Tante nicht ihr ganzes Geld verspielt hatte, erfreute sie sich andiesem ganzen Tag bei den Croupiers und überhaupt bei allen Beamten des Kurhauses offenkundigerHochachtung. Allmählich hatte sich eine Kunde von ihr in der ganzen Stadt verbreitet. Alle Kurgästejeder Nationalität, vornehm und gering, strömten in den Spielsaal, um sieh da »une vieille russe,tombée en enfance« anzusehen, die bereits »einige Millionen« verspielt hatte. Aber es nützte derTante herzlich wenig, daß man sie von den beiden Polacken befreit hatte. An Stelle derselben

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erschien sogleich dienstbereit ein dritter Pole; dieser sprach ein vollkommen reines Russisch, warwie ein Gentleman gekleidet, wiewohl er dabei doch wie ein Lakai aussah, trug einen gewaltigenSchnurrbart und kehrte ein großes Ehrgefühl heraus. Er küßte gleichfalls, nach seinem Ausdruck, dieFußspuren der gnädigen Frau und legte sich ihr zu Füßen, benahm sich aber gegen alle, die er um sichhatte, hochmütig, maßte sich eine despotische Herrschaft an, kurz, er trat gleich von vornherein nichtals Diener der Tante, sondern als ihr Gebieter auf. Alle Augenblicke, bei jedem Einsatz, wandte ersich zu ihr und schwor mit den fürchterlichsten Eiden, er sei ein Ehrenmann und nehme nicht eineKopeke von ihrem Geld. Er wiederholte diese Schwüre so oft, daß die Tante schließlich ganzeingeschüchtert wurde. Aber da dieser Herr tatsächlich anfangs einen günstigen Einfluß auf ihr Spielauszuüben schien und Gewinne erzielte, so glaubte die Tante selbst, sich nicht von ihm losmachen zusollen. Eine Stunde später erschienen die beiden früheren Polen, die aus dem Spielsaalheraustransportiert worden waren, von neuem hinter dem Stuhl der Tante und boten ihr wieder ihreDienste an, wenn auch nur zu Botengängen. Potapytsch beteuerte eidlich, daß der Ehrenmann ihnenheimlich zugeblinzelt und ihnen sogar etwas in die Hand geschoben habe. Da die Tante nichts zuMittag gegessen hatte und fast gar nicht von ihrem Stuhl weggegangen war, so kam ihr der eine Polemit seiner Dienstfertigkeit ganz gelegen: er mußte nach dem Restaurant des Kurhauses laufen und ihreine Tasse Bouillon holen, dann auch eine Tasse Tee. Übrigens liefen die Polen immer beidezugleich. Aber am Ende des Tages, als es schon allen klar war, daß sie ihre letzte Banknoteverspielen werde, standen hinter ihrem Stuhl schon ganze sechs Polen, von denen vorher nichts zusehen und zu hören gewesen war. Und als die Tante wirklich im Begriff stand, ihr letztes Geld zuverlieren, da gehorchte keiner von ihnen mehr ihren Weisungen, ja sie beachteten die Alte gar nichtmehr, drängten sich geradezu neben ihr vorbei an den Tisch, griffen selbst nach dem Geld, verfügteneigenmächtig darüber, setzten, stritten und schrien, wobei sie mit dem Ehrenmann auf dem Duzfußverkehrten; der Ehrenmann selbst aber hatte die Existenz der Tante beinah überhaupt vergessen.Sogar dann, als die Tante alles verspielt hatte und am Abend gegen acht Uhr ins Hotel zurückkehrte,selbst da konnten sich drei oder vier Polen immer noch nicht entschließen, von ihr abzulassen,sondern liefen rechts und links neben ihrem Stuhl her, schrien aus Leibeskräften und behaupteten inschneller Rede, die alte Dame habe sie irgendwie betrogen und müsse ihnen etwas herausgeben. Sokamen sie bis zum Hotel mit, von wo sie schließlich mit Püffen und Stößen weggetrieben wurden.

Nach Potapytschs Berechnung muß die Tante an diesem Tag im ganzen gegen neunzigtausend Rubelverspielt haben, abgesehen von dem Geld, das sie tags zuvor verloren halte. Alle fünfprozentigenStaatsschuldscheine in inländischen Anleihen, alle Aktien, die sie mithatte, ließ sie, ein Stück nachdem ändern, umwechseln. Ich drückte mein Erstaunen darüber aus, wie sie es diese ganzen siebenoder acht Stunden lang habe aushalten können, auf ihrem Stuhl zu sitzen, beinahe ohne jemals vomTisch fortzugehen; aber Potapytsch erzählte mir, sie habe etwa dreimal wirklich stark zu gewinnenangefangen; durch die wiedererwachte Hoffnung neu belebt, habe sie dann nicht von ihrem Platzweggekonnt. Spieler haben ja Verständnis dafür, wie ein Mensch es fertigbringt, fast vierundzwanzigStunden lang auf einem Fleck bei den Karten zu sitzen und weder rechts noch links zu blicken.

Unterdes waren im Laufe des Tages bei uns im Hotel gleichfalls sehr wichtige Dinge vorgegangen.Schon am Vormittag, vor elf Uhr, als die Tante noch zu Hause war, entschlossen sich die Unsrigen,das heißt der General und de Grieux, zu einem letzten Schritt. Da sie erfahren hatten, daß die Tantenicht mehr daran dachte, abzureisen, sondern vielmehr im Begriff war, sich nach dem Kurhaus

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aufzumachen, so begaben sie sich als vollständiges Konklave (mit Ausnahme von Polina) zu ihr, ummit ihr nachdrücklich und sogar offenherzig zu reden. Der General, der angesichts der schrecklichenFolgen, die die Spielwut der Tante für ihn haben mußte, vor Angst verging und am ganzen Leibezitterte, griff aber dabei zu Mitteln, die gar zu kräftig waren: nachdem er eine halbe Stunde langgebeten und gefleht und sogar alles offenherzig gestanden hatte, nämlich alle seine Schulden undselbst seine Leidenschaft für Mademoiselle Blanche (er war eben ganz kopflos geworden), schlug erauf einmal einen drohenden Ton an und begann sogar seine Tante anzuschreien und mit den Füßen zustampfen; er schrie, sie verunehre seine und ihre Familie, verursache in der ganzen Stadt einskandalöses Aufsehen, und schließlich ... schließlich sagte er noch: »Sie bringen Schande über unserrussisches Vaterland, gnädige Frau!« und deutete darauf hin, daß es dagegen noch eine Polizei gebe!Die Alte jagte ihn endlich mit einem Stock hinaus, mit einem wirklichen Stock.

Der General und de Grieux berieten sich noch ein-oder zweimal im Laufe dieses Vormittags, wobeisie besonders die Frage beschäftigte, ob es denn wirklich ganz unmöglich sei, irgendwie einEingreifen der Polizei herbeizuführen. Man könnte ja sagen, diese unglückliche, aber höchstachtungswerte Dame habe den Verstand verloren und sei jetzt dabei, ihr letztes Geld zu verspielenusw. Kurz, ob es nicht möglich sei, eine Art von Aufsicht oder ein Spielverbot zu erwirken. Aber deGrieux zuckte nur mit den Achseln und lachte dem General ins Gesicht, der ohne Aufhören in diesemSinne redete und im Zimmer auf und ab ging. Endlich verließ de Grieux mit einer wegwerfendenHandbewegung nach dem General hin das Zimmer. Am Abend wurde bekannt, daß er das Hotel mitseinem ganzen Gepäck verlassen habe, nachdem er vorher noch eine sehr ernste, geheimnisvolleUnterredung mit Mademoiselle Blanche gehabt habe. Was Mademoiselle Blanche anlangt, so hatte siegleich am Vormittag entscheidende Maßregeln ergriffen: sie hatte den General vollständigabgehalftert und ließ ihn überhaupt nicht mehr vor ihre Augen kommen. Als der General ihr nach demKurhaus nachlief und sie dort Arm in Arm mit dem kleinen Fürsten traf, kannten MademoiselleBlanche und Madame veuve Cominges ihn gar nicht mehr. Auch der kleine Fürst grüßte ihn nicht.Diesen ganzen Tag über experimentierte Mademoiselle Blanche an dem Fürsten herum undbearbeitete ihn mit allen möglichen Mitteln, um ihn endlich zu einer entscheidenden Erklärung zubringen. Aber o weh! In ihren Spekulationen auf den Fürsten sah sie sich grausam getäuscht! Diesekleine Katastrophe trug sich erst gegen Abend zu: Es stellte sich nämlich auf einmal heraus, daß derFürst kahl wie eine Kirchenmaus war und sogar seinerseits darauf gehofft hatte, von ihr Geld aufeinen Wechsel zu bekommen, um dann Roulett spielen zu können. Blanche gab ihm entrüstet denLaufpaß und schloß sich in ihr Zimmer ein.

Am Morgen dieses selben Tages ging ich zu Mister Astley, oder, richtiger gesagt, ich suchte MisterAstley den ganzen Vormittag über, konnte ihn aber nirgends finden. Er war weder bei sich zu Hausenoch im Kurhaus oder im Park. Auch am Diner nahm er diesmal in seinem Hotel nicht teil. Zwischenvier und fünf Uhr erblickte ich ihn plötzlich, wie er vom Bahnhof geradewegs nach dem Hoteld'Angleterre ging. Er hatte es eilig und schien seine Sorgen zu haben, wiewohl es schwer war, jemalsauf seinem Gesicht einen Ausdruck von Sorge oder irgendwelcher Verlegenheit zu erkennen. Erstreckte mir freudig mit seinem gewöhnlichen Ausruf: »Ah!« die Hand entgegen, blieb aber nicht aufder Straße stehen, sondern setzte seinen Weg ziemlich schnellen Schrittes fort. Ich schloß mich ihman; aber er verstand es, mir solche Antworten zu geben, daß ich nicht dazu kam, ihn nach etwasWichtigerem zu fragen. Außerdem war es mir sehr peinlich, das Gespräch auf Polina zu bringen, und

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er selbst erwähnte sie mit keinem Wort. Ich erzählte ihm von der Tante; er hörte aufmerksam und miternster Miene zu und zuckte mit den Achseln.

»Sie wird alles verspielen«, bemerkte ich.

»O ja«, erwiderte er. »Vorhin, als ich wegfahren wollte, traf ich sie auf dem Weg zum Spielsaal, undda sagte ich ihr mit Bestimmtheit, daß sie alles verlieren werde. Wenn ich Zeit habe, will ich nachdem Spielsaal gehen, um zuzusehen; denn so etwas ist interessant.«

»Wo waren Sie denn hingefahren?« fragte ich und wunderte mich selbst darüber, daß ich danachbisher noch nicht gefragt hatte.

»Ich war in Frankfurt.«

»In geschäftlichen Angelegenheiten?«

»Jawohl.«

Wonach konnte ich ihn nun noch weiter fragen? Ich ging immer noch neben ihm her; aber plötzlich boger in das an unserem Weg stehende Hôtel des quatre saisons ein, nickte mir mit dem Kopf zu und warverschwunden. Nach Hause zurückgekehrt, wurde ich mir allmählich darüber klar, daß ich, selbstwenn ich zwei Stunden lang mit ihm gesprochen hätte, doch schlechterdings nichts erfahren habenwürde, weil ... weil es gar nichts gab, wonach ich ihn hätte fragen können! Ja, es war wirklich so! Ichwar jetzt absolut nicht imstande, meine Frage zu formulieren.

Diesen ganzen Tag über ging Polina bald mit den Kindern und der Kinderfrau im Park spazieren, baldsaß sie zu Hause. Den General mied sie schon seit längerer Zeit und redete mit ihm fast gar nicht,wenigstens nicht über ernsthafte Dinge. Das hatte ich schon lange bemerkt. Aber da ich wußte, inwelcher Situation sich der General heute befand, so sagte ich mir, er würde wohl nicht umhin gekonnthaben mit ihr zu sprechen, das heißt, es müsse wohl mit Notwendigkeit zwischen ihnen zu einerernsten Aussprache gekommen sein, wie sie bei so wichtigen Angelegenheiten zwischenFamilienmitgliedern unerläßlich ist. Als ich jedoch nach meinem Gespräch mit Mister Astley nachdem Hotel zurückging und unterwegs Polina mit den Kindern traf, da lag auf ihrem Gesicht einAusdruck ungetrübter Ruhe, als ob all die Stürme, unter denen die Familie litt, nur sie alleinverschonten. Meine Verbeugung erwiderte sie mit einem Kopfnicken. Ich ging wütend auf meinZimmer.

Allerdings hatte ich es seit dem Vorfall mit dem Wurmerhelmschen Ehepaar vermieden, mit ihr zusprechen, und war seitdem kein einziges Mal mit ihr zusammen gewesen. Das war von mir zum Teilnur Getue und Gehabe gewesen; aber je länger es dauerte, um so heißer glühte in mir eine wirklicheEntrüstung auf. Auch wenn sie mich nicht ein bißchen liebte, durfte sie meiner Ansicht nach dennochnicht meine Gefühle in dieser Weise mit Füßen treten und meine Geständnisse mit solcherGeringschätzung aufnehmen. Sie wußte ja doch, daß ich sie mit einer wahren, echten Liebe liebte, undhatte mir selbst gestattet und erlaubt, davon zu ihr zu reden! Freilich, diese unsere Beziehungen hattenin eigentümlicher Weise ihren Anfang genommen. Vor geraumer Zeit, schon vor zwei Monaten, hatteich bemerkt, daß sie mich zu ihrem Freund und Vertrauten zu machen wünschte und mich gelegentlichauch schon als solchen behandelte. Aber ohne daß ich gewußt hätte warum, wollte sich diesesVerhältnis damals nicht weiterentwickeln; statt dessen kam es vielmehr zu unsern jetzigen

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sonderbaren Beziehungen; und eben deswegen hatte ich angefangen so mit ihr zu reden. Aber wenn ihrmeine Liebe zuwider war, warum verbot sie mir dann nicht geradezu, mit ihr davon zu reden?

Sie hatte es mir nicht verboten, mich im Gegenteil manchmal zu einem solchen Gesprächherausgefordert; aber das hatte sie natürlich nur zum Spott getan. Ich hatte deutlich gemerkt und wußtegenau, daß es ihr Freude machte, nachdem sie mich angehört und mich auf das äußerste gereizt hatte,dann auf einmal mich durch einen schroffen Ausdruck größter Geringschätzung und Gleichgültigkeitwie mit einem Knüttel über den Kopf zu schlagen. Und sie wußte doch, daß ich ohne sie nicht lebenkonnte. Jetzt waren nun drei Tage seit der Geschichte mit dem Baron vergangen, und ich konnteunsere »Scheidung« nicht mehr ertragen. Als ich ihr kurz vorher beim Kurhaus begegnet war, da hattemir das Herz so stark geschlagen, daß ich ganz blaß wurde. Aber auch sie konnte ja ohne mich nichtexistieren! Sie hatte mich nötig – ob wirklich nur als Hanswurst, um etwas zum Lachen zu haben?

Sie hatte ein Geheimnis, das war zweifellos! Ihr Gespräch mit der Tante versetzte mir einenschmerzlichen Stich ins Herz. Ich hatte sie doch tausendmal gebeten, mir gegenüber aufrichtig zu sein,und sie wußte doch, daß ich tatsächlich bereit war, meinen Kopf für sie hinzugeben. Aber sie hattesich immer in beinahe verächtlicher Weise von mir losgemacht oder statt des Opfers meines Lebens,das ich ihr anbot, von mir solche Exzesse verlangt wie damals mit dem Baron! War das nichtempörend? War denn dieser Franzose ihr ein und alles? Und Mister Astley? Aber hier wurde dieSache für mich nun schon vollständig unbegreiflich – und was litt ich dabei für Qualen, mein Gott,mein Gott!

Als ich nach Hause gekommen war, griff ich in heller Wut zur Feder und schrieb an sie folgendes:»Polina AIexandrowna, ich sehe deutlich, daß die Katastrophe nahe bevorsteht, die jedenfalls auchfür Sie bedeutungsvoll sein wird. Zum letzten Male frage ich Sie: können Sie das Opfer meinesLebens gebrauchen oder nicht? Wenn Sie meiner, wozu auch immer, bedürfen, so verfügen Sie übermich; ich werde vorläufig in meinem Zimmer bleiben, wenigstens den größten Teil der Zeit, undnirgends hingehen. Wenn Sie mich nötig haben, so schreiben Sie mir oder lassen Sie mich rufen.«

Ich siegelte den Brief zu und gab ihn dem Kellner zur Beförderung, mit der Weisung, ihn ihr zueigenen Händen zu übergeben. Eine Antwort erwartete ich nicht; aber nach drei Minuten kam derKellner zurück und meldete, das Fräulein lasse eine Empfehlung bestellen.

Zwischen sechs und sieben Uhr wurde ich zum General gerufen.

Er befand sich in seinem Zimmer, wie zum Ausgehen angekleidet. Hut und Stock lagen auf dem Sofa.Als ich eintrat, stand er, wie mir vorkam, mit gespreizten Beinen und gesenktem Kopf mitten imZimmer und redete halblaut mit sich selbst. Aber sowie er mich erblickte, stürzte er ordentlich miteinem Aufschrei auf mich los, so daß ich unwillkürlich zurücktrat und mich schleunigst wiederentfernen wollte; aber er ergriff mich an beiden Händen und zog mich zum Sofa; er selbst setzte sichauf dieses, während er mich auf einen Lehnstuhl ihm gerade gegenüber nötigte. Ohne meine Händeloszulassen, sagte er dann mit zitternden Lippen und unter Tränen, die plötzlich an seinen Wimpernglitzerten, in flehendem Ton zu mir:

»Alexej Iwanowitsch, retten Sie mich, retten Sie mich, haben Sie Erbarmen mit mir!«

Ich begriff lange Zeit nicht, was er eigentlich wollte; er redete und redete immerzu und wiederholtefortwährend: »Haben Sie Erbarmen mit mir, haben Sie Erbarmen mit mir!« Endlich glaubte ich zu

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erraten, daß er von mir so etwas wie einen Rat erwartete, oder richtiger, daß er, von allen verlassen,in seiner Aufregung und Unruhe sich meiner erinnert und mich hatte rufen lassen, lediglich um reden,reden, reden zu können.

Er war verrückt geworden oder hatte wenigstens im höchsten Grade die Fassung verloren. Er faltetedie Hände und war nahe daran, vor mir auf die Knie zu fallen, um mich zu bitten, ich möchte (sollteman es für möglich halten?) sogleich zu Mademoiselle Blanche gehen und sie durch Bitten undVorstellungen dazu bewegen, zu ihm zurückzukehren und ihn zu heiraten.

»Aber ich bitte Sie, General«, rief ich, »Mademoiselle Blanche hat mich bis jetzt vielleicht überhauptnoch nicht bemerkt! Was kann ich in dieser Sache tun?«

Aber alle Erwiderungen waren nutzlos; er verstand gar nicht, was ich sagte. Auch über die Tantebegann er zu reden, aber in einer schrecklich unsinnigen Weise; er konnte immer noch nicht von demGedanken loskommen, daß man gut tue, nach der Polizei zu schicken.

»Bei uns, bei uns«, fing er an und kochte auf einmal vor Wut, »mit einem Wort, bei uns in einemwohlgeordneten Staat, in dem es eine Obrigkeit gibt, würde man solche alten Weiber sofort unterVormundschaft stellen! Jawohl, mein Herr, jawohl«, fuhr er fort, indem er plötzlich in einenscheltenden Ton überging, von seinem Platz aufsprang und im Zimmer hin und her ging. »Das habenSie wohl noch nicht gewußt, mein Herr«, wandte er sich an einen Herrn, den er sich in der Eckevorstellte; »nun, dann mögen Sie es jetzt lernen ... jawohl ... bei uns werden solche alten Weibereingesperrt, eingesperrt, eingesperrt, jawohl... Ach, hol alles der Teufel!«

Er warf sich wieder auf das Sofa; aber einen Augenblick darauf begann er, beinahe schluchzend undnur mühsam atmend, mir in eiliger Rede zu erzählen, Mademoiselle Blanche wolle ihn deswegennicht heiraten, weil statt eines Telegramms die Tante selbst angekommen sei und er nun offenbar dieErbschaft nicht bekommen werde. Er hatte die Vorstellung, ich wüßte von alledem noch nichts. Ichwollte von de Grieux zu reden anfangen; aber er winkte geringschätzig ab: »Der ist abgereist! Alles,was ich besitze, ist ihm verpfändet; ich bin arm wie eine Kirchenmaus! Das Geld, das Sie mir geholthaben ... dieses Geld ... ich weiß nicht, wieviel davon noch da ist, es mögen wohl noch siebenhundertFranc und ein bißchen übrig sein... das ist alles... aber dann... das weiß ich nicht, das weiß ich nicht...!«

»Wie werden Sie denn die Hotelrechnung bezahlen?« rief ich erschrocken. »Und ... was soll dannweiter werden?« Er sah aus, als dächte er angestrengt nach, schien aber das, was ich gesagt hatte,nicht verstanden und vielleicht überhaupt nicht gehört zu haben. Ich machte einen Versuch, von PolinaAlexandrowna und den Kindern zu reden; aber er antwortete nur hastig: »Ja, ja!« und fing sogleichwieder an von dem Fürsten zu sprechen, und daß Blanche nun mit diesem davongehen werde. »Unddann ... und dann ... was soll ich dann anfangen, Alexej Iwanowitsch?« wandte er sich plötzlich zumir. »Ich bitte Sie um Gottes willen! Was soll ich dann anfangen? Sagen Sie, das ist doch bittererUndank! Das ist doch bitterer Undank!«

Er weinte, daß ihm die Tränen nur so über die Backen liefen.

Mit einem solchen Menschen war nichts zu machen; aber ihn allein zu lassen war gleichfallsgefährlich; es konnte womöglich etwas mit ihm passieren. Indessen machte ich mich doch von ihmlos, so gut es ging, wies aber die Kinderfrau an, möglichst oft nach ihm zu sehen, und sprach

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außerdem mit dem Kellner, einem sehr verständigen jungen Menschen; dieser versprach mir,seinerseits ebenfalls ein Auge auf den General zu haben.

Kaum hatte ich den General verlassen, als Potapytsch zu mir kam und mich zur Tante rief. Es war achtUhr, und sie war eben erst nach dem vollständigen Verlust ihres Geldes aus dem Kurhauszurückgekommen. Ich begab mich zu ihr; die Alte saß auf ihrem Lehnstuhl, ganz erschöpft undoffenbar krank. Marfa reichte ihr eine Tasse Tee und nötigte sie fast mit Gewalt, ihn auszutrinken.Ihre Stimme und der ganze Ton, in dem sie sprach, hatten sich gegen früher in auffälliger Weiseverändert.

»Guten Abend, lieber Alexej Iwanowitsch«, sagte sie und neigte langsam und würdevoll den Kopf.»Entschuldige, daß ich dich noch einmal belästigt habe; verzeihe einer allen Frau! Ich habe alles dortgelassen, lieber Freund, fast hunderttausend Rubel. Du hattest recht, daß du gestern nicht mit mirmitkamst. Jetzt bin ich ganz ohne Geld; nicht einen Groschen habe ich. Ich will keine Minute längerhierbleiben, als nötig ist; um halb zehn fahre ich ab. Ich habe zu deinem Engländer, diesem MisterAstley, geschickt und will ihn bitten, mir dreitausend Franc auf eine Woche zu leihen. Setze ihm dieSache auseinander, damit er nicht etwa Schlimmes denkt und es mir abschlägt. Ich bin noch reichgenug, lieber Freund. Ich habe drei Dörfer und zwei Häuser. Und auch Geld wird sich noch finden;ich habe nicht alles mit auf die Reise genommen. Ich sage das, damit er nicht mißtrauisch wird ... Ah,da ist er ja selbst! Man sieht doch gleich, was ein guter Mensch ist.«

Mister Astley war, sowie man ihm die Bitte der Tante überbracht hatte, unverzüglich herbeigeeilt.Ohne sich irgendwie zu besinnen oder ein Wort zuviel zu sagen, zahlte er ihr sofort dreitausend Francauf einen Wechsel aus, den die Tante unterschrieb. Nach Erledigung dieser Angelegenheit empfahl ersich und ging eilig wieder fort.

»Und nun geh auch du, Alexej Iwanowitsch! Ich habe noch etwas über eine Stunde Zeit; da will ichmich noch ein bißchen hinlegen; die Knochen tun mir weh. Geh mit mir alten Närrin nicht zu streng insGericht! Jetzt werde ich junge Leute nicht mehr wegen ihres Leichtsinns schelten, und auch demunglücklichen Menschen, eurem General, habe ich kein Recht mehr Vorwürfe zu machen. Geld werdeich ihm aber trotzdem nicht geben, wie er es gern möchte; denn er ist nach meiner Ansicht doch einbißchen gar zu dumm; nur daß ich alte Närrin nicht klüger bin als er. Ja, das ist offenbar: Gott suchteinen auch im Alter heim und bestraft uns für unsern Hochmut. Na, dann leb wohl! Marfa, hebe michauf!«

Ich wollte sie aber gern noch auf die Bahn begleiten. Außerdem befand ich mich in einem Zustandunruhiger Spannung; ich erwartete immer, daß sich im nächsten Augenblick etwas ereignen werde. Eswar mir unmöglich, auf meinem Zimmer zu bleiben. Ich ging auf den Korridor hinaus, ja ich verließsogar für kurze Zeit das Haus und ging in der Allee auf und ab. Mein Brief an Polina war, wie ich mirsagte, deutlich und energisch gewesen, und die jetzige Katastrophe war offenbar endgültig. Im Hotelhatte ich von de Grieux' Abreise gehört. Schließlich, wenn Polina mich auch als Freund verschmähte,vielleicht duldete sie mich als ihren Diener. Sie konnte mich ja gebrauchen, wenn auch nur zu allerleiBesorgungen, und ich konnte ihr gute Dienste leisten, sicherlich, sicherlich!

Zum Abgang des Zuges ging ich nach dem Bahnhof und war der Tante beim Einsteigen behilflich. Siehatte mit ihrer Begleitung ein besonderes Abteil genommen.

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»Ich danke dir, lieber Freund, für deine uneigennützige Teilnahme«, sagte sie beim Abschied zu mir.»Und erinnere Praskowja an das, worüber ich gestern mit ihr gesprochen habe; ich werde sieerwarten.«

Ich ging nach Hause. Als ich an dem Logis des Generals vorbeikam, begegnete ich der Kinderfrau underkundigte mich nach dem General. »Es geht ihm ja ganz leidlich«, antwortete sie trübe. Ich wollteindessen doch zu ihm gehen; aber an der ein wenig geöffneten Tür seines Zimmers blieb ich starr vorStaunen stehen. Mademoiselle Blanche und der General lachten über irgend etwas um die Wette. Dieveuve Cominges war auch dort und saß auf dem Sofa. Der General war offenbar ganz sinnlos vorFreude, schwatzte allen möglichen Unsinn und brach fortwährend in ein nervöses, langdauerndesLachen aus, bei dem sich auf seinem Gesicht un-zählige kleine Fältchen bildeten und die Augen ganzverschwanden. Später habe ich den Hergang von Blanche selbst erfahren: Als sie dem Fürsten denLaufpaß gegeben hatte und von dem jämmerlichen Zustand des Generals hörte, hatte sie den Einfallgehabt, ihn zu trösten, und war auf ein Augenblickchen zu ihm gegangen. Aber der arme Generalwußte nicht, daß in diesem Augenblick sein Schicksal bereits entschieden war und MademoiselleBlanche schon angefangen hatte, ihre Sachen zu packen, um am ändern Tag mit dem ersten Morgenzugnach Paris davonzurattern.

Nachdem ich ein Weilchen auf der Schwelle des Zimmers gestanden hatte, entschied ich mich dafür,lieber nicht einzutreten, und ging unbemerkt wieder weg. Als ich zu meinem Zimmer kam und die Türöffnete, bemerkte ich auf einmal im Halbdunkel eine Gestalt, die auf einem Stuhl in der Ecke amFenster saß. Sie erhob sich bei meinem Erscheinen nicht. Ich trat schnell an sie heran, sah genauerhin, und der Atem stockte mir: es war Polina!

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Vierzehntes Kapitel

Ich konnte einen Schrei des Erstaunens nicht unterdrücken.

»Was ist denn? Was ist denn?« fragte sie seltsamerweise. Sie war blaß und hatte ein finsteresGesicht.

»Wie können Sie so fragen! Sie hier? Hier bei mir?«

»Wenn ich komme, so komme ich auch ganz. Das ist meine Gewohnheit. Sie werden das sogleichselbst sehen. Machen Sie Licht!«

Ich zündete eine Kerze an. Sie stand auf, trat an den Tisch und legte einen geöffneten Brief vor michhin.

»Lesen Sie!« befahl sie.

»Das ist ... das ist de Grieux' Handschrift!« rief ich, sobald ich den Brief in die Hand genommenhatte. Die Hände zitterten mir, und die Buchstaben tanzten vor meinen Augen. Ich habe den genauerenWortlaut des Briefes vergessen; aber hier ist sein Inhalt, wenn auch nicht Wort für Wort, so dochnach der Reihenfolge der Gedanken.

»Mademoiselle«, schrieb de Grieux, »unangenehme Umstände zwingen mich zu sofortiger Abreise.Sie haben gewiß selbst bemerkt, daß ich eine endgültige Aussprache mit Ihnen absichtlich vermied,ehe sich nicht die ganze Lage geklärt haben würde. Die Ankunft Ihrer alten Verwandtin (de la vieilledame) und deren unsinniges Benehmen haben all meinen Zweifeln ein Ende gemacht. Die Zerrüttungmeiner eigenen Vermögensverhältnisse verbietet es mir kategorisch, jene süßen Hoffnungen länger zuhegen, an denen ich mich eine Zeitlang so gern berauschte. Ich bedauere das Zurückliegende; aber ichhoffe, daß Sie in meinem Verhalten nichts finden werden, was eines Edelmannes und eines Mannesvon Ehre (gentilhomme et honnête homme) unwürdig wäre. Da ich fast mein ganzes Geld IhremStiefvater geliehen habe und jetzt fürchten muß, es zu verlieren, so sehe ich mich gezwungen, auf dieverbliebenen Vermögensstücke die Hand zu legen; ich habe daher bereits meine Freunde inPetersburg angewiesen, den Verkauf der mir verpfändeten Besitztümer ungesäumt in die Wege zuleiten. Da ich aber weiß, daß Ihr leichtsinniger Stiefvater auch Ihr eigenes Geld vergeudet hat, sohabe ich mich entschlossen, ihm fünfzigtausend Franc zu erlassen, und gebe ihm einige seinerPfandverschreibungen in diesem Betrag zurück, so daß Sie jetzt in den Stand gesetzt sind, alles, wasSie verloren haben, wieder einzubringen, wenn Sie Ihr Eigentum von ihm auf gerichtlichem Wegezurückfordern. Ich hoffe, Mademoiselle, daß bei dem jetzigen Stand der Dinge mein Verfahren lür Siesehr vorteilhaft sein wird. Und weiter hoffe ich, daß ich durch dieses Verfahren die Pflicht einesanständigen, ehrenhaften Mannes in vollem Maße erfülle. Seien Sie versichert, daß mein Herz dieErinnerung an Sie mein ganzes Leben lang bewahren wird.«

»Nun, das ist ja alles deutlich«, sagte ich, mich zu Polina wendend. »Haben Sie denn auch etwasanderes erwarten können?« fügte ich ingrimmig hinzu.

»Ich habe nichts erwartet«, antwortete sie anscheinend ruhig, aber ihre Stimme klang doch, als ob esin ihrem Innern zuckte, »ich hatte schon längst meinen Entschluß gefaßt; ich las ihm seine Gedankenvom Gesicht ab und wußte, was er glaubte. Er glaubte, mein Streben ginge danach ... ich würde

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darauf bestehen ...« Sie stockte, biß sich, ohne den Satz zu Ende zu bringen, auf die Lippe undschwieg. »Ich habe ihm absichtlich in verstärktem Maße meine Verachtung bezeigt«, begann sie dannwieder; »ich wartete, wie er sich wohl benehmen werde. Wäre das Telegramm über die Erbschaftgekommen, so hätte ich ihm das Geld, das ihm dieser Idiot (der Stiefvater) schuldet, hingeworfen undihn weggejagt! Er war mir schon lange, schon lange verhaßt. Oh, er war früher ein anderer, ein ganz,ganz anderer; aber jetzt, aber jetzt ...! Oh, mit was für einem Wonnegefühl würde ich ihm jetzt diefünfzigtausend Franc in sein gemeines Gesicht schleudern und ihn anspeien ...«

»Aber dieses Schriftstück, diese von ihm zurückgegebene Pfandverschreibung im Betrag vonfünfzigtausend Franc, hat doch wohl der General jetzt in Händen? So lassen Sie sie sich doch von ihmgeben, und stellen Sie sie diesem de Grieux wieder zu!«

»Nein, nein, das geht nicht, das geht nicht!«

»Sie haben recht, Sie haben recht, das geht nicht. Der General ist ja auch jetzt zu allem unfähig. Aberwie ist's mit der Tante?« rief ich plötzlich.

Polina sah mich zerstreut und ungeduldig an.

»Was soll dabei die Tante?« fragte sie ärgerlich. »Ich kann nicht zu ihr gehen ... Und ich mag auchniemanden um Verzeihung bitten«, lugte sie gereizt hinzu.

»Was ist dann zu machen?« rief ich. »Aber wie, wie in aller Welt war es nur möglich, daß Sie einenMenschen wie diesen de Grieux liebten! O der Schurke, der Schurke! Wenn Sie wollen, werde ichihn im Duell töten! Wo ist er jetzt?«

»Er ist in Frankfurt und wird da drei Tage bleiben.«

»Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, so fahre ich hin, morgen, mit dem ersten Zug!« erbot ich mich ineiner Art von törichtem Enthusiasmus. Sie lachte auf.

»Nun ja, er wird dann vielleicht gar noch sagen: >Geben Sie mir zuerst die fünfzigtausend Francwieder!< Und was hätte er für Anlaß sich zu schlagen? ... Das ist ja Unsinn!«

»Aber wo, wo sollen wir denn diese fünfzigtausend Franc hernehmen?« rief ich zähneknirschend.»Von der Erde können wir sie nicht so ohne weiteres aufheben! Hören Sie mal: Mister Astley?« sagteich in fragendem Ton zur ihr, da sich eine seltsame Idee in meinem Gehirn zu bilden begann. IhreAugen fingen an zu funkeln.

»Wie? Du selbst verlangst, daß ich von dir zu diesem Engländer gehe?« sagte sie, indem sie mir miteinem durchdringenden Blick ins Gesicht sah und bitter lächelte. Es war das erstemal im Leben, daßsie zu mir du sagte.

Es schien sie in diesem Augenblick infolge der starken Aufregung ein Schwindel zu überkommen, undsie setzte sich schnell auf das Sofa, wie wenn ihr schwach würde.

Mir war, als hätte mich ein Blitz getroffen; ich stand da und traute meinen Augen nicht, traute meinenOhren nicht! Also ... also sie liebte mich! Zu mir war sie gekommen, nicht zu Mister Astley! Sie, einjunges Mädchen, kam ganz allein zu mir auf mein Zimmer, in einem Hotel, kompromittierte sich alsovor allen Leuten – und ich, ich stand vor ihr und begriff noch immer nicht!

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Ein toller Gedanke blitzte in meinem Kopfe auf.

»Polina, gib mir nur eine einzige Stunde Zeit! Warte hier nur eine Stunde, und ... ich komme wieder!Das ... das ist notwendig! Du wirst sehen! Bleib hier, bleib hier!«

Mit diesen Worten lief ich aus dem Zimmer, ohne auf ihren verwunderten, fragenden Blick zuantworten; sie rief mir etwas nach, aber ich wandte mich nicht mehr um.

Ja, mitunter setzt sich ein ganz toller, anscheinend ganz unmöglicher Gedanke derartig im Kopf fest,daß man ihn schließlich für etwas Wirkliches hält. Und noch mehr: wenn eine solche Idee mit einemstarken, leidenschaftlichen Wunsch verbunden ist, so betrachtet man sie manchmal am Ende sogar alsetwas vom Schicksal Verhängtes, Unvermeidliches, Vorherbestimmtes, als etwas, was sich gar nichtanders zutragen kann! Es mag sein, daß dabei noch irgend etwas anderes mitwirkt, eine Kombinationvon Ahnungen, eine außerordentliche Anspannung der Willenskraft, eine Selbstvergiftung durch dieeigene Phantasie oder sonst noch etwas – ich weiß es nicht; aber mir begegnete an diesem Abend, denich in meinem ganzen Leben nie vergessen werde, ein ganz wundersames Erlebnis. Obgleich es sichdurch die Regeln der Arithmetik vollständig erklären läßt, bleibt es dennoch für mich bis auf diesenTag ein Wunder. Und woher kam es, woher kam es, daß diese Überzeugung damals in mir so tief, sofest wurzelte, und zwar schon seit so langer Zeit? Ich wiederhole es: Ich betrachtete das von mirerwartete Ereignis nicht als einen Zufall, der unter der ganzen Menge der übrigen Zufälle eintretenkonnte oder somit auch ausbleiben konnte, sondern als etwas, was mit unbedingter Notwendigkeitgeschehen mußte.

Es war ein Viertel auf elf. Ich ging nach dem Kurhaus in einer so festen Hoffnung und zugleich ineiner so starken Aufregung, wie ich sie noch nie empfunden hatte. In den Spielsälen befanden sichnoch ziemlich viel Menschen, wiewohl nur etwa halb so viel wie am Vormittag.

Nach zehn Uhr bleiben an den Spieltischen nur die echten, passionierten Spieler zurück, für die anden Kurorten nichts weiter existiert als das Roulett, die nur um deswillen hingekommen sind, diekaum bemerken, was um sie herum vorgeht, sich während der ganzen Saison für weiter nichtsinteressieren, sondern nur vom Morgen bis in die Nacht hinein spielen und womöglich auch noch dieganze Nacht über bis zum Morgengrauen würden spielen wollen, wenn es gestattet wäre. Nur ungernund unwillig gehen sie allabendlich weg, wenn um zwölf Uhr das Roulett geschlossen wird. Undwenn der Obercroupier vor dem Schluß des Roulett gegen Mitternacht ruft: »Les trois derniers coups,messieurs!« so setzen sie mitunter bei diesen drei letzten Malen alles, was sie in der Tasche haben,und pflegen tatsächlich gerade dann am meisten zu verlieren. Ich ging zu demselben Tisch, an demkurz vorher die Tante gesessen hatte. Es war kein übermäßiges Gedränge, so daß ich sehr bald einenStehplatz erlangte. Gerade vor mir stand auf dem grünen Tuche das Wort passe geschrieben.

Passe, das bedeutet die Gruppe der Zahlen von neunzehn bis sechsunddreißig. Die erste Gruppe, voneins bis achtzehn, heißt manque; aber was kümmerte mich das? Ich rechnete nicht: ich hatte nichteinmal gehört, welche Zahl zuletzt herausgekommen war, und erkundigte mich auch nicht danach, alsich zu spielen begann, wie es doch jeder auch nur ein wenig rechnende Spieler getan hätte. Ich zogalle meine zwanzig Friedrichsdor aus der Tasche und warf sie auf das vor mir stehende passe.

»Vingt-deux!« rief der Croupier.

Ich hatte gewonnen – und setzte wieder alles: was ich gehabt hatte, und was hinzugekommen war.

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»Trente et un«, ertönte die Stimme des Croupiers.

Ein neuer Gewinn. Im ganzen besaß ich jetzt also achtzig Friedrichsdor. Ich schob sie alle achtzig aufdie Gruppe der zwölf mittleren Zahlen (man erhält zu seinem Einsatz das Doppelte als Gewinn hinzu,hat aber zwei Chancen gegen sich und nur eine für sich); das Rad drehte sich, und es kamVierundzwanzig. Man legte mir drei Rollen mit je fünfzig Friedrichsdor und zehn einzelne Goldstückehin; mit dem Früheren zusammen hatte ich jetzt zweihundertvierzig Friedrichsdor.

Ich war wie im Fieber und schob diesen ganzen Haufen Geld auf Rot – und nun kam ich plötzlich zurBesinnung! Nur dieses einzige Mal im Laufe des ganzen Abends, während meines ganzen Spiels,geschah es, daß mir vor Angst ein kalter Schauder über den Rücken lief und mir die Arme und Beinezitterten. Mit Schrecken erkannte und fühlte ich für einen Moment, was es für mich bedeutete, wennich jetzt verlor! Mit diesem Einsatz stand mein ganzes Leben auf dem Spiel!

»Rouge!« rief der Croupier – und ich atmete tief auf; ein feuriges Kribbeln ging über meinen ganzenLeib. Die Auszahlung an mich erfolgte in Banknoten; im ganzen hatte ich also jetzt viertausend Guldenund achtzig Friedrichsdor. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch imstande, die einzelnen Rechenexempelauszuführen.

Ich erinnere mich, daß ich dann zweitausend Gulden auf die zwölf mittleren Zahlen setzte und sieverlor; ich setzte mein ganzes Gold, die achtzig Friedrichsdor, und verlor es. Da packte mich dieWut: ich nahm die letzten mir verbliebenen zweitausend Gulden und setzte sie auf die zwölf erstenZahlen – gedankenlos, aufs Geratewohl, wie es sich gerade traf, ohne jede Berechnung! Aber es tratdoch für mich ein Augenblick der Erwartung ein, in welchem meine Empfindung eine gewisseÄhnlichkeit gehabt haben mag mit der Empfindung der Madame Blanchard, als sie in Paris vomLuftballon herabfiel und auf die Erde zustürzte.

»Quatre!« rief der Croupier.

Nun hatte ich mit dem Einsatz wieder sechstausend Gulden. Jetzt fühlte ich mich bereits als Sieger;ich fürchtete nichts, schlechterdings nichts mehr und warf viertausend Gulden auf Schwarz. EinDutzend Spieler beeilte sich, meinem Beispiel folgend, gleichfalls auf Schwarz zu setzen. DieCroupiers warfen sich wechselseitig Blicke zu und besprachen sich miteinander. Die Umstehendenredeten von diesem Einsatz und warteten gespannt auf den Ausgang.

Es kam Schwarz. Von da an besinne ich mich weder auf die Höhe noch auf die Reihenfolge meinerEinsätze. Ich habe nur eine traumhafte Erinnerung, daß ich schon stark gewonnen hatte, etwassechzehntauscnd Gulden, und auf einmal, durch drei unglückliche Spiele, zwölftausend davon wiedereinbüßte; dann schob ich die übrigen viertausend auf passe (aber jetzt hatte ich dabei fast gar keinebesondere Empfindung mehr; ich wartete nur sozusagen mechanisch, ohne Gedanken) und gewannwieder; darauf gewann ich noch viermal hintereinander. Ich erinnere mich nur, daß ich das Geld zuTausenden einheimste; auch besinne ich mich, daß besonders häufig die zwölf mittleren Zahlenherauskamen, an denen ich daher auch vorzugsweise festhielt. Sie erschienen mit einer gewissenRegelmäßigkeit unfehlbar drei-, viermal hintereinander; dann verschwanden sie für zweimal undkehrten darauf wieder für drei-oder viermal nacheinander zurück. Diese wunderbare Regelmäßigkeitkommt mitunter sozusagen strichweise vor – und das ist es gerade, was die eingefleischten Spieleraus dem Konzept bringt, die mit dem Bleistift in der Hand rechnen. Und mit welchem schrecklichen

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Hohn und Spott behandelt das Schicksal hier nicht selten die Spieler!

Ich glaube, es war seit meiner Ankunft nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen, da benachrichtigtemich der Croupier, ich hätte dreißigtausend Gulden gewonnen, und da die Bank bei so hohemeinmaligen Verlust zur Fortsetzung des Spieles nicht verpflichtet sei, so werde das Roulett bismorgen früh geschlossen. Ich nahm all mein Gold und schüttete es mir in die Taschen; ich nahm auchalle meine Banknoten und ging an einen anderen Tisch hinüber, in einen anderen Saal, wo sich einanderes Roulett befand; hinter mir her strömte der ganze Spielerschwarm dorthin. Hier wurdesogleich für mich ein Platz freigemacht, und ich begann wieder zu setzen, blindlings und ohne zuüberlegen. Ich begreife nicht, was mich rettete!

Mitunter huschte mir allerdings der Gedanke durch den Kopf, ich müsse doch mit Berechnung setzen.Ich hielt mich dann eine Weile an bestimmte Zahlen und bestimmte andere Arten des Einsatzes, hörtedamit aber bald wieder auf und setzte von neuem fast ohne Bewußtsein. Ich mußte wohl sehr zerstreutsein; denn ich erinnere mich, daß die Croupiers mein Spiel mehrfach korrigierten. Ich beging grobeFehler. Meine Schläfen waren feucht von Schweiß, und die Hände zitterten mir. Auch die Polenwollten sich mir mit ihren Diensten aufdrängen; aber ich hatte für niemand Ohren. Das Glück bliebmir fortwährend treu! Auf einmal erhob sich um mich herum Stimmengeschwirr und Lachen. »Bravo,bravo!« riefen alle, und manche klatschten sogar in die Hände. Ich hatte auch hier dreißigtausendGulden erbeutet, und auch diese Bank wurde bis zum nächsten Tag geschlossen.

»Gehen Sie fort, gehen Sie fort!« flüsterte mir eine Stimme von rechts zu.

Es war ein Frankfurter Jude; er halle die ganze Zeit über neben mir gestanden und mir wohlmanchmal beim Spiel geholfen.

»Um Gottes willen, gehen Sie fort!« flüsterte eine andere Stimme an meinem linken Ohr.

Ich blickte flüchtig hin. Es war eine sehr bescheiden und anständig gekleidete Dame von etwa dreißigjahren, mit einem krankhaft blassen, müden Gesicht, das aber doch noch ihre frühere wundervolleSchönheit erkennen ließ. Ich stopfte mir in diesem Augenblick gerade die Taschen mit Banknotenvoll, die ich achtlos zerknitterte, und suchte das auf dem Tisch liegende Gold zusammen. Als ich dieletzte Rolle mit fünfzig Friedrichsdor gefaßt hatte, gelang es mir, sie der blassen Dame ganzunbemerkt in die Hand zu schieben; ich hatte einen unwiderstehlichen Drang gefühlt, dies zu tun, undich erinnere mich, daß ihre schlanken, mageren Finger sich in festem Druck um meine Hand legten,zum Zeichen tief empfundener Dankbarkeit. All das geschah in einem Augenblick.

Nachdem ich all mein Geld zusammengerafft hatte, begab ich mich zum Trente-et-quarante.

Beim Trente-et-quarante sitzt ein aristokratisches Publikum. Dies ist kein Roulett, sondern einKartenspiel. Hier muß die Bank für Gewinne bis zu hunderttausend Talern aufkommen. Der größteEinsatz beträgt gleichfalls viertausend Gulden. Ich verstand von dem Spiel gar nichts und kannte kaumeine der möglichen Arten von Einsätzen, nämlich nur Rot und Schwarz, die es hier ebenfalls gab. Andiese Farben hielt ich mich also. Das gesamte Spielerpublikum drängte sich um mich herum. Icherinnere mich nicht, ob ich die ganze Zeit über auch nur ein einziges Mal an Polina dachte. Es machtemir damals ein unsägliches Vergnügen, immer mehr Banknoten zu fassen und an mich heranzuziehen;sie wuchsen vor mir zu einem ansehnlichen Haufen an.

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Es war tatsächlich, als stieße mich das Schicksal immer weiter vorwärts. Wie wenn es gerade aufmich abgesehen wäre, begab sich diesmal etwas, was sich übrigens bei diesem Spiel ziemlich oftwiederholt. Das Glück heftet sich zum Beispiel an Rot und bleibt bei dieser Farbe zehn-, selbstfünfzehnmal. Ich hatte erst vor zwei Tagen gehört, daß Rot in der vorigen Wochenzweiundzwanzigmal hintereinander gekommen sei; beim Roulett weiß sich an dergleichen niemand zuerinnern, und man erzählte es sich mit Erstaunen. Selbstverständlich wenden sich alle Spieler sofortvon Rot ab, und zum Beispiel schon nach zehn Malen wagt fast niemand mehr auf diese Farbe zusetzen. Aber auch auf Schwarz, das Gegenstück von Rot, setzt dann kein routinierter Spieler. Derroutinierte Spieler weiß, was es mit diesem »Eigensinn des Schicksals« auf sich hat. Man könnte jazum Beispiel glauben, daß nach sechzehnmal Rot nun beim siebzehnten Male sicher Schwarz kommenwerde. Auf diese Farbe stürzen sich daher die Neulinge scharenweis, verdoppeln und verdreifachenihre Einsätze und verlieren in schrecklicher Weise.

Ich machte es anders. Als ich bemerkte, daß Rot siebenmal hintereinander gekommen war, hielt ich insonderbarem Eigensinn mich absichtlich gerade an diese Farbe. Ich bin überzeugt, daß das zunächstdie Wirkung eines gewissen Ehrgeizes war; ich wollte die Zuschauer durch meine sinnlosenWagestücke in Staunen versetzen. Dann aber (es war eine seltsame Empfindung, deren ich michdeutlich erinnere) ergriff mich auf einmal wirklich, ohne jede weitere Reizung von seiten desEhrgeizes, ein gewaltiger Wagemut. Vielleicht wird die Seele, die so viele Empfindungendurchmacht, von diesen nicht gesättigt, sondern nur gereizt und verlangt nach neuen, immer stärkerenund stärkeren Empfindungen bis zur vollständigen Erschöpfung. Und (ich lüge wirklich nicht) wenn esnach dem Spielreglement gestattet wäre, fünfzigtausend Gulden mit einem Male zu setzen, so hätte ichsie sicherlich gesetzt. Als die Umstehenden mich fortdauernd auf Rot setzen sahen, riefen sie, das seisinnlos; Rot sei schon vierzehnmal gekommen!

»Monsieur a gagné déjà cent mille florins«, hörte ich jemand neben mir sagen.

Auf einmal kam ich zur Besinnung. Wie? Ich hatte an diesem Abend hunderttausend Guldengewonnen? Wozu brauchte ich noch mehr? Ich griff nach den Banknoten, stopfte sie in die Tasche,ohne sie zu zählen, raffte all mein Gold, Rollen und einzelne Münzen, zusammen und lief aus demSaal. Um mich herum lachten alle, als ich durch die Säle ging, beim Anblick meiner abstehendenTaschen und meines von der Last des Goldes unsicheren Ganges. Ich glaube, es waren weit über achtKilo. Mehrere Hände streckten sich mir entgegen; ich gab reichlich, soviel ich gerade zu fassenbekam. Zwei Juden hielten mich am Ausgang an.

»Sie sind kühn, sehr kühn!« sagten sie zu mir. »Aber fahren Sie unter allen Umständen morgen frühweg, so früh wie möglich; sonst werden Sie alles wieder verlieren, alles ...«

Ich hörte nicht weiter auf sie. Die Allee war so dunkel, daß man nicht die Hand vor den Augen sehenkonnte. Bis zum Hotel waren es ungefähr neunhundert Schritte. Ich hatte mich nie vor Dieben oderRäubern gefürchtet, selbst nicht als kleiner Knabe; auch jetzt dachte ich an so etwas nicht. Icherinnere mich übrigens nicht, woran ich denn eigentlich unterwegs dachte; wirkliche Gedanken warenes nicht. Ich empfand nur eine gewaltige Freude – über das Gelingen meines Planes, über den Sieg,über die erlangte Macht – ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Auch Polinas Bild tauchtevor meinem geistigen Blick auf; es kam mir die Erinnerung und das Bewußtsein, daß ich auf dem Wegzu ihr sei, in wenigen Augenblicken bei ihr sein, ihr alles erzählen, ihr das Geld zeigen würde ...

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Aber ich konnte mich kaum mehr besinnen, was sie mir eigentlich vorhin gesagt hatte, und warum ichweggegangen war, und alle die Empfindungen, die mich noch vor anderthalb Stunden so stark bewegthatten, erschienen mir jetzt bereits als etwas längst Vergangenes, Abgetanes, Veraltetes, als etwas,woran wir nun nicht mehr denken würden, weil jetzt alles einen neuen Anfang nehmen werde. Ich warschon fast am Ende der Allee, als mich plötzlich eine Angst überkam: »Wenn ich nun jetzt ermordetund beraubt werde!« Diese Angst wurde mit jedem Schritt ärger. Ich lief fast. Auf einmal stand, alsich am Ende der Allee angelangt war, unser Hotel mit all seinen erleuchteten Fenstern vor mir – Gottsei Dank, ich war zu Hause!

Ich lief nach meiner Etage hinauf und öffnete schnell die Tür zu meinem Zimmer. Polina war da undsaß mit verschränkten Armen bei der brennenden Kerze auf meinem Sofa. Erstaunt musterte sie mich,und allerdings mochte ich in diesem Augenblick einen seltsamen Anblick bieten. Ich blieb vor ihrstehen, holte mein ganzes Geld hervor und warf es in einem Haufen auf den Tisch.

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Fünfzehntes Kapitel

Ich erinnere mich, daß sie mir ganz starr ins Gesicht blickte, aber ohne sich vom Platz zu rühren undohne auch nur ihre Körperhaltung zu ändern. »Ich habe zweihunderttausend Franc gewonnen!« riefich, indem ich die letzte Goldrolle aus der Tasche zog und hinwarf.

Der gewaltige Haufe von Banknoten und Goldrollen bedeckte den ganzen Tisch; ich vermochte meineAugen nicht mehr von ihm abzuwenden; in einzelnen Augenblicken hatte ich Polinas Anwesenheitvöllig vergessen. Bald begann ich diese Haufen von Banknoten in Ordnung zu bringen undzusammenzupacken, das Gold zu einem einzigen Haufen zusammenzuschieben; bald ließ ich allesstehn und liegen und ging in Gedanken versunken mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab; danntrat ich plötzlich wieder an den Tisch und fing wieder an, das Geld zu zählen. Auf einmal stürzte ich,wie von einem plötzlichen Einfall erfaßt, nach der Tür und schloß sie schnell zu, wobei ich denSchlüssel zweimal umdrehte. Darauf blieb ich, da mir wieder ein neuer Gedanke gekommen war, vormeinem kleinen Koffer stehen.

»Soll ich es nicht bis morgen in den Koffer legen?« fragte ich Polina; ich hatte mich erinnert, daß sieda war, und wandte mich nun hastig zu ihr.

Sie saß immer noch auf demselben Fleck da, ohne sich zu rühren, folgte aber unablässig mit denAugen meinen Bewegungen. Auf ihrem Gesicht lag ein eigenartiger Ausdruck, ein Ausdruck, der mirnicht gefiel! Ich irre mich nicht, wenn ich sage, daß es ein Ausdruck des Hasses war.

Ich trat schnell zu ihr hin.

»Polina, hier sind fünfundzwanzigtausend Gulden; das sind fünfzigtausend Franc, sogar mehr. NehmenSie sie, und werfen Sie sie ihm morgen ins Gesicht!«

Sie gab mir keine Antwort.

»Wenn Sie wollen, werde ich sie ihm selbst hinbringen, morgen früh. Ja?«

Sie lachte auf. Dieses Lachen dauerte lange.

Erstaunt und gekränkt sah ich sie an. Dieses Lachen hatte die größte Ähnlichkeit mit jenem spöttischenGelächter über mich, in das sie in letzter Zeit häufig ausgebrochen war, und zwar immer gerade,wenn ich ihr in leidenschaftlicher Weise meine Liebe erklärt hatte. Endlich hörte sie auf und machtenun ein finsteres Gesicht; unter der gesenkten Stirn hervor warf sie mir einen ärgerlichen Blick zu.

»Ich nehme Ihr Geld nicht«, sagte sie verächtlich.

»Wie? Was bedeutet das?« rief ich. »Warum nicht, Polina?«

»Ich lasse mir kein Geld schenken.«

»Ich biete es Ihnen als Freund an; ich biete Ihnen mein Leben an.«

Sie betrachtete mich mit einem langen, prüfenden Blick, als wollte sie mich durch und durch sehen.

»Sie geben einen zu hohen Preis«, sagte sie lächelnd. »De Grieux' Geliebte ist nicht fünfzigtausendFranc wert.«

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»Polina, wie können Sie so zu mir reden!« rief ich vorwurfsvoll. »Bin ich denn ein de Grieux?«

»Ich hasse Sie! Ja ... ja ... Ich liebe Sie nicht mehr als de Grieux!« rief sie, und ihre Augen funkeltenzornig auf. In diesem Augenblick schlug sie plötzlich die Hände vor das Gesicht und brach in einkrampfhaftes Weinen aus. Ich stürzte zu ihr hin.

Es mußte während meiner Abwesenheit etwas mit ihr vorgegangen sein. Sie war wie eine Irrsinnige.

»Kaufe mich! Willst du? Willst du? Für fünfzigtausend Franc wie de Grieux?« stieß sie unterheftigem Schluchzen hervor.

Ich umarmte sie, küßte ihre Hände, ihre Füße, fiel vor ihr auf die Knie.

Der Weinkrampf war vorübergegangen. Sie legte beide Hände auf meine Schultern und betrachtetemich unverwandt; sie schien auf meinem Gesicht etwas lesen zu wollen. Sie hörte an, was ich sagte,aber offenbar ohne es zu verstehen. Ein Ausdruck von sorgenvollem Nachdenken zeigte sich auf ihremGesicht. Ich ängstigte mich um sie; ich hatte entschieden den Eindruck, daß sie von Irrsinn befallenwurde. Ganz unerwartet begann sie, mich leise an sich zu ziehen, und ein vertrauensvolles Lächelnbreitete sich schon über ihr Gesicht; dann aber stieß sie mich plötzlich von sich und betrachtete michwieder mit finsterer Miene. Auf einmal umarmte sie mich stürmisch.

»Du liebst mich doch, du liebst mich doch?« sagte sie. »Du wolltest ... du wolltest dich ja ummeinetwillen mit dem Baron duellieren!«

Dann lachte sie auf, als hätte sie sich soeben an etwas Komisches und Hübsches erinnert. Sie weinteund lachte, alles zu gleicher Zeit. Was konnte ich tun! Ich befand mich selbst in einem fieberhaftenZustand. Ich erinnere mich, sie fing an, mir etwas zu sagen; aber ich konnte so gut wie nichts davonverstehen. Es war eine Art von Irrereden, eine Art von Gestammel, als wenn sie mir recht schnelletwas erzählen wollte; und dieses Gerede wurde ab und zu von einem sehr heiteren Lachenunterbrochen, das mich erschreckte. »Nein, nein, du Lieber, Guter!« sagte sie einmal über das andere.»Du bist mir treu!« Und von neuem legte sie mir ihre Hände auf die Schultern, von neuem schaute siemich prüfend an und sagte immer wieder: »Du liebst mich, nicht wahr? ... Du liebst mich ... Und duwirst mich immer lieben?« Ich konnte die Augen nicht von ihr abwenden; noch nie hatte ich sie ineinem solchen Anfall von Zärtlichkeit und Liebe gesehen. Sie redete freilich wie im Fieber; aber alssie meinen leidenschaftlichen Blick bemerkte, lächelte sie schelmisch und fing ohne jeden äußerenAnlaß auf einmal an von Mister Astley zu sprechen.

Sie redete von ihm geraume Zeit ohne Unterbrechung und bemühte sich eine Weile besonders, miretwas aus der jüngsten Vergangenheit zu erzählen; aber was es eigentlich war, das konnte ich nichtverstehen; sie schien sich sogar über ihn lustig zu machen; unaufhörlich wiederholte sie, daß er warte.»Weißt du wohl«, sagte sie, »er steht gewiß in diesem Augenblick unten vor dem Fenster. Ja, ja,unten vor dem Fenster. Mach doch einmal das Fenster auf und sieh zu; er ist gewiß da, er ist gewißda!« Sie wollte mich zum Fenster hindrängen; aber kaum machte ich eine Bewegung, um hinzugehen,als sie in ein Gelächter ausbrach. Ich blieb bei ihr stehen, und sie umarmte mich wiederleidenschaftlich. »Wir fahren doch fort? Wir fahren doch morgen fort?« fragte sie unruhig, da ihrdieser Gedanke plötzlich in den Kopf gekommen war. »Ja ...« (sie überlegte) »ja, ob wir wohl dieTante noch einholen? Was meinst du? Ich denke mir, wir werden sie in Berlin einholen. Was meinstdu, was wird sie sagen, wenn wir sie einholen und sie uns sieht? Und was wird Mister Astley sagen

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...? Na, der wird nicht vom Schlangenberg hinabspringen, was meinst du?« (Sie kicherte.) »Hör malzu: weißt du, wohin er im nächsten Sommer reisen wird? Er will zum Zwecke wissenschaftlicherUntersuchungen nach dem Nordpol fahren und hat mich eingeladen mitzukommen, hahaha! Er sagt, daßwir Russen ohne die Westeuropäer nichts verständen und nichts leisten könnten ... Aber er istebenfalls ein guter Mensch! Weißt du, er entschuldigt die Handlungsweise des Generals; er sagt, daßBlanche ... daß die Leidenschaft ... na, ich weiß nicht mehr ... ich weiß nicht mehr«, sagte sie einpaarmal hintereinander, wie wenn sie wirr geredet und den Faden verloren hätte. »Die Armen, wieleid sie mir tun; und auch die alte Tante tut mir leid ... Na, hör mal, hör mal, wie willst du denn dasanfangen, de Grieux zu töten? Hast du denn wirklieh gedacht, daß es dazu kommen würde? Du Lieber,Dummer! Hast du denn glauben können, ich würde es zugeben, daß du dich mit de Grieuxduelliertest? Und auch den Baron wirst du nicht töten«, lugte sie auflachend hinzu. »Ach, wie komischdu damals in der Szene mit dem Baron warst! Ich beobachtete euch beide von der Bank aus. Und wieungern du damals hingingst, als ich dich schickte! Was habe ich damals gelacht, was habe ich damalsgelacht!« fügte sie kichernd hinzu.

Und dann küßte und umarmte sie mich wieder und schmiegte wieder leidenschaftlich und zärtlich ihrGesicht an das meinige. Ich hatte jetzt keine Gedanken mehr und hörte nichts mehr; es war mir ganzschwindlig zumute.

Ich glaube, es war gegen sieben Uhr morgens, als ich erwachte; die Sonne schien ins Zimmer. Polinasaß neben mir und blickte in sonderbarer Art und Weise rings um sich, als wäre sie eben erst auseiner dunklen Bewußtlosigkeit zu sich gekommen und nun bemüht, in ihre Erinnerungen Klarheit zubringen. Sie war ebenfalls erst vor kurzem aufgewacht und blickte nun starr auf den Tisch und dasGeld. Der Kopf war mir schwer und tat mir weh. Ich wollte Polinas Hand ergreifen; aber sie stießmich zurück und sprang vom Sofa auf. Der beginnende Tag war trübe; es hatte vor Sonnenaufganggeregnet. Sie trat an das Fenster, öffnete es, bog den Kopf und den Oberkörper hinaus, stützte sich mitden Händen auf das Fensterbrett und lehnte die Ellbogen gegen den Rahmen; in dieser Stellungverharrte sie etwa drei Minuten lang, ohne sich zu mir umzuwenden und ohne zu hören, was ich zu ihrsagte. Voll Angst mußte ich denken: was wird jetzt geschehen, und wie wird das enden? Plötzlichrichtete sie sich wieder auf und verließ das Fenster; sie trat an den Tisch, blickte mich mit einemAusdruck grenzenlosen Hasses an und sagte mit Lippen, die vor Ingrimm bebten:

»Nun, dann gib mir jetzt meine fünfzigtausend Franc!«

»Polina, wie sprichst du wieder?« begann ich.

»Oder hast du dich anders besonnen? Hahaha! Es ist dir vielleicht schon wieder leid geworden?«

Die fünfundzwanzigtausend Gulden, die ich schon gestern abgezählt hatte, lagen auf dem Tisch, ichnahm sie und reichte sie ihr hin.

»Also sie gehören jetzt mir? Es ist doch so? Nicht wahr?« fragte sie mich ergrimmt, während sie dasGeld in der Hand hielt.

»Sie haben dir schon immer gehört«, erwiderte ich.

»Nun dann also: da hast du deine fünfzigtausend Franc!« Sie holte aus und schleuderte sie mir insGesicht, so daß mich der Wurf schmerzte. Dann fiel das Päckchen auseinanderblätternd auf den

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Fußboden. Nachdem sie das vollführt hatte, lief sie aus dem Zimmer.

Ich weiß, sie hatte in diesem Augenblick sicherlich nicht ihren vollen Verstand, obgleich ich mirdiese zeitweilige Geistesstörung nicht recht erklären kann. Allerdings ist sie auch jetzt noch, das heißteinen Monat nach jenem Ereignis, krank. Aber was war die Ursache dieses Zustandes und namentlicheines so schroffen Benehmens? Beleidigter Stolz? Verzweiflung darüber, daß sie sich dazuentschlossen hatte, zu mir zu kommen? Machte ich ihr vielleicht den Eindruck, als triumphiere ichwegen meines Glückes und wolle mich im Grunde ebenso wie de Grieux durch ein Geschenk vonfünfzigtausend Franc von ihr losmachen? Aber das traf doch in keiner Weise zu; das kann ich auf meinGewissen sagen. Ich glaube, ihre Handlungsweise war zum Teil eine Folge ihres Hochmutes; ihrHochmut veranlaßte sie, mir zu mißtrauen und mich zu beleidigen, obgleich sie sich über alles dieswohl selbst nicht ganz klar wurde. Wenn dem so ist, so habe ich für de Grieux gebüßt und binvielleicht bestraft worden, ohne daß ich selbst eine sehr große Schuld gehabt hätte. Ich muß zugeben:sie befand sich bei diesem Besuch auf meinem Zimmer in einem fieberhaften Zustand, und icherkannte diesen Zustand, berücksichtigte ihn aber nicht, wie ich gesollt hätte. Vielleicht ist es das,was sie mir jetzt nicht verzeihen kann? Ja, für heute mag das richtig sein; aber damals, damals? Soarg war schließlich ihr krankhafter Fieberzustand doch nicht, daß sie gar nicht mehr gewußt hätte,was sie tat, als sie mit de Grieux' Brief zu mir kam. Nein, sie wußte, was sie tat.

Eilig und ohne Sorgfalt legte ich meine Banknoten und meinen ganzen Haufen Gold in das Bett, decktedieses wieder zu und ging hinaus, etwa zehn Minuten nach Polina. Ich war überzeugt, daß sie nachihrem Zimmer gelaufen sei, und wollte mich daher unauffällig nach dem Logis des Generals begebenund im Vorzimmer die Kinderfrau nach dem Befinden des Fräuleins fragen. Wie groß war meinErstaunen, als ich von der Kinderfrau, die mir auf der Treppe begegnete, erfuhr, daß Polina nochnicht in die Wohnung zurückgekehrt sei, und daß sie, die Kinderfrau, auf dem Weg zu mir gewesensei, um sie zu suchen.

»Sie ist eben erst«, sagte ich zu ihr, »eben erst von mir weggegangen, vor etwa zehn Minuten. Wokann sie denn nur geblieben sein?«

Die Kinderfrau sah mich vorwurfsvoll an.

Unterdessen waren die einzelnen Tatsachen zu einer Skandalgeschichte zusammengefügt worden, diebereits im ganzen Hotel kursierte. In der Loge des Portiers und im Büro des Oberkellners flüsterteman sich zu, das Fräulein sei am Morgen, um sechs Uhr, im Regen aus dem Hotel gelaufen und habedie Richtung nach dem Hotel d'Angleterre eingeschlagen. Aus den Reden und Andeutungen desHotelpersonals entnahm ich, daß bereits bekannt war, daß Polina die ganze Nacht in meinem Zimmerverbracht hatte. Auch über die ganze Familie des Generals wurde allerlei erzählt: man behauptete,der General habe am vorigen Tage den Verstand verloren und dermaßen geweint, daß man es durchdas ganze Hotel habe hören können. Dazu wurde noch erzählt, die alte Dame, die angereist gekommensei, wäre seine Mutter und wäre expreß aus Rußland hergekommen, um ihrem Sohn die Heirat mitMademoiselle Cominges zu verbieten und ihm im Falle des Ungehorsams die Erbschaft zu entziehen,und da er ihr nun wirklich nicht gehorcht habe, so hätte die Gräfin vor seinen Augen absichtlich all ihrGeld im Roulett verspielt, damit er auf diese Weise nichts bekäme. »Diese Russen!« wiederholte derOberkellner mehrmals mit verwundertem, tadelndem Kopfschütteln. Die andern lachten. DerOberkellner machte die Rechnung fertig. Auch mein Spielgewinn war schon allgemein bekannt; Karl,

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mein Zimmerkellner, war der erste, der mir Glück wünschte. Aber ich war nicht in der Stimmung,mich mit diesen Menschen abzugeben. Ich eilte nach dem Hotel d'Angleterre.

Es war noch früh am Tag; man sagte mir, Mister Astley nehme jetzt keinen Besuch an; als er jedochhörte, daß ich es sei, kam er zu mir auf den Korridor heraus, blieb vor mir stehen, richteteschweigend seine zinnernen Augen auf mich und wartete, was ich ihm sagen würde. Ich fragte ihnnach Polina.

»Sie ist krank«, antwortete Mister Astley und fuhr fort, mich starr und unverwandt anzusehen.

»Also ist sie wirklich bei Ihnen?« »O ja, sie ist bei mir.«

»Aber wie können Sie denn ... Beabsichtigen Sie, sie bei sich zu behalten?«

»O ja, ich beabsichtige es.«

»Mister Astley, das wird eine sehr häßliche Nachrede zur Folge haben; das geht nicht. Außerdem istsie ernstlich krank; Sie haben das vielleicht nicht bemerkt?«

»O ja, ich habe es bemerkt und habe Ihnen ja schon selbst gesagt, daß sie krank ist. Wenn sie nichtkrank wäre, hätte sie nicht die Nacht bei Ihnen zugebracht.«

»Also wissen Sie auch das?«

»Ich weiß es. Sie kam gestern hierher, und ich wollte sie zu einer Verwandten von mir bringen; aberda sie eben krank war, beging sie den Fehler, zu Ihnen zu gehen.«

»Was Sie da sagen! Nun, ich wünsche Ihnen Glück, Mister Astley. Apropos, da bringen Sie mich aufeinen Gedanken: haben Sie nicht die ganze Nacht bei uns unter dem Fenster gestanden? Miß Polinaverlangte in der Nacht fortwährend von mir, ich sollte das Fenster aufmachen und nachsehen, ob Sieunten ständen. Sie hat gewaltig darüber gelacht.«

»Wirklich? Nein, unter dem Fenster habe ich nicht gestanden; aber ich wartete auf dem Korridor undging um das Hotel herum.«

»Aber sie muß in ärztliche Behandlung kommen, Mister Astley.«

»O ja, ich habe schon nach einem Arzt geschickt, und wenn sie sterben sollte, so werden Sie mirRechenschaft für ihren Tod geben.«

Ich war ganz erstaunt.

»Ich bitte Sie, Mister Astley«, sagte ich. »Was meinen Sie damit?«

»Ist das richtig, daß Sie gestern zweihunderttausend Taler im Spiel gewonnen haben?«

»Im ganzen nur hunderttausend Gulden.«

»Nun, sehen Sie! Fahren Sie also heute vormittag nach Paris!«

»Wozu?«

»Alle Russen, die Geld haben, fahren nach Paris«, erwiderte Mister Astley in einem Ton, als ob erdiesen Satz aus einem Buch vorläse.

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»Was soll ich jetzt im Sommer in Paris anfangen? Ich liebe sie, Mister Astley. Das wissen Sieselbst.«

»Wirklich? Ich bin überzeugt, daß das nicht der Fall ist. Außerdem werden Sie, wenn Siehierbleiben, aller Wahrscheinlichkeit nach Ihren ganzen Gewinn wieder verlieren, und dann habenSie kein Geld, um nach Paris zu fahren. Nun, leben Sie wohl; ich bin der festen Überzeugung, daß Sieheute nach Paris fahren werden.«

»Nun gut, leben Sie wohl; aber nach Paris werde ich nicht fahren. Denken Sie doch nur daran, MisterAstley, welches Schicksal jetzt bei uns der ganzen Familie bevorsteht! Der General ist, kurz gesagt ...Und jetzt dieser Vorfall mit Miß Polina; diese Geschichte wird ja durch die ganze Stadt die Rundemachen.«

»Ja, durch die ganze Stadt; aber der General kümmert sich meiner Ansicht nach nicht darum; der hatjetzt andere Gedanken. Außerdem hat Miß Polina ein volles Recht zu leben, wo es ihr beliebt. DieseFamilie anlangend kann man wahrheitsgemäß sagen, daß sie nicht mehr existiert.«

Ich ging und amüsierte mich über den seltsamen Glauben dieses Engländers, daß ich nach Parisfahren würde. »Aber er will mich im Duell erschießen«, dachte ich, »wenn Mademoiselle Polinastirbt – das ist ja eine tolle Geschichte!« Ich schwöre es, Polina tat mir leid; aber sonderbar: vondiesem Augenblick an, wo ich gestern an den Spieltisch getreten war und angefangen hatte, HaufenGeldes zusammenzuscharren, von diesem Augenblick an war meine Liebe sozusagen in die zweiteReihe zurückgerückt. So spreche ich jetzt; aber damals hatte ich das alles noch nicht klar erkannt. Binich denn wirklich eine Spielernatur? Habe ich Polina wirklich nur in dieser sonderbaren Weisegeliebt? Nein, ich liebe sie bis auf den heutigen Tag, das weiß Gott! Damals aber, als ich MisterAstley verlassen hatte und wieder nach Hause ging, empfand ich den bittersten Schmerz und machtemir schwere Vorwürfe. Aber ... aber da passierte mir etwas sehr Seltsames, etwas sehr Dummes.

Ich war eiligen Ganges auf dem Wege nach dem Logis des Generals, als plötzlich nicht weit davonsich eine Tür öffnete und mich jemand rief. Es war Madame veuve Cominges, und sie rief mich imAuftrag der Mademoiselle Blanche. Ich ging hinein.

Sie hatten ein kleines Logis, nur aus zwei Zimmern bestehend. Aus dem Schlafzimmer hörte ichMademoiselle Blanche lachen und laut reden. Sie schien eben aus dem Bett aufstehen zu wollen.

»Ah, c'est lui! Viens donc, bêta! Ist das wahr, que tu as gagné une montagne d'or et d'argent?J'aimerais mieux l'or.«

»Ja, ich habe gewonnen«, antwortete ich lachend.

»Wieviel?«

»Hunderttausend Gulden.«

»Bibi, comme tu es bête. Aber komm doch hier herein, ich verstehe nichts. Nous ferons bombance,n'est-ce pas?«

Ich ging zu ihr hinein. Sie lag lässig hingestreckt unter einer rosaseidenen Decke, aus der diebräunlichen, gesunden, wundervollen Schultern zum Vorschein kamen (Schultern, wie man sie sonstnur im Traume sieht), mangelhaft bedeckt von einem mit schneeweißen Spitzen besetzten Batisthemd,

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was zu ihrer bräunlichen Haut wundervoll paßte.

»Mon fils, as-tu du cœur?« rief sie, sobald sie mich erblickte, und kicherte munter. Sie lachte immersehr lustig, und sogar manchmal von Herzen.

»Tout autre ...«, begann ich aus Corneille zu zitieren.

»Siehst du wohl, vois-tu«, fing sie an zu schwatzen, »zuerst such mir mal meine Strümpfe und hilf mirsie anziehen; und dann, si tu n'es pas trop bête, je te prends à Paris. Du weißt wohl, ich reise gleichab.«

»Gleich?«

»In einer halben Stunde.«

Tatsächlich war alles gepackt. Alle Koffer und ihre übrigen Sachen standen bereit. Der Kaffeewartete schon lange auf dem Tisch.

»Eh bien, wenn du willst, tu verras Paris. Dis donc qu'est-ce que c'est qu'un outchitel? Tu étais bienbête, quand tu étais outchitel. Wo sind meine Strümpfe? Zieh sie mir an, mach!« Sie streckte wirklichein entzückendes, bräunliches, kleines Füßchen heraus, das nicht verunstaltet war wie fast alle jeneFüßchen, die in den Modestiefelchen so zierlich aussehen. Ich lachte und machte mich daran, ihr denseidenen Strumpf anzuziehen. Mademoiselle Blanche saß unterdessen auf dem Bett und redete munterdrauflos.

»Eh bien, que feras-tu, si je te prends avec? Zunächst, je veux cinquante mille francs. Die gibst du mirin Frankfurt. Nous allons à Paris; da leben wir zusammen, et je te ferai voir des étoiles en plein jour.Du wirst da Frauen kennenlernen, wie du sie noch nie gesehen hast. Hör mal ...«

»Warte mal: also ich soll dir fünfzigtausend Franc geben; aber was behalte ich dann übrig?«

»Nun, hundertfünfzigtausend Franc; die hast du wohl vergessen? Und außerdem bin ich bereit, mit dirin deiner Wohnung zu wohnen, einen oder zwei Monate lang, que sais-je! In zwei Monaten werdenwir natürlich die hundertfünfzigtausend Franc verbraucht haben. Siehst du wohl, je suis bonne enfantund sage es dir vorher: mais tu verras des étoiles.«

»Wie? Alles in zwei Monaten?«

»Erschreckt dich das? Ah, vil esclave! Weißt du wohl, daß ein einziger Monat eines solchen Lebensmehr wert ist als dein ganzes übriges Leben? Ein Monat – et après le déluge! Mais tu ne peuxcomprendre, va! Geh weg, geh weg, du bist mein Anerbieten nicht wert! Ah. que fais-tu?«

Ich zog ihr gerade den zweiten Strumpf an, konnte mich aber nicht enthalten, ihr Füßchen zu küssen.Sie riß es mir aus den Händen und stieß mich ein paarmal mit der Fußspitze ins Gesicht. Schließlichjagte sie mich hinaus.

»Eh bien, mon outchitel, je t'attends, si tu veux; in einer Viertelstunde fahre ich!« rief sie mir nach.

Als ich wieder auf mein Zimmer gekommen war, war mir der Kopf ganz schwindlig. Nun, im Grundewar es doch nicht meine Schuld, daß Mademoiselle Polina mir ein ganzes Päckchen Banknoten insGesicht geworfen und mir noch gestern diesen Mister Astley vorgezogen hatte. Einige der beimFallen auseinandergeflatterten Banknoten lagen noch auf dem Fußboden umher; ich hob sie auf. In

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diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und es erschien in eigener Person der Oberkellner, derfrüher gar keinen Blick für mich übrig gehabt hatte, und fragte an, ob es mir nicht gefällig wäre, ineine tiefer gelegene Etage überzusiedeln, etwa in das ausgezeichnete Logis, in dem eben erst der GrafB. gewohnt habe.

Ich stand einen Moment da und überlegte.

»Die Rechnung!« rief ich. »Ich reise sogleich ab, in zehn Minuten.« Und im stillen dachte ich: »NachParis, also doch nach Paris! Es muß wohl so im Buche des Schicksals geschrieben stehen!«

Eine Viertelstunde darauf saßen wir wirklich zu dreien auf der Bahn in einem Familienabteil: ich,Mademoiselle Blanche und Madame veuve Cominges. Mademoiselle Blanche lachte, so oft sie michansah, bis zu Tränen. Die veuve Cominges stimmte in dieses Gelächter ein. Ich kann nicht sagen, daßmir lustig zumute war. Mein Leben war in zwei Teile auseinandergebrochen; aber seit demvorhergehenden Tag hatte ich mich schon daran gewöhnt, alles auf eine Karte zu setzen. Vielleicht istes wirklich richtig, daß ich es nicht ertragen konnte, viel Geld zu besitzen, und davon schwindligwurde. Peut-être, je ne demandais pas mieux. Es schien mir, daß für ein Weilchen (aber auch nur fürein Weilchen) in meinem Leben die Dekorationen wechselten. »Aber in einem Monat«, sagte ich mir,»werde ich wieder hier sein, und dann ... und dann messen wir uns noch einmal miteinander, MisterAstley!« Nein, wie ich mich jetzt recht gut entsinne, war mir auch damals sehr traurig zumute, obwohlich mit dieser närrischen Blanche um die Wette lachte.

Aber es entging ihr trotzdem nicht, wie beschaffen meine wirkliche Stimmung war.

»Was ist dir denn? Wie dumm du bist! Oh, wie dumm du bist!« rief sie, ihr Lachen unterbrechend,und begann mich in allem Ernst auszuschelten. »Nun ja, nun ja, ja, wir werden deinezweihunderttausend Franc verbrauchen; aber dafür tu seras heureux, comme un petit roi. Ich selbstwerde dir deine Krawatte binden und dich mit Hortense bekannt machen. Und wenn wir all unserGeld verbraucht haben, dann fährst du wieder hierher und sprengst wieder die Bank. Was haben dochdie Juden zu dir gesagt? Die Hauptsache ist Kühnheit, und die besitzt du, und du wirst mir noch öfterGeld nach Paris bringen. Quant à moi je veux cinquante mille francs de rente et alors ...«

»Aber der General?« fragte ich sie.

»Der General geht, wie du ja selbst weißt, jeden Tag um diese Zeit aus, um ein Bukett für mich zukaufen. Für diesmal habe ich absichtlich verlangt, er solle suchen, gewisse besonders seltene Blumenfür mich zu bekommen. Wenn der Ärmste dann nach Hause zurückkehrt, wird das Vögelchenausgeflogen sein. Du wirst sehen: er wird uns nachfahren. Hahaha! Das wird mich sehr freuen. InParis wird er mir gute Dienste leisten können. Hier wird Mister Astley für ihn bezahlen ...«

So ging es zu, daß ich damals nach Paris fuhr.

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Sechzehntes Kapitel

Was soll ich von Paris sagen? Mein ganzes Leben dort war einerseits ein fieberhafter Taumel,andrerseits eine große Narrheit. Ich lebte in Paris im ganzen nur drei Wochen und einige Tage, und indiesem Zeitraum gingen meine hunderttausend Franc vollständig drauf. Ich rede nur voneinhunderttausend; denn die andern hunderttausend hatte ich Mademoiselle Blanche in barem Geldegegeben: fünfzigtausend gab ich ihr in Frankfurt, und drei Tage darauf stellte ich ihr in Paris nocheinen Wechsel über fünfzigtausend Franc aus, für den sie sich aber eine Woche darauf von mir dasGeld geben ließ; »et les cent mille Francs, qui nous restent, tu les mangeras avec moi, mon outchitel«.Sie nannte mich beständig mit dieser Bezeichnung. Es ist schwer, sich in der Welt etwasSparsameres, Geizigeres, Knauserigeres zu denken, als es die Gattung von Geschöpfen ist, zu derMademoiselle Blanche gehörte. Aber das bezieht sich nur auf die Art, wie sie mit ihrem eigenen Geldumgehen. Was die hunderttausend Franc betrifft, die eigentlich mir hätten verbleiben sollen, soerklärte sie mir nachher geradezu, die habe sie für ihre erste Einrichtung in Paris gebraucht, und fügtehinzu: »Jetzt habe ich aber auch ein für allemal in der besseren Gesellschaft Fuß gefaßt; nun wird sobald niemand meine Stellung erschüttern; wenigstens habe ich getan, was in meinen Kräften stand.«Übrigens hatte ich von diesen hunderttausend Franc, bis sie zu Ende waren, fast gar nichts mehr zusehen bekommen; das Geld hielt sie die ganze Zeit über in ihrem eigenen Gewahrsam, und meineBörse, die sie selbst täglich revidierte, enthielt nie mehr als hundert Franc und meistens weniger.

»Wozu brauchst du Geld?« sagte sie manchmal mit der harmlosesten Miene, und ich ließ michdarüber in keinen Streit mit ihr ein.

Sie dagegen richtete von diesem Geld ihre neue Wohnung außerordentlich hübsch ein, und als siemich dann hindurchführte und mir alle Zimmer zeigte, sagte sie: »Da kannst du sehen, was sich mitden armseligsten Mitteln ausrichten läßt, wenn man nur ökonomisch ist und Geschmack besitzt.«Diese armseligen Mittel, das waren aber genau fünfzigtausend Franc. Für die übrigen fünfzigtausendschaffte sie sich eine Equipage und Pferde an; außerdem gaben wir zwei Bälle oder vielmehr kleineSoiréen, auf denen auch Hortense und Lisette und Cléopâtre erschienen, Damen, die in vielfacherHinsicht interessant und ganz und gar nicht häßlich waren. Auf diesen beiden Soiréen war ichgenötigt, die sehr dumme Rolle des Hausherrn zu spielen und die Gäste zu empfangen und zuunterhalten. Und was für Gäste! Da waren bornierte, aber reichgewordene Kaufleute, die überallsonst wegen ihrer Ignoranz und Schamlosigkeit unmöglich waren, mehrere Leutnants und jämmerlicheLiteraten und Journalisten, die in modernen Fracks und mit strohgelben Handschuhen erschienen, undderen Eitelkeit und Aufgeblasenheit von so kolossalen Dimensionen waren, wie es sogar bei uns inPetersburg undenkbar wäre – und das will viel sagen. Sie erdreisteten sich sogar, sich über michlustig zu machen; aber ich trank tüchtig Champagner und legte mich dann in der Hinterstube eineWeile aufs Sofa. All das war mir im höchsten Grade widerlich. »C'est un outchitel«, sagte Blanchevon mir, »il a gagné deux cent mille francs und würde ohne mich nicht wissen, wie er sie ausgebensoll. Nachher wird er wieder Lehrer werden; weiß keiner von Ihnen eine Stelle für ihn? Man mußetwas für ihn tun.«

Zum Champagner nahm ich recht oft meine Zuflucht, weil ich beständig in sehr trüber Stimmung warund mich aufs äußerste langweilte. Der Haushalt, in dem ich lebte, trug einen im höchsten Gradekleinbürgerlichen, krämerhaften Charakter: bei jedem Sou, der ausgegeben werden sollte, wurde

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gerechnet und überlegt. Blanche liebte mich in den ersten zwei Wochen sehr wenig; das merkte ichrecht wohl. Allerdings sorgte sie dafür, daß ich elegant gekleidet ging, und band mir eigenhändig alleTage die Krawatte; aber im Grunde ihrer Seele verachtete sie mich. Ich meinerseits kümmerte michdarum nicht im geringsten. Aus Langeweile und Trübsinn wurde ich ein regelmäßiger Besucher desChâteau des Fleurs, wo ich mich jeden Abend betrank und Cancan tanzen lernte (der dort in rechtgarstiger Manier getanzt wird) und schließlich auf diesem Gebiet sogar einige Berühmtheit erwarb.Dann aber gewann Blanche doch etwas mehr Verständnis für mein Wesen. Aus irgendwelchem Grundhatte sie sich früher die Vorstellung gebildet, ich würde während der ganzen Dauer unseresZusammenlebens mit dem Bleistift und dem Notizbuch in den Händen hinter ihr hergehen und allesberechnen, was sie mir gestohlen und ausgegeben habe, und was sie mir noch stehlen und ausgebenwerde. Und sie war fest überzeugt, daß es bei uns um eines jeden Zehnfrancstücks willen eine hitzigeSchlacht setzen werde. Auf jeden meiner Angriffe, die sie mit Sicherheit erwartete, hatte sie sichschon im voraus eine Erwiderung zurechtgelegt; aber da sie von meiner Seite keine Angriffe erfolgensah, machte sie selbst mit ihren Erwiderungen den Anfang. Manchmal begann sie sehr hitzig; wenn siedann aber sah, daß ich schwieg (ich rekelte mich meist auf einer Chaiselongue und blickte, ohne michzu rühren, nach der Zimmerdecke), da wunderte sie sich schließlich doch. Anfangs dachte sie, ich seieinfach dumm, »un outchitel«, und brach einfach ihre Erklärungen ab, weil sie sich wahrscheinlichsagte: »Er ist ja dumm; es hat keinen Zweck, ihn erst auf etwas zu bringen, wenn er es nicht von selbstversteht. «Es kam jedoch vor, daß sie aus dem Zimmer ging, aber nach zehn Minuten wiederzurückkehrte und ihr Thema wieder aufnahm. Das folgende Gespräch begab sich in einem solchenFall zur Zeit ihrer sinnlosen Ausgaben, Ausgaben, die weit über unsere Mittel hinausgingen: so gabsie zum Beispiel unsere Pferde weg und kaufte für sechzehntausend Franc ein anderes Paar.

»Na, also du bist nicht böse darüber, bibi?« fragte sie, zu mir herantretend.

»Nein, nein, wozu redest du noch?« antwortete ich gähnend und schob sie mit der Hand von mir weg.Aber dieses Benehmen von meiner Seite war ihr so merkwürdig, daß sie sich sofort neben michsetzte.

»Siehst du, wenn ich mich entschlossen habe, so viel dafür zu bezahlen, so habe ich es nur deswegengetan, weil es ein Gelegenheitskauf war. Wir können sie für zwanzigtausend Franc wiederverkaufen.«

»Ich glaube es, ich glaube es; es sind schöne Pferde, und wenn du jetzt ausfährst, wird es sich sehr gutausnehmen; das wird dir für deine weitere Karriere zustatten kommen. Na, nun genug davon!«

»Also du bist nicht böse?«

»Warum sollte ich böse sein? Du handelst sehr verständig, wenn du dir einiges anschaffst, was dunotwendig brauchst. All das wird dir später von Nutzen sein. Ich sehe ein, daß du dir in der Tat einesolche Stellung in der Gesellschaft schaffen mußt; sonst wirst du nie eine Million erwerben. Da sindunsere hunderttausend Franc nur der Anfang, nur ein Tropfen im Meer.«

Blanche, die von mir alles andere eher erwartet hatte als solche Anschauungen (sie hatte gemeint, ichwürde ein großes Geschrei erheben und ihr Vorwürfe machen), fiel aus den Wolken.

»Also so einer ... also so einer bist du! Mais tu as l'esprit pour comprendre. Sais-tu, mon garçon, dubist zwar ein outchitel, aber du hättest als Prinz auf die Welt kommen müssen! Also es tut dir nicht

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leid, daß das Geld bei uns schnell davongeht?«

»Laß es in Gottes Namen davongehen; so schnell wie es will!«

»Mais ... sais-tu ... mais dis donc, bist du denn reich? Mais sais-tu, du schätzt denn doch das Geld garzu gering. Qu'est-ce que tu feras après, dis donc?«

»Après? Ich werde nach Homburg fahren und wieder hunderttausend Franc gewinnen.«

»Qui, oui, c'est ça, c'est magnifique! Und ich weiß, du wirst bestimmt gewinnen und mir das Geldherbringen. Dis donc, du bringst es noch dahin, daß ich dich wirklich liebgewinne. Eh bien, zum Lohndafür, daß du so bist, werde ich dich auch diese ganze Zeit über lieben und dir kein einziges Maluntreu werden. Siehst du, diese ganze Zeit her habe ich dich allerdings nicht geliebt, parce que jecroyais, que tu n'es qu'un outchitel (quelque chose comme un laquais, n'est-ce pas?); aber ich bin dirtrotzdem treu gewesen, parce que je suis bonne fille.«

»Na, na, rede mir nichts vor! Habe ich dich nicht das vorige Mal mit Albert, diesem kleinen,brünetten Offizier, zusammen gesehen?« »Oh, oh, mais tu es ...« »Na, nur nicht schwindeln, nur nichtschwindeln! Aber denkst du denn, daß ich darüber böse bin? Mir ganz gleichgültig; il faut quejeunesse se passe. Du kannst ihn doch nicht wegjagen, wenn du ihn vor meiner Zeit gehabt hast undihn liebst. Nur gib ihm kein Geld, hörst du?«

»Also auch darüber bist du nicht böse? Mais tu es un vrai philosophe, sais-tu? Un vrai philosophe!«rief sie ganz entzückt. »Eh bien, je t'aimerai, je t'aimerai – tu verras, tu seras content!«

Und wirklich bewies sie mir seitdem eine Art von Anhänglichkeit, ja Freundschaft, und so vergingenunsere letzten zehn Tage. Die ›Sterne‹, die sie versprochen hatte mir zu zeigen, habe ich freilich nichtgesehen; aber in mancher Beziehung hielt sie tatsächlich Wort. Auch machte sie mich mit Hortensebekannt, die eine in ihrem Genre sehr bemerkenswerte Dame war und in unserm Kreis »Thérèsephilosophe« genannt wurde ...

Aber es hat keinen Zweck, darüber ausführlicher zu handeln; alles dies könnte eine besondereErzählung abgeben; eine Erzählung mit besonderem Kolorit, die ich in die hier vorliegende nichteinschieben will. In summa: ich wünschte von ganzem Herzen, daß alles recht bald zu Ende seinmöchte. Aber unsere hunderttausend Franc reichten, wie schon gesagt, fast einen Monat lang –worüber ich wirklich erstaunt war: denn für mindestens achtzigtausend Franc von diesem Geld hatteBlanche sich allerlei angeschafft, und wir hatten für unsern Lebensunterhalt nicht mehr alszwanzigtausend Franc verbraucht – und es hatte doch gereicht. Blanche, die gegen Ende unseresZusammenseins mir gegenüber beinah aufrichtig war (wenigstens in manchen Dingen belog sie michnicht), rühmte sich, daß ich wenigstens nicht für die Schulden würde einzustehen haben, die siegenötigt gewesen sei zu machen. »Ich habe«, sagte sie zu mir, »dich keine Rechnungen und Wechselunterschreiben lassen, weil du mir leid tatest; eine andere hätte das unbedingt getan und dich insSchuldgefängnis gebracht. Da siehst du, wie ich dich geliebt habe, und wie gut ich bin! Was wirdmich schon allein diese verwünschte Hochzeit kosten!«

Es wurde bei uns wirklich Hochzeit gehalten. Sie fiel bereits ganz an das Ende unseres Monats, undes war anzunehmen, daß für sie der letzte Rest meiner hunderttausend Franc draufgehen werde; damitwar denn auch die Sache zum Abschluß gelangt, das heißt unser Monat war zu Ende, und ich trat nun

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in aller Form in den Ruhestand.

Das trug sich folgendermaßen zu. Eine Woche, nachdem wir uns in Paris niedergelassen hatten, kamder General angereist. Er begab sich direkt zu Blanche und blieb von seinem ersten Besuch an fastdauernd bei uns. Allerdings hatte er irgendwo in der Nähe auch eine eigene Wohnung. Blanchebegrüßte ihn freudig, mit Lachen und Ausrufen des Entzückens, und umarmte ihn sogar stürmisch; dasVerhältnis gestaltete sich dann so, daß sie selbst ihn gar nicht mehr von sich fortlassen wollte und ersie überallhin begleiten mußte: auf den Boulevard, bei Spazierfahrten, ins Theater und zu Bekannten.Für diese Verwendung war der General ganz wohl brauchbar; er war eine stattliche, vornehmeErscheinung von mehr als Mittelgröße, mit gefärbtem Backenbart und gefärbtem, gewaltigemSchnurrbart (er hatte seinerzeit bei den Kürassieren gedient) und mit einem angenehmen, wenn auchetwas aufgedunsenen Gesicht. Er besaß vortreffliche Manieren und trug seinen Frack mit vielemAnstand. In Paris legte er auch seine Orden wieder an. Mit einem solchen Mann auf dem Boulevardzu gehen war nicht nur möglich, sondern, wenn ich mich so ausdrücken darf, sogar eine Empfehlung.Der gutmütige, einfältige General war mit alledem höchst zufrieden; er hatte darauf gar nichtgerechnet, als er nach seiner Ankunft in Paris zu uns kam. Er hatte damals beinah gezittert vor Angst,er hatte gedacht, Blanche würde ihn anschreien und ihm die Tür weisen; da er nun einen so ganzanderen Empfang gefunden hatte, war er in das größte Entzücken geraten und befand sich nun diesenganzen Monat über in dem Zustand eines sinnlosen Wonnerausches; in diesem Zustand verließ ich ihnauch.

Erst hier habe ich genauer erfahren, daß ihm damals nach unserer plötzlichen Abreise ausRoulettenburg an demselben Vormittag etwas in der Art eines Schlaganfalls zugestoßen war. Er warbesinnungslos niedergestürzt und war dann eine ganze Woche lang wie ein Wahnsinniger gewesenund hatte lauter törichtes Zeug geredet. Er war ärztlich behandelt worden, hatte aber auf einmal allesstehen und liegen lassen, sich auf die Bahn gesetzt und war nach Paris gefahren. Natürlich erwies sichder freundliche Empfang, den er bei Blanche fand, für ihn als das beste Heilmittel; aber Spuren seinerKrankheit blieben bei ihm noch lange Zeit zurück, trotz seiner frohen, seligen Gemütsstimmung.Etwas zu überlegen oder auch nur ein einigermaßen ernstes Gespräch zu führen war er völlig unfähig,in solchem Fall sagte er nur zu jedem Satz des andern: »Hm!« und nickte mit dem Kopf – auf weiteresließ er sich nicht ein. Er lachte oft; aber es war ein nervöses, krankhaftes Lachen, als könnte er sichgar nicht genug tun; ein andermal saß er ganze Stunden lang da, mit einem Gesicht finster wie dieNacht, die buschigen Augenbrauen mürrisch zusammengezogen. Für viele Dinge war ihm dasGedächtnis ganz abhanden gekommen; seine Zerstreutheit ging über alles Maß, und er hatte sichangewöhnt, mit sich selbst zu reden. Nur Blanche vermochte ihn zu beleben, und diese Anfälle vonTrübsinn und Schwermut, bei denen er sich in eine Ecke verkroch, traten auch nur dann ein, wenn erBlanche lange nicht gesehen hatte oder sie weggefahren war, ohne ihn mitzunehmen, oder sie beimWegfahren ihm keine Liebkosung hatte zuteil werden lassen. Dabei hätte er selbst nicht sagen können,was er eigentlich wollte, und wußte selbst nicht, daß er finster und traurig war. Nachdem er eine oderzwei Stunden so dagesessen hatte (ich beobachtete das mehrere Male, als Blanche für den ganzen Tagweggefahren war, vermutlich zu Albert), begann er auf einmal sich nach allen Seiten umzusehen undunruhig hin und her zu laufen; es war, als ob ihm eine Frage eingefallen wäre und er jemand suchenwollte. Aber wenn er dann niemand sah und sich auch nicht mehr besinnen konnte, wonach er hattefragen wollen, so sank er wieder in sein Dahinbrüten zurück, bis auf einmal Blanche erschien, heiter,

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ausgelassen, in eleganter Toilette, mit ihrem hellen Lachen; sie lief auf ihn zu, zupfte und schüttelteihn; manchmal, wiewohl dies nur selten, küßte sie ihn sogar. Einmal freute sich der General darüberdermaßen, daß er in Tränen ausbrach. Ich war ganz verwundert.

Gleich von der Zeit an, wo der General bei uns eingetroffen war, begann Blanche ihn mir gegenüberwie ein Advokat zu verteidigen. Sie bediente sich dabei sogar aller möglichen rednerischenKunstgriffe: sie erinnerte mich daran, daß sie dem General nur um meinetwillen untreu geworden sei,daß sie beinah schon seine Braut gewesen sei, ihm ihr Wort gegeben habe; daß er um ihretwillenseine Familie im Stich gelassen habe, und daß ich doch eigentlich bei ihm in Dienst gestanden hätteund ihn deswegen immer noch respektieren müsse, und ich solle mich schämen, jetzt über ihn zulachen ... Ich schwieg bei solchen Reden immer; aber ihr Mundwerk konnte gar nicht zur Ruhekommen. Zuletzt pflegte ich in ein Gelächter auszubrechen, und damit war dann die Sache beendet,das heißt in der ersten Zeit hielt sie mich für einen Dummkopf, und in der letzten Zeit war sie derAnsicht, daß ich ein sehr guter, vernünftiger Mensch sei. Kurz, gegen das Ende unseresZusammenwohnens hatte ich das Glück, mir das Wohlwollen dieses achtbaren Fräuleins erworben zuhaben. (Übrigens war Blanche wirklich ein sehr gutes Mädchen – selbstverständlich nur in ihrer Art;ich hatte sie anfangs nicht richtig beurteilt.) »Du bist ein verständiger, guter Mensch«, sagte sie in derletzten Zeit manchmal zu mir, »und ... und ... es ist nur schade, daß du so dumm bist! Du wirst nieordentlich Geld verdienen. Un vrai Russe, un calmouk!«

Mitunter schickte sie mich aus, um den General in den Straßen spazierenzuführen, ganz wie einenDiener mit einem Windspiel. Ich führte ihn auch ins Theater und nach dem Bal-Mabille und inRestaurants. Dazu gab Blanche sogar Geld her, obgleich der General auch eigenes Geld hatte und mitbesonderem Vergnügen vor den Augen anderer Leute seine Brieftasche hervorholte. Einmal mußte ichbeinahe Gewalt anwenden, um ihn davon abzuhalten, für siebenhundert Franc im Palais-Royal eineBrosche zu kaufen, die er schön fand und durchaus Blanche zum Geschenk machen wollte. Na, washätte sie sich aus einer Brosche für siebenhundert Franc gemacht! Und dabei besaß der General anGeld nicht mehr als tausend Franc. Ich habe nie in Erfahrung bringen können, wo er diese Summe herhatte. Ich denke mir aber, von Mister Astley, und dies um so mehr, da dieser im Hotel für den Generalund die Seinen bezahlt hatte. Was nun die Meinung anlangt, die der General die ganze Zeit über vonmir hatte, so glaube ich, daß er meine Beziehungen zu Blanche nicht im entferntesten ahnte. Er hattezwar dunkel davon gehört, daß ich ein Kapital gewonnen hätte, nahm aber aller Wahrscheinlichkeitnach trotzdem an, daß ich bei Blanche so eine Art von Privatsekretär oder vielleicht sogar nur Dienersei. Jedenfalls redete er zu mir stets in der früheren Weise von oben herab, im Ton des Vorgesetzten,und verstieg sich sogar zuweilen dazu, mich energisch auszuschelten. Einmal versetzte er mich undBlanche in die größte Heiterkeit; es war in unserer Wohnung, beim Morgenkaffee. Er war sonst nichtbesonders empfindlich; aber damals fühlte er sich auf einmal von mir beleidigt; wodurch, das weißich noch heute nicht. Und er selbst hätte es damals auch nicht sagen können. Kurz, er redete und redetedas sinnloseste Zeug, à bâtons rompus, schrie, ich sei ein Grünschnabel, er werde mich lehren ... erwerde es mir schon zeigen usw. Aber keiner konnte von dem, was er sagte, das geringste verstehen.Blanche wollte sich ausschütten vor Lachen; endlich gelang es uns, ihn einigermaßen zu beruhigen,und ich führte ihn spazieren. Nicht selten aber bemerkte ich an ihm, daß er traurig wurde, daß ihmirgend jemand oder irgend etwas leid tat, und daß ihm, sogar wenn Blanche anwesend war, jemandfehlte. In solchen Augenblicken begann er ein paarmal von selbst mit mir zu reden, war aber nie

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imstande, sich verständlich auszudrücken; er sprach von seiner Dienstzeit, von seiner verstorbenenFrau, von der Landwirtschaft und von seinem Gut. Kam ihm dabei zufällig irgendein Wort in denMund, das ihm Eindruck machte, so hatte er an ihm eine kindliche Freude und wiederholte es desTags wohl hundertmal, obgleich es in Wirklichkeit weder seine Gefühle noch seine Gedankenwiedergab. Ich versuchte es, ein Gespräch mit ihm über die Kinder in Gang zu bringen; aber ermachte sich davon in seiner alten Manier frei, indem er eilig ein paar Worte sagte und dann schnell zueinem andern Gegenstand überging: »Ja, ja! Die Kinder, die Kinder, Sie haben recht, die Kinder!«Nur einmal ließ er ein tieferes Empfinden erkennen (ich war gerade mit ihm auf dem Weg insTheater), indem er plötzlich anfing: »Es sind unglückliche Kinder; ja, mein Herr, ja, es sindunglückliche Kinder!« Und nun wiederholte er an diesem Abend mehrmals die Worte: »UnglücklicheKinder!« Als ich einmal von Polina zu sprechen anfing, geriet er geradezu in Wut: »Das ist einundankbares Frauenzimmer!« rief er. »Sie ist boshaft und undankbar! Sie hat Schande über dieFamilie gebracht! Wenn es hier Gesetze gäbe, so würde ich sie gehörig fassen! Jawohl, jawohl!«Was de Grieux betrifft, so konnte er es nicht einmal ertragen, dessen Namen zu hören: »DieserMensch hat mich ruiniert«, sagte er; »er hat mich bestohlen, er ist mein Halsabschneider gewesen!Ganze zwei Jahre lang habe ich das Verhältnis zu ihm wie ein Alpdrücken empfunden. Monatelanghabe ich jede Nacht von ihm geträumt! Das ist... das ist.... Oh, erwähnen sie ihn nie wieder mirgegenüber!«

Ich sah, daß zwischen ihm und Blanche eine Verständigung zustande kam; aber ich schwieg nachmeiner Gewohnheit. Eine Mitteilung darüber machte mir zuerst Blanche; es war genau eine Woche,bevor wir uns trennten. »Il a de la chance«, sagte sie in ihrer flinken Redeweise. »Seine Tante istjetzt wirklich krank und wird bestimmt nächstens sterben. Mister Astley hat ein Telegramm geschickt.Trotz allem Geschehenen wird er sie beerben; daran ist wohl kein Zweifel. Und selbst wenn das nichteintritt, wird er mir in keiner Weise lästig fallen. Erstens hat er seine Pension, und zweitens wird erin einer Hinterstube wohnen und sich dabei höchst glücklich fühlen. Ich werde madame la généralewerden. Ich werde in die gute Gesellschaft eintreten« (das war das Ziel, von dem Blanche immerträumte und schwärmte), »und später werde ich eine russische Gutsbesitzerin werden, j'aurai unchâteau, des moujiks, et puis j'aurai toujours mon million.«

»Na, aber wenn er eifersüchtig wird und von dir verlangt, daß du ... du verstehst?«

»O nein, non, non, non! Wie sollte er das wagen! Dem habe ich vorgebeugt; da brauchst du dich nichtzu beunruhigen. Ich habe ihn schon veranlaßt, einige Wechsel mit Alberts Namen zu unterschreiben.Sowie er unangenehm werden sollte, wird er sofort wegen Wechselfälschung bestraft; aber er wird esja nicht wagen!«

»Nun, dann heirate ihn ...«

Die Hochzeit fand ohne besonderen Prunk still im Familienkreise statt. Eingeladen waren Albert undnoch ein paar Bekannte. Hortense, Cléopâtre und andere Damen dieser Art wurden von diesem Festabsichtlich ferngehalten. Der Bräutigam war sehr stolz auf seine neue Würde. Blanche band ihmeigenhändig die Krawatte und pomadisierte ihm selbst das Haar; er sah in seinem Frack und in seinerweißen Weste très comme il faut aus.

»Il est pourtant très comme il laut«, äußerte Blanche mir gegenüber selbst, als sie aus dem Zimmerdes Generals herauskam; daß der General très comme il faut war, schien für sie selbst eine

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überraschende Entdeckung zu sein. Ich kümmerte mich bei dieser Hochzeit sehr wenig um dieEinzelheiten und nahm an dem ganzen Fest nur als müßiger Zuschauer teil; infolgedessen weiß ichheute nur noch mangelhaft, wie es dabei zuging. Ich erinnere mich nur, daß Blanche, wie jetzt aufeinmal bekannt wurde, gar nicht de Cominges hieß (ebenso wie ihre Mutter keine veuve Comingeswar), sondern du Placet. Warum die beiden sich bisher de Cominges genannt hatten, weiß ich nicht.Aber der General war auch hiermit sehr zufrieden, und der Name du Placet gefiel ihm sogar nochbesser als der Name de Cominges. Am Morgen des Hochzeitstages ging er, schon vollstämdig festlichgekleidet, immer im Salon auf und ab und sagte fortwährend mit überaus ernster, würdevoller Mienevor sich hin: »Mademoiselle Blanche du Placet! Blanche du Placet, du Placet! Jungfrau Blanka duPlacet!...« und dabei strahlte sein Gesicht von Eitelkeit. In der Kirche, beim Maire und zu Hause beimFrühstück war er nicht nur heiter und zufrieden, sondern sogar stolz. Mit ihm sowie mit seiner jungenFrau ging etwas Besonderes vor. Blanche hatte sogar eine Art von würdigem Aussehen angenommen.

»Ich muß mir jetzt ein ganz anderes Betragen zu eigen machen«, sagte sie zu mir mit großem Ernst;»mais vois-tu, an einen häßlichen Umstand hatte ich nicht gedacht: denk dir nur, ich kann immer nochnicht meinen neuen Familiennamen im Kopf behalten: Sagorjanski, Sagosianski, madame la généralede Sago... Sago... ces diables de noms russes, enfin madame la générale a quatorze consonnes!Comme c'est agréable, n'est-ce pas?«

Endlich trennten wir uns, und Blanche, diese dumme Blanche, fing beim Abschied von mir sogar anzu weinen. »Tu étais bon enfant«, sagte sie schluchzend. »Je te croyais bête et tu en avais l'air, aberdas steht dir gut.« Und als sie mir schon zum letzten Male die Hand gedrückt hatte, rief sie plötzlich:»Attends!« lief in ihr Boudoir und brachte mir einen Augenblick darauf von dort zweiTausendfrancscheine. So etwas hätte ich nie für möglich gehalten! »Das wird dir zustatten kommen;du bist vielleicht ein sehr gelehrter outchitel, aber ein schrecklich dummer Mensch. Mehr alszweitausend gebe ich dir auf keinen Fall; denn du verspielst es doch nur. Nun adieu! Nous seronstoujours bons amis, und wenn du wieder gewinnst, dann komm unter allen Umständen zu mir, et tuseras heureux.«

Ich besaß selbst noch fünfhundert Franc, und außerdem habe ich noch eine prachtvolle Uhr im Wertvon tausend Franc, Hemdknöpfe mit Brillanten und mehr dergleichen, so daß ich noch ziemlich langeZeit leben kann, ohne mir Sorgen zu machen. Ich habe mich absichtlich in diesem kleinen Städtchenniedergelassen, um mich zu sammeln, und, was die Hauptsache ist, ich erwarte Mister Astley.

Ich habe aus guter Quelle gehört, daß er hier durchkommen und sich in Geschäften einen Tag hieraufhalten wird. Von dem werde ich über alles, was mich interessiert, Auskunft erhalten ... und dann,dann sofort nach Homburg! Nach Roulettenburg will ich diesmal nicht fahren; vielleicht tue ich es imnächsten Jahr. Es soll ein böses Omen sein, wenn man sein Glück zweimal hintereinander an ein unddemselben Tisch versucht. Und dann ist auch in Homburg das wahre Spiel, das Spiel, wie es seinmuß.

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Siebzehntes Kapitel

Nun ist es schon ein Jahr und acht Monate, daß ich diese Aufzeichnungen nicht angesehen habe, underst heute bin ich in meinem Kummer und Gram zufällig auf den Einfall gekommen, sie zu meinerZerstreuung noch einmal durchzulesen.

Also ich blieb damals dabei stehen, daß ich nach Homburg fahren wollte. Wie leicht (das heißtverhältnismäßig leicht) war mir damals zumute, als ich diese letzten Zeilen schrieb! Ich will nichtsagen, daß mir so schlechthin leicht zumute gewesen wäre; aber was besaß ich für einSelbstvertrauen, wie unerschütterlich glaubte ich an die Erfüllung meiner Hoffnungen! An mir selbstzweifelte ich nicht im geringsten. Und nun ist nur wenig mehr als eine Zeit von anderthalb Jahrenvergangen, und ich bin meiner Ansicht nach weit schlechter als ein Bettler! Denn was hat ein Bettlergroß zu klagen? Armut ist kein Unglück. Ich aber habe geradezu mich selbst, meine Persönlichkeit,zugrunde gerichtet! Übrigens gibt es eigentlich kaum etwas, was ich mit mir in Vergleich stellenkönnte. Und es hätte keinen Zweck, wenn ich mir jetzt selbst eine Moralpredigt halten wollte! Nichtskann abgeschmackter sein als Moralpredigten in solcher Lage! O über die selbstzufriedenen Leute:mit welchem Stolz auf ihre eigenen Personen sind diese Schwätzer bereit, einem ihreSentenzenweisheit vorzutragen! Wenn sie wüßten, wie klar ich selbst die ganze Erbärmlichkeitmeines jetzigen Zustandes erkenne, so würden sie sich die Mühe sparen, mich belehren zu wollen. Inder Tat, was könnten sie mir Neues sagen, das ich nicht wüßte? Aber hier handelt es sich nicht umSagen und Wissen; hier handelt es sich darum, daß das Rad nur eine einzige Drehung zu machenbraucht, und alles ändert sich, und diese selben Moralprediger werden dann (das ist meine festeÜberzeugung) die ersten sein, die mit freundschaftlichen Scherzworten zu mir kommen, um mich zubeglückwünschen. Dann werden alle sich nicht so von mir abwenden, wie sie es jetzt tun. Hol sie alleder Teufel! Was bin ich jetzt? Zéro. Und was bin ich vielleicht morgen? Morgen erstehe ich vielleichtvon den Toten und beginne ein neues Leben! Ich kann in mir den Menschen wiederfinden, solange ernoch nicht ganz zugrunde gegangen ist.

Ich fuhr damals wirklich nach Homburg; aber ... ich war dann auch wieder in Roulettenburg, ich warauch in Spaa. ich war sogar in Baden, wohin ich als Kammerdiener eines Herrn Hinze gereist war; erwar Beamter mit dem Titel eines Rates, übrigens ein widerwärtiges Subjekt. Ja, ja, auch Diener binich gewesen, ganze fünf Monate lang! Das war, gleich nachdem ich aus dem Schuldgefängnisgekommen war. Ich habe nämlich auch im Schuldgefängnis gesessen, in Roulettenburg. EinUnbekannter kaufte mich los; wer mag es gewesen sein? Mister Astley? Polina? Ich weiß es nicht;aber die Schuld wurde bezahlt, im ganzen zweihundert Taler, und so kam ich frei. Wo sollte ichbleiben? So trat ich bei diesem Hinze in Dienst. Er war ein junger, leichtlebiger Mensch, der gernfaulenzte; ich aber verstehe drei Sprachen zu sprechen und zu schreiben. Ich war ursprünglich bei ihmals eine Art von Sekretär eingetreten, mit dreißig Gulden Monatsgehalt; aber ich wurde schließlichbei ihm ein bloßer Diener, da es auf die Dauer doch seine Mittel überstieg, sich einen Sekretär zuhalten, und er mein Gehalt verringerte; ich aber wußte keine andere Stelle, die ich hätte annehmenkönnen. So blieb ich denn bei ihm und wandelte mich auf diese Weise ganz von selbst in einen Dienerum. Ich gönnte mir in seinem Dienste weder Essen noch Trinken in auskömmlichem Maß, sparte miraber dadurch in den fünf Monaten siebzig Gulden. Und eines Abends in Baden machte ich ihm dieMitteilung, ich wolle aus seinem Dienst gehen, und noch an demselben Abend begab ich mich zum

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Roulett. Oh, wie pochte mir das Herz! Nein, nicht um das Geld war es mir zu tun! Damals wünschteich weiter nichts als dies: es möchten am folgenden Tage alle diese Hinzes, alle diese Oberkellner,alle diese eleganten Badener Damen, die möchten alle von mir reden, einander meinen gelungenenStreich erzählen, mich bewundern und loben und vor meinem neuen Spielgewinn eine Reverenzmachen. Das waren ja alles nur kindische Gedanken und Hoffnungen; aber ... wer konnte es wissen:vielleicht würde ich Polina treffen und ihr alles erzählen, und sie würde sehen, daß mir all diesealbernen Schicksalsschläge nichts hatten anhaben können ... Oh, nicht um das Geld war es mir zu tun!Ich war überzeugt, daß ich es wieder irgendeiner Blanche in den Schoß werfen und wieder in Parisdrei Wochen lang mit einem Paar eigener Pferde für sechzehntausend Franc umherkutschieren würde.Ich weiß ja recht gut, daß ich nicht geizig bin; ich halte mich sogar für einen Verschwender; abertrotzdem, mit welchem Zittern, mit welcher Herzbeklemmung höre ich jedesmal den Croupier rufen:trente et un, rouge, impair et passe, oder: quatre, noir, pair et manque! Mit welcher Gier blicke ichauf den Spieltisch, auf dem die Louisdors und Friedrichsdors und Taler umherliegen, und auf diekleinen Stapel von Goldstücken, wenn sie unter der Krücke des Croupiers in Häufchenauseinanderfallen, die wie feurige Glut schimmern, oder auf die eine halbe Elle langen Silberrollen,die um das Rad herumliegen. Schon wenn ich mich dem Spielsaal nähere und noch zwei Zimmer vonihm entfernt bin, bekomme ich fast Krämpfe, sobald ich das Klirren des hingeschütteten Geldes höre.

Oh, jener Abend, an dem ich meine siebzig Gulden zum Spieltisch trug, war für mich äußerstmerkwürdig. Ich begann mit zehn Gulden, und zwar wieder auf passe. Für passe habe ich eineVorliebe. Ich verlor. Es blieben mir noch sechzig Gulden in Silbergeld; ich überlegte und wähltezéro. Ich setzte auf zéro jedesmal fünf Gulden; beim dritten Einsatz kam plötzlich zéro; ich warhalbtot vor Freude, als ich hundertfünfundsiebzig Gulden bekam; so sehr hatte ich mich nicht einmaldamals gefreut, als ich die hunderttausend Gulden gewann. Sofort setzte ich hundert Gulden auf rouge– ich gewann; alle zweihundert auf rouge – ich gewann; alle vierhundert auf noir – ich gewann; alleachthundert auf manque – ich gewann; mit dem Früheren zusammen waren es jetzttausendsiebenhundert Gulden, und das in weniger als fünf Minuten! Ja, in solchen Augenblickenvergißt man alles frühere Mißgeschick! Ich hatte das erreicht dadurch, daß ich mehr als mein Lebengewagt hatte; ich hatte mich zu diesem Wagnis erkühnt, und siehe da, ich gehörte wieder zu denMenschen!

Ich nahm mir in einem Hotel ein Zimmer, schloß mich ein und saß bis drei Uhr nachts und zählte meinGeld. Am Morgen erwachte ich mit dem Bewußtsein, daß ich nicht mehr Diener war. Ich beschloß,gleich an diesem Tag nach Homburg zu fahren: dort war ich nicht Diener gewesen und hatte nicht imSchuldgefängnis gesessen. Eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges ging ich nochmals zum Roulett,um zweimal zu setzen, nicht öfter, und verlor tausendfünfhundert Gulden. Indes ich fuhr trotzdem nachHomburg und bin jetzt schon einen Monat hier.

Ich lebe natürlich in beständiger Aufregung, spiele nur mit ganz kleinem Einsatz und warte immer aufetwas; ich rechne fortwährend und stehe ganze Tage lang am Spieltisch und beobachte das Spiel;sogar im Traum glaube ich immer das Spiel zu sehen. Aber dabei habe ich eine Empfindung, als obich eine Holzpuppe geworden wäre, oder als sei ich in tiefem Schlamm steckengeblieben. Ichschließe das aus meinem Gefühl bei meinem Zusammentreffen mit Mister Astley. Wir hatten uns seitjenem verhängnisvollen Tag nicht wieder gesehen und begegneten einander nun unerwartet. Das gingfolgendermaßen zu. Ich ging im Park spazieren und überlegte, daß ich fast ganz abgebrannt war, da

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ich nur noch fünfzig Gulden besaß; im Hotel, wo ich ein geringes Kämmerchen bewohne, hatte ichmeine Rechnung zwei Tage vorher vollständig beglichen. Also blieb mir die Möglichkeit, jetzt nocheinmal zum Roulett zu gehen; gewann ich, und wenn's auch nur wenig war, so konnte ich das Spielfortsetzen; verlor ich, so mußte ich wieder Bedienter werden, falls es mir nicht gelang, schleunigsteine russische Familie zu finden, die einen Hauslehrer brauchte. Mit diesem Gedanken beschäftigt,schritt ich auf meinem gewöhnlichen Spazierweg dahin, der mich täglich durch den Park und einenWald nach dem benachbarten Fürstentum führte; manchmal machte ich auf diese Art eine vierstündigeWanderung und kehrte müde und hungrig nach Homburg zurück. Diesmal war ich kaum aus demKurgarten in den Park gelangt, als ich plötzlich auf einer Bank Mister Astley erblickte. Er hatte michzuerst bemerkt und rief mich nun an. Ich setzte mich neben ihn. Da ich an ihm ein ungewöhnlichernstes Wesen wahrnahm, so stimmte ich meine Freude sogleich herab; sonst hätte ich michaußerordentlich über das Wiedersehen gefreut.

»Also Sie sind hier! Das hatte ich mir wohl gedacht, daß ich Sie treffen würde«, sagte er zu mir.»Machen Sie sich nicht die Mühe zu erzählen, wie es Ihnen gegangen ist; ich weiß das, ich weiß dasalles; Ihr ganzes Leben in diesen zwanzig Monaten ist mir bekannt.«

»Ei, sehen Sie mal! Also so verfolgen Sie die Schicksale Ihrer alten Freunde!« antwortete ich. »Dasmacht Ihnen Ehre, daß Sie sie nicht vergessen ... Warten Sie mal, da bringen Sie mich auf einenGedanken: sind nicht etwa Sie derjenige gewesen, der mich aus dem Roulettenburger Gefängnislosgekauft hat, wo ich wegen einer Schuld von zweihundert Talern saß? Ein Unbekannter hat michlosgekauft.«

»Nein, o nein; ich habe Sie nicht aus dem Roulettenburger Gefängnis losgekauft, wo Sie wegen einerSchuld von zweihundert Talern saßen; aber ich wußte, daß Sie wegen einer solchen Schuld imGefängnis waren.«

»Also wissen Sie doch, wer mich losgekauft hat?«

»O nein, ich kann nicht sagen, daß ich weiß, wer Sie losgekauft hat.«

»Sonderbar; von meinen russischen Landsleuten war ich niemandem bekannt, und die Russen lassensich hier auch wohl kaum darauf ein, einen Landsmann aus dem Schuldgefängnis loszukaufen; daskommt wohl bei uns in Rußland vor; da erweist wohl ein Rechtgläubiger einem Glaubensgenosseneine solche Liebe. Darum hatte ich mir gedacht, es hätte es irgend so ein Kauz von Engländer aus Lustam Sonderbaren getan.«

Mister Astley hörte mich einigermaßen verwundert an. Er hatte wohl gedacht, mich in trüber,niedergedrückter Stimmung zu finden.

»Nun, ich freue mich sehr zu sehen, daß Sie sich Ihre ganze seelische Festigkeit, ja Heiterkeit bewahrthaben«, sagte er mit ziemlich unzufriedener Miene.

»Das heißt, innerlich knirschen Sie vor Ärger darüber, daß ich nicht geknickt und niedergeschlagenbin«, sagte ich lachend.

Er verstand nicht gleich; aber als er es dann verstanden hatte, lächelte er.

»Ihre Bemerkung gefällt mir. Ich erkenne in diesen Worten meinen früheren verständigen,

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idealgesinnten und dabei zugleich zynischen Freund wieder; nur die Russen bringen es fertig, solcheGegensätze in sich gleichzeitig zu vereinigen. In der Tat, der Mensch sieht gern auch seinen bestenFreund im Zustand der Erniedrigung vor sich; die Freundschaft basiert größtenteils auf derErniedrigung des einen und der Überlegenheit des andern; das ist eine alte, allen klugen Leutenbekannte Wahrheit. Aber im vorliegenden Falle kann ich Sie versichern, ich freue mich aufrichtigdarüber, daß Sie nicht niedergeschlagen sind. Sagen Sie, Sie beabsichtigen wohl nicht, das Spielaufzugeben?«

»Ach, hol das ganze Spiel der Teufel! Ich will es sofort aufgeben, ich möchte nur....«

»Sie möchten nur erst das Verlorene wiedergewinnen? Das habe ich mir wohl gedacht; Sie brauchennicht weiterzureden, ich weiß schon; das kam Ihnen ganz unwillkürlich heraus, also ist es Ihre wahreMeinung. Sagen Sie, außer dem Spiel beschäftigen Sie sich mit nichts?«

»Nein, mit nichts.«

Er fragte mich nach allerlei Dingen. Ich wußte nichts; ich hatte fast gar nicht in die Zeitungen gesehenund faktisch die ganze Zeit über kein Buch aufgeschlagen.

»Sie sind gegen alles stumpf und gleichgültig geworden«, bemerkte er. »Sie haben sich vom frischpulsierenden Leben losgesagt, sich losgesagt von Ihren eigenen Interessen und von denen derGesellschaft, von Ihrer Pflicht als Bürger und Mensch, von Ihren Freunden (und Sie hatten dochsolche), von dem Streben nach irgendeinem Ziel mit Ausnahme des Gewinnes im Spiel; ja, was nochmehr ist. Sie haben sich sogar von Ihren Erinnerungen losgesagt. Sie stehen mir noch vor der Seele,wie Sie damals waren, als in Ihnen Glut und Kraft lebten; aber ich bin überzeugt, Sie haben all Ihredamaligen guten und schönen Empfindungen vergessen; Ihre Zukunftspläne, Ihre Wünsche für jedenTag gehen jetzt nicht hinaus über pair, impair, rouge, noir, die zwölf mittleren Zahlen usw. usw.; dasist meine Überzeugung!«

»Hören Sie auf, Mister Astley; bitte, erinnern Sie mich nicht daran!« rief ich ärgerlich und beinahegrimmig. »Glauben Sie: ich habe nichts davon vergessen; nur zeitweilig habe ich das alles ausmeinem Kopf verbannt, sogar die Erinnerungen, nur so lange bis ich meine Verhältnisse gründlichgebessert haben werde; dann ... dann (das sollen Sie sehen!) werde ich von den Toten auferstehen!«

»Sie werden noch nach zehn Jahren hier sein«, erwiderte er. »Ich biete Ihnen eine Wette an, daß ichSie daran erinnern werde, wenn ich solange lebe, hier auf dieser Bank.«

»Na, nun hören Sie auf!« unterbrach ich ihn ungeduldig; »und um Ihnen zu beweisen, daß ich dieVergangenheit doch nicht so ganz vergessen habe, gestatten Sie mir die Frage: wo ist jetzt MißPolina? Wenn Sie es nicht gewesen sind, der mich damals loskaufte, dann war es wahrscheinlich sie.Seit unserer Trennung habe ich nicht das geringste von ihr gehört.«

»Nein, o nein! Ich glaube nicht, daß sie Sie losgekauft hat. Sie ist jetzt in der Schweiz, und Siewerden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie mich nicht weiter nach Miß Polina fragen«, sagte erin energischem und sogar zornigem Ton.

»Danach scheint es, daß sie auch Ihrem Herzen bereits eine schwere Wunde beigebracht hat!«erwiderte ich und mußte unwillkürlich lachen.

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»Miß Polina ist das beste, hochachtungswürdigste Wesen, das es auf der Welt gibt; aber ichwiederhole es Ihnen, Sie werden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie mich nicht weiter nach MißPolina fragen. Sie haben sie nie gekannt, und wenn Sie ihren Namen in den Mund nehmen, soempfinde ich das als eine Beleidigung meines sittlichen Gefühls.«

»Nun sehen Sie mal! Übrigens, was das Kennen betrifft, haben Sie unrecht. Und wovon könnte ichdenn auch mit Ihnen reden, wenn nicht davon? Sagen Sie selbst! Eben darin bestehen ja unsere ganzengemeinsamen Erinnerungen. Aber seien sie unbesorgt: ich habe kein Verlangen, die GeheimnisseIhres Seelenlebens zu erfahren. Ich interessiere mich nur für Miß Polinas äußere Lebenslage, für dasMilieu, in dem sie sich jetzt befindet. Das läßt sich doch in wenigen Worten sagen.«

»Meinetwegen, aber unter der Bedingung, daß mit diesen wenigen Worten die Sache abgetan ist. MißPolina war lange krank, und sie ist es auch jetzt noch; eine Zeitlang lebte sie bei meiner Mutter undmeiner Schwester im nördlichen England. Vor einem halben Jahr ist ihre Großtante gestorben (Sieerinnern sich wohl: jenes verrückte Weib) und hat ihr persönlich ein Vermögen von siebentausendPfund hinterlassen. Jetzt ist Miß Polina mit der Familie meiner verheirateten Schwester zusammen aufReisen. Ihr kleiner Bruder und ihre kleine Schwester sind gleichfalls durch das Testament derGroßtante versorgt und besuchen in London die Schule. Der General, ihr Stiefvater, ist vor einemMonat in Paris an einem Schlaganfall gestorben. Mademoiselle Blanche hat ihn gut behandelt, hataber alles, was er von seiner Tante geerbt hatte, sogleich auf sich übertragen lassen .... Das ist wohlalles.«

»Und de Grieux? Reist der auch in der Schweiz?«

»Nein, de Grieux reist nicht in der Schweiz, und ich weiß nicht, wo de Grieux ist; außerdem ersucheich Sie ein für allemal, dergleichen Andeutungen und ungehörige Zusammenstellungen zu unterlassen;andernfalls werden Sie es ganz sicher mit mir zu tun bekommen.«

»Wie? Trotz unserer früheren freundschaftlichen Beziehungen.«

»Ja, trotz unserer früheren freundschaftlichen Beziehungen.«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Mister Astley. Aber gestatten Sie die Bemerkung: in dem, wasich sagte, liegt nichts Beleidigendes und Ungehöriges; ich mache ja Miß Polina in keiner Weise einenVorwurf. Außerdem, ganz allgemein gesagt: ein Franzose und eine junge russische Dame, das ist eineKombination, Mister Astley, bei der wir beide, Sie und ich, die Gründe für ihr Zustandekommen nichtvollständig zu erkennen und zu begreifen vermögen.«

»Wenn Sie es vermeiden wollen, den Namen de Grieux zusammen mit dem andern Namen zuerwähnen, so würde ich Sie bitten, mir zu erklären, was Sie unter dem Ausdruck ›ein Franzose undeine junge russische Dame‹ verstehen. Was ist das für eine ›Kombination‹? Warum reden Sie geradevon einem Franzosen und gerade von einer jungen russischen Dame?«

»Sehen Sie, nun haben Sie doch Interesse dafür bekommen. Aber das ist ein Thema, das sich nicht sokurz abtun läßt, Mister Astley. Man muß sich vorher über mancherlei Voraussetzungen klarwerden.Übrigens ist es eine wichtige Frage, wie lächerlich das alles auch auf den ersten Blick aussehen mag.Der Franzose, Mister Astley, gilt als die vollendet schöne Form. Sie, als Brite, können es bestreiten,und ich, als Russe, tue es ebenfalls, man mag meinetwegen sagen: aus Neid; aber unsere jungen

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Damen sind anderer Meinung als wir. Sie können Racine eckig und verrenkt und parfümiert finden,und Sie werden ihn wahrscheinlich nicht einmal lesen. Ich finde ihn gleichfalls verkünstelt undverrenkt und parfümiert und in gewisser Hinsicht geradezu lächerlich; aber nach allgemeinerAnschauung ist er entzückend, Mister Astley, und vor allen Dingen ein großer Dichter, ob Sie und ichdas nun zugeben wollen oder nicht. Der nationale Typus des Franzosen, das heißt des Parisers, hatsich zu einer eleganten Form herausgebildet, als wir noch Bären waren. Die Revolution wurde dieErbin des Adels. Heutzutage kann der gemeinste Franzose Manieren, Gebärden, Redewendungen undsogar Gedanken von durchaus eleganter Form besitzen, ohne zu dieser Form durch eigene Tätigkeitmitgewirkt zu haben oder an ihr mit seiner Seele und seinem Herzen beteiligt zu sein: es ist ihm allesdurch Erbschaft zugefallen. An und für sich können sie die hohlsten, gemeinsten Gesellen sein. Jetztnun, Mister Astley, will ich Ihnen verraten, daß es auf der ganzen Welt kein zutraulicheres,offenherzigeres Wesen gibt als eine gutherzige, hinreichend kluge, nicht zu verkünstelte russischejunge Dame. Wenn nun so ein de Grieux in einer theatralischen Rolle, mit einer Maske vor seinemwahren Gesicht erscheint, so kann er mit größter Leichtigkeit ihr Herz erobern; er hat die eleganteForm, Mister Astley, und die junge Dame hält diese Form für seine eigene Seele, für die natürlicheForm seiner Seele und seines Herzens, und nicht für ein Gewand, das er durch Erbschaft erlangt hat.Gewiß zu Ihrem größten Miß- vergnügen muß ich Ihnen gestehen, daß die Engländer größtenteils rechteckig und unelegant sind; die Russinnen aber besitzen ein sehr feines Urteil für Schönheit und fühlensich zu ihr besonders hingezogen. Um dagegen die Schönheit einer Seele und die Eigenart einerPersönlichkeit zu erkennen, dazu ist sehr viel mehr Selbständigkeit und Unbefangenheit des Urteilserforderlich, als unsere Frauen und nun gar unsere jungen Damen besitzen, und jedenfalls auch mehrErfahrung. Miß Polina – verzeihen Sie; aber das ausgesprochene Wort kann man nicht zurückholen –wird eine sehr, sehr lange Überlegung nötig haben, ehe sie sich dazu entschließt, Sie dem Schuft deGrieux vorzuziehen. Sie wird Sie hochschätzen, Ihre Freundin sein, Ihnen ihr ganzes Herzaufschließen; aber in diesem Herzen wird doch der schändliche Schurke, der ekelhafte, armseligeWucherer de Grieux herrschen. Und schon allein Eigensinn und Eitelkeit werden diesem ZustandDauer verleihen, weil dieser selbe de Grieux ihr früher einmal mit der Aureole eines elegantenMarquis erschienen ist, eines enttäuschten liberalen Idealisten, eines Mannes, der ihrer Familie unddem leichtsinnigen General hilfreich war und sich dabei selbst zugrunde richtete (wenn's wahr wäre).Alle diese Verkleidungen sind ja nachher als solche erkannt worden; aber das tut nichts; trotzalledem: wenn Sie ihr jetzt den früheren de Grieux wiedergeben könnten, so hätte sie alles, was siehaben möchte! Und je mehr sie den jetzigen de Grieux haßt, um so mehr sehnt sie sich nach demfrüheren, obgleich der frühere nur in ihrer Vorstellung existiert hat. Sie sind Zuckerfabrikant, MisterAstley?«

»Ja, ich bin jetzt bereits Kompagnon bei der bekannten Zuckerfirma Lowell und Comp.«

»Nun, dann sehen Sie selbst, Mister Astley: auf der einen Seite ein Zuckerfabrikant, auf der andernSeite ein Apollo von Belvedere; das ist ein schroffer Gegensatz. Und ich bin nicht einmalZuckerfabrikant; ich bin weiter nichts als ein armseliger Roulettspieler und bin sogar Bedientergewesen, was Miß Polina wahrscheinlich schon weiß, da sie ja, wie es scheint, von einer gutenGeheimpolizei bedient wird.«

»Sie sind verbittert, und deshalb reden Sie all diesen Unsinn«, erwiderte nach kurzem NachdenkenMister Astley kaltblütig. »Übrigens war in dem, was Sie sagten, nichts Neues und Originelles

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enthalten.«

»Das gebe ich zu! Aber gerade das ist das Schreckliche, mein verehrter Freund, daß alle diese meineBeschuldigungen, so alt und vulgär und possenhaft sie auch sein mögen, doch der Wahrheitentsprechen! Jedenfalls haben wir beide, Sie und ich, bei Miß Polina nichts erreicht!«

»Das ist abscheulicher Unsinn ... denn ... denn ... nun, so mögen Sie es denn wissen!« rief MisterAstley mit zitternder Stimme und funkelnden Augen. »So mögen Sie denn wissen. Sie undankbarerund unwürdiger, armseliger und unglücklicher Mensch, daß ich mit Absicht nach Homburg gekommenbin, in ihrem Auftrag, um Sie wiederzusehen, eingehend und herzlich mit Ihnen zu reden und ihr dannalles zu berichten: welches Ihre Gefühle und Empfindungen seien, welche Gedanken und Pläne Siehegten, was Sie von der Zukunft hofften, und... wie sie der Vergangenheit gedächten!«

»Wirklich? Ist das die Wahrheit?« rief ich, und die Tränen stürzten mir stromweise aus den Augen.Ich konnte sie nicht zurückhalten; es war wohl das erstemal in meinem Leben.

»Ja, Sie unglücklicher Mensch, sie hat Sie geliebt, und ich kann Ihnen das jetzt mitteilen, weil Sie einverlorener Mensch sind! Noch mehr: selbst wenn ich Ihnen sage, daß sie Sie noch heutigen Tagesliebt, so werden Sie trotzdem hierbleiben! Ja, Sie haben sich selbst zugrunde gerichtet. Sie besaßeneinige Fähigkeiten und einen lebhaften Charakter und waren kein schlechter Mensch; Sie hätten sogarIhrem Vaterland nützlich sein können, das an tüchtigen Männern wahrlich keinen Überfluß hat; aber –Sie werden hierbleiben, und Ihr Leben ist abgeschlossen. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. MeinerAnsicht nach sind alle Russen von dieser Art, oder sie neigen wenigstens dazu. Ist es nicht dasRoulett, so ist es etwas anderes, dem Ähnliches. Ausnahmen sind nur sehr selten. Sie sind nicht dererste, der kein Verständnis dafür hat, was Arbeit bedeutet. (Ich rede nicht von den unterenVolksschichten in Ihrem Lande.) Das Roulett ist ein spezifisch russisches Spiel. Bisher waren Sienoch ehrenhaft und entschlossen sich lieber dazu, Bedienter zu werden, als zu stehlen... Aber es istmir ein furchtbarer Gedanke, was noch in Zukunft alles geschehen kann. Aber genug! Leben Sie wohl!Sie sind gewiß in Geldnot? Hier haben Sie zehn Louisdor; mehr werde ich Ihnen nicht geben, da Siedas Geld ja doch nur verspielen werden. Nehmen Sie, und leben Sie wohl! So nehmen Sie doch!«

»Nein, Mister Astley, nach allem, was wir jetzt miteinander gesprochen haben...«

Neh-men – Sie!« rief er. »Ich bin überzeugt, daß Sie noch ein anständiger Mensch sind, und gebe esIhnen so, wie ein Freund einem wahren Freunde etwas geben darf. Könnte ich überzeugt sein, daß Sieunverzüglich das Spiel aufgeben, Homburg verlassen und in Ihr Vaterland zurückreisen würden, sowäre ich bereit, Ihnen sofort tausend Pfund zu geben, damit Sie eine neue Lebenslaufbahn beginnenkönnten. Aber eben deswegen gebe ich Ihnen nicht tausend Pfund, sondern nur zehn Louisdor, weiltausend Pfund und zehn Louisdor jetzt für Sie doch ein und dasselbe sind; Sie verspielen es doch nur.Nehmen Sie, und leben Sie wohl!«

»Ich nehme es, wenn Sie mir erlauben, Sie zum Abschied zu umarmen.«

»Oh, mit Vergnügen!«

Wir umarmten uns herzlich, und Mister Astley ging weg.

Nein, er hat nicht recht! Wenn ich törichterweise mich zu scharf über Polina und de Grieux aussprach,so hat er vorschnell ein zu scharfes Urteil über die Russen gefällt. Von mir will ich nicht reden.

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Übrigens ... übrigens handelt es sich vorläufig um all das gar nicht: das sind alles nur Worte undwieder Worte, und hier sind Taten nötig! Die Hauptsache ist für mich jetzt die Schweiz! Morgen – owenn ich gleich morgen hinfahren könnte! Ich will von neuem geboren werden, ich will auferstehen.Ich muß ihnen beweisen ... Polina soll sehen, daß ich noch imstande bin ein Mensch zu sein. Ichbrauche ja nur ... Jetzt ist es freilich schon zu spät, aber morgen ... Oh, ich habe ein Vorgefühl, und esmuß, es muß so kommen! Ich habe jetzt zehn Louisdor und fünfzig Gulden, zusammen fünfzehnLouisdor, und ich habe früher schon mit fünfzehn Gulden angefangen zu spielen. Wenn man am Anfangvorsichtig ist ... Aber bin ich denn wirklich ein so kleines Kind? Begreife ich denn nicht, daß ich einverlorener Mensch bin? Aber doch ... warum sollte ich nicht auferstehen können? Ja! Ich brauche nurein einziges Mal im Leben ein guter Rechner zu sein und Geduld zu haben; das ist alles! Ich brauchemich nur ein einziges Mal charakterfest zu zeigen, und in einer Stunde kann ich mein Schicksal völligumändern! Die Hauptsache ist Charakterfestigkeit. Ich brauche nur daran zu denken, wie es mir indieser Hinsicht vor sieben Monaten in Roulettenburg ging, in der Zeit vor meinem völligenZusammenbruch. Oh, das war ein merkwürdiger Beweis von Entschlußfähigkeit! Ich hatte damalsalles verspielt, alles. Ich verließ das Kurhaus, da merkte ich, daß in meiner Westentasche noch einGulden steckte. »Ah«, dachte ich, »da habe ich ja noch etwas, wofür ich Mittagbrot essen kann!«Aber nachdem ich hundert Schritte weitergegangen war, wurde ich anderen Sinnes und kehrte wiederum. Ich setzte diesen Gulden auf manque (beim vorigen Mal war manque gekommen), und wirklich,es ist eine ganz besondere Empfindung, wenn man ganz allein, in fremdem Land, fern von der Heimatund allen Freunden, ohne zu wissen, was man an dem Tag essen soll, den letzten Gulden setzt, denallerletzten! Ich gewann, und nach zwanzig Minuten verließ ich das Kurhaus mit hundertsiebzigGulden in der Tasche. Das ist eine Tatsache! Da sieht man, was manchmal der letzte Guldenausrichten kann! Aber was wäre aus mir geworden, wenn ich damals den Mut verloren und nichtgewagt hätte, einen kühnen Entschluß zu fassen?...

Morgen, morgen wird alles zum guten Ende kommen!

Die wichtigsten handelnden Personen

Der General: Witwer

Polina Alexándrowna, auch Praskówja: seine Stieftochter

Alexéj Iwánowitsch: Hauslehrer im Hause des Generals, Spieler und Erzähler dieses Romans

Mademoiselle Blanche de Cominges, alias Mademoiselle

Barberini, alias Mademoiselle Selma, alias Mademoiselle du Placet: Verlobte und spätere Frau desGenerals

Antonída Wassíljewna Tarassewitschewa: Gutsbesitzerin, Tante des Generals

Marquis de Grieux: Gläubiger des Generals

Mister Astley: englischer Zuckerfabrikant

Weitere Personen

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Márja Filíppowna: Schwester des Generals

Míscha und Nádja: seine Kinder

Fedósja: Kinderfrau im Hause des Generals

Madame veuve de Cominges:

Potápytsch: Haushofmeister von Antonída Wassíljewna Tarasséwitschewa

Márfa: ihre Zofe

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