61

Flucht aus dem Adlerhorst

Embed Size (px)

Citation preview

AtlanIm Auftrag der Kosmokraten

Nr. 695

Flucht aus dem AdlerhorstIn den Fängen Yog-Mann-Yogs

von Peter Griese

Im Jahr 3818 wird Atlan aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor herausgerissen. Sein neuer Einsatzort ist die Galaxis Alkordoom, wo eine Entwicklung im Gang ist, die das weitere Bestehen

der Mächte der Ordnung in Frage stellt.

Bereits die ersten Stunden von Atlans Aufenthalt in Alkordoom zeigen auf, wie gefährlich die Situation ist. Der bestandene Todestest und der Einsatz im Kristallkommando beweisen jedoch Atlans hohes Überlebenspotential. Dennoch hätte der Arkonide längst sein Leben verloren, hätten die Celester, nach Alkordoom entführte Terra-Abkömmlinge, oder ANIMA, das von den Kosmokraten ausgesandte Raumschiff, nicht zugunsten Atlans eingegriffen.

In seinem Bestreben, mehr über die Zusammenhänge in Alkordoom zu erfahren, speziell im Hinblick auf die sogenannten Facetten und deren Lenker, den sogenannten Erleuchteten, ist unser Held bereits große Risiken eingegangen, wie die gewagten Unternehmungen in der Sonnensteppe beweisen.

Gegenwärtig befindet sich Atlan im sogenannten Adlerhorst in der Gefangenschaft der Facette Yog-Mann-Yog, die den Sektor Janzonborr beherrscht. Der Arkonide soll zum Handlanger der Facette werden, doch Atlan sinnt auf die FLUCHT AUS DEM ADLERHORST…

Die Hauptpersonen des Romans:Arien Richardson – Der Feuerwehrmann auf Atlans Seite.

Colemayn – Der Weltraumtramp überzeugt den Celester.

Atlan – Der Arkonide soll Chef der Stählernen Horde werden.

Klecks – Ein biologisches Kunstwesen.

Yog-Mann-Yog – Die Facette erlebt eine Niederlage.

1.Der Mann hockte auf einem Felsen und starrte auf die ferne Sonne Kahrmacrynn, die sich mit ihren roten Strahlen dem Horizont näherte. Vor seinen Blicken breitete sich eine weite und trockene Ebene des Planeten Crynn, der Hauptwelt der Facette Zulgea von Mesanthor, aus. Ein kühler Abendwind frischte auf und strich durch die sanft gekräuselten schwarzen Haare des Celesters.

Arien Richardson dachte nach.

In seinem Rücken erhob sich in nur wenigen Kilometern Entfernung der höchste Berg dieser Welt, den man seit den Zeiten, zu denen die eingeborenen Jukter hier noch allein gelebt hatten, Mauntenn nannte. Auf dem Gipfel des Berges befand sich das Pyramidon, der Herrschaftssitz der Facette. Nun lenkte dort Flora Almuth die Geschicke des Raumsektors Kontagnat. Eine erste Besserung der Verhältnisse in der Galaxis Alkordoom zeichnete sich damit ab. Inwieweit sie auf die Sektoren der anderen, noch dem Erleuchteten hörigen Facetten übergreifen würde, war noch nicht absehbar. Aber ein Zeichen war gesetzt worden.

Arien Richardsons ganze Sorge galt seinem Volk, den von den Menschen der Erde abstammenden Celestern, und damit auch den Verhältnissen auf seiner Heimatwelt New Marion, im Raumsektor Kontagnat und damit letztlich auch in Alkordoom selbst.

Unweit des Berges Mauntenn standen mehrere Raumschiffe der Celester. Die Kugelschiffe strahlten Ruhe und Sicherheit aus. Sie waren ein Garant dafür, daß die ewigen Machtkämpfe zwischen den Facetten nicht mehr im Sektor Kontagnat aufbranden konnten. Entscheidend sorgte dafür jedoch Zulgea von Mesanthor alias Flora Almuth. Sie lenkte nun schon seit Wochen ihre Integrale und die führenden Leute der Crynn-Brigade in einem neuen Sinn. Und das mit Erfolg. Die Grenzen wurden gesichert, aber es erfolgten keine Übergriffe mehr in die Nachbarsektoren.

Arien Richardson befürwortete diese Entwicklung von ganzem Herzen. Er wollte weiter alles in seinen Kräften Stehende tun, um sie zu fördern und ganz Alkordoom vom unmenschlichen Zwang des Erleuchteten zu befreien. Nun aber war etwas eingetreten, was ihn von diesem Ziel abbringen wollte.

Sie hatten einen Sieg über die Boten des Juwels aus dem Nukleus errungen. Es war ein teurer und hart erkämpfter Sieg gewesen, aber sie hatten die unsichtbaren Roboter vernichtend geschlagen. Flora Almuth war noch voller Sorge, denn sie rechnete damit, daß der Erleuchtete sich diese Ereignisse nicht gefallen lassen würde. Die Facette hatte ihren Tribut, die festgelegte Menge an Psi-Potentialen, nicht an die Boten abgeliefert. Mehr noch, sie und ihre Helfer – so mußte es der Erleuchtete sehen – hatten die Boten nahezu vollständig ausgeschaltet. Das Juwel im Nukleus würde toben, wenn es davon erfahrt. Und es würde es erfahren!

Ariens Sorge galt daher der Sicherheit von Kontagnat und der von Flora Almuth, die ja – wie er – aus dem Volk der Celester stammte.

Bei den Raumschiffen regte sich nichts. Die Celester warteten darauf, wie sich ihr »Feuerwehrmann« entscheiden würde. Die Frist stand fest. Einen Tag Bedenkzeit hatte Arien Richardson eingeräumt bekommen. Sicher jagten auch jetzt noch die Hyperfunksprüche zwischen dem Pyramidon und New Marion hin und her. Die jüngsten Ereignisse wurden detailgetreu übermittelt und ausgewertet.

Arien Richardson kannte das Ergebnis. Eine entscheidende Gefahr war abgewendet worden. Die generelle Gefahr durch den Erleuchteten war dadurch jedoch nur noch größer geworden.

Der Umschwung in Kontagnat war eigentlich nur dem Auftauchen eines Mannes zu verdanken. Dieser Mann war der Arkonide Atlan, der unversehens auf Crynn aufgetaucht war, wo man ihn für einen Celester gehalten hatte. Für Arien war das damals Grund genug gewesen, den Weißhaarigen aus den Fängen der Crynn-Brigade zu befreien und nach New Marion zu bringen. Atlan hatte sich als ein Fremder aus einer fernen Galaxis entpuppt. Diese Galaxis war die Milchstraße, aus der die

Vorfahren der heutigen Celester vor rund 2000 Jahren entführt worden waren.

Arien und die Celester verdankten Atlan sehr viel. Es gab kaum Stimmen zu Hause, die verlauten ließen, daß mit dem Arkoniden auch die Unruhe größer geworden war. Übergriffe anderer Facetten hatte es immer gegeben. Die jüngste Attacke des Gentile Kaz mit dem Spielhöllenschiff ROULETTE war ein typisches Beispiel dafür gewesen. Die ROULETTE wäre auch ohne Atlans Auftauchen erschienen. Aber ihre Wirkung wäre möglicherweise viel negativer gewesen, wenn der Arkonide nicht auf New Marion gewesen wäre.

Arien Richardson war sich all dieser Dinge bewußt. Dennoch gab es einen Punkt in seinen Überlegungen, der ihn daran hinderte, seinen bisherigen Weg zum Wohl seines Volkes aufzugeben und sich praktisch ausschließlich an die Seite des Arkoniden zu stellen und dessen Aktivitäten zu unterstützen.

Aber genau das erwartete Colemayn ganz offensichtlich von ihm.

Colemayn! Er wirkte wie ein alter Celester, aber er mußte etwas anderes sein. Er wirkte überzeugend, ohne aufdringlich zu sein. Man konnte ihm gefühlsmäßig kaum widerstehen.

Einen zwingenden Grund gab es für den Feuerwehrmann der Celester nicht, sich mit der Forderung des Weltraumtramps auseinanderzusetzen. Er tat es dennoch, weil er gar nicht anders handeln konnte. Er mußte mit sich und seinen Zielen ins Reine kommen. Ein Tag erschien ihm dafür zu kurz.

Er konnte ohne weiteres Colemayn nicht mehr beachten und den Weg gehen, den er für richtig hielt. Niemand würde ihn daran hindern. Und der Weltraumtramp war nicht der Typ, der auf etwas beharrte. Seine Aussagen waren Vorschläge und Anregungen, aber es war verflixt schwer, sich diesen zu widersetzen, denn eine tiefe Überzeugungskraft untermalte jeden Satz des Alten.

Arien Richardson blickte auf die bewaldete Anhöhe, die sich in Rufweite seines Aufenthaltsorts wie eine einsame Insel in der tristen Landschaft erhob. Am Waldrand brannte ein kleines Feuer. Dicht daneben schlängelte sich ein fast ausgetrockneter Bach durch die Steppe.

In der hereinbrechenden Dämmerung erkannte der Celester die in Pelze gehüllte Gestalt Colemayns. Er war sich sicher, daß der Tramp wußte, daß er hier auf diesem Felsen hockte und die Einsamkeit suchte, um über alles nachzudenken. Er war sich aber auch sicher, daß Colemayn ihn mit keinem Blick beachten würde.

Atlan hatte Arien von seiner Begegnung mit dem seltsamen Mann berichtet und Colemayn als hilfsbereit und freundlich geschildert. Entweder hatte der Arkonide ganz bewußt geschwiegen, welche Überzeugungskraft der Alte ausstrahlte, oder aber diese hatte ihn selbst nicht berührt.

Arien ließ eine Handvoll Sand durch seine Finger rieseln. Die gelben Körner strömten an dem Felsbrocken hinab, bildeten kleine Anhäufungen, die sich wieder auflösten, wenn ein größeres Stück sie traf und formten schließlich ein unregelmäßiges Muster auf dem Boden.

»Wirr«, sprach der Celester zu sich selbst und starrte auf den Sand zu seinen Füßen. »Wirr wie alles in Alkordoom und wie Alkordoom selbst.«

Sein Stiefel fuhr in einer heftigen Bewegung durch den Sand. Etwas Staub wirbelte auf, aber er legte sich schnell wieder. Das wirre Muster hatte sich verändert, aber es besaß noch immer keine logische Form.

»Du hast ein Chaos gegen das andere vertauscht«, wisperte eine Stimme, und erst jetzt wurde sich Arien dessen bewußt, daß er nicht wirklich allein war.

Mycara war bei ihm, die blinde Birzerin. Das pelzige Schlangenwesen war zu seiner ständigen Begleiterin geworden, seit er es auf Birzt gerettet hatte. Wie wertvoll Mycara war, hatte sich längst bewiesen. Sie war bei den Kämpfen erblindet, aber ihre Psi-Sinne waren dabei in ungewöhnlicher Weise erwacht. Arien bezeichnete sie als Allroundorter, und sie nannte sich »Ariens Satellit«. Das

Gespann aus den so gegensätzlichen Intelligenzen würde sich sicher noch einspielen. Vorerst war Arien damit sehr zufrieden, dieses Wesen bei sich zu haben, das mehr wahrnehmen konnte als er.

Mycara war etwa so lang wie Ariens Oberarm. Sie besaß keine Gliedmaßen, und ihr Körper war an keiner Stelle dicker als Ariens Handgelenk. Ihr Fell war kurzhaarig, dicht, weich und silbergrau. Der Kopf war kugelförmig und deutlich größer als der Rumpfdurchmesser. Die kleine Schnauze mit den scharfen Zähnen und die schwarze Stupsnase waren in dem dichten Fell kaum erkennbar.

Wie sich Mycara ringelnd mit ihrem Körper bewegte, war dem Celester noch immer ein Rätsel, denn selbst mit dem glatten Fell glitt sie behend an fast senkrechten Wänden empor. Um vom Boden zu Ariens Hals zu gelangen, den sie zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatte, benötigte Mycara nur drei oder vier Atemzüge. Dort pflegte sie sich wie ein Halsschmuck um den Nacken zu legen und ihren Kopf in die Kombination des Mannes zu stecken. Als Lebewesen war sie so kaum erkennbar.

Mit ihrer leisen und hohen Stimme flüsterte sie Arien das zu, was sie in ihrer Umgebung mit dem Psi-Sinn erfaßte. Daß diese Orterfähigkeit weit über die Entfernungen eines Planeten hinausragen konnte, hatte der Feuerwehrmann schon erfahren.

»Ein Chaos ist so schlecht wie das andere«, antwortete Arien. Seine Blicke lagen wieder auf der Gestalt Colemayns, dessen Körper im Schein des Lagerfeuers zu zittern schien.

»Die Auswirkungen der züngelnden Flammen«, erklärte die Birzerin und bewies damit, daß sie auch Ariens Gedanken mit der gleichen Leichtigkeit aufnehmen konnte wie die wirren Muster der Sandhäufchen.

»Natürlich.« Arien Richardson erhob sich.

»Was wirst du tun? Etwas, was deinem Satelliten gefällt? Bitte nimm wieder Platz. Es war so beschaulich, dich beim Nachdenken zu erleben. Der rigorose Arien denkt! Ein seltenes Erlebnis für mich.«

»Nicht frech werden.« Der Celester hockte sich wieder auf den Felsen. »Was würdest du an meiner Stelle tun?«

»Mich wieder nach Birzt bringen. Diese Welt ist meine Heimat. Dort gehöre ich hin.«

»Dein Heimweh!« Arien seufzte ehrlich. »Du weißt, daß ich dir diesen Wunsch jetzt nicht erfüllen kann. Das Chaos, das du dort antreffen würdest, bedeutete deinen Tod. Auch ich habe Heimweh. Nach New Marion. So lange wie diesmal bin ich noch nie von Drei-B und meinen Freunden ferngeblieben. Ich kann dich ja verstehen.«

»Du hast recht, aber du verstehst mich nicht.«

»Willst du dich mit mir streiten? Du weißt so gut wie ich, was Colemayn von mir verlangt.«

Mycara glitt wieselflink an Ariens Körper hinunter. Mit ihrem Leib formt sie geschickte aus den vielen Anhäufungen im Sand einen kleinen Hügel.

»Alkordoom«, pfiff sie schrill und schnellte auf Ariens rechtes Knie. Von dort ließ sie sich in den Sand fallen, der nach allen Seiten gleichmäßig zerstäubte.

»Das machst du, Arien.« Sie kroch wieder zu seiner Halspartie hoch. »Du würdest alles zertrümmern, wenn du könntest, denn mit deinen puritanischen Engstirnigkeiten siehst du nur das Übel, das beseitigt werden muß. Die wahre Lösung liegt an einer anderen Stelle. Du mußt allen zum Guten verhelfen, indem du die Wurzeln des Übels entfernst.«

»Alkordoom hat unzählige Wurzeln des Übels«, entgegnete Arien mürrisch. Er war unzufrieden darüber, daß Mycara seine Überlegungen so unvermutet gestört hatte. Sicher würde sie auch das spüren, aber nicht darauf eingehen. Sie besaß eine eigene starke Persönlichkeit.

»Es gibt nur ein Übel hier«, schrillte das bepelzte Schlangenwesen. »Das ist der Erleuchtete. Und

gegen den stellt sich Atlan. Du aber läßt ihn im Stich und verfolgst deine Nahziele, die scheinbare Sicherheit der Celester. Dabei solltest du wissen, daß es nie einen wirklichen Frieden und eine echte Sicherheit auf New Marion geben wird, wenn der Erleuchtete im Nukleus noch die Geschicke von Alkordoom lenkt.«

»Du stellst dich also auf Colemayns Seite?« Der Celester war empört. »Wie verträgt sich das mit deinem Heimweh?«

»Wenn der Erleuchtete nicht mehr in Alkordoom wäre«, antwortete die Birzerin kaum hörbar, »könnte ich ohne Risiko nach Birzt zurückkehren. Und du und deine Celester könnten in Frieden leben. Hast du immer noch nicht gemerkt, daß es Atlan ist, der den richtigen Weg verfolgt?«

»Pah! Was weißt du von Atlan? Du kennst ihn nicht einmal!«

»Ich weiß das über ihn, was du oder Flora oder die anderen Celester wissen. Das genügt mir.« Sie steckte ihren Kopf in Ariens Kragen.

»Und was weiß Colemayn über den Arkoniden? He, Satellit!« Der Celester faßte in das Fell seines kleinen Begleiters. »Berichte mir von Colemayns Gedanken! Wer ist das? Was will er?«

»Er ist ein intelligentes Wesen, und er hätte gern eine etwas größere Forelle an seinem Spieß über dem Feuer, aber er hat keinen besseren Fang gemacht.« Mycara sprach schnell. Danach verschwand ihr Kopf wieder in Ariens Overall.

»Du weichst mir aus!«

»Nun gut.« Der Kopf des Wesens blieb unsichtbar. »Er denkt nur ganz normale Dinge. Ich habe nie etwas anderes bei ihm bemerkt. Vielleicht ist er so normal, daß er für dich bereits wieder fremd ist.«

Arien fühlte sich von diesen Worten irgendwie unangenehm berührt. Er traute Mycara nicht ganz und vermutete vielmehr, daß sie ihm etwas über Colemayn verschwieg. Oder war der Alte wirklich so harmlos?

»Wir gehen zu ihm«, entschied er und erhob sich.

»Du gehst zu ihm«, korrigierte ihn die Birzerin.

»Wirst du jetzt spitzfindig.« Der Celester wurde noch unwirscher. Er fühlte sich nicht wohl. Mycara verzichtete auf eine Entgegnung.

Der Abendwind frischte plötzlich stark auf. Arien fröstelte. Er zog die Kombination enger. Seine Blicke suchten den Wald mit Colemayns Lagerfeuer, aber er sah nur eine graue Nebelwand, die urplötzlich da war. Er machte drei Schritte voran, als Mycara einen warnenden Pfiff ausstieß. Im selben Moment glaubte er, in ein Erdloch zu treten, das er in der Dämmerung übersehen hatte. Der Boden sackte unter seinen Füßen weg.

Verzweifelt suchte er Halt, aber, da war nichts mehr. Der Nebel, der eben noch mindestens hundert Schritte entfernt gewesen war, hüllte ihn ein.

Arien Richardson stürzte in eine bodenlose Tiefe. Der Nebel veränderte sich zu einem tiefen Schwarz. Jemand schrie, und der Celester brauchte Sekunden in seinem taumelnden Fall, bis er merkte, daß dies seine eigene Stimme war.

Der Sturz war endlos. Er versuchte, irgend etwas zu erkennen oder zu erfassen, aber da war nichts außer der bodenlosen Schwärze. Mit Mühe stabilisierte er seine Lage mit rudernden Armen.

»Mycara!« rief er. Seine Stimme klang seltsam verzerrt und besaß ein vielfältiges Echo. »Hörst du mich?«

»Ja«, kam die leise, pfeifende Antwort. »Ich habe Angst, Arien.«

»Was ist geschehen, Kleines?«

Die Allroundorterin schwieg zunächst. Arien fühlte, wie sie sich enger an ihn klammerte. Er

wiederholte die Frage.

»Ich weiß es nicht. Ich spüre nur noch dich. Sonst nichts. Die Leere ist furchtbar. Ich will nach Hause.«

Noch immer zeichnete sich kein Ende des Sturzes ins Nichts ab. Immerhin trug dies dazu bei, daß Arien sich allmählich mit der völlig fremdartigen Situation abfinden konnte. Auf Mycara konnte er nicht mehr zählen. Sie war entweder zu benommen, um mit ihren Psi-Sinnen noch etwas zu orten, oder da war wirklich nichts. Letzteres war eine physikalische Unmöglichkeit, sagte sich der Celester. Und doch wirkte auf ihn alles real.

»Wir bewegen uns nicht«, behauptete Mycara plötzlich. »Es ist eine Täuschung deiner Sinne. Geh einfach weiter!«

Arien bewegte seine Füße, als ob er auf festem Boden stünde und voranschritt. Im gleichen Moment hatte auch er das Empfinden, daß der Sturz in die bodenlose Leere unwirklich gewesen war.

Er spürte aber noch immer keinen festen Grund unter den Füßen.

»Vorsicht!« schrie Mycara auf.

Die schwarzen Nebelschwaden teilten sich. Ein stahlgrauer Hintergrund und eine metallene Bodenfläche wurden sichtbar. Automatisch bewegte sich der Feuerwehrmann darauf zu. Aus den verwehenden Wolken schälte sich eine kopflose Gestalt und tappte mit rudernden Armen auf Arien Richardson zu.

Der Kopflose stieß mit blubbernder Stimme ein Wort aus, das der Celester deutlich verstand:

»Atlan!«

Dann hechtete er sich aus dem Stand auf den Mann und warf ihn zu Boden. Arien fiel mit dem Hinterkopf auf die Metallfläche. Ihm schwanden die Sinne. Das letzte, was er wahrnehmen konnte, war Mycara, die sich blitzschnell von seinem Körper löste und irgendwo verschwand.

2.Jemand rüttelte an seinen Schultern und flößte ihm dann eine bittere Flüssigkeit ein. Mühsam fand Arien Richardson wieder zu sich. Er schlug die Augen auf und starrte in das Gesicht Atlans.

»Wo kommst du denn her?« preßte er hervor.

Der Arkonide antwortete nichts. Er blickte den Celester nur unsagbar traurig an und schüttelte leicht den Kopf. Arien leerte den dargebotenen Becher in einem Zug. Das bittere Zeug erwärmte ihn in Sekunden. Seine Sinne kehrten vollständig zurück.

Er erhob sich und blickte um sich. Die Nebelschwaden hatten eine etwas hellere Tönung angenommen, aber sie waren unverändert vorhanden. Weiter als etwa 20 Schritte konnte der Celester nicht blicken. Auch der glatte Metallboden war noch da. Alles wirkte real, aber doch unwirklich. Selbst Atlans Erscheinung paßte in dieses verwirrende Bild.

Unwillkürlich faßte Arien an seinen Hals.

»Wo ist mein Satellit?« fragte er. Seine Stimme bekam auch jetzt ein vielfältiges Echo, das erst nach Sekunden verhallte.

»Atlan!« Er packte den Arkoniden an den Schultern und schüttelte ihn heftig. Der ließ sich scheinbar willenlos bewegen. »Antworte!«

Unendlich langsam hob Atlan seine rechte Hand. Sie deutete in Ariens Rücken. Der Celester drehte sich um, aber da war nichts anderes als die Nebelwand.

»Willst du mich foppen, Weißhaar?« Zornig drehte er sich in die ursprüngliche Lage zurück. Blubberndes Gelächter schlug ihm entgegen. Direkt vor ihm, dort, wo eben noch Atlan gestanden war, ragte jetzt die breite Gestalt des kopflosen Monsters in die Höhe. Das glucksende Gelächter kam aus einer blasenförmigen Öffnung, die etwa da saß, wo ein Celester den Nabel hatte.

Der Kopflose besaß ansonsten die Gestalt eines Menschen. Er wirkte etwas zu dick. Bekleidung erkannte Arien nicht. Die Haut war glatt, haarlos und gelb. Die Füße wirkten plump. Zehen waren nicht zu erkennen. Die Oberkante des Körpers reichte etwa bis in die Höhe von Ariens Hals. Das Monstrum schwenkte einen Arm zur Begleitung seines dunklen und blubbernden Gelächters. Dieser Arm bewegte sich schlangenartig. Er schien keine Knochen oder etwas Ähnliches zu enthalten. Der zweite Arm lag auf dem Rücken, so daß Arien nur diesen einen sehen konnte. Der endete in einem Greiflappen, der wenig appetitlich aussah.

»Wo ist Atlan?« schrie Arien, den Kopflosen an.

Der unterbrach sein Gelächter.

»Hier!« triumphierte er und holte den Arm hinter dem Rücken hervor. Im Greiflappen zappelte Mycara.

»Gib sie sofort her!« Arien stürzte auf die Gestalt zu, aber diese sprang behend zur Seite. Der Celester torkelte ins Leere. Wieder brandete das Gelächter auf.

»Für Klecks bist du zu dumm«, grollte der Kopflose.

Arien verharrte. Er mußte einen kühlen Kopf bewahren, sagte er sich, um diese fremdartige Situation noch zu seinen Gunsten zu wenden.

»Okay«, sagte er und streckte als Beweis seiner Friedfertigkeit beide Hände von sich. »Du heißt also Klecks. Mein Name ist Arien. Ich habe kein Interesse daran, mich mit dir herumzubalgen. Sei also bitte vernünftig und rücke die Kleine heraus. Sie gehört zu mir.«

»Der einzige«, blubberte Klecks zurück, »der hier nicht vernünftig ist, bist du, Richardson.«

»Du kennst mich?« staunte der Feuerwehrmann von New Marion.

»Atlan hat mir von dir erzählt«, lautete die rätselhafte Antwort.

»Atlan.« Arien konnte sich nur mit Mühe beherrschen. »Eben war er noch hier. Wo ist er jetzt?«

»Er ist nicht hier, klar?« Gelächter begleitete diese Worte. »Ich bin auch nicht hier. Nur du bist hier. Du und dieser Wurm.«

Bei den letzten Worten warf er Mycara achtlos zu Boden. Die Birzerin schlängelte flink zu Arien und kletterte an seinem Körper hoch. Halb zusammengerollt blieb sie auf seiner rechten Schulter sitzen. Sie fuhr ihren Kopf in die Höhe und blickte in Klecks’ Richtung.

»Du brauchst ihn nicht zu fürchten«, flüsterte sie aufgeregt Arien ins Ohr. »Er ist nicht wirklich da. Ich kann ihn nicht orten. Hier geschieht etwas Merkwürdiges.«

»Nur du bist hier«, wiederholte Klecks voller Hohn. »Ich verachte dich. Man läßt seine Freunde nicht im Stich, wenn sie in Gefahr sind!«

»Was willst du damit sagen, Kopfloser?« Ariens Verärgerung gewann wieder die Oberhand.

Ein Nebelschwaden wehte zwischen den beiden ungleichen Gestalten vorbei, und aus ihm schälte sich die Figur des Arkoniden. Atlans Blick zeugte noch immer von einer tiefen Traurigkeit. Aber etwas anderes fiel dem Celester auf. Atlan war an den Händen und den Füßen mit dicken Eisenschellen und -ketten gefesselt.

Klecks sank plötzlich in sich zusammen. Er breitete sich aus wie eine breiige Masse und verformte sich zu einem unregelmäßigen Fladen von wenigen Zentimetern Dicke. Der teppichförmige Körper umfloß auch den Platz, wo Atlan stand.

»Weißhaar«, preßte Arien hervor. »Sag doch etwas.«

Der Mund des Arkoniden blieb stumm.

Plötzlich schnellte der Teppichkörper Klecks’ wieder in die Höhe und nahm die frühere Form an. Seine dicken Arme bildeten sich in Sekundenbruchteilen aus. Die Greiflappen formten sich zu Ballen. Das kopflose Wesen schnellte in die Höhe. Seine Ballenfäuste droschen dem Arkoniden auf die Schultern.

Der knickte erst zusammen und verschwand dann im Metallboden. Ein paar Fetzen seiner silbernen Kombination waren das einzige, was zurückblieb.

»Nichts da«, wisperte Mycara. »Nichts ist wirklich.«

»Ich sehe das verdammt real, Kleines.« Arien stieß entgegen allen Gewohnheiten der Celester einen derben Fluch aus. Er schnappte sich die Birzerin und setzte sie auf dem Boden ab.

Dann stürzte er sich auf Klecks. Der bewies, daß sein teigig wirkender Körper durchaus kräftig war. Die Arme mit den Greiflappen griffen nach dem Hals des Feuerwehrmanns und versuchten diesen zu würgen. Mit einem Gewaltschlag auf die Oberarme wehrte Arien diesen Angriff ab.

Klecks stieß einen Klagelaut aus. Sofort setzte der Celester nach. Seine Fausthiebe trafen den Kopflosen in der Magengegend, aber Arien bezweifelte, daß sich dort wirklich ein Magen befand.

»Nicht übel«, blubberte Klecks. »Du taugst ja wirklich etwas. Wenn Atlan das wüßte!«

Arien hörte nicht mehr auf die unsinnigen Worte. Er umschlang mit beiden Armen den Körper des Kopflosen und preßte ihn mit aller Kraft zusammen. Klecks stöhnte. Allmählich wurden seine Bewegungen langsamer. Arien ließ ihn kurz los und versetzte ihm einen gewaltigen Tritt.

Klecks torkelte rückwärts. Bevor er wieder das Gleichgewicht fand, war der Celester bei ihm. Seine Hände zuckten nach vorn und packten den Kopflosen am Hals.

Am Hals? Arien glaubte, seinen Sinnen nicht mehr trauen zu können. Klecks besaß keinen Hals! Und doch war da einer! Und darüber befand sich ein knollenförmiger Kopf mit übergroßen Augen, die feurig leuchteten.

»Egal!« Wutentbrannt stürzte er sich auf das Monstrum und drückte ihm auf die Kehle. Klecks’ Kräfte erlahmten mehr und mehr. Das Feuer wich aus den Augen. Lange weiße Haare schossen aus der Kopfpartie. In Sekunden veränderte sich das Wesen.

Traurige Augen starrten Arien entgegen. An seihen Unterarmen fühlte er die Kombination des Kopflosen, der nun plötzlich einen Kopf besaß.

Kombination? Klecks war bar jeder Kleidung gewesen.

Arien starrte seinen Gegner an. Das war kein Monstrum. Was er da zu erwürgen versuchte, war der Arkonide Atlan!

Wie von einer Tarantel gestochen, schnellte der Feuerwehrmann in die Höhe. Atlan taumelte nach hinten und fiel kraftlos auf den Rücken. Er bewegte sich nicht mehr.

»Aufhören!« pfiff Mycara neben Arien und kletterte an ihm hoch.

Die Nebelwände lösten sich schlagartig auf. Dunkelheit nahm Arien in Besitz, bis er den Lichterschein wahrnehmen konnte, der von einem kleinen offenen Feuer kam. An einem einfachen Holzspieß hing eine Bachforelle. Der Bratenduft strich Arien über die Nase. Bäume ragten vor ihm in die Höhe. In der Nähe plätscherte ein Bach.

Ariens Blicke suchten die Gestalt Atlans. Diese lag verkrümmt auf dem Boden und regte sich langsam. Das Gesicht wurde im Feuerschein erkennbar.

Es war nicht der Arkonide. Es war Colemayn!

*

»Du hättest mich beinahe umgebracht.« Der Weltraumtramp strich seine Fellkleidung glatt. »Vermutlich hast du mich mit jemand verwechselt. Es war also nicht deine Schuld, daß du mich angegriffen hast. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.«

Er machte eine einladende Geste zum Lagerfeuer.

»Es gibt Forelle mit Wasser«, erklärte er. »Schmackhaft und gesund. Sei mein Gast.«

Arien Richardson stand wie verdattert da. Er brachte kein Wort über seine Lippen. Schweigend hockte er sich auf den moosüberzogenen Stein, den ihm Colemayn anbot.

Mit der Geduld des Alters zerteilte Colemayn den gebratenen Fisch und reichte dem Celester eine Hälfte auf einem Stück Borke. Arien war so benommen, daß er noch immer schwieg. Ein verbeulter Blechbecher mit Wasser folgte. Arien nahm auch ihn und tat einen tiefen Zug.

»Iß!« Colemayn lächelte ihm aufmunternd zu. »Ich weiß, es ist nicht viel, aber ich konnte keine größere fangen. Crynn ist in der Beziehung eine kärgliche Welt. Das Angebot der Natur ist dürftig.«

»Ich hatte wohl eine Art Wachtraum.« Ariens Hand mit dem Stück Borke und dem gebratenen Fisch sank nach unten. »Es war furchtbar. Alles so wirklich und doch nicht wahr.«

»So etwas gibt es.« Colemayn biß herzhaft in sein Stück und nahm den Becher aus der Hand des Celesters. »Manchmal hat es eine Bedeutung. Manchmal spielt einem aber auch nur das Unterbewußtsein einen bösen Streich. Und manchmal ist es beides.«

»Wer bist du?« fragte Arien. Vorsichtig probierte er den Fisch.

Der Weltraumtramp wartete mit einer Antwort, bis er sein kleines Mahl beendet hatte.

»Ich bin Colemayn«, sagte er dann.

»Das ist eine sehr aufschlußreiche Antwort«, höhnte Arien, der allmählich seine Selbstsicherheit

wiedergewann. »Woher kommst du?«

»Ich weiß es nicht, mein Freund. Ich bin einfach zu alt, um mich zu erinnern. In meinem Kopf spuken viele Gedanken herum. Um ihn nicht zu überlasten, verdränge ich alle unwichtigen Dinge. Das mag dir komisch erscheinen, aber es ist der beste Weg zur Sicherung meiner Existenz.«

»Er spricht die Wahrheit«, flüsterte Mycara. »Er ist anders als die Celester.«

»Ich hatte auch einmal einen Wachtraum«, plauderte Colemayn weiter. »Ich stand am Rand eines Abgrunds, und hinter mir hob ein Handlanger der Mächte des Chaos seine Faust, um mich in den Tod zu stürzen. Ich sprang freiwillig in den Tod, um dem Frevler nicht den Genuß zu verschaffen, mich zu entfernen. Erzähle mir von deinem Traum, Arien, wenn du willst.«

Der Celester schluckte den letzten Bissen herunter und nahm noch einmal den alten Blechbecher für einen langen Schluck.

»Es war eigentlich kein Traum«, erklärte er dann. »Ich weiß nur kein besseres Wort dafür, denn Mycara hat das gleiche erlebt wie ich. Also muß es etwas Wirkliches gewesen sein. Ich traf Atlan und ein Monstrum namens Klecks. Die beiden ließen sich kaum unterscheiden. Mal war der eine da, dann der andere. Und am Ende, als mich die echte Wirklichkeit einholte, warst du es, Colemayn.«

»Du bist auf mich zugestürzt und wolltest mich erwürgen.« Der Tramp erhob sich und ging zum Bach. Dort füllte er den Becher. Als er zurückkehrte, legte er ein paar Holzscheite aufs Feuer und nahm wieder Platz. »So sah dein Traum aus meiner Sicht aus.«

Arien Richardson berichtete ausführlich, was ihm wiederfahren war. Colemayn unterbrach ihn nicht einmal und stellte auch keine Fragen, als der Celester schwieg.

»Du hast einen Hilferuf empfangen«, meinte er nur.

»Ganz schön raffiniert«, begehrte Arien impulsiv auf. »Ich hätte mir denken können, daß du die Geschichte für dich ausnutzen willst. Du hast mich aufgefordert, meine Aktivitäten zum Wohl der Celester aufzugeben und mich ganz auf Atlans Seite zu schlagen.«

»Niemand beeinflußt deine Entscheidung, Arien«, antwortete der Alte freundlich. »Wenn der Tag abgelaufen ist, den ich dir zum Nachdenken angeboten habe, werde ich gehen, egal, was du tun wirst.«

»Meine Entscheidung ist gefallen«, meldete sich Mycara laut. Sie knabberte an einer Wurzel, die neben Ariens Stiefeln aus dem Waldboden ragte. »Wenn sich in Alkordoom etwas ändert, dann nur durch diesen Atlan. Ich kenne ihn nun aus dem Traum: Er war voller Trauer und Verzweiflung. Atlan muß wirklich in Gefangenschaft sein. Vielleicht war dieser Klecks ein Ebenbild der Facette Yog-Mann-Yog? Es ist so, wie du es gesagt hast, Colemayn. Das Traumerlebnis war ein Hilferuf aus unendlicher Ferne.«

Der Weltraumtramp antwortete nichts. Er stocherte mit einem Stock im Feuer herum und tat, als ob ihn das alles wenig interessierte.

»Du hast die Mächte des Chaos erwähnt, Colemayn«, interessierte sich der Feuerwehrmann von New Marion. »Erzähle mir davon.«

»Viel weiß ich nicht.« Der Tramp blickte Arien frei in die Augen. »Aber das, was ich weiß, will ich dir gern sagen. Deine kleine Welt New Marion ist nicht mehr als ein Staubkorn in diesem Kosmos. Und dennoch besitzt auch ein Staubkorn seine Bedeutung für das Ganze. Es gibt zwei Gegenpole in unserem Universum. Ich nenne sie die universelle Ordnung und die universelle Unordnung. Beide verfügen über Kräfte, die wir nicht verstehen. Diese Kräfte können sich auch in lebenden Konfigurationen widerspiegeln. Irgendwie gehört jeder Faktor entweder zur einen Seite oder zur anderen.«

Er nahm einen Schluck aus dem Becher und fuhr dann fort.

»Die höchsten Vertreter der ordnenden Kräfte, die es meines Wissens gibt, nennt man die Kosmokraten. Bisweilen spricht man auch von den Hohen Mächten. Sie existieren jenseits der Grenzen des dir bekannten Universums, aber wir gehören zu ihnen und sie zu uns, und wir alle sind ein Ganzes dieser universellen Ordnung. Frage mich nicht, wie die Kosmokraten aussehen oder was sie für deine Begriffswelt darstellen. Solche Fragen kann man nicht beantworten. Und wenn man etwas von den tieferen Zusammenhängen allen Seins verstanden hat, stellt man derartige Fragen auch nicht mehr.«

»Ich glaube an Gott, den einen Gott«, warf Arien ein.

»Dein Gott, Arien«, sagte Colemayn, »muß etwas sein, was dir unendlich ferner ist als der fernste Kosmokrat. Wenn dein Glaube dein wirkliches Bedürfnis deiner Seele ist, so muß er auch richtig sein. Doch laß mich fortfahren. Die Geschicke der Völker werden direkt oder indirekt von den Kosmokraten und ihren Helfern oder Beauftragten beeinflußt. Sie wirken sanft, die Hohen Mächte, aber ihr Ziel ist die positive Ordnung. Ihre Gegenspieler nennt man die Mächte des Chaos. Wer diese verkörpert, weiß ich auch nicht. Man verspürt nur die Auswirkungen. Die Mächte des Chaos bedienen sich auch bestimmter Helfer. Oftmals wissen diese gar nicht, wem sie in die Hände arbeiten, und verfolgen nur die Ziele, die aus der eigenen Machtbesessenheit erwachsen sind. Letzten Endes ist jedes Staubkorn, du, ich, der Felsen auf dem du hockst oder der Erleuchtete von Alkordoom ein Mosaikstein im ewigen Kampf der Gegenpole des Universums.«

»Du meinst, mein Gott stünde noch meilenweit über deinen Kosmokraten?« Arien hatte Colemayns ersten Satz nicht vergessen, wie seine Frage bewies.

»Ja«, antwortete der weise Alte schlicht. »Der Glaube und der seelische Halt eines Menschen hat nichts mit den Mächten des Chaos zu tun, die nicht dein Teufel sind, und auch nichts mit deinem Gott, der dir Kraft gibt und dein Gewissen weckt, wenn du zu spontan bist.«

Arien Richardson schubste ein kleines Stück Holz mit dem Fuß ins Feuer, daß die Funken aufsprühten.

»Gut«, murmelte er. »Einverstanden.«

Eine Minute des Schweigens verging.

»Warum«, fragte Colemayn dann, »sind Menschen der Erde auf New Marion? Warum wurden sie von ihrem Heimatplaneten, der Erde der Milchstraße, entfernt? Hat das einen Sinn im Spiel der kosmischen Kräfte? Oder war es Zufall?«

»Du fragst mich?« Der Celester lachte heiser und verlegen. »Du bist der Weise! Nicht ich.«

»Ich weiß nicht viel, Arien. Je mehr man weiß, um so mehr spürt man, daß man zu wenig weiß. Eine bittere Erkenntnis des Alters.«

»Wie alt bist du, Colemayn?«

Nun war der Tramp derjenige, der ein verlegenes Lachen von sich gab. »Ich weiß es nicht, Mensch. Ich habe es vergessen, weil es nicht wichtig ist. Aber ich erinnere mich an die Zeit, als deine Vorfahren nach Alkordoom gebracht wurden. Irgend jemand hatte den Voorndanern den Auftrag gegeben. Vielleicht waren es die gleichen Kräfte gewesen, die Atlan nach Alkordoom brachten. Ich vermute es.«

»Atlan!« Mycaras Köpfchen wippte aufgeregt. »Der Wachtraum. Was ist mit ihm?«

»Er ist ein Gefangener der Facette Yog-Mann-Yog.« Colemayns Augen bekamen einen seltsamen Glanz. »Er befindet sich in der Gewalt des Leuchtenden im Sektor Janzonborr auf der Kunstwelt, die man Adlerhorst oder Spucknapf nennt. Er braucht Hilfe. All das sagte ich Arien Richardson bereits.«

»Du hast mehr gesagt, Colemayn.« Die Stimme des Celesters klang etwas rauh. »Du warst der Ansicht, daß ich ihm helfen solle.«

»Ich bin der Ansicht, daß du tun und lassen kannst, was du willst.« Auch diese scheinbar harten Worte strahlten eine unendliche Gelassenheit aus. »Das gilt noch jetzt.«

»Ich wäre bereit, Atlan zu helfen«, sagte der Feuerwehrmann von New Marion, »wenn…«

»Hurra!« unterbrach ihn der spitze Schrei Mycaras. »Hurra! Und nochmals…«

Ariens Hand war sanft, aber energisch. Sie brachte die Birzerin zum Schweigen. »Wenn«, fuhr er fort, »du mir sagen würdest, woher du diese Dinge weißt. Du kannst mir viel erzählen. Von Hohen Mächten oder vom Chaos, von Atlan oder sonst etwas.«

»Ich weiß es einfach.« Colemayn senkte seinen Blick. »Eine andere Erklärung für dein stürmisches Herz besitze ich nicht.«

Mycara pfiff. »Die Wahrheit«, flüsterte sie dann. »Er muß uralt sein. Und sonderbar. Erklären kann ich es nicht. Aber er spricht die Wahrheit.«

»Der Wachtraum, Colemayn«, fragte Arien hartnäckig. »Warst du der Steuermann?«

»So wahr mir dein Gott helfe, Arien«, sprach der Weltraumtramp leise und überzeugend. »Nein! Das kam allein aus dir.«

Mycara steckte ihren Kopf in Ariens Nacken und schwieg. Colemayn starrte noch immer auf den trockenen Waldboden. Kein Wort kam über seine runzligen Lippen. Arien Richardson verknotete seine Hände ineinander und atmete schwer. Der Nachtwind strich sanft durch die Büsche und Bäume, und das Knistern des Feuers verdrängte das unregelmäßige Geplätscher des Baches. Irgendwo in der Nähe heulte ein Nachtvogel.

Die Herzschläge verrannen ohne Worte. Keiner nahm Maß an der Zeit. Arien war stumm wie ein Fisch.

Schließlich erhob sich Colemayn. Er ging zu der Stelle, wo ihn der Celester hatte erwürgen wollen, und nahm seine gelbe Pudelmütze auf, die dort noch im Moos lag. Seine linke Hand strich behutsam über die rote Quaste und entfernte ein paar Staubkörner. Arien beobachtete ihn nicht. Er starrte geradeaus, als ob er das Ende des Universums entdecken wolle. Colemayn rückte die Mütze auf seinem Kopf zurecht und tastete nach dem verbeulten Blechbecher. Er ging zum Bach und kam mit dem gefüllten Gefäß zurück. Er nahm einen Schluck, während er sich auf den Boden hockte, aber er gab den Becher nicht weiter an Arien.

Dessen Kopf war in den Händen versunken. Der Celester wirkte wie eine Statue. Die Kämpfe, die er in seinem Innern ausfocht, waren nicht zu bemerken. Nur Mycara würde sie spüren, aber in Anbetracht der persönlichen Entscheidung, die Arien zu fällen hatte, zog auch sie sich zurück.

Arien Richardson öffnete den Mund, aber bevor eine Silbe hörbar wurde, schlossen sich die Lippen wieder.

»Du kannst dich nicht entscheiden.« Colemayns rauchige Stimme war wenig lauter als das Knistern des Feuers. Der Tramp kramte einen braunen Stengel aus seinem Fellumhang hervor und biß herzhaft auf den Kautabak. »Das ist gut. Es beweist, daß dein Gehirn noch funktioniert.«

Auch jetzt gab der Celester mit keiner Reaktion zu erkennen, daß er seine Umgebung wahrnahm. Er blieb in seiner starren Haltung hocken und wich jedem Blick aus.

Colemayn öffnete die Verschlüsse seiner Sandalen und kippte den Sand heraus, der sich zwischen dem Leder und seiner Fußsohle angesammelt hatte. Mit unendlicher Geduld schnürte er das einfache Schuhwerk wieder zusammen.

Plötzlich ging ein Ruck durch Arien.

»Es gibt zwei Möglichkeiten.« Seine Worte kamen etwas zu hastig. »Entweder du bist verrückt. Oder ich.«

Der Weltraumtramp nahm einen erneuten Schluck Wasser.

»Oder wir beide«, sagte er dann.

»Drei«, piepste Mycara.

Der Celester erhob sich. Er zog ein kleines Funkgerät aus der Oberschenkeltasche.

»Richardson an Flora Almuth. Ich brauche eine Verbindung mit Drei-B. Bereite ihn darauf vor, daß ich aus den Diensten unseres Volkes ausscheide, um Atlan zu finden und an seiner Seite die Wurzel des Bösen von Alkordoom zu beseitigen. Die Kosmokraten brauchen vielleicht noch so einen Verrückten, wie ich es bin. Und Atlan braucht mich.«

Er blickte auf Colemayn, als erwarte er eine Reaktion von dort. Aber der Weltraumtramp war verschwunden. Wo er gesessen war, lag ein Kleinod, das wie eine Doppelmünze aussah. Sonst gab es keine Spur mehr von dem Alten.

3.»Ich weiß nicht, wie er verschwand. Er war einfach nicht mehr da.« Mycara wirkte aufgeregt. »Aber ich habe seinen letzten Gedanken erfassen können. Er wußte, daß ich das tue.«

»Was?« wollte Arien wissen.

»Seine Gedanken. Sie waren für dich bestimmt.«

Der Celester hob die Doppelmünze vom Boden auf. Ein solch seltsames Ding hatte er noch nie gesehen. Es bestand aus zwei kreisrunden Metallkörpern, die wie Münzen aussahen. Es gab jedoch keine Prägung. Alle Flächen waren absolut glatt. Die beiden Metallscheiben hatten den Durchmesser einer halben Daumenlänge. Sie steckten senkrecht zueinander ineinander. Die Kanten der sich begegnenden Seiten waren zu Dreiecksformen verjüngt und an den Kanten gerade.

»Wichtig«, behauptete Mycara. Arien steckte das merkwürdige Ding in seine Brusttasche.

Das Feuer begann zu erlöschen.

»Du wolltest doch Colemayns Gedanken wissen«, meldete sich die Allroundorterin erneut. Ihr Köpfchen kam hervor und bewegte sich vor dem Gesicht des Mannes. »Er nennt die Doppelmünze das Sambol. Das klingt wie Symbol, und was das Sam bedeutet, wußte auch Colemayn nicht. Seine Gedanken waren aber klar. Er hat das Sambol vor langer Zeit geschenkt bekommen, aber er hat es nie benutzt. Er wußte, wie es funktioniert. Er wußte, daß ich seine Gedanken empfing, und er hoffte, daß ich sie dir mitteile. Das tu ich jetzt. Wenn du einmal in großer körperlicher Not sein solltest, so kann dir das Sambol Hilfe bringen. Es hilft aber nur bei Krankheit, Seuche oder schwerer Verletzung oder dergleichen. Es ist ein Instrument des Friedens. Beachte die dünne Kette aus goldenen Ringen. Nimm es aus der Tasche und hänge es um deinen Hals. Es wird meinen Aufenthaltsort nicht stören, denn es ist gut.«

»Schnickschnack«, meinte Arien abfällig, aber er holte die Doppelmünze hervor. Da war tatsächlich ein Kettchen, aber das war sehr dünn.

»Häng es dir um«, drängte Mycara. »Colemayn hat es nie gebraucht, aber du bist nicht Colemayn.«

Ariens Blicke gingen hinüber zu den Raumschiffen seiner Celester. Er wußte, daß er diese für lange Zeit nicht mehr sehen würde, denn sein Entschluß, den Weißhaarigen zu suchen, stand unverrückbar fest. Er streifte sich das Sambol um den Hals. Die Birzerin gab willig Platz und legte sich dann darum. Die Doppelmünze mit den abgeschrägten Flächen lag nun kurz unter Ariens Adamsapfel.

»Danke«, pfiff Mycara. »Colemayn wußte, wie der Notruf erfolgen sollte. Drehe die beiden Scheiben so, daß sie in einer Ebene sind, wenn du die körperliche Hilfe brauchst. Das ist alles.«

»Alles?« Arien schielte auf die beiden kleinen Metallkörper.

»Eigentlich nicht. Der Tramp hat noch mehr gedacht. Aber das wird dich wohl nicht interessieren.« Mycara zog sich unter Ariens Kleid zurück.

»Bist du übergeschnappt, Kleines?« Ariens Blicke lagen auf Mauntenn, wo kein Licht etwas davon verriet, daß hier die Facette von Kontagnat lebte und daß sie jetzt mit Drei-B, dem Kopf der Celester, sprach, denn zweifellos hatten ihre Integrale den Funkspruch Ariens empfangen.

»Es interessiert dich also?« Die Allroundorterin wirkte amüsiert.

»Du weißt es doch längst«, entgegnete Arien. »Ich weiß, daß du meine Gedanken ständig belauschst.«

»Nur manchmal«, schwächte Mycara ab. Dann rasselte sie eine Zahlenreihe herunter. »Die Koordinaten des Adlerhorsts. Dort befindet sich Atlan. Colemayn wußte nicht, woher er diese Kenntnis hatte. Es müssen richtige Daten sein. Das spüre ich. Der Bezugspunkt für die Zahlenwerte sei New Marion. Verstehen kann ich das alles nicht, aber so hat er gedacht.«

Das Feuer war niedergebrannt. Arien Richardson schritt zügig voran. Er ging davon aus, daß er Colemayn nie mehr sehen würde, aber das störte ihn nicht. Er wußte, was er zu tun hatte.

Das Funkgerät gab ein Signal.

»Ja, hier AR«, sprach er in das Mikrofon.

»Drei-B. Du kriegst, was du brauchst. Ein Schiff und eine gute Crew aus gestandenen Celestern.«

»Danke«, antwortete der Feuerwehrmann. »Werdet ihr mich vermissen, wenn ich mich an Atlans Fersen hefte?«

»Ja«, antwortete das Oberhaupt der Celester aus vielen Lichtjahren Entfernung. »Wir werden dich vermissen. Aber Spooner und Volkert machen das schon. Und bedanken brauchst du dich nicht bei mir. Höchstens bei Sarah.«

»Danke.« Die Lichter der Raumschiffe am Fuß des Berges Mauntenn kamen immer näher.

»Flora ist sehr einverstanden. Und du bekommst die VIRGINIA, das Schiff unserer Väter, die auf der Erde in Amerika lebten.«

Das war symbolisch gemeint, und daher antwortete Arien nicht.

»Finde Atlan!« Drei-Bs Stimme wurde härter. »Für Sarah!«

»Ich finde ihn«, antwortete Arien Richardson. »Nicht in erster Linie für Sarah. Aber für die Freiheit von Alkordoom und für das Wohl der universellen Ordnung.«

»Kommst du zurück, Arien?«

Der Feuerwehrmann hatte die Raumschiffe erreicht. Wachen kamen aus den Schatten der Nacht, erkannten ihn und begrüßten ihn.

»Ich komme wieder.« Er hatte das Funkgerät abgeschaltet, und im Hyperfunkrelais der Facette würde man das merken. Er sprach zu sich fast allein, denn nur Mycara würde seine Gedanken vernehmen. »Ganz bestimmt, Drei-B. Ich komme wieder. Mich macht nichts kaputt. Im Vergleich zu Atlan bin ich ein kleiner Fisch. Einem Beauftragten der Kosmokraten kann man nicht mit dem Vorsatz begegnen, besser zu sein. Aber man kann ihm helfen. Selbst wenn man dabei vor die Hunde geht – wie Colemayn in seinem Wachtraum.«

»Ich mag dich«, flüsterte Mycara. »Bringst du mich später nach meiner Heimat Birzt?«

»Wenn ich kann, Kleines, ja!«

»Du kannst!«

Carl Nimahi trat auf ihn zu, als er in der Schleuse stand. Arien kannte den Positroniker seit langem.

»Wenn du mich als Betreuer des VIRGINIA-Kätzchens brauchst, Feuerwehrmann, ich bin dabei.«

»Danke, Carl.« Ariens Gesichtszüge entkrampften sich. Er wußte aus den früheren Zeiten, daß Nimahi Positroniken nur zu gern als »Kätzchen« bezeichnete. Auch als Techniker war Carl Nimahi ein Spitzenmann.

»Sie mögen dich«, wisperte Mycara. »Ich mag dich auch, selbst dann, wenn du mir die Rückkehr nach Birzt verwehrst. Irgendwann wirst du meinen Wunsch erfüllen.«

Ein älterer Celester trat auf der Gangway Arien entgegen. Der Feuerwehrmann von New Marion erinnerte sich daran, diesen Mann als Ausbilder in seiner Jugendzeit gehabt zu haben.

»Colobar Tuira«, kam es spontan über seine Lippen. »Mein früherer Logistikdozent. Du bist noch aktiv?«

»Ich bin’s.« Der alte Celester nickte. »Wenn du einen Quartiermeister brauchst, ich bin dein Mann.«

»Einverstanden.« Arien reichte seinem ehemaligen Lehrer die Hand. »Aber ich möchte wissen,

warum.«

Ein junger Mann drängte sich an Colobar Tuira vorbei. Seine roten Haare und sein von Sommersprossen übersätes Gesicht unterschieden ihn deutlich von einem Durchschnittsmenschen. Der klapperdürre Bursche bewegte sich ungeschickt, aber zielstrebig.

»Koch«, sprudelte es aus seinem Mund. »Drei-B hat mich ausgeguckt. Freiwillig. Aufgeregt.«

Ariens Funkgerät summte. Mehrere Stimmen meldeten sich gleichzeitig. Der Feuerwehrmann verstand nur eins. Viele wollten ihn begleiten. Auf dem Weg zu Atlan.

Was zum Teufel, fragte sich Arien Richardson, hatte dieser weißhaarige Fremde nur an sich, daß sie alle nur darauf warteten, ihm zu helfen. – »Das«, sagte Mycara, »was du auch hast. Es sind alles Menschen. Hilfsbereite Menschen, die gegen die Mächte des Chaos antreten wollen, ohne zu fragen, ob sie gewinnen können.«

Andere Celester bedrängten Arien. Er wunderte sich, wie schnell sich seine Entscheidung, sich ganz auf Atlans Seite zu schlagen, herumgesprochen hatte. Und darüber, daß ihm so viele folgen wollten.

»Hey, friends!« Er verfiel unwillkürlich in die alte Sprache seiner Vorfahren von der Erde. »We’ll do all that is necessary. But without any disorder and confusion, okay?«

Colobar Tuira übersetzte für die Celester, die nicht mehr die Sprache der Urheimat Erde kannten. Er übersetzte sehr frei.

»Der Feuerwehrmann meint, daß alles Notwendige getan werden wird. Die Mannschaft wird festgelegt, die VIRGINIA kommt von New Marion. Ihr sollt euch aber ein bißchen benehmen und geduldig sein, okay?«

Seine Worte hatten Erfolg. Das puritanische Pflichtgefühl überwog alles andere.

»Thanks, Sous-Chef!« Arien Richardson legte einen Arm um die Schultern Colobar Tuiras.

»Sous?« fragte der Grauhaarige. »Das ist doch jenscht’?«

»French, französisch.« Arien erreichte mit den folgenden Celestern den Versammlungsraum des Flaggschiffs der kleinen Flotte. »Auch eine alte Sprache der Erde. Frage Curt Gilling. Der kennt sich da besser aus als ich.«

Die Versammlung hatte noch nicht richtig begonnen, als über die Lautsprecher eine Stimme erklang, die Stimme Flora Almuths, der neuen Facette von Kontagnat, die unter dem alten Namen Zulgea von Mesanthor die Geschicke ihrer Völker lenkte.

»Arien«, sprach die Celesterin. »Geh! Fliege! Wir brauchen Atlan!«

»Und er braucht dich«, zischte Mycara dem Feuerwehrmann ins Ohr.

*

Acht Stunden später war die VIRGINIA da, und die Crew stand fest. Und noch etwas stand fest. Colemayn war verschwunden. Eine andere Spur als die, die er in Mycaras Gedanken hinterlassen hatte, gab es nicht. Immerhin. Arien Richardson besaß ein klares Ziel. Es hieß Janzonborr, und die Koordinaten waren in Carl Nimahis »Kätzchen« (der Bordpositronik der VIRGINIA) gespeichert.

Die VIRGINIA war ein etwa 60 Meter durchmessender Raumer. Kein Celester konnte ahnen, daß es sich dabei um eine »Fast-Parallel-Entwicklung« eines terranischen Raumschiffstyps handelte, den man dort »Korvette« nannte – obwohl der Begriff »Korvette« den ehemaligen Erdenbürgern durchaus geläufig war.

Die VIRGINIA war Drei-Bs Stolz. Das Oberhaupt der Celester, mit vollem Namen Benjamin Boz

Briggs, und sein Volksthing hatten entschieden, daß Arien Richardson dieses Raumschiff für seine Reise in die Fremde bekommen sollte. Bei der Crew besaß der Feuerwehrmann noch die freie Wahl. Die VIRGINIA hatte ihm 3-B aufgezwungen, was Arien begrüßte.

Es war ruhig auf Crynn. Flora Almuth und die Positroniken auf New Marion kamen zu dem gleichen Ergebnis: Der Erleuchtete im Nukleus mußte die Niederlage seiner Roboter, die die Psi-Potentiale abholen wollten, erst einmal verkraften.

Das gab Arien Zeit, die Mannschaft der VIRGINIA zu bestimmen und kennenzulernen.

Die beiden Piloten hießen Traugott Hawaii und Sandra McMooshel. Sie kamen beide aus dem Kreis von Ariens Feuerwehrleuten. Dort waren sie unter den Spitznamen »Polo« und »Zitrus« bekannt. Traugott »Polo« Hawaii war ein klapperdünner Zwei-Meter-Mann, der stets eine todernste Miene zur Schau stellte. Er war wortkarg und wirkte durch seine Redefaulheit oft brummig oder schlecht gelaunt, aber diese negativen Attribute verloren ihre Bedeutung. Polo hatte seine absolute Zuverlässigkeit und sein Können schon oft unter Beweis gestellt. Er war die Nummer Eins unter den Piloten.

Die VIRGINIA bezeichnete er als Kokusnuß. Arien ließ ihm diese Sonderlichkeit, denn er wußte, daß Polo sein früheres Schiff »Coffin« genannt hatte, was Sarg bedeutete. Seine ernste Miene machte ihn oft zum Objekt von Hänseleien. Polo reagierte darauf fast nie.

Die Kettenraucherin Sandra »Zitrus« McMooshel war in fast jeder Hinsicht das Gegenteil Hawaiis. Über ihrem Pilotensessel war eine gesonderte Rauchabzugseinrichtung angebracht worden. Traugott Hawaii hatte auf dieser Maßnahme bestanden, denn er verabscheute Sandras Qualmerei zutiefst.

Die 35jährige besaß eine deutliche Neigung zur Fettleibigkeit. Sie behauptete, daß sie platzen müßte, wenn sie das Rauchen aufgeben würde. Und wer daran zweifelte, dem hielt sie ein ärztliches Gutachten unter die Nase, das von Medizinmann Buster McMooshel stammte. Da aber jeder wußte, daß sie mit dem Chefarzt der Celester verwandt war, nahm niemand dieses Papier ernst.

Im Gegensatz zu dem 50jährigen Polo strahlte Sandra McMooshel stets Freundlichkeit und Entgegenkommen aus. Sie war an allen Dingen interessiert, die sich in ihrer Nähe ereigneten. Bisweilen übertrieb sie das aber so sehr, daß sie sich auch in Dinge einmischte, von denen sie nichts verstand. Irgendeiner mußte dann ihr Plappermäulchen bremsen, aber Polo tat das nie. In seiner Kühle tat er stets so, als ob er nichts hören würde. Und wenn Hawaii von der VIRGINIA als »Kokusnuß« sprach, so redete die Pilotin von einem »Schaukelstuhl«.

An ihrem fliegerischen Können gab es keine Zweifel. Aber Eingeweihte behaupteten, daß Zitrus mit Gefühl und Instinkt lenkte, während Polo das mit kühlem Verstand und Können tat. Bereits am ersten Tag an Bord erfuhr Arien Richardson von einem Gerücht, das die beiden betraf. Polo und Zitrus lagen sich zwar oft in den Haaren, so trug man ihm zu, in Wirklichkeit liebten sie sich jedoch. Nur schien das keiner von beiden zu wissen. Oder es fehlte beiden der Mut, diese Tatsache einzugestehen.

Carl Nimahi war der Bordingenieur und der Positronikexperte. Der 41jährige nannte die Bordpositronik »Kätzchen«, und alle anderen folgten diesem Beispiel. Auch er gehörte zu den Männern an Bord, die gerne mit der hübschen Ukeleie Ysa anbändeln wollten, die als Leiterin der Waffenzentrale fungierte. Fast alle wußten aber, daß sie bei der Celesterin keine Chance hatten, denn Ukeleie war solide verheiratet. Ihr Mann hielt jedoch nichts von der Raumfahrt und hatte New Marion noch nie verlassen.

»Versuch’s erst nicht bei mir«, lachte sie Arien an, als dieser bei seinem ersten Rundgang in die Warrenzentrale kam. »Du hast zwar zwei Söhne, aber von einer Frau Richardson habe ich noch nie etwas gehört. Wenn ich dir gefalle, und scheinbar gefalle ich allen Männern, so kannst du mich haben – aber erst, wenn ich Urgroßmutter bin.«

Der Feuerwehrmann und neue Kommandant der VIRGINIA winkte gelassen ab. Colobar Tuira, der ihn durch das Schiff führte, auf dem er fast dreißig Jahre lang im Einsatz gewesen war, lenkte

Ariens Aufmerksamkeit auf die Waffensysteme.

»Sie wurden immer auf den neuesten technischen Stand gebracht«, erklärte der grauhaarige Cheflogistiker. Tuira war 72 Erdenjahre alt. (Obwohl ein New-Marion-Jahr nur 116 Tage dauerte, die man in vier Monate einteilte, hatte sich der Brauch der Vorfahren von der Erde erhalten, die Lebensjahre nach einem Jahr von 365 Tagen zu zählen.) In der Hierarchie an Bord fungierte Colobar Tuira als stellvertretender Kommandant. Das bedeutete, daß er das Sagen hatte, wenn Arien abwesend war.

Gegen Ende seines Rundgangs begrüßte Arien Richardson Carla Kaukiki, die Leiterin der Funkzentrale, und deren Ehemann Morrisson, der der Chef der Ortungssysteme und Schutzschirmaggregate war.

»Nun muß ich noch die Leute kennenlernen«, sagte Arien, »die für das leibliche Wohl sorgen, den Medizinmann und den Küchenchef.«

Der Bordmediziner Barm O’Hara weilte noch im Pyramidon, um seine Ausstattung zu komplettieren. Mit den beiden anwesenden Medorobots Alk und Ilk konnte Arien wenig anfangen. Und doch dachte er daran, daß er diese bestimmt noch brauchen würde.

In der Pantry, wie die Bordküche nach alter Tradition genannt wurde, erlebte Arien eine Überraschung. Den Koch hatte Drei-B ausgesucht, weil Arien keinen speziellen Wunsch geäußert hatte.

Ein rothaariger Jüngling, dessen Gesicht eine Wiese aus Sommersprossen war, strahlte den Feuerwehrmann an. Neben Florian Lopp lag ein umgefallener Topf auf dem Boden.

»Smutje!« sprach Richardson streng. Er schätzte das Alter Florians auf etwa 22 Jahre. »Du scheinst zwei linke Hände zu haben, wenn du die Töpfe schon auf den Boden wirfst, bevor wir gestartet sind.«

»Ein… ein bedauerlicher Zwischenfall«, stotterte der junge Celester verlegen. Rasch hob er den Topf vom Boden auf. »Ich koche eine neue Suppe. Es war nicht meine Schuld, aber Moppy…«

»Nicht erschrecken«, flüsterte Mycara Arien zu. »Harmlos.«

Etwas flog von einem Regal herab und landete auf Ariens Schultern. Arien schnappte sich das Tierchen. Es handelte sich um ein hellbraunes Eichhörnchen. Das Tier wirkte sehr zutraulich.

»Unser Bordmaskottchen«, erklärte Colobar Tuira schnell, als befürchte er, daß Arien Richardson etwas gegen dessen Anwesenheit haben könnte. Mycara flüsterte dem Feuerwehrmann genau diese Information zu und bestätigte noch einmal, daß Moppy ganz harmlos sei.

»Du kannst bleiben.« Richardson reichte das Eichhörnchen dem Smutje. »Aber es werden keine Töpfe mehr umgeworfen, klar?«

»Ich paß schon auf«, beeilte sich Florian Lopp zu sagen und streichelte das Tierchen.

Eine Stunde später wurden die letzten Funksprüche zwischen der VIRGINIA, dem Pyramidon und New Marion ausgetauscht. Dann verabschiedete sich Arien Richardson von Drei-B und Flora Almuth.

Der Kugelraumer startete, und viele gute Wünsche begleiteten ihn und die 38 Celester an Bord. Das Ziel war klar und in Nimahis Kätzchen gespeichert: Janzonborr, Adlerhorst.

Arien Richardsons persönliches Ziel war es, den Arkoniden Atlan aus den Klauen der Facette Yog-Mann-Yog zu befreien.

Die nahe Zukunft war ungewiß, aber der Feuerwehrmann blieb ruhig und gelassen.

»Wir sehen uns wieder, Colemayn!« waren seine Worte, als Crynn verschwand und die VIRGINIA in den Linearraum wechselte.

Zu seinen Füßen balgten sich Moppy und Mycara herum. Und in Ariens Brusttasche knisterte ein sehr persönlicher Brief, den Sarah Briggs noch nach Crynn hatte schaffen lassen und der für Atlan bestimmt war.

Arien zog ihn kurz heraus. Dabei berührte er zufällig die Doppelmünze des Sambols. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, die beiden Hälften zu verdrehen, um zu erfahren, was dann passiert.

»Laß das!« pfiff Mycara und schlängelte sich an Arien hoch. Moppy wandte sich enttäuscht über den Verlust der vermeintlichen Spielgefährtin Sandra McMooshels Stiefeln zu und begann daran zu knabbern.

»Schon gut«, beschwichtigte Arien seinen Satelliten.

»Halbraumortung«, ertönte Morrisson Kaukikis Stimme aus einem Lautsprecher.

»Position?« Arien war hellwach.

»Sektor Janzonborr«, meldete die Bordpositronik. »Noch 2000 Lichtjahre bis zum Adlerhorst.«

»Der Tanz beginnt, Freunde.« Richardson löste die erste Alarmstufe aus. »Nun werden wir sehen, was ihr und die VIRGINIA leistet.«

4.»Test A-2«, erklärte der Roboter.

»Abgelehnt. Ich bin nicht euer Versuchskaninchen. Deine Facette muß ihren Plan vergessen, mich zu einem biologischen Diamanten zu machen.«

»Ein biologischer Diamant ist ein erstrebenswertes Ziel.« Der Roboter blieb stur. »Es würde bedeuten, daß du der Führer der Stählernen Horde wärst. Ich verstehe deine Weigerung daher nicht.«

»Der Herr der Stählernen Horde ist deine Facette, die zu feig ist, mir ihr wahres Gesicht zu zeigen. Wahrscheinlich ist er zu häßlich, der Zwilling Yog-Mann-Yog.«

»Wenn du nicht freiwillig dem Test folgst, werde ich dich dazu zwingen.« Der Stählerne ging mit keinem Wort auf das ein, was er von dem Gefangenen gehört hatte. »Du hast die Wahl zwischen deinem Messer und einer Peitsche aus Draht. Dein Gegner wird der Achtköpfige sein. Der Sieg ist dein, wenn du fünf seiner Köpfe überwältigt hast. Ein guter Stählerner schafft vier Köpfe. Du mußt besser sein, denn du sollst den Diamanten des Zwillings, der auch nur ein Roboter ist, ersetzen.«

»Ich verzichte auf jede Waffe. Und auf diesen Test.«

Der Stählerne, auf seiner oberen Kugel prangte die Nummer 4050, kam auf den Gefangenen zu. Im Hintergrund des Raumes stießen die beiden Kjokerinnen ängstliche Schreie aus und klammerten sich aneinander. Wasterjajn Kaz hatte Mühe, Kjok-Duun und Kjok-Almergund zu beruhigen. Die drei fungierten als Handlanger Atlans. Um sie kümmerten sich die Roboter der Stählernen Horde bei der Ausführung der Befehle der Facette nicht. Yog-Mann-Yog interessierte sich offensichtlich nur für den Arkoniden. Der Plan der Facette war, Atlan für sich zu gewinnen, damit die Stählerne Horde von einem natürlich-intelligenten Wesen gelenkt und eingesetzt wurde. Welche Vorteile das hatte, hatte der Leuchtende von Janzonborr jüngst erfahren.

Atlan hingegen besaß die Erfahrung, daß eine Tätigkeit in Diensten einer Facette nicht nur sehr gefährlich war. Sie brachte ihn auch kaum weiter in der Erfüllung des Auftrags der Kosmokraten. Mit Hindernissen mußte er rechnen, aber er würde unbeirrbar der Spur folgen, die zum Erleuchteten im Nukleus führte, der das geheimnisvolle Ding namens EVOLO baute.

Nein, der Sinn des Arkoniden stand nicht danach, nochmals in eine zweifelhafte Rolle als Diener einer Facette zu schlüpfen. Auch erschien es ihm mehr und mehr sinnlos, sich mit den Facetten an der Peripherie des Geschehens von Alkordoom herumzuschlagen. Er mußte zum Nukleus, denn nur dort konnte Entscheidendes geschehen.

Er hatte ANIMA verloren, aber nicht die Hoffnung, sie wiederzugewinnen. Er hatte mit Hilfe der Menschen von New Marion Zulgea von Mesanthor beseitigt und Flora Almuth an deren Stelle hinterlassen. Die Hoffnung, daß sich deren Aktivitäten zum Wohl aller Völker von Kontagnat auswirkten, war berechtigt. Vielleicht würde der Funke sogar auf die Nachbarsektoren überspringen und im Lauf vieler weiterer Jahre ganz Alkordoom ergreifen.

Nur der Kern würde unberührt bleiben. Nichts konnte den Erleuchteten antasten, denn die Sonnensteppe schirmte seinen Herrschaftsbereich zu gut ab. Das Juwel hatte Alkordoom im Griff. Die acht Sektoren der Facette dienten nur dazu, Psi-Potentiale für den Bau EVOLOS zu beschaffen. So sah der Arkonide die Dinge immer deutlicher.

Im Augenblick war er zu keinem selbständigen Handeln fähig, denn er war ein Gefangener Yog-Mann-Yogs. Die Facette selbst, die mit den Robotern der Stählernen Horde ihren Sektor kontrollierte, hatte Atlan nicht gesehen. Der Mächtige wirkte irgendwo aus dem Hintergrund. Atlan hatte Anzeichen festgestellt, daß Yog-Mann-Yog hier auf dieser Kunstwelt lebte, die offiziell Adlerhorst hieß und verächtlich »Spucknapf« genannt wurde.

Viel hatte Atlan nicht vom Adlerhorst gesehen, denn die Roboter hatten ihn stets abgeschirmt

transportiert. Der Raum, den er sich nun mit Wasterjajn Kaz und den beiden Transversal-Teleportern teilen mußte, war so künstlich wie alles im Adlerhorst. Das bestätigte die früheren Informationen, die besagten, daß Spucknapf durch und durch eine Kunstwelt war.

Neben den Robotern mußte sich Atlan vor den biologischen Züchtungen in acht nehmen, die in Janzonborr eine bedeutende Rolle spielten. Atlan hatte in diesem Punkt schon bittere Erfahrungen auf den Planeten Zuynam und Tauwerk sammeln müssen. Durch diese Ereignisse war er in die Gefangenschaft des Zwillings Yog-Mann-Yog geraten.

»Der Test beginnt mit Ablauf von acht Reks.« Die vier dünnen Metalltentakel des Roboters umschlangen den Arkoniden, der sich nicht wehrte. Mit seinem passiven Widerstand wollte er der Facette demonstrieren, daß er für die von diesem ausgewählte Aufgabe denkbar ungeeignet war. Ob Yog-Mann-Yog solche Nebensächlichkeiten überhaupt beachtete, war eine andere Frage.

»Auf Wunsch des Kandidaten werden ihm keine Hilfsmittel zur Verfügung gestellt.«

Atlan wurde aus dem Raum getragen. Er hörte nicht mehr die Worte seiner drei Freunde. Der Stählerne beförderte ihn durch einen röhrenförmigen Gang. Ein weiterer Roboter gesellte sich zu ihm.

»Eherner-81«, stellte er sich vor.

Atlan hatte die Grundzüge der Hierarchie der Stählernen Horde längst verstanden. Äußerlich waren alle Roboter gleich. Sie bestanden im wesentlichen aus drei übereinander angeordneten Kugeln von je etwa 45 Zentimetern Durchmesser. Aus der unteren Kugel ragte ein dreigliedriges Beinpaar von fast einem Meter Länge, so daß ein ganzer Stählerner deutlich größer war als jeder Mensch. Die Metallhüllen schimmerten blauschwarz und blank.

In der oberen Kugel waren wohl alle Steuersysteme und damit die eigentliche Robotik untergebracht. Antennen, Sensoren und Sprecherwerkzeuge verteilten sich über den Kopf, denn als solcher wirkte diese Kugel.

Das Mittelstück von gleicher Größe war eine Art Waffenkammer. Die Systeme des Stählernen-4050 waren jetzt nicht sichtbar, denn der Roboter hatte sie eingefahren. Es gab dort aber alles vom einfachen Paralysator bis zum schweren Desintegrator.

Die untere Kugel enthielt die Energiesysteme, ein Antigravtriebwerk und ein kleines Strahltriebwerk. An ihr waren auch das Beinpaar und die beiden tentakelförmigen Armpaare angebracht, deren Glieder eine Länge von eineinhalb Metern erreichten. Die Arme mündeten in drei Greiffinger.

Auf allen Teilen des Robotkörpers fanden sich warzenförmige Ausbuchtungen, die Projektoren für Schutzschirme enthielten. Daß ein Roboter seine Nummer trug, mußte eine Ausnahme für den Adlerhorst sein, denn Atlan hatte das erstmals hier gesehen.

Es gab Unterschiede zwischen den Robotern der Stählernen Horde, die äußerlich nicht erkennbar waren. Die normalen Roboter bezeichneten sich als Stählerne, und daher wurde die Gesamtheit auch Stählerne Horde genannt. Höhere Kompetenzen besaß eine geringe Anzahl, die Ehernen.

Der Roboter, der zu Atlan auf dem unfreiwilligen Transport zu einem fragwürdigen Test gestoßen war, gehörte offensichtlich dazu. Die Ehernen setzten Befehle um, die sie von einem Leitroboter bekamen, der irgendwo hier im Adlerhorst sein mußte. Diesen nannten die Stählernen den Diamanten des Zwillings. Der Name verriet, daß dieser seine Anweisungen direkt von der Facette empfing.

Was Yog-Mann-Yog beabsichtigte, paßte haargenau in diese Robothierarchie. Der Leuchtende hatte aus den Erfahrungen gelernt, die er – oder besser gesagt, die Stählerne Horde – bei den Auseinandersetzungen mit Atlan gewonnen hatte. Die Intuition eines denkenden Gehirns war durch keinen Roboter zu ersetzen. So war die Idee entstanden, den findigen Geist des Arkoniden für seine Zwecke einzuspannen. Daß das nicht einfach sein würde, mußte Yog-Mann-Yog längst gemerkt

haben, aber die Facette gab nicht auf. Das spürte Atlan deutlich.

Einen Test hatte er bereits über sich ergehen lassen. Die Aufgabe war einfach gewesen. Yog-Mann-Yog hatte damit offensichtlich verfolgt, Atlan richtig einzustimmen und sein Interesse zu wecken.

Biologischer Diamant! Herr der Stählernen Horde! Und doch Handlanger eines Willfährigen des Erleuchteten! Nein, diese Aufgabe schmeckte dem Arkoniden nicht. Seine Erfahrungen in den Diensten des Leuchtenden Gentile Kaz reichten aus. Er würde die erste und beste Gelegenheit ergreifen, um mit seinen Freunden von hier zu verschwinden. Auch das war ein Problem für sich.

Er hoffte noch auf ANIMA und den Steppenforscher Dhonat, die er auf Zuynam aus den Augen verloren hatte. ANIMA würde ihm folgen – bis ans Ende der Welt, wenn sie dazu in der Lage war.

Sie erreichten eine Terrasse, die so künstlich war wie alles im Adlerhorst. Ein Saal von der Größe eines Sportstadions bot sich Atlans Blicken. Der Stählerne-4050 setzte ihn ab. Der Eherne spielte den interessierten Beobachter. Plötzlich ragte jedoch sein Desintegrator aus der Mittelkugel. Ein Schuß jagte wenige Schritte vor Atlan in den Boden und verwandelte das Metall in helle Glut. Ein weiterer Schuß folgte. Er lag etwas näher, und der dritte Feuerstoß zwang Atlan zum Zurückweichen.

»Der nächste Schuß trifft dich«, erklärte der Eherne. »Es sei denn, du bist bereit, den Test zu erfüllen.«

»Der Klügere gibt nach«, sagte der Arkonide und ballte seine Fäuste.

»Sieh hinab!« Der Eherne deutete mit einem Tentakel auf die blanke Metallfläche des riesigen Saales. Risse bildeten sich dort. Und stählerne Wände schossen in die Höhe. Unregelmäßige Formen, Gänge, Biegungen und Verzweigungen bildeten sich heraus.

Ein Labyrinth, stellte der Extrasinn fest.

Noch verschoben sich die Wände, aber allmählich bildete sich eine Konfiguration heraus. Sie besaß keine Systematik. Die Seitenwände der Gänge und Wege waren gut fünf Meter hoch, so daß man nichts sehen konnte, wenn man erst dort unten war. Atlan ahnte, daß man ihn in dieses Gewirr schicken würde.

»Laß ihn heraus!« befahl der Eherne. Der Stählerne war angesprochen.

Er betätigte einen Hebel an der Seitenwand.

Wieder öffnete sich der Boden unter dem Labyrinth. Lange grüne Knollen kamen zum Vorschein. Ein Wesen aus acht Köpfen, die an Armen hingen, die einige Dutzend Meter lang waren, wurde aus dem Boden in das Labyrinth geschoben. Träge bewegten sich die grünen Teile. Die acht Köpfe fanden einen Platz und sprangen plötzlich von den Gliedern ab. Allein blieben sie liegen, dicke Kugeln mit gierigen Mäulern.

Der Stählerne-4050 betätigte einen weiteren Hebel. Ein rot leuchtendes Band erschien an der Decke der Halle.

»Es schmilzt zusammen«, erklärte der Eherne. »Wenn es verschwunden ist, ist deine Zeit abgelaufen. Bis dahin mußt du mindestens fünf Köpfe des Achtköpfigen finden und besiegen. Ohne Hilfsmittel. So hast du es gewollt. Wenn du es nicht schaffst, wirst du getötet. Und deine drei Handlanger auch.«

Atlan stieß einen Fluch aus.

Idiot, bemerkte der Extrasinn.

»Wann beginnt meine Zeit?« fragte der Arkonide. Sarahs Gesicht erschien plötzlich vor ihm…

›Ich liebe dich‹, sagte die Frau. ›Bitte komm zurück!‹

Eine Spiegelung deines Unterbewußtseins, merkte der Logiksektor unwirsch an. Konzentriere dich

auf die Aufgabe, sonst wirst du Sarah nie mehr sehen. Oder denke ›Varnhagher-Ghynnst‹ und gib auf.»Die Zeit beginnt jetzt!« Der Eherne drückte eine Sensorplatte.

Unsichtbare Kräfte griffen nach Atlan. Er wurde in die Höhe gehoben und über den Rand der Terrasse in die Tiefe befördert. Seine Augen richteten sich auf das Labyrinth mit den acht gierigen Köpfen. Das fotografische Gedächtnis prägte sich jede Einzelheit ein, auch die Richtungen der noch immer andauernden Veränderungen.

Gut! bemerkte der Extrasinn, während der Transportstrahl Atlan in die Tiefe beförderte. Ich beginne, das System des Labyrinths zu erkennen. Du mußt dir etwas einfallen lassen, wie du die Köpfe besiegst.Sekunden später stand Atlan vor den Metallwänden am Rand des Labyrinths.

Ich führe dich, sagte der Logiksektor. Du kämpfst!Atlan widersprach nicht.

Geradeaus. Zweite Abzweigung nach rechts!Atlan rannte los.

Vorsicht, der erste Kopf!Ein riesiger grüner Ball mit einem breiten Maul tauchte vor dem Arkoniden auf. Atlan verlangsamte seine Schritte.

»Verstehst du mich?« fragte er die Kugel. »Ich will dich nicht töten. Ich denke, du bist so unfreiwillig hier wie ich.«

»Schmatz«, sagte der Ball. »Danke.«

Atlan ging auf ihn zu und berührte ihn mit seinen Händen. Das große Maul schloß sich. Unter dem Streicheln seiner Hände begann der grüne Ball leise zu schnurren.

»Wollen wir Freunde sein?« fragte der Arkonide.

»Wir sind es doch schon«, antwortete der erste Ball des Achtköpfigen sanft. »Komm! Ich bringe dich zu den anderen. Ich weiß, wo sie sind.«

Eine Mulde entstand auf der Oberseite der grünen Kugel, und Atlan nahm darin Platz. Er fühlte keinen Triumph, aber er dachte an all die Intelligenzen, die er in seinem langen Leben kennengelernt hatte, die man zum Kampf gezwungen hatte.

Die Kugel raste los.

5.Wie sich die grünen Köpfe, die nach Atlans Meinung alle zu einem einzigen Kunstwesen gehörten, untereinander verständigten, blieb dem Arkoniden verborgen. Es kümmerte ihn auch wenig, denn sein Hauptziel hatte er sehr einfach dadurch erreicht, daß er sich auf keinen sinnlosen Kampf mit dem Geschöpf der Facette eingelassen hatte. Mochte Yog-Mann-Yog jetzt ruhig toben! Sein Test – oder war es eine Prüfung, die der robotische Diamant angeordnet hatte? – war buchstäblich im Sand verlaufen.

Der Balken der Zeitmarkierung an der Decke der Halle hatte sich erst auf die Hälfte seiner ursprünglichen Länge verkürzt, als alle acht Köpfe bei Atlan waren. Nun erkannte der Unsterbliche auch, daß alle Köpfe durch dünne Organfäden miteinander verbunden waren. Es handelte sich tatsächlich um ein Wesen.

Der Kopf, mit dem Atlan die Freundschaft zu Beginn der Suche im Labyrinth geschlossen hatte, machte sich zum Sprecher.

»Nenne mich Siebenundzwanzig«, fauchte das große zahnlose Maul. »Und du bist Atlan, nicht wahr?«

»So ist es.« Der Arkonide hatte seine Überraschung über die plötzliche Wende noch nicht ganz verkraftet. Er versuchte die Roboter zu erkennen, die sicher in der Nähe waren und alles verfolgten. Aber die hohen Stahlwände des Labyrinths versperrten ihm jede Sicht. »Warum nennst du dich mit einer Zahl?«

»Unser Körper besteht immer aus acht Köpfen«, erklärte Siebenundzwanzig. »Wenn einer oder mehrere davon bei den Testkämpfen sterben, wachsen diese nach. Und ich bin der siebenundzwanzigste Kopf.«

Atlan folgerte daraus, daß dieses arme Wesen schon häufiger zu den unsinnigen Prüfungen verwendet worden war. Er sprach seine Vermutung aus.

»So ist es«, klagte die grüne Kugel und pulsierte dabei leicht. »Ich bin der älteste Kopf. Der neben mir ist Einhundertdreiundvierzig. Daran kannst du erkennen, wie oft wir schon mißbraucht wurden. Doch jetzt ist keine Zeit mehr für lange Erklärungen. Die Stählernen erwarten, daß du das Labyrinth vor Ablauf der Frist verläßt. Dann werden die Stahlwände im Boden verschwinden. Die verbliebenen Köpfe werden gezählt. Wenn du mehr als vier hinterläßt, hast du die Prüfung nicht bestanden. Dann wirst du getötet werden. Deine Körpersubstanz wird man zum Bau eines neuen Kunstwesens verwenden.«

Siebenundzwanzig hatte den abscheulichen Plan genau erklärt. Für Atlan gab es keine Frage. Selbst wenn er sein Leben erneut aufs Spiel setzen müßte, er würde erst gar nicht versuchen, einen der Kugelköpfe zu töten.

»Geh jetzt!« drängte Siebenundzwanzig. »Man wird dich schon bald zu einem neuen Test holen, und dann mußt du ausgeruht sein. Wir werden dafür sorgen, daß du als Sieger aus dem Labyrinth gelangst.«

Atlan beschlich eine dumpfe Ahnung. »Was hast du vor, Siebenundzwanzig?«

»Wir werden sechs unserer Köpfe vernichten. Das mag für dich grausam sein, aber uns macht das nichts aus, zumal wir fühlen, daß du gegen die Facette eingestellt bist. Wir unterstützen dich also. Zufrieden?«

»Nein, absolut nicht. Ich dulde es nicht, daß irgend etwas oder irgend jemand sich für mich opfert.«

»Eine noble Einstellung, Atlan, aber hier ist sie fehl am Platz. Du kannst das nicht begreifen, weil du unsere Lebensform nicht verstehst. Es ist nichts Unmoralisches an diesem Plan. Die Stählernen werden wissen wollen, wie du sechs Köpfe ausgeschaltet hast. Verweigere ihnen jede Antwort. Sechs von uns werden in den zwei anderen aufgehen. Sie werden nach wenigen Atemzügen neu

entstehen. Die Stählernen sind getäuscht und überrascht. So muß es funktionieren. Und nun eile los! Die Zeit drängt.«

Der Arkonide war noch immer unschlüssig.

»Ich weiß nicht, wie ich euch das danken soll, Siebenundzwanzig. Außerdem glaube ich dir das nicht ganz mit dem Verlust der sechs Köpfe. Das sieht mir sehr nach einem unsinnigen Opfer aus.«

»Es ist keins, Atlan. Obwohl es so aussehen mag. Und wenn du uns danken willst, dann sorge dafür, daß die Macht Yog-Mann-Yogs gebrochen wird. Seine Stählerne Horde und die unzähligen Zuchtprodukte, mit denen er experimentiert, haben genug Unheil über Janzonborr gebracht. Und wenn du klug bist, woran wir nicht zweifeln, wirst du weitere Freunde im Spucknapf finden. Vielleicht gelingt dir sogar die Flucht. Lebe wohl!«

Atlan konnte nichts mehr erwidern, denn die acht Kugeln entfernten sich rasch. Er blickte zur Decke. Wenig mehr Zeit als zwei oder drei Minuten zum Verlassen des Labyrinths blieben ihm nicht. Der Zeitbalken war fast vollständig zusammengeschmolzen.

Das fotografische Gedächtnis und ich schaffen das schon, beruhigte ihn der Extrasinn. Lauf los! Ich leite dich!Der Arkonide rannte den Weg zurück zum Eingang des Labyrinths. Ein paar Wege hatten sich inzwischen verändert, aber die Logik des Extrasinns berücksichtigte das. So gelangte Atlan rechtzeitig und ohne Zwischenfälle an den Rand der Halle.

Die beiden Roboter erwarteten ihn hier bereits. Durch die Halle dröhnte eine Sirene. Unmittelbar danach begannen die Stahlwände des Labyrinths im Boden zu versinken.

»Wir werden sehen, was du erreicht hast, Atlan«, meinte der Eherne etwas abfällig. Seine Waffen richteten sich auf den Arkoniden. »Vielleicht sind dies schon deine letzten Atemzüge.«

Als die Bodenfläche der Halle wieder blank und eben vor ihnen lag, entdeckten die Roboter nur zwei grüne Kugeln.

»Das wird die Facette erfreuen«, teilte der Eherne mit. Die Überraschung war sogar aus seiner Kunststimme zu entnehmen. »Damit können wir zwei weitere Tests überspringen. Sechs Kugeln hat noch niemand geschafft – außer Yog-Mann-Yog natürlich. Wie ist dir das gelungen?«

»Mein Geheimnis«, erklärte Atlan knapp. »Ihr könnt daraus lernen, daß es manchmal ohne Waffen und Gewalt besser geht. Man muß nur den Verstand benutzen.«

Er beachtete die beiden Roboter nicht und wandte sich dem Aufgang aus der Halle zu, der ihn in Richtung seiner zugewiesenen Unterkunft bringen sollte. Der Stählerne-4050 schloß sich ihm schweigend an, und der Eherne verschwand in einer anderen Richtung.

In seinen Gedanken war Atlan schon bei der nächsten Prüfung. Er hoffte, daß es ihm erneut gelingen würde, der Facette ein Schnippchen zu schlagen. Und er hoffte noch mehr, daß sich irgendwo eine Fluchtmöglichkeit ergeben würde.

*

Im Herzen des Kunstplaneten Adlerhorst hockte in einem riesigen Raum eine mächtige Gestalt: Yog-Mann-Yog, der Zwilling, der Leuchtende des Alkordoom-Sektors Janzonborr.

Die Augen der Facette waren das einzige an dem dicken Körper, das sich bewegte. Sie verfolgten unablässig die vielen Bildschirme, die in einem Halbrund oberhalb der Liege angebracht waren, auf der der Körper ruhte. Yog-Mann-Yog fühlte sich absolut sicher. Die einzige Gefahr, die ihm überhaupt drohen könnte, wäre der Erleuchtete aus dem Nukleus. Aber der war weit weg, und er

hatte sicher andere Sorgen. Die Facette hatte bislang den erforderlichen Tribut, eine bestimmte Anzahl von Containern mit Bioplasma und ausgesuchten Psi-Potentialen, immer pünktlich zur Verfügung gestellt. Das Juwel hatte keinen Grund, auf seinen Vasallen zornig zu sein oder sich gar direkt in dessen dunkle Geschäfte einzumischen.

Was Bioplasma, Kunstgeschöpfe und dergleichen betraf, war Yog-Mann-Yog an Erfahrung und Können den anderen Facetten deutlich überlegen. In seinem Herrschaftsgebiet gab es über tausend Welten, wo sich seine Wissenschaftler fast ausschließlich mit der Herstellung von künstlichen Geschöpfen befaßten. Skrupel kannte der Leuchtende nicht. Seine Ziele waren klar und fest umrissen, auch wenn niemand außer ihm selbst sie kannte.

Um sich gegen den Erleuchteten stellen zu können, dessen Herrschaft ihm trotz der vielen Freiheiten, die er genoß, ein Dorn im Auge war, mußten verschiedene Voraussetzungen erfüllt werden.

In der Stählernen Horde besaß er das wohl schlagkräftigste Robotheer von Alkordoom. Eines nicht mehr allzu fernen Tages würde er ein Heer aus Kunstgeschöpfen an die Seite der Horde stellen. Noch lagen die erwünschten Erfolge nicht vor. Die Schöpfungen wiesen noch Mängel auf, die erst ausgemerzt werden mußten. Aber das war nur eine Frage der Zeit.

Mit diesen beiden Machtinstrumenten würde er stark genug sein, um alle anderen Facetten von der Bühne zu fegen. Und wenn er erst den gesamten Außenbezirk von Alkordoom unter seiner Kontrolle hatte, und wenn ihm die Möglichkeiten der anderen Facetten allein zur Verfügung standen, würde er es auch wagen können, dem Erleuchteten den Tribut zu verweigern.

Fraglos würde sich der Herr des Nukleus das nicht gefallen lassen. Es würde zu gewaltigen Auseinandersetzungen kommen. Innerlich war der Zwilling auch auf diesen Fall vorbereitet, äußerlich waren noch ein paar Voraussetzungen zu erfüllen.

Woran es ihm vor allem mangelte, das waren fähige Führer für seine Scharen. Der Stählernen Horde und dem Leitrobot, dem Diamanten, fehlte es an Intuition und Entscheidungsfähigkeit. Sie besaßen nicht die Vorteile einer natürlichen Intelligenz, die mit Findigkeit, Erfahrung, Wissen und Logik handeln konnte. Für Yog-Mann-Yog stand daher fest, daß der Diamant durch einen biologischen Diamanten, also ein Wesen aus Fleisch und Blut, ersetzt werden mußte.

Er hatte schon zahllose Wesen getestet, aber keines hatte seinen Ansprüchen genügt. Nun ruhten seine Hoffnungen auf dem Weißhaarigen, der seiner Horde in die Hände gefallen war. Atlan weckte zwar in Yog-Mann-Yog gewisse Bedenken, die dieser nicht genau formulieren konnte, aber er hatte bis jetzt ein sehr überzeugendes Bild abgegeben. Zufrieden konnte die Facette registrieren, daß der Auserwählte das Problem mit dem Achtköpfigen auf verblüffende Weise gelöst hatte. Die dummen Roboter, die die Prüfung beaufsichtigt hatten, hatten hingegen gar nicht mitbekommen, was wirklich geschehen war.

Yog-Mann-Yog erhob sich von seiner Liege. Mit gemächlichen Schritten bewegte er seinen fetten Leib durch seine Techno-Zentrale.

Er war für menschliche Begriffe ein Riese, mindestens 2,50 Meter groß. Der massige Körper wirkte jedoch nicht kräftig, eher aufgedunsen und schwammig. Schönheitsideale kannte die Facette nicht. Sie wußte, worin ihre Stärken lagen.

Der lange, etwas zu schmal wirkende Kopf zeigte eine graue Hautfarbe. Dünner Flaum bedeckte die Schädeldecke des Leuchtenden. Die Augen lagen in tiefen Höhlen und waren fast schwarz und lidlos. Über dem lippenlosen Mund hing eine breite Nase mit nach vorn geöffneten Löchern.

Wahllos griff Yog-Mann-Yog nach einem der zahllosen Becher, die fast überall herumstanden, und leerte ihn mit einem Zug. Ein Stählerner eilte herbei und füllte das Gefäß erneut. Die Facette beachtete dies alles nicht. Sie hing ihren Gedanken nach und warf immer wieder Blicke auf die Bildschirme. Dort war Atlan wieder in seinem Gefängnis angekommen. Der Weißhaarige wirkte verteufelt gelassen. Mit keinem Wort ging er konkret auf die Dinge ein, die er erlebt hatte. Yog-

Mann-Yog hatte unwillkürlich erwartet, daß sich der Auserwählte mit seinem Erfolg brüsten würde, aber nichts davon war der Fall. Er kümmerte sich um seine drei Handlanger und sprach diesen Trost und Mut zu. Aber auch von Fluchtplänen war nicht die Rede. Eigentlich rechnete die Facette mit solchen Versuchen, denn sie waren logisch nach seinen Vorstellungen.

Der weite Umhang der monströsen Gestalt wallte auf, als dieser mit schnellen Schritten zu seiner liege zurückkehrte. Yog-Mann-Yog hatte einen Entschluß gefaßt. Er würde Atlan einem weiteren Test unterziehen, und diesmal würde er aus der Ferne selbst die erforderlichen Schritte lenken. Die Stählernen waren zwar stark und kaum besiegbar, aber sie waren ihm einfach zu dumm.

Seine breiten Hände glitten über das Schaltpult neben seiner Liege. Auf den Bildschirmen veränderten sich die Szenen.

»Da bist du ja, mein künstlicher Freund.« Die Facette lachte keuchend. »Es wird auch für dich eine Bewährung sein, Klecks.«

*

Ich verstand zwar nichts von technischen Dingen, aber ich war lernfähig. Der Feiste – so nannte ich Yog-Mann-Yog – wußte nicht, wie aufmerksam ich alle Dinge registrierte und mir merkte. Natürlich konnte ich nicht alles behalten, aber was mir für meine Pläne wichtig erschien, vergaß ich so leicht nicht.

Der Denkapparat in meinem Körper mußte von einem seltsamen Wesen stammen, denn oft befielen mich Vorstellungen und Launen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Dann vergaß ich meine Umgebung aus Stahl und Plastik. Ich kämpfte innerlich mit meinem eigenen Zorn, verhielt mich aber äußerlich ruhig und gelassen. Der Feiste durfte nicht merken, was sich in meinen Gedankensehnen abspielte. Er hätte dies so interpretieren können, daß am Ende das Urteil »Fehlprodukt, unbrauchbar« über mich gefallt würde.

Mein oberstes Ziel war es, dies zu verhindern. Das bedeutete aber auch, daß ich mich nicht dumm stellen durfte. Das hätte zum gleichen Ende führen können.

Sie nannten mich Klecks, und in diesem Namen schwang etwas Abfälliges mit. Der Grund war leicht zu erkennen. Meine Schöpfer – ich kannte sie nicht, denn ich erwachte erst hier im Adlerhorst zum vollen Bewußtsein – hatten darauf verzichtet, mich mit einem Kopf auszustatten, wie ihn sogar die Stählernen besaßen und vor allem alle natürlichen Wesen, denen ich bisher begegnet war.

In den Instruktionen hatte ich erfahren, welchen Vorteil das hatte. Ich wirkte angeblich nicht nur verwirrend. Es war auch niemand ohne Hilfsmittel dazu in der Lage festzustellen, wo sich die wichtigen Organe meines Körpers befanden. So verteilte sich das, was normalerweise ein Gehirn war, in der Form von Gedankensehnen über den ganzen Körper. Ähnlich war es mit fast allen weiteren wichtigen Organen, insbesondere mit den größeren. Das wiederum erschien mir logisch, denn sonst hätte ich meine praktisch einzige Fähigkeit nicht anwenden können, die Verwandlung.

Es gab keine Knochen in meinem Leib, aber ein weit verzweigtes und sehr stabiles Netz aus beweglichen Flüssigkeitsbahnen mit zahllosen kleinen Pumpstationen, die Gangliotoren genannt wurden. Damit ließ sich mein Körper lenken, so daß ich mit den beiden Füßen des Grundprogramms gehen konnte wie der Feiste. Oder mit den Armen und den Greiflappen an den Enden Dinge fassen konnte wie die Stählernen.

Wie gesagt, ich besaß kein technisches Verständnis, aber eine gute Erinnerung.

Irgendein Knecht des Feisten hatte mich vor einiger Zeit diesem zum Geschenk gemacht. Ich wußte inzwischen, daß solch Verhalten gegenüber dem Feisten ganz normal war. Seine Untertanen schienen nicht zu ahnen, daß sich die Facette darüber abfällig oder belustigt äußerte. Es war eine

schreckliche Welt, in der ich leben mußte.

Meine Gedankensehnen stammten von einem richtigen Wesen. Auch das hatte man mir mitgeteilt. Das erklärte, daß ich vieles mit ganz anderen Augen sah, denn deutliche Reste dieses Wesens – ich hatte keine Vorstellung davon, wie es ausgesehen oder welchen Namen es getragen hatte – lebten noch in mir. Diese Gedankenfragmente waren die Ursache für meinen Unwillen über die fremdartige Umgebung (obwohl ich selbst ja nie etwas anderes gesehen hatte!) und für meine Stimmungsschwankungen.

Dank meiner Harmlosigkeit hatte Yog-Mann-Yog mir immer mehr Freiheiten eingeräumt. Oftmals hatte mich der Feiste bei Rundgängen durch den Adlerhorst mitgenommen. Ich hatte hier und da eine anerkennende Bemerkung fallen lassen, eine kluge Frage gestellt oder sonst irgendwie meine Aufmerksamkeit unter Beweis gestellt. Dabei hatte ich nicht feststellen können, daß der Feiste meine wahren Gedanken erriet. Und das allein zählte für mich, denn es war nicht meine Absicht, in dieser kalten und trostlosen Welt ein sinnloses Dasein zu fristen.

Ich fühlte mich zu etwas anderem hingezogen. Zwar wußte ich noch nicht, was das war, aber die Zeit würde es mir zeigen.

Die Stählernen nannten mich den »Blinden«, weil ich keine wirklichen Augen besaß. Dabei sah ich mehr als sie. Ich konnte Gravitationsschwingungen über eine Entfernung von mindestens dreißig großen Schritten aufnehmen und mir danach in den Gedankensehnen ein sehr genaues Bild meiner Umgebung aufbauen. Der Vorteil dieser Art der Orientierung lag darin, daß die »Sehenden« stets auf direkte optische Sicht angewiesen waren, während für mich Wände oder andere Hindernisse keine Unterbrechung der Wahrnehmung bedeuteten.

Yog-Mann-Yog wußte über diese Fähigkeit Bescheid, aber er schien sich nie gründliche Gedanken darüber gemacht zu haben. Oder er hielt mich für ein harmloses Spielzeug oder für dumm. Zugegeben, von technischen Dingen verstand ich nichts, aber ich war sehr aufmerksam, und ich vergaß so leicht nichts.

Der Feiste kannte auch meine Fähigkeit der Verwandlung. Bisweilen hatte er mich dazu gezwungen, diese seinen Gefangenen zu demonstrieren, die darüber schier in Verzweiflung gerieten. Wenn ein aufrecht gehendes zweibeiniges Wesen – auch wenn es keinen Kopf besaß – sich plötzlich in einen unregelmäßigen, flachen Fladen verwandelte, dann war das schon etwas, das auf die Nerven gehen konnte!

Ich besaß drei kleine Wohnräume im Adlerhorst, die durch kurze Korridore miteinander verbunden waren. Einer dieser Räume, es war der, in dem ich mich die meiste Zeit aufhielt, lag in der Nähe einer Kommunikationszentrale des internen Überwachungsnetzes des Adlerhorsts. Stählerne sorgten hier dafür, daß alle Bild- und Toninformationen zum Feisten, zum Diamanten oder in andere Speicher gebracht wurden. Wenn ich mich mit dem Rücken an die Wand lehnte, war es einfach zu verfolgen, was dort geschah. Die Stählernen versahen ihren Dienst. Sie interessierte das Geschehen wenig.

Ich aber verfolgte genau, wie der neue Gefangene namens Atlan durch die Prüfungen ging, die ihm der Feiste aufzwang. Es gehörte für mich nicht viel dazu zu erkennen, daß Atlan jeden Schritt nur unter Zwang tat und daß er ein erklärter Gegner des Feisten war. Damit war dieser Gefangene mein Verbündeter. Seine Vorgänger hatten stets versucht, die Anerkennung des Feisten zu gewinnen – und sie waren doch gescheitert!

Dieser Gefangene war anders. Ich beschloß, eine Gelegenheit abzuwarten, um mich mit ihm zu treffen.

Wie gesagt, von Technik verstand ich fast nichts. Aber ich hatte es gelernt, die Einrichtungen des Adlerhorsts zu bedienen. Vielleicht…

Ich brachte meinen Gedanken nicht zu Ende, denn die Stimme des Feisten meldete sich direkt in meinem unfreiwilligen Heim.

»Klecks«, hörte ich. »Du bist der nächste Gegner für meinen Auserwählten. So wie die Sache aussieht, wird er dich besiegen.«

6.»Das ist eine Sache für mich, ja?« Traugott Hawaii warf Arien einen kurzen Blick vor. »Laß mich das machen, und – schwups – sind wir weg.«

Der erste Kompetenzstreit begann schon lange vor der wirklichen Feindberührung, denn im Linearraum war die VIRGINIA eigentlich relativ gut geschützt.

»Dies ist ein denkbar ungeeigneter Augenblick«, ertönte Sandra »Zitrus« McMooshel, »um über Zuständigkeiten zu diskutieren. Ich habe jetzt Dienst, und Polo hat Freischicht. Ich möchte einmal wissen, warum er sich überhaupt in der Zentrale herumtreibt. Der Smutje braucht sicher noch jemand zum Kartoffelschälen. Soll sich Polo doch in die Pantry scheren, aber mich nicht beim Steuern dieses Schaukelstuhls stören. Und überhaupt, Arien, eins wollen wir gleich einmal klarstellen. Als Polo seine Pilotenprüfung machte, waren die Prüfer voll des Gerstensaftes. Das muß man berücksichtigen, um seine fehlenden Qualitäten zu beurteilen.«

Während die Worte aus Sandras Mund sprudelten, verfolgte Arien Richardson nur die Manöver, die die Celesterin durchführte. Daß es Rangeleien in der Crew geben würde, lag auf der Hand. In dieser Zusammenstellung waren sie noch nie in einem Schiff geflogen. Und da es sich vorwiegend um ausgeprägte Persönlichkeiten handelte, waren solche Positionskämpfe nicht ungewöhnlich.

Der Feuerwehrmann war sich darüber im klaren, daß es nun auf mehrere Dinge ankam. Er durfte sein Ziel, Atlan zu finden, nicht aus den Augen verlieren, und er mußte für die Sicherheit der VIRGINIA und seiner Besatzung sorgen. Nun kam noch eine Aufgabe dazu. Es galt, diesen Haufen von Individualisten zu einem Team zu verschweißen.

Zitrus hantierte die Steuereinrichtungen virtuos. Daß sie dabei fast ununterbrochen redete, störte nur die anderen.

»Ich verlasse die Zentrale unter Protest!« Traugott erhob sich.

»Bleib sitzen!« befahl der Feuerwehrmann knapp.

Die Ortungsechos, die längst auch in die Zentrale übertragen wurden, wanderten langsam zur Seite.

»Das könnte ein Täuschungsmanöver sein«, vermutete der Positronikexperte Carl Nimahi. »Das Kätzchen vermutet das auch.«

»Es hat gar nichts zu bedeuten.« Arien Richardson erhob sich. »Wir können sie orten, aber das besagt noch lange nicht, daß es umgekehrt auch der Fall ist. Ihr Verhalten schließt jedenfalls die Möglichkeit aus, daß sie uns entdeckt haben.«

Das Hauptschott glitt zur Seite.

»Das Essen ist angerichtet«, fiepte der Smutje Florian. »Es gibt gedünstete Brechbohnen mit Speck nach…«

»Raus!« Ariens Augen funkelten bedrohlich. »Sandra! Linearraum verlassen!«

»Aber Arien«, stöhnte die Frau. »Dann entdecken sie uns doch erst recht!«

»Das sollen sie auch.« Die Stimme des Feuerwehrmanns wurde eine deutliche Nuance härter. »Eine Begegnung auf Ortungsbasis im Linearraum kann mir nicht zeigen, was in euch steckt und ob ihr für die kommenden Aufgaben gut genug seid. Da gehört etwas mehr dazu. Wenn ihr ein Team werden wollt, das wie Pech und Schwefel zusammenhält, dann beweist das!«

»Komm, Polo!« Sandra McMooshel lächelte dem Ersten Piloten zu. »Das machen wir gemeinsam. Und dann zeigen wir es diesem Feuerwehrmann.«

Das erste Eis war gebrochen, und die Mannschaft hatte verstanden, daß alles nur ein Vorgeplänkel gewesen war. Jetzt wurde es wirklich ernst.

Die VIRGINIA fiel in den Normalraum zurück. Arien hob die Alarmstufe auf, was Verwunderung

hervorrief. Der Celester wollte, daß sich seine Mannschaft gründlich orientierte.

»Waffensysteme voll einsatzbereit«, meldete Ukeleie Ysa aus ihrer Leitzentrale.

»Ortung positiv. Achtung! Bildübertragung. Entfernung der Objekte zwei Lichtjahre.« Morrisson Kaukiki war die Ruhe selbst.

Für kosmische Entfernungen waren zwei Lichtjahre ein Katzensprung. Keiner zweifelte mehr daran, daß die VIRGINIA in Kürze geortet werden würde. Es mußte sich zwar nicht unbedingt um ein Schiff handeln, das feindlich gesinnt war, denn im Sektor Janzonborr kreuzten auch Handelsraumer aller Art. Aber ein solches Schiff würde auch die Stählerne Horde alarmieren können, und dann wäre die Gefahr hautnah da.

»Für einen Puritaner pokerst du verdammt hoch«, schimpfte Sandra. »Außerdem gehört Pokern zu den Sünden, die dir verboten sind.«

Die drei georteten Punkte verschwanden von den Schirmen. Das konnte alles mögliche bedeuten, auch, daß sich die Schiffe nach einem relativ kurzen Flug durch den Linearraum in unmittelbarer Nähe befinden würden. Die Mannschaft wußte das, und Unsicherheit machte sich in den Gesichtern breit. Jemand erwähnte das Wort »Schutzschirme«, aber Arien Richardson reagierte nicht.

Dann waren die Ortungsechos plötzlich ganz nah. Aus den Lautsprechern, die mit der Funkzentrale verbunden waren, kam das typische Prasseln von kodierten Digitalfunksprüchen.

»Unverständlich«, meldete Nimahis Positronik. »Versuche…«

Wieder glitt das Schott zur Seite.

»Ich will mich beschweren«, brüllte der Smutje mit sich überschlagender Stimme. »Ich lasse mich nicht so behandeln. Wenn ihr einen Koch haben wollt, dann müßt ihr auch die leckeren Speisen essen. Das ist eine Beleidigung erster Gewürze. Und außerdem, Herr Kommandant und Feuerwehrmann! Zu mir müßtest du besonders freundlich sein. Schließlich heiße ich Florian. Und der Heilige Florian gilt seit den Urzeiten auf Terra als Schutzpatron der Feuerwehrleute.«

Ariens Stirnadern schwollen an.

»Schaff jemand den grünen Bengel aus der Zentrale!« tobte er. »Wenn nicht sofort…«

Weiter kam er nicht, denn zwei Dinge geschahen gleichzeitig.

Das Eichhörnchen Moppy sprang mit einem gewaltigen Satz auf Ariens Schulter, um seinen Freund Mycara zu begrüßen. Deren hastig gezischte Worte »Achtung! Gefahr! Angriff!« nahm Arien dadurch nicht wahr.

Eins der drei Schiffe feuerte einen Hochenergiestrahl ab. Es war das Glück der Celester, daß dieser Schuß als Warnschuß galt und absichtlich nicht plaziert lag. Die VIRGINIA wurde dennoch heftig gebeutelt.

»Wir hätten den Anruf richtig beantworten müssen«, stellte Carl Nimahi fest. Der Bordingenieur sprach mehr zu sich selbst als zu seinem Kommandanten, und er schien sich der Gefahr gar nicht bewußt zu sein. Sinnend starrte er auf das Terminal seines »Kätzchens«, wo »ALARM A« zu lesen war. Darunter stand in kleinerer Schrift:

Dekodierung des Funkanrufs nicht möglich.Arien schleuderte Moppy von sich. Er wollte etwas sagen, aber Polo und Zitrus kamen ihm zuvor. Der Erste Pilot schaltete in Überschreitung seiner Befehlsbefugnis die Schutzschirme ein. Und die Kopilotin jagte ihren »Schaukelstuhl« los, bis er die notwendige Anfangsgeschwindigkeit hatte, um in den Linearraum zu wechseln.

»73 Grad neben dem früheren Kurs«, erklärte sie dazu. »Vier Zusatzmanöver, zwei links, zwei rechts. Entspricht dem Strickmuster, mit dem meine Oma unsere Socken zusammenbaute. Okay,

Arien?«

»Konzentriertes Feuer auf den Punkt, an dem wir eben noch standen«, meldete die Ortung. »Das war ein Totalangriff auf die VIRGINIA.« Diesmal zitterte Morrisson Kaukikis Stimme deutlich.

»Kurs gespeichert.« Die Bordpositronik wirkte etwas lahm. Sie führte noch Lernprozesse durch. »Anruf entschlüsselt. Inhalt ist überholt. Wir wurden zur Aufgabe aufgefordert, wenn wir nicht einen TEK-8501 genannten Memokode zur Antwort verwenden.«

»Tut mir leid.« Florian Lopp schlich wie ein betretener Pudel aus der Zentrale.

Arien kontrollierte alle Anzeigen und beobachtete die Gesichter seiner Leute. Allmählich kehrte wieder Ruhe ein.

»Keine Ortung«, meldete Kaukiki.

»Ich konnte doch nicht einfach feuern«, klagte seine Frau Carla aus der Waffenleitzentrale.

»Traugott!« Arien stand hinter dem Ersten Piloten. »Bringe die VIRGINIA an einen sicheren Platz. Wir machen einen kurzen Stop, um die ersten Erfahrungen außerhalb von Kontagnat auszuwerten. Colobar, trommle bitte alle wichtigen Leute in der Messe zusammen, wenn wir in Parkposition sind.«

Der Quartiermeister und Cheflogistiker, dessen normaler Aufenthaltsort in den unteren Decks war, bestätigte. Unterdessen lenkte Polo seine »Kokusnuß« nach den Angaben der Ortung in unmittelbarer Nähe einer planetenlosen Sonne in den Normalraum und steuerte das Schiff in die Korona des Sterns.

Arien Richardson drückte die Sensortaste, die ihn mit der Pantry verband.

»Florian! Jetzt haben wir Zeit für dich und ein frugales Mahl. Servier deine gegrillten Bohnen oder ein gedünstetes Eichhörnchen. Aber etwas plötzlich. Der Tanz mit denen da draußen kann schon bald wieder beginnen.«

»Mach ich. Aye, aye!«

Wenig später saßen sie in der Messe. Die Mahlzeit schmeckte den Umständen nach gut. Es war Florians Glück, daß alle zu sehr mit der neuen Situation beschäftigt waren, so daß weder die leicht versalzenen Bohnen, noch die angebratenen Salzkartoffeln oder das zu lange gedünstete Fleisch Anlaß zur Beanstandung gaben.

Carl Nimahi hatte inzwischen alle Informationen der jüngsten Ereignisse von seinem Kätzchen auswerten lassen.

»Wir sind bereits beim Überschreiten der Grenze zwischen Kontagnat und Janzonborr geortet worden, obwohl dies im Linearraum geschah. Anders ist das massierte Auftreten der Kräfte Yog-Mann-Yogs nicht zu erklären. Vorerst sind wir hier in Sicherheit. Die Entfernung zu unserem Ziel, dem Adlerhorst – gemäß den Koordinaten, die uns Arien genannt hat –, beträgt nunmehr noch 882 Lichtjahre. Das ist relativ wenig. Das Kätzchen meint allerdings, daß mit zunehmender Annäherung der Widerstand auch größer wird. Mein Kätzchen hat auch eine psychologische Auswertung des Verhaltens der Mannschaft vorgenommen. Diese Daten stehen allerdings nur dem Kommandanten zur Verfügung.«

»Ich schätze, Carl«, Arien schluckte den letzten Bissen herunter, »daß du diese persönlichen Daten auch kennst. Oder kennst du dein Kätzchen nicht gut genug?«

Die Frage erlaubte kein Ausweichen. Nimahi nickte.

»Dann teile sie allen mit.«

»Es gibt noch Nachschlag.« Florian rannte zwischen der Versammlung herum. In einem Arm hielt er einen dreigeteilten Topf. In der Hand des anderen Armes schwang er ein Besteck, das an einem

Ende wie eine Gabel, am anderen wie ein Löffel aussah.

Nimahi wartete geduldig, bis alle ihr zweites Mahl bekommen hatten. Er selbst wirkte zwar ganz ruhig, aber innerlich war er zu aufgeregt, um seinen Hunger zu bemerken und sich noch etwas nachlegen zu lassen. Seine Augen wechselten zwischen Moppy, das Florian auf der Schulter hockte, und dem Terminal seines Kätzchens hin und her.

»Nun denn.« Der Positroniker räusperte sich vernehmlich. »Daß wir aus der eigentlichen Gefahr entkommen konnten, in die wir soeben geraten waren, haben wir Polo und Zitrus zu verdanken. Unser Smutje hat mit seinem Maskottchen, seinem undisziplinierten Auftreten und den versalzenen Bohnen dafür…«

»Sind die Flugdaten in Richtung Adlerhorst gespeichert«, unterbrach Arien Richardson den Bordingenieur gelassen.

»Ja, ja«, stotterte Nimahi verlegen. »Acht Lichtjahre, eh, 882 sind es wohl, aber wir, eh, du…«

»Flugetappe programmieren.« Arien erhob sich und schob seinen leeren Teller zur Seite. Er sah, daß einige noch aßen. »In fünf Minuten ist alles auf seinem Platz. Die Etappe wird auf 878 Lichtjahre festgelegt. Start in zehn Minuten.«

»Aber… ich… die psychologische Bewertung beginnt doch erst mit den folgenden Aussagen, die…«

Carl Nimahi verstummte, als Colobar Tuira, der alte und erfahrene Raumfahrer, einen Arm um seine Schultern legte und auf das offene Schott deutete, durch das der Kommandant gerade verschwunden war.

»Versuch mal, Mycara zu bewerten«, erklärte der Cheflogistiker. »Dann kannst du deine Versuche und die deines Positronikkaters aufgeben.«

»Hm«, antwortete Nimahi.

*

Ich war mir meiner bescheidenen Lage durchaus bewußt. Seit ich mit meinen drei Freunden aus dem Kreis der Steppenforscher in die Gewalt Yog-Mann-Yogs geraten war, hatte ich wenig erreicht.

Nichts! belehrte mich der Extrasinn.

Das stimmte nicht ganz, denn immerhin hatte ich zwei Prüfungen überstanden, die auch tödlich hätten enden können.

Du vergißt den Grund deines Hierseins, Beauftragter der Kosmokraten! Um das Ziel zu erreichen, das dir gesetzt wurde, hast du in Janzonborr nichts erreicht. Ich habe dir immer gesagt, daß es wenig Sinn hat, sich mit den Facetten und ihren Helfern herumzuprügeln.Ich verzichtete auf eine direkte Antwort an mein zweites Bewußtsein, weil diese Diskussionen auch zu nichts führten.

Der Stählerne-4050 brachte unsere Tagesration an Nahrungsmitteln. In dieser Hinsicht wurden wir zumindest gut versorgt. Auch auf die speziellen Wünsche meiner Begleiter gingen die Roboter ein.

»Du hast nicht viel Zeit für das Essen«, erklärte der Roboter. »Die nächste Aufgabe wartet auf dich. Die Facette wird sie selbst durchführen lassen.«

Was bedeutete das nun wieder? Ich beriet mich leise mit Wasterjajn, aber der wußte auch nicht, was sich hinter der Andeutung des Roboters verbarg.

»Wenn du wenigstens einen von uns beiden mitnehmen könntest«, klagte Kjok-Almergund. »Dann

könnten wir dir helfen und dich immer aus der Klemme holen.«

Sie spielte damit auf die Fähigkeit der Transversal-Teleportation an. Ich war froh, daß die Facette und die Stählernen offensichtlich nichts davon wußten, denn sonst hätte man sich intensiver um die beiden Kjokerinnen gekümmert.

»Sprich nicht davon!« verlangte ich leise und deutete an die Decke. Kjok-Almergund verstand und nickte. Wir rechneten damit, daß jedes unserer Worte mitgehört wurde.

Ich hatte den letzten Bissen noch nicht heruntergeschluckt, als die Stählernen wieder auftauchten. Diesmal kamen gleich vier Roboter. Ich wertete das als ein Zeichen, daß es um etwas Bedeutungsvolles ging. Sie nahmen mich in ihre Mitte und hielten mich mit mehreren Armen gleichzeitig fest. Jeder Widerstand wäre sinnlos gewesen.

Ich wurde in einen Teil des Adlerhorsts geführt, den ich noch nicht kannte. Wir kamen auch an bepflanzten Flächen vorbei, die von Kunstsonnen beschienen wurden. Ganz so trostlos und technisch kalt schien Yog-Mann-Yogs Welt doch nicht zu sein. Auf einem Rasen tummelten sich Wesen, die zweifellos ganz natürlich waren. Die Roboter zerrten mich schnell an dieser Szene vorbei in einen stählernen Tunnel. Eine Transmitterstation tauchte vor uns auf.

Wir wurden abgestrahlt, und damit besaß ich keinen Bezugspunkt mehr zu meinen Freunden.

Der Raum, in dem wir ankamen, war kreisrund und besaß einen Durchmesser von etwa 40 Metern. Die Bodenfläche, auf der wir standen, füllte jedoch nur die Hälfte der Halle aus. Was auf der anderen Seite war, konnte ich nicht erkennen. Ich stellte nur mit einem Blick fest, daß es dort sehr weit in die Tiefe ging. Da war nichts.

»Wir lassen dich nun allein, Prüfling«, erklärte einer der Stählernen. »Dein Gegner wird in Kürze hier erscheinen. Sieh dich um, damit du weißt, was auf dich wartet. Und denke daran, daß es in diesem Kampf nur einen Überlebenden geben darf. So lautet die Entscheidung der Facette.«

Ich zog es vor, nicht zu antworten. Die Roboter begaben sich in den Transmitter und verschwanden. Ich war allein.

Du solltest dich umsehen, erinnerte mich der Extrasinn. Ich verspürte keine Lust in mir, irgend etwas zu tun, was die Facette verlangte.

Dennoch entschloß ich mich, einen Blick in den Abgrund zu werfen, der die eine Hälfte der Halle füllte. Ansonsten gab es hier keine Besonderheiten. Alle Wände waren glatt, die Decke war so hoch, daß ich sie nie und nimmer erreichen konnte.

Der Transmitter war sicher deaktiviert worden. Außerdem entdeckte ich nichts, was an ein Schaltpult erinnerte. Die Anlage wurde also von außerhalb bedient.

Den Rand zum Abgrund erreichte ich schnell. Die Tiefe betrug mindestens einhundert Meter. Vorsichtig beugte ich mich nach vorn. Auf dem Grund war niedriges Wasser zu erkennen, das von größeren Felsbrocken durchsetzt war. Zwischen diesen bewegte sich ein Schlangenwesen von beachtlicher Länge. Einmal wurden zwei Köpfe sichtbar, die sich in die Höhe reckten. Sie gehörten beide dem gleichen Wesen.

Ich würde einen Sturz in die Tiefe kaum überleben. Und wenn dies durch glückliche Umstände doch der Fall sein würde, hätte ich gegen diese Bestie bestimmt keine Chance. Und daß dieses Loch mit dem Untier eine Rolle spielen würde, war mir klar.

Ein Geräusch ließ mich herumfahren. Der Transmitter hatte meinen Testpartner ausgespuckt. Die Gestalt, die auf mich zueilte, mußte auch einem Alptraum entsprungen sein. Sie sah aus wie ein dicker Mensch, dem der Kopf fehlte.

»Ich werfe dich in die Grube!« brüllte der Kopflose und stürmte weiter.

Ich wich erst einmal ein Stück vom Abgrund zurück und erwartete die Attacke meines

Gegenspielers. Auf meine ausgestreckten Hände, die meine Friedlichkeit demonstrieren sollten, reagierte der Anstürmende nicht.

7.Nach der erneuten Rückkehr in den Normalraum verstrichen keine zehn Sekunden, da sprachen die automatischen Alarmauslösungen an. Zahlreiche Meldungen gingen in der Zentrale der VIRGINIA ein.

Es gab aufgrund der eigenen Ortungsergebnisse keinen Zweifel daran, daß man das erwartete Ziel erreicht hatte. Sogar ein deutliches Signal des Kunstplaneten Adlerhorst, der ohne Sonne im Leerraum stand, wurde alsbald festgestellt. Die Entfernung dorthin betrug noch 7,8 Lichtjahre.

Gleichzeitig war die VIRGINIA aber von den Strahlen mehrerer fremder Ortungssysteme getroffen worden. Das hatte den Alarm ausgelöst. Morrison Kaukiki und seine Leute arbeiteten auf Hochtouren. Nimahis Positronik wertete die Erkenntnisse aus.

Man war auf einen regelrechten Sperrgürtel aus kleinen und großen Raumstationen getroffen, die sich in weitem Umkreis um den Sitz der Facette verteilten. Von dort waren die Ortungen gekommen. Mehrere kodierte Funksprüche wurden aufgenommen. Adlerhorst und seine Umgebung waren durch die VIRGINIA aufgeschreckt worden.

»Alle Sonnen registrieren, die in der Nähe sind«, ordnete Richardson an. »Wir müssen auf alles gefaßt sein und brauchen Ausweich- und Fluchtmöglichkeiten. Polo, programmiere entsprechende Kurse. Carla, überwachte alle Hyperfunksprüche. Vielleicht finden wir einen Hinweis auf Atlan.«

»Raumschiffe«, kam es aus der Ortungszentrale. »Mindestens zwanzig Einheiten. Es sind Aufklärer der Robotflotte.«

»Das befreit uns von allen Sorgen«, stellte Sandra McMooshel fest, »wenn wir uns wehren müssen. Auf Roboter zu feuern, ist ja wohl nicht verboten.«

Die VIRGINIA bewegte sich mit Unterlichtgeschwindigkeit auf den georteten Kunstplaneten zu. Einen direkten Vorstoß plante der Feuerwehrmann von New Marion noch nicht, weil ein konkreter Hinweis auf den Aufenthaltsort Atlans fehlte. Er mußte vorsichtig taktieren.

Ein blauer Riesenstern wurde als Zwischenziel angepeilt. Er würde mit seiner gewaltigen Korona auch ein prächtiges Versteck abgeben, wenn es zu brenzlig werden würde.

Auf dem halben Weg dieser Etappe fielen bereits die ersten Aufklärer der Stählernen Horde aus dem Linearraum. Auf die vorbereiteten Funksprüche, die eiligst abgesetzt wurden, reagierten die Schiffe der Facette nicht. Ihre Antwort waren gebündelte Strahlen aus den schweren Desintegratorgeschützen.

Längst hatte sich der Kugelraumer in dreifach gestaffelte Defensivschirme gehüllt. Die Energien verpufften wirkungslos.

»Ab zu dem Blauen Riesen!« befahl Arien. Er verspürte keine Lust, sich mit den Roboteinheiten herumzuschlagen. Mit zwanzig dieser relativ kleinen Einheiten konnte er es zwar aufnehmen, er mußte aber damit rechnen, daß sich die Zahl der Angreifer hier in der Nähe des Herrschaftssitzes des Leuchtenden von Janzonborr schnell vergrößern würde.

Sein Plan ging nicht auf, denn in der direkten Flugrichtung tauchten weitere Aufklärer der Stählernen Horde auf. Auch diese eröffneten sofort das Feuer.

Insgesamt 32 Aufklärer schwirrten um die Korvette herum. Arien durfte nicht mehr zögern. Seine Anweisungen an Ukeleie Ysa in der Waffenzentrale kamen schnell und knapp.

Dann schlug die VIRGINIA mit allen Waffen zurück. Gleichzeitig beschleunigte sie.

»In zwanzig Sekunden sind wir im Linearraum«, rief Polo. »Etappe knapp vier LJ.«

Der Kampf dauerte nur Sekunden. Mehrere Treffer bei den Aufklärern wurden registriert, aber um ein genaues Ergebnis festzustellen, dazu fehlte die Zeit. Auch die VIRGINIA wurde mehrmals hart von dem Feuer, das aus zwei Richtungen kam, getroffen. Das Schiff schwankte und ächzte unter

den Belastungen, die sich auf alle Aggregate auswirkten, aber die Celester schafften es. Das letzte, was man registrierte, waren weitere Raumer der Horde, die an den Schauplatz des Geschehens geeilt waren.

Dann nahm die schützende Dimension des Zwischenraums die VIRGINIA auf. Sekunden später fiel sie in das Einsteinuniversum zurück. Nun half nur noch ein scharfes Bremsmanöver, um schnellstmöglich in die Nähe des Blauen Riesen zu kommen. Polo überließ dies Zitrus, die mit ihren mehr gefühlsmäßigen Reaktionen und Steuermanövern größeren Erfolg haben würde.

Wieder schrillten die Alarmglocken. Die Stählerne Horde bewies erneut ihre Gefährlichkeit, denn ein knappes Dutzend Schiffe stand in unmittelbarer Nähe des Sternes.

»Sie haben diesen Fluchtweg eingeplant, diese Halunken.« Arien Richardson konnte nicht verhindern, daß ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Durch das scharfe Bremsmanöver würde man sie sowieso auch aus größerer Entfernung orten. Da kam es auf einen weiteren Energieausstoß auch nicht mehr an.

Ukeleie Ysa wartete gar kein Kommando des Kommandanten ab. Ihre Anweisungen gingen an die Geschütze, bevor die Aufklärer der Horde das Feuer eröffnen konnten. Trotz des nicht ganz gleichmäßigen Bremsmanövers der VIRGINIA konnten im ersten Feuerschlag vier Schiffe getroffen werden.

Sandra »Zitrus« McMooshel änderte daraufhin den Kurs, um den Blauen Riesen zwischen sich und die Verfolger zu bringen. Erneut schüttelte eine Salve die VIRGINIA. Die Andruckabsorber spielten für Sekunden verrückt, als die Pilotin beschleunigte. Wenig später waren die Aufklärer aus der Ortung, weil die Riesensonne sie verdeckte.

»Hinunter!« sagte Arien.

»Klar, Mann«, antwortete Sandra.

Die wabernden Feuerschweife der Oberfläche der Sonne hüllten das Schiff ein. Sandra flog noch eine Weile und wartete dann die Ergebnisse der Ortung ab. Man war tief genug in den äußeren Schichten des Sternes, um nicht entdeckt zu werden.

»Pause, Kaffee bitte!« rief die Pilotin. »Wir sind erst einmal in Sicherheit.«

Die VIRGINIA verharrte.

»Unbemannte Sonden klarmachen«, ordnete Arien Richardson an. »Ich will wissen, was da draußen geschieht.«

»Bereit«, meldete Colobar Tuira. »VK-2 und VK-3 können sofort starten.«

Damit besaß Arien eine indirekte Beobachtungsmöglichkeit, die die fraglos nach ihnen suchenden Horden-Schiffe nicht so schnell entdecken würden. Die Sonden würden in die äußeren Grenzschichten vorstoßen, wo die Strahlungskomponenten des Blauen Riesen nicht mehr so stark waren wie hier, wo jedes Echo überdeckt wurde.

»VK-2 und VK-3 starten.« Arien streckte sich in seinem Sessel. »Hat da nicht eben jemand Kaffee bestellt? Wo steckt denn dieser rothaarige Bengel aus der Pantry?«

*

Ich sprang im letzten Moment zur Seite und ließ den Kopflosen in die Leere springen. Der Bursche war jedoch unheimlich gewandt. Er bremste seinen Lauf mit Unterstützung der Arme ab. Umzudrehen brauchte er sich nicht. Wo bei ihm vorn war, konnte ich nur an der Form der Füße erkennen. Vor allem machte mich stutzig, daß der Kerl keine Augen besaß. Wie, bei allen guten

Geistern dieses Kosmos, orientierte er sich denn?

Zum Nachdenken blieb mir keine Zeit, denn schon war er wieder heran. Für ein Ausweichen war es zu spät. Ich bog mich nur ein Stück zur Seite und packte ihn an einem Arm. Damit versuchte ich, ihn um mich herumzuschleudern. Der Widerstand, den er leistete, war unerwartet gering. Und doch gelang mein Plan nicht.

Die Gestalt des Kopflosen löste sich unter meinem heftigen Ruck förmlich auf. Ich war verblüfft, als plötzlich der Leib zu Boden fiel und sich als teigige Pfütze ausbreitete. Die Biomasse zerlief und wirkte völlig harmlos.

Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu, warnte mich der Logiksektor. Sei vorsichtig!Er hätte mich besser nicht ablenken sollen, denn meine Unaufmerksamkeit bewirkte zusammen mit meiner noch immer bestehenden Verblüffung, daß dieses Wesen seine Chance ungehindert wahrnehmen konnte. Der Fladen hatte sich ringsum ausgebreitet. Und urplötzlich schoß er wieder in die Höhe.

Ich versuchte einen rettenden Sprung und eine Abwehr mit meinen Händen, aber es war zu spät. Die teigige Masse hüllte mich überall ein.

Ich hörte ein leises Lachen, aber es klang nicht boshaft. Mein Gegner war sich seiner Sache allerdings sehr sicher. Meine Gegenwehr entpuppte sich als ziemlich sinnlos. Der Kopflose hatte mich in seinem Griff, und nichts half mehr.

»Hallo, Atlan«, hörte ich leise. »Wehre dich ruhig. Du mußt es tun, damit der Feiste nichts merkt. Ich soll dich in den Abgrund stoßen, damit du zwischen den Felsen zerschellst oder eine Beute der Doppelkopf-Wasserschlange wirst. So will es der Feiste. Du oder ich, das hat er gesagt. Ich heiße übrigens Klecks. Wehr dich stärker! Sonst schöpft er Verdacht, und dann ist es mit uns beiden aus. Merkst du denn nicht, worum es geht?«

Ich merkte einiges. Vor allem, daß ich nicht reden konnte, weil mir die Masse des Kopflosen den Mund verschloß. Ich merkte aber auch, daß ich ganz offensichtlich wieder auf ein Bio-Kunstgeschöpf gestoßen war, das sich den Kämpfen auch nur unter Zwang widmete. Eine Antwort war unmöglich. Mehr als ein Gurgeln brachte ich nicht hervor.

Ich merkte auch, daß Klecks sich bewegte.

Auf den Abgrund zu, vermutete der Extrasinn. Trau ihm nicht. Das ist auch nur eine Falle.Ich schlug mit aller Kraft um mich. Plötzlich war oben unten und umgekehrt.

»Gut, Atlan«, hörte ich wieder Klecks. »Ausgezeichnet. Wirklich gewinnen könntest du gegen mich nicht, denn du hast gesehen, wie ich die Verwandlung beherrsche. Ich will dich aber nicht besiegen. Ich schenke dir das Leben, wenn du mir hilfst, den Spucknapf des Feisten zu verlassen. Ich würde dir dabei auch helfen. Und deine Freunde kämen natürlich mit.«

Wir rollten über den Boden, führten den Kampf fort, und ich hörte dieses seltsame Wesen leise sprechen. Als sich eine kleine Luftblase vor meinem Mund bildete, hatte ich den Eindruck, daß Klecks diese absichtlich erzeugt hatte. Für Sekunden bekam ich auch einen freien Blick nach draußen. Der Abgrund war nur noch ein paar Schritte entfernt.

»Einverstanden!« keuchte ich. Mehr brachte ich nicht über die Lippen.

»Gut! Danke! Ich muß dir vertrauen. Und du mir. Du bist meine große Chance. Wenn es diesmal nicht klappt, ist alles aus. Du mußt für den Feisten, so nenne ich Yog-Mann-Yog, der Sieger sein. Aber du darfst mich nicht in den Abgrund stoßen, denn das wäre mein Ende. Ich gebe nach, wenn wir am Rande sind. Du stößt mich hinab, aber im letzten Augenblick mußt du gnädig sein und mich vor dem Tod verschonen. Das ist gut genug, um den Feisten zu überzeugen.«

Ich wollte etwas antworten, aber das war wieder unmöglich. So rammte ich meine Ellenbogen in

den Leib Klecks’ und trat mit den Füßen, wo immer ich etwas Bewegungsfreiheit hatte. Meine Kräfte begannen zu erlahmen, denn das Fehlen der Atemluft machte sich bemerkbar.

Für einen kurzen Moment gab Klecks mein Gesicht frei. Ich schnappte nach Luft und sah den Abgrund direkt vor meinen Füßen. Das mobilisierte meine letzten Kräfte.

Ich rammte meine Fäuste in die Höhe und erweiterte so die kleine Öffnung. Klecks stellte eine Mischung aus seinem kopflosen Leib und dem Fladen dar. Halb hüllte er mich noch ein. Ich drosch mit den nun endlich freien Fäusten auf ihn ein.

Das Kunstwesen – zweifellos war es ein solches – sank Stück für Stück in sich zusammen. Dann bekam ich das erste Bein frei. Der Rest war eine Kleinigkeit.

Ich sprang zurück, so daß Klecks genau zwischen mir und dem Abgrund stand. Bevor er sich besinnen konnte (oder wollte?), hechtete ich mit beiden Beinen voran gegen ihn. Er nahm gerade wieder seine aufrechte Gestalt an. Ich traf ihn voll.

Er torkelte zurück, schwankte, und stürzte in den Abgrund. In seiner Not nahm er erneut die Verwandlung vor. Ein Lappen des Fladens, den er nun darstellte, verkrallte sich an der Kante, aber über drei Viertel seiner Körpermasse hingen über dem Abgrund. Keuchend trat ich auf den Rand zu. Ein kleiner Tritt hätte nun genügt, um ihn hinabzustoßen.

»Worauf wartest du, Atlan?« höhnte eine Stimme, die brüllend laut von der Decke der Halle zu kommen schien. »Vollende dein gelungenes Werk, und du bist mein Mann. Du wirst mehr Macht in Janzonborr haben, als irgendein anderes Wesen – außer mir natürlich. Töte ihn! Er ist nur ein Geschöpf der Wissenschaft. Die Spuren des wahren Lebens in seinem Körper sind bedeutungslos.«

Yog-Mann-Yog! Die Facette, der Feiste, der Zwilling! stellte der Extrasinn überflüssigerweise fest.

Da lag dieses arme Geschöpf, den sicheren Tod unter sich, und klammerte sich an weniger als den buchstäblichen Strohhalm. Klecks gab keinen Laut von sich. Offensichtlich konnte er in der reinen Fladenform nicht sprechen. Und die Rückverwandlung hätte ihn mit Sicherheit von der Kante abrutschen und in den Tod stürzen lassen.

Ich ging in die Knie und packte an den Rand des fladenförmigen Leibes. Mit beiden Händen griff ich darunter und hob ihn leicht an, bis ich einen festen Griff fand.

»Gut! Stoß ihn hinab!« grölte Yog-Mann-Yog aus unsichtbaren Lautsprechern.

»Du wirst dir an mir noch die Zähne ausbeißen!« schrie ich in ehrlicher Empörung zurück.

Ich riß den Fladen hoch und schnellte gleichzeitig in die Höhe. Der Leib des Bio-Wesens wirbelte durch die Luft und landete sicher in einigen Metern Entfernung vom Rand des Abgrunds.

»Hah!« schrie die Facette. Das klang irgendwie enttäuscht. »Dann mußt du gegen mich antreten. Bei mir gibt es diese Gefühlsduselei nicht! Suche dir zwei Waffen aus, Atlan. Und sei bereit.«

Klecks blieb reglos am Boden liegen. Er war entweder total erschöpft, oder er verstellte sich. Für mich spielte das im Augenblick keine Rolle, denn helfen konnte ich ihm nicht.

Stählerne tauchten in der Transmitteröffnung auf.

»Schafft den Lappen zu den Handlangern Atlans«, befahl Yog-Mann-Yog den Robotern. »Und bringt Atlan zu mir, wenn er seine Waffen gewählt hat. Und du Atlan, sei nicht wieder so dumm und verzichte auf alles. Diesmal ist es bitterer Ernst. Ich bin kein dummes Kunstgeschöpf und kein einfallsloser Roboter. Man nennt mich nicht umsonst den Zwilling.«

Die Stählernen transportierten Klecks ab, der sich noch immer nicht rührte. Ich atmete schwer, denn der Kräfteverschleiß war enorm gewesen.

»Facette!« Ich konnte nicht so laut sprechen, wie ich es wollte, denn noch fehlte mir Atemluft. Und der Zellaktivator benötigte einige Zeit, um eine durchschlagende Wirkung zu erzielen und die

normale körperliche Verfassung herzustellen. »Ich kann wählen, was ich will?«

»Kannst du!« Das klang überheblich und gönnerhaft. »Am Ende wirst du dich dankbar dafür entscheiden, mein biologischer Diamant zu werden. Du wirst sehen, es kommt immer so, wie ich es plane. Nenne deine Waffen.«

»Einen schweren Kombistrahler!«

»Einverstanden. Der Stählerne-378 wird ihn dir geben, wenn du vor meiner Arena stehst. Weiter!«

»Kjok-Almergund.«

»Ich bedaure, mein Kandidat, aber ein Kjok-Almergund kenne und besitze ich nicht. Wähle etwas anderes. Du unterliegst keinen Einschränkungen.«

»Kjok-Almergund«, wiederholte ich. »Diese Waffe lebt. Sie ist einer meiner Handlanger.«

Die Facette lachte brüllend. »Du meinst eins von diesen schwächlichen Insektenwesen aus deiner Begleitung? Haha! Einen kümmerlichen Zwerg? Du kannst beide mitnehmen.«

Das wollte ich nun gar nicht. Das Angebot bewies aber, daß Yog-Mann-Yog tatsächlich nichts von den Fähigkeiten der Kjokerinnen wußte. »Eine genügt. Ich wähle Kjok-Almergund.«

»Du bist und bleibst ein Narr, Atlan. Das wird sich ändern, wenn du der Diamant bist. Du bekommst deinen Handlanger. Die Stählernen werden dich zu Kjok-Almergund bringen, und diese darf dich dann begleiten. In Ordnung?«

»Alles klar, Facette!« Innerlich fühlte ich einen leisen Triumph, obwohl ich nicht wußte, wie diese Geschichte enden würde. Mit einer der beiden Kjokerinnen an meiner Seite fühlte ich mich aber schon sicherer.

Die Stählernen brachten mich zum Transmitter.

»Es sieht gut aus für dich«, bemerkte der mit der Nummer 4050. »Ich beginne zu glauben, daß du unser Diamant wirst.«

Das glaube ich nicht! dachte ich.

8.Sie warfen mich wie einen alten Teppich in die Ecke. Gefühllose Blechkästen. Aber ich hatte sie getäuscht. Und in Atlan hatte ich mich nicht getäuscht!

Für Momente, in denen ich über dem Abgrund mit der Wasserschlange gehangen hatte, waren mir Zweifel gekommen. Aber wenn man den Tod vor Augen sieht, darf man so etwas empfinden.

Ich hatte mich nicht in Atlan getäuscht! Allein das zählte jetzt. Meine Umgebung nahm ich auch jetzt wahr, obwohl ich nicht in der Lage war, meine normale Körperform einzunehmen. Der Kampf mit Atlan und das Hängen über dem Abgrund hatten vielen meiner Pumpen zugesetzt. All das würde sich regenerieren, aber das brauchte Zeit.

Wasterjajn Kaz und die beiden Insektoiden kümmerten sich rührend um mich. Sie schleppten ein Gefäß mit einer Flüssigkeit an und suchten verzweifelt nach einer Körperöffnung, durch die sie mir diese eingeben konnten. Ich wartete, bis die Stählernen abgezogen waren. Dann verwandelte ich mich in meine normale Form zurück. Die drei Handlanger Atlans reagierten überraschend gelassen. Auf meiner Brust bildete ich eine Öffnung und deutete mit dem Handlappen meiner rechten Hand darauf. Wasterjajn flößte mir die Flüssigkeit ein, die ich nun wirklich gebrauchen konnte.

»Danke«, blubberte ich. »Euer Atlan hat mich besiegt. Er lebt. Aber der Feiste, das ist die Facette, hat mich verstoßen.«

»Wo ist Atlan?« fragte Kjok-Duun.

»Ich weiß es nicht. Ich habe nur noch gehört, daß der Feiste ihn persönlich zum Kampf stellen will.« Das entsprach der Wahrheit.

Das Schott zu dem Raum öffnete sich. Ich erblickte den Weißhaarigen, der mich durchdringend anstarrte, aber nichts sprach. Das war auch gut so, denn der Feiste hatte seine technischen Ohren überall.

»Welche ist es?« fragte ein Stählerner, der hinter Atlan auftauchte.

»Das ist Kjok-Almergund.« Der Weißhaarige deutete auf eine der beiden Insektoiden. »Sie soll meine Waffe sein im Kampf gegen Yog-Mann-Yog.«

Ich verstand zwar nur, daß Atlan wieder etwas plante und daß er sich sehr behutsam ausdrückte, aber mir genügte das. Sein nächster Satz gab mir allerdings Rätsel auf.

»Es wäre nett, Duun«, sprach er zu dem anderen kleinen Wesen, das sich kaum von Kjok-Almergund unterschied, »wenn du in etwa einer halben Stunde einmal an uns denken würdest.«

Kjok-Duun nickte nur, und ich spürte, daß dies ein Zeichen der Zustimmung war. Mich beachtete Atlan gar nicht. Aber ich merkte, daß dies ein Teil seines Plans war. Ich lehnte mich an eine Wand und gab meinen Sinnen freien Lauf, während die Stählernen mit Atlan und Kjok-Almergund verschwanden. Die Tür schloß sich. Ich verfolgte die beiden noch und stellte fest, daß sie den Weg nehmen mußten, der sie zu Yog-Mann-Yog in dessen Arena bringen würde. Dann gerieten sie aus der Reichweite meines Sinnes zur Aufnahme der Gravitationsschwingungen. – Aber andere Informationen empfing ich aus der Nähe. Der Feiste gab die Anweisung, daß man ihn ungestört lassen sollte. Die ständig laufenden Überwachungseinrichtungen, die ganz Spucknapf erfüllten, wurden aus der Zentrale des Feisten abgeschaltet. Die Systeme liefen weiter, aber der Feiste hörte nicht mehr auf sie.

Ich ging auf Wasterjajn Kaz zu.

»Der Feiste hat die Überwachung abgeschaltet. Ich spüre das mit meinen Sinnen. Wir können offen reden, bis der Kampf Atlans mit dem Feisten vorüber ist.«

»Ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann«, entgegnete Wasterjajn.

»Wie kann ich dich davon überzeugen?« fragte ich.

»Gar nicht, Kopfloser. Aber versuch’s mal.«

Ich nannte meinen Namen und schilderte, was während des Kampfes mit Atlan geschehen war, woher ich kam und welches Schicksal ich erleiden mußte.

»Ich meine«, behauptete Kjok-Duun, als ich schwieg, »daß wir ihm trauen können. Und mit deinem Spürsinn kannst du uns vielleicht sogar helfen. Atlan hat Almergund mitgenommen, weil ich jederzeit die beiden zu mir holen kann.«

»Wie bitte?« fragte ich.

Sie erklärte mir etwas von Transversal-Teleportation. Es klang sehr technisch, war es aber nicht. Ich verstand es trotzdem nur zur Hälfte. Aber das genügte.

Ich lehnte mich wieder an die Wand, hinter der die Informationen übertragen wurden. Der robotische Diamant war aufmerksam geworden. Er hatte erfahren, daß ein biologischer Nachfolger an seine Stelle treten würde. Er versuchte, etwas dagegen zu unternehmen, aber er kämpfte mit seinen eigenen Programmen.

Ich bekam aber alles zu hören, was im Adlerhorst geschah. Auch das, was Yog-Mann-Yog mit Atlan machte. Die Bilder erschienen in mir, weil sie auch in der nahen Zentrale der Stählernen waren. Ich teilte alles Wasterjajn und Duun mit. Sie staunten mich an, aber sie glaubten mir.

»Ich verstehe nichts von Technik«, erläuterte ich, »aber ich weiß, wie die des Feisten zu bedienen ist. Die Roboter hängen im engen Kontakt mit ihrem Diamanten. Und der hat noch viel zu tun, weil wieder einmal Fremde in der Nähe des Adlerhorsts aufgetaucht sind. Die CHARONS machen Jagd, und der Diamant muß sie lenken. Er kann daher das, was hier geschieht, nicht beobachten. Der Feiste führt keine Überwachung durch. Er will Atlan gewinnen – für sich als biologischen Diamanten. Meine neuen Freunde, das ist unsere Chance. Wir hauen ab. Atlan können wir immer noch holen, wie Duun es sagte. Ich überwache die Informationskanäle, dann wissen wir, wann es an der Zeit ist. Einverstanden?«

»Eigentlich ja.« Wasterjajns Worte drückten Zweifel aus. »Aber wie willst du diesen Käfig verlassen?«

»Du weißt, daß ich in deinen Worten ›durch Wände sehen‹ kann.« Ich trat ein paar Schritte in Richtung des verriegelten Schottes und deutete auf den Boden. »Hier läuft das Kabel, das die Verriegelung bewirkt. Ich sehe es so deutlich, wie du mich siehst. Und dann habe ich mir einmal etwas aufgehoben.«

Ich holte aus dem Innern meines Körpers ein kleines Gefäß hervor, das ich, nachdem ich die Wirkung des Inhalts demonstriert bekommen hatte, aus einem Labor entwendet hatte, und öffnete den Verschluß.

»Säure«, stellte Wasterjajn fest und schnüffelte mit seinem Riechorgan.

»Kann sein«, entgegnete ich, »daß das Zeug so heißt. Ich weiß nur, wie es wirkt.«

Ich schüttete den flüssigen Inhalt genau auf die Stelle, wo ich im Boden das Kabel sah. Die Säure fraß sich mit rasender Geschwindigkeit durch das Metall. Es stank furchtbar. Duun und Wasterjajn wichen ein paar Schritte zurück.

Als sich die Flüssigkeit verbraucht hatte, wurde eine Isolierung für meine Freunde erkennbar. Ich »sah« das Kabel darunter und kippte den Rest des Gefäßes in das entstandene Loch. Wenig später hatte ich mein Ziel erreicht.

Die Tür öffnete sich geräuschlos.

»Kommt!« Ich winkte den beiden. »Ich kenne mich hier aus. Ich weiß auch, wo ein paar kleine Raumfahrzeuge liegen. Nur steuern kann ich die nicht. Aber vielleicht Atlan.«

Wasterjajn klopfte mir anerkennend in die Seite. »Ich kann das zur Not auch, Klecks. Wir sind keine

Handlanger, wir sind ein Team, zu dem außer Atlan auch noch ANIMA und Dhonat gehören. Vorwärts! Wir holen Atlan, sobald wir ein Raumgefährt unter dem Hintern haben. Und du kommst mit, Klecks!«

Ich war eigentlich ganz zufrieden und zuversichtlich. Selbst wenn unsere Flucht nicht klappen würde und ich mein Dasein beenden mußte, so hatte ich doch die Gewißheit, daß dem Feisten eins ausgewischt worden war.

»Es gibt hier Transmitter«, erklärte ich, während wir durch die Korridore hasteten. »Bedienen kann ich sie. Wie sie funktionieren, ist mir ein Rätsel.«

»Achte auf das, was mit Atlan und Almergund geschieht«, erinnerte mich Duun. »Ich muß wissen, wann ich sie holen soll. Almergund kann mir das nicht mitteilen.«

Ich streckte meine Sinne aus. »Mach ich, Freunde!«

*

Das, was als Arena bezeichnet worden war, hatte mit dem, was ich mir unter diesem Begriff vorstellte, nichts zu tun. Die Arena der Facette war nichts weiter als eine künstliche Hügellandschaft. Es gab ein paar Mulden, in die man nicht direkt einblicken konnte, wenn man nicht auf einem erhöhten Punkt stand. Und auf einem solchen stand ich nun.

Kjok-Almergund blieb stets in meiner unmittelbaren Nähe und in Körperkontakt mit mir. Das sah aus, als würde sie mir buchstäblich am berühmten Rockzipfel hängen, aber ich wußte, daß sie nur darauf bedacht war, den Kontakt zu halten. Wenn Kjok-Duun sie mit der Transversal-Teleportation »anfordern« würde, mußte sie »gehen«. Und mich konnte sie dann nur mitnehmen, wenn sie mich berührte.

Ich nahm ihre Hand in meine Rechte. In der Linken hielt ich die Waffe, die mir ein Stählerner vor dem Einlaß, in die künstliche Landschaft übergeben hatte. Von Yog-Mann-Yog zeigte sich noch nichts. In mir gestand ich mir ein, daß ich auf den Anblick der’ Facette gespannt war. Auch interessierte mich, was der seltsame Name »Zwilling« bedeuten könnte. Ich ging davon aus, daß sich hinter der Facette zwei Wesen verbargen – oder ein Doppelwesen.

Alkordoom und seine Facetten waren immer für eine Überraschung gut.

»Ich habe Angst«, sagte Kjok-Almergund und klammerte sich fester an meine Hand.

»Ich auch«, gab ich ehrlich zu. »Aber wir müssen hier durch, Kleines. Und wir haben ja noch Duun.«

»Ich kann ihr nicht mitteilen, wann es brenzlig wird. Weißt du noch, damals die Leuchtkugel?«

Ich nickte und dachte an meine erste Begegnung mit den beiden Kjokerinnen und den Steppenforschern, die ich eigentlich Parillyon zu verdanken hatte.

Für solche Abschweifungen hast du jetzt keine Zeit, mahnte der Logiksektor. Ich rechne mit dem persönlichen Auftauchen der Facette.»Soll dieser Zwilling doch kommen«, antwortete ich trotzig. Die Umgebung hatte ich längst sondiert. Es gab hier keine Deckungsmöglichkeit oder irgend etwas, was ich zu meinem Vorteil hätte ausnutzen können. Um Kjok-Almergund etwas zu beruhigen, verließ ich die Anhöhe wieder, auf der wir ein zu einfaches Ziel abgegeben hätten.

Yog-Mann-Yog wollte mich selbst testen. So hatte ich diese Prüfung verstanden. Eigentlich war das relativ ungefährlich, denn der Leuchtende hatte ja sein großes Interesse an mir bereits bewiesen. Ihm war also nicht damit gedient, mich zu töten.

Es wird wohl mehr eine Machtdemonstration werden, vermutete der Extrasinn. Yog-Mann-Yog will dich überzeugen, damit du aus freiem Entschluß in seine Dienste trittst.Mein Entschluß, jede Möglichkeit wahrzunehmen, um in die Nähe des Erleuchteten im Nukleus zu kommen und alles andere im Vorfeld von Alkordoom weniger zu beachten, stand unverrückbar fest. Nie mehr würde ich in die Dienste einer Facette treten.

»Du wirkst sehr gelassen«, erklang eine dumpfe Stimme in meinem Rücken. Ich drehte mich nicht zu schnell um.

Da stand er. Es mußte Yog-Mann-Yog sein, aber sofort kamen Zweifel in mir auf. Ich hatte mir dieses Wesen unbewußt ganz anders vorgestellt. Die große und breite Gestalt erinnerte mich zu sehr an mein eigenes Aussehen oder an das der Menschen der Erde oder von New Marion. Beim zweiten Blick gewahrte ich aber, daß dies nur der biologische Zufall der Evolution war. Yog-Mann-Yog war für einen Menschenabkömmling deutlich zu groß. Auch besaß er Abweichungen im Gesicht, die jede wirkliche Verwandtschaft ausschlossen.

»Ich bin gelassen«, antwortete ich und bemühte mich um einen ruhigen Klang meiner Stimme. Kjok-Almergund drückte sich enger an mich. Sie verschwand fast vollständig hinter meinem Rücken.

»Dann werde ich dir ein wenig einheizen.« Yog-Mann-Yog grinste breit, und seine nach vorn gerichteten Nasenlöcher bebten. »Ich will, daß du versuchst, mich zu töten. Ich werde dich dazu zwingen, Atlan, denn du sollst selbst sehen, wie mächtig dein neuer Herr ist und warum man ihn den Zwilling nennt.«

In seinen Pranken lagen zwei schwere Waffen. Sie spien ihr Feuer wenige Schritte vor mir in den Boden. Almergund schrie auf.

»Ich werde mich nicht wehren, Facette«, erklärte ich hart.

»Dann werde ich dich töten!«

»Ein toter biologischer Diamant nützt dir wenig«, entgegnete ich.

»Einer, der nicht weiß, daß er mich nicht töten kann, nützt mir auch nichts.« Wieder spien seine Waffen Feuer. Ein Strahl zischte haarscharf über meine Haare, der andere fand sein Ziel zwischen meinen Stiefeln. »Schieß zurück, Atlan!« forderte die Facette. »Du kannst mich ohnehin nicht töten.«

Ich hob langsam meine Waffe und beobachtete seinen lauernden Blick. Dann feuerte ich einen Schuß in den Boden, um die Funktion des Kombistrahlers zu überprüfen. Der Desintegrator wirkte einwandfrei. In dieser Hinsicht ähnelte die Waffe denen von Terra. Mit einer kaum wahrnehmbaren Daumenbewegung schaltete ich auf Paralyse und zog den Strahler ruckartig in die Höhe. Der unsichtbare Strahl war nur an einem sirrenden Ton zu erkennen. Er fand sein Ziel.

Yog-Mann-Yog erstarrte in jeder Bewegung. Dann neigte sich der schwere Körper langsam nach vorn und fiel krachend zu Boden. Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet.

»Was ist mit ihm?« fragte Kjok-Almergund scheu.

»Ich weiß es nicht.«

»Aber ich«, erklang es in meinem Rücken.

Ich drehte mich ruckartig um. Dort stand die Facette, und eine zweite, die ich paralysiert hatte, lag wenige Schritte neben mir.

Yog-Mann-Yogs Waffen sprachen erneut. Ein Schuß von schwacher Intensität wirbelte mich zu Boden. Im Fallen sah ich, wie der zweite Schuß den bewegungslosen Körper zerstrahlte. Dieser war mit voller Leistung abgegeben worden.

Ich rollte mich automatisch zur Seite, um in eine günstigere Lage zu kommen. Almergund lag bewegungslos wenige Meter entfernt.

Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie die beiden Waffen der Feisten sich auf mich richteten. Ich reagierte instinktiv, schaltete auf Desintegrator und drückte ab.

Mein Schuß löste sich einen Bruchteil einer Sekunde vor denen der Facette. Er fuhr Yog-Mann-Yog mitten in die Brust. Der mächtige Körper erlitt eine Explosion. Es gab keinen Zweifel daran, daß dieser Schuß tödlich gewesen war.

»Nicht schlecht, Atlan.« Er stand wieder in meiner Nähe, diesmal auf einer kleinen Anhöhe und spielte mit seinen Waffen. »Du erfüllst meine Erwartungen. Und du erlebst meine Macht, die Macht des absoluten Zwillings.«

Allmählich dämmerte es mir, welche Bedeutung dieser Begriff für die Facette hatte.

»Lauf, Atlan! Kämpfe, Atlan!« Wieder feuerte der Leuchtende, aber seine Schüsse verfolgten nicht das Ziel, mich wirklich zu treffen.

Es kostete mich eine gehörige Portion Nerven, nicht darauf zu reagieren. So erhob ich mich ganz und ging zu Kjok-Almergund. Die Kleine war nur benommen, aber nicht verletzt. Ich half ihr auf die Beine.

»Was ist geschehen?« murmelte sie verwirrt.

»Schon gut«, tröstete ich sie. »Die Facette hat ihr Demonstrationsspiel gespielt, aber jetzt ist es für mich zu Ende.«

»Das Ende bestimme ich.« Yog-Mann-Yog kam näher. Er blickte uns herablassend an. »Oder gibst du schon auf?«

»Es war nie meine Absicht, gegen dich zu kämpfen«, entgegnete ich.

»Ich meine, ob du bereit bist, in meine Dienste zu treten.« Sein Blick wurde lauernd. »Ich möchte, daß du dich mir freiwillig anschließt und nicht unter Zwang.«

»Es käme auf die Umstände an.« Ich wollte erst einmal Zeit gewinnen und diesen unsinnigen Kampf beenden.

»Du hast meine Macht erlebt.« Wieder brach seine Überheblichkeit durch. »Du hast gesehen, warum man mich den Zwilling nennt. Ich existiere nur einmal, aber wenn jemand diesen einen verletzt oder paralysiert oder tötet, entstehe ich sofort wieder. Das ist die Macht des Zwillings. Wie lautete deine Antwort?«

Ich drückte Almergund an mich, denn es konnte jeden Augenblick passieren, daß Duun sie abrief.

»Kann ich ein paar Fragen oder Bedingungen stellen?« Ich heuchelte den Interessierten.

»Es kommt darauf an, um was es sich handelt, Diamant.« Yog-Mann-Yog schien sich meiner schon sehr sicher zu sein.

»Ich habe noch zwei weitere Handlanger, die ich wieder bei mir haben möchte. Sie heißen ANIMA und Dhonat, und sie sind irgendwo in deinem Machtbereich verschollen. Es muß in der Nähe von Zuynam gewesen sein. Ohne diese beiden Handlanger bin ich nicht vollwertig.«

»Ich habe davon gehört, Atlan, aber ich kenne den Aufenthaltsort der beiden nicht. Ich werde die Horde beauftragen, die beiden zu finden und zu dir zu bringen. Ist dieser Wunsch damit erfüllt?«

Ich war ein bißchen enttäuscht, denn ich hatte gehofft, daß die Facette insbesondere mehr über ANIMA wußte. Ohne sie war ich ziemlich hilflos, denn ich brauchte sie für meine Fluchtpläne.

»Einverstanden«, sagte ich’. »Da wäre noch eine Kleinigkeit. Jedes Wesen hat bestimmte Bedürfnisse. Ich denke da an eine Unterkunft, die meinen Vorstellungen entspricht und an…«

Der Riese unterbrach mich lachend. »Selbstverständlich hast du in diesen Dingen ganz freie Hand. Aber ich warne dich. Wer mich zu hintergehen versucht, lebt nicht lange. Ich verfüge über ein komplettes Überwachungsnetz hier im Adlerhorst. Und ich habe noch weitere Möglichkeiten, um zu bestimmen, was in Janzonborr geschieht.«

Unser Gespräch wurde unterbrochen, denn zwei Stählerne glitten mit hoher Geschwindigkeit heran. Sie benutzten entgegen der üblichen Gewohnheit ihre Antigravtriebwerke. Das deutete daraufhin, daß sie in großer Eile waren.

»Wer hat euch erlaubt«, herrschte sie Yog-Mann-Yog an, »in meine Arena einzudringen?«

»Verzeih, Leuchtender«, antwortete einer der beiden Roboter, »aber es ist etwas Ungewöhnliches geschehen, das diesen Verstoß rechtfertigt. Die Handlanger sind geflohen. Und Klecks ist bei ihnen. Du hattest alle Systeme abgeschaltet. Wir konnten dich nicht anders erreichen.«

Yog-Mann-Yog stutzte einen Moment. Er nahm Schaltungen an einem Kästchen vor, das er bei sich trug.

»Ich verstehe«, sagte er wenig später dumpf. Er mußte weitere Informationen direkt empfangen haben. »Klecks und Atlan haben nur ein Schauspiel abgezogen. Wir werden das schnell ins reine bringen. Und du, Atlan, hast ausgespielt.«

Er hob seine Waffen und feuerte.

9.Klecks legte ein so großes Tempo vor, daß Wasterjajn und Kjok-Duun Mühe hatten, ihm zu folgen. Erst als er unvermutet verharrte, holten sie ihn wieder ein. Der Kopflose hob einen Arm.

Der doppelköpfige Wasterjajn kam sich in seiner Gegenwart besonders unwohl vor, aber er zeigte das nicht direkt. Nur wer ihn gut kannte, der merkte, daß etwas mit ihm nicht stimmte, denn entgegen allen Gewohnheiten sprach seit dem Auftauchen Klecks’ immer nur sein rechter Mund. Duun hatte das natürlich bemerkt, denn die beiden kannten sich ja schon sehr lange.

Sie machte sich daher zum Sprecher.

»Was ist, Klecks?«

»Ich… ich lausche.«

»Vielleicht erklärst du mir einmal, wie du das machst. Ich kann bei dir weder Ohren noch Augen erkennen.«

»Innere Sinne. Unwichtig.« Das Kunstwesen sprach abgehackt und knapper als gewöhnlich. »Versuche Informationen zu bekommen. Weiter!«

Klecks wartete keine Antwort ab. Er rannte weiter, bis er vor einer Stahltür hielt.

»Waffen?« Das klang mehr wie eine Frage.

»Das könnte nicht schaden«, meinte Duun. »Aber was ist mit Atlan und Almergund?«

»Keine Gefahr.« Der Kopflose hantierte an der Tür herum, bis sich diese öffnete. »Ein Waffenlager. Habe ich durch die Wand gesehen.«

Er selbst verzichtete darauf, sich zu bewaffnen, aber Wasterjajn und Kjok-Duun bedienten sich. Dann setzten sie ihren Weg fort. Wieder blieb Klecks mehrmals stehen und lauschte mit seinen geheimnisvollen Sinnen.

»Der Kampf Atlans beginnt«, erläuterte er, als sie in eine verlassene Transmitterhalle kamen. »Noch besteht keine Gefahr. Die Stählernen dürfen das beobachten, aber nicht eingreifen. Ihre Meldungen laufen durch den Adlerhorst. Ich, hm, ich sehe sie.«

Der Kopflose versuchte, den Transmitter zu programmieren. Seine Lappenhände erwiesen sich dafür nicht als besonders gut geeignet. Wasterjajn half ihm und führte die Anweisungen aus.

»Wohin?« wollte der Doppelköpfige wissen.

»Es gibt an der Außenseite einen kleinen Raumhafen, der nur wenig benutzt wird. Ich kenne allerdings nur einen Weg über eine Zwischenstation dorthin. Diese Station ist unser nächstes Ziel.«

Die Signale des Transmitters zeigten Grünwerte. Gemeinsam betraten sie die Abstrahlplatte. Just in diesem Moment bog ein Stählerner um eine Ecke. Seine künstlichen Augen erfaßten die Situation.

»Weg!« blubberte Klecks und hieb auf den Auslöser.

Wasterjajn und Duun hielten ihre Waffen griffbereit, als der Empfänger sie ausspie. Blitzschnell sahen sie sich um. Hier waren weder Lebewesen noch Roboter zu sehen.

»Du mußt den Transmitter zerstören«, verlangte Klecks, »sonst folgen uns die Stählernen.«

Wasterjajn kam der Aufforderung nach.

»Was ist mit Almergund und Atlan?« fragte Duun wiederum.

»Kein Kontakt zu einem Informationszentrum«, bedauerte Klecks.

»Dann hole ich sie jetzt«, meinte die Kjokerin. »Wir sind sowieso entdeckt, denn der Stählerne wird bestimmt Alarm schlagen.«

»Also weiß es auch die Facette«, folgerte Wasterjajn.

»Wenn du sie zu früh holst«, gab der Kopflose zu bedenken, »machen wir unsere Gegner auch aufmerksam. Ich brauche einen Informationsstrang. Kommt!«

Sie liefen wieder durch verlassene Korridore aus Stahl und Plastik.

»Nicht mehr weit«, keuchte Klecks aus einer Öffnung in der Nähe der Mitte seines Bauches. Duun blieb ein Stück zurück, weil sie das Tempo nicht mithalten konnte. Das Biogeschöpf bog um eine Ecke und lehnte sich an eine Wand. Als Wasterjajn ihn erreichte, fuchtelte er wild mit den Armen.

»Schnell, Freunde! Duun muß… zu spät…«

Der Schreck war ihm in seine künstlichen Glieder gefahren.

»Was ist los?« fragte der katzenähnliche Steppenforscher.

»Alles verraten«, stammelte Klecks. »Sie informieren den Feisten. Gefahr!«

*

Arien Richardson hatte sich in seine Privatkabine zurückgezogen. Die VIRGINIA war in Sicherheit. Die beiden Sonden näherten sich ihr in unregelmäßigen Zeitabständen und übertrugen aus der Nähe, wo sie die Sonnenprotuberanzen nur gering störten, das, was sie aufgenommen hatten. Die Schiffe der Stählernen Horde patrouillierten noch immer in der Nähe des Blauen Riesen, aber sie konnten die Celester nicht finden.

Der Celester setzte Mycara vor sich auf die Knie.

»Du mußt mir helfen, Kleines«, erklärte er, »sonst sitzen wir hier für immer fest. Du kannst die Dinge anders wahrnehmen als die Sonden. Ich muß eine Spur von Atlan finden.«

»Dein Satellit steht dir zur Verfügung«, entgegnete die Birzerin. Arien strich ihr die Haare von den Augen, denn er wollte diese sehen. »Aber ich fürchte, ich kann dir nicht helfen. Der Adlerhorst, auf dem sich nach Colemayns Worten Atlan befinden soll, ist zu weit entfernt. Über sieben Lichtjahre hat Zitrus gesagt. Meine Ortungsmöglichkeiten sind auf etwa zehn Lichtminuten beschränkt. Ich kann den Kunstplaneten nicht einmal ahnen.«

»Das sehe ich ein, Kleines. Es sind aber Schiffe der Stählernen Horde in unmittelbarer Nähe. Die Sonden haben das bestätigt. Vielleicht kannst du dort einen Hinweis finden.«

Mycara antwortete nicht. Äußerlich war ihr nicht anzumerken, wie ihr Psi-Sinn arbeitete. Arien ließ ihr Zeit, während er die Routinemeldungen aus der Zentrale kontrollierte. Colobar Tuira vertrat ihn dort. Bei dem erfahrenen Celester wußte er die VIRGINIA in guten Händen.

»Sie nennen ihre Aufklärer CHARONS«, erklärte Mycara wenig später. »Sie sind jeweils mit nur zwei Stählernen bemannt. Diese halten Funkverbindung zum Adlerhorst. Ihre Ansprechpartner dort sind ebenfalls Roboter des gleichen Typs, die Eherne genannt werden. Über diesen steht ein weiterer Roboter, der Diamant. Es gibt Unruhe.«

»Was meinst du damit?« Arien streichelte das kleine Schlangenwesen.

Wieder vergingen zwei oder drei Minuten, bis Mycara sich meldete.

»Unruhe«, erklärte sie. »Es fehlen Anweisungen des Diamanten. Der ist mit einem anderen Problem beschäftigt. Das vermuten die Stählernen jedenfalls. Die Ehernen werden auch ruhiger. Einige CHARONS ziehen bereits ab.«

Der Feuerwehrmann von New Marion schüttelte nur den Kopf. Er konnte sich keinen Reim auf das Gehörte machen.

»Ein Stählerner schlägt vor, die Suche nach uns aufzugeben, weil sie sinnlos ist.«

»Gibt es eine Antwort darauf? Einen Funkspruch aus dem Adlerhorst?«

»Ja, aber den verstehe ich nicht.« Mycara schlängelte sich kurz, was ein Ausdruck ihres Unwohlseins war. »Ich habe Hunger. Das strengt an. Auch ein Satellit braucht seine Mahlzeiten.«

Arien holte aus einem Wandfach eine Kiste, in der sich kleine Wurzeln befanden, die die Birzerin liebte. »Nenne mir den Inhalt dieses Funkspruchs«, bat er sie.

»Wenn der Diamant erst biologisch ist, wird alles besser.«

»Das ist wirklich unklar«, gab der Celester zu.

Mycara spuckte plötzlich ihre angeknabberte Wurzel aus.

»Das ist es!« pfiff sie aufgeregt. »Die Roboter erwarten, daß ihr Leitroboter, der Diamant, ersetzt wird. Und nun halte dich fest, Arien. Der Diamant soll durch ein Lebewesen namens Atlan ersetzt werden. Das habe ich ganz deutlich vernommen. Atlan befindet sich also im Adlerhorst.«

»Lausche weiter!« bat der Feuerwehrmann nachdenklich.

Mycaras Informationen waren zwar bedeutsam. Viel mehr beschäftigte sich Arien jedoch mit der Überlegung, daß ihn Colemayn nicht belogen hatte. Der Alte würde ein Rätsel bleiben, das man vielleicht nie lösen würde. Woher hatte Colemayn diese Informationen gehabt? Darauf hatte auch Mycara keine Antwort gewußt.

Aus der Leitzentrale kam die Nachricht, daß die Sonden den Abzug mehrerer Hordenschiffe auch bemerkt und gemeldet hatten. Allmählich gewohnte sich Arien an seine neue Aufgabe, denn er lernte es, mit dem auszukommen, was ihm zur Verfügung stand. Das war ganz anders als auf New Marion, wo er für Drei-B praktisch den Chef einer Feuerwehr gespielt hatte, die gegen Gefahren aktiv wurde, die von draußen gekommen waren. Arien war kein Weltraumfahrer. Ihm erging es teilweise noch übler als der achtundvierzigköpfigen Besatzung der VIRGINIA, denn er war an ein Leben auf einem Planeten, auf New Marion oder Ex-Voorndan, gewohnt.

Mycara war in seinem neuen Leben ein wichtiger Helfer. Ohne sie hätte er diese Aufgabe kaum anpacken können.

»Es sind noch acht CHARONS in der Nähe«, berichtete die Allround-Orterin wenig später. »Sie werden auch hier bleiben.«

»Acht CHARONS sind zu schaffen«, meinte Arien. »Aber diese andere Sache ist viel wichtiger. Gibt es keine Informationen aus dem Adlerhorst?«

Mycara verneinte.

Das blieb auch in der nächsten Stunde so. Arien beriet sich mit Colobar, Polo und Zitrus, wobei letztere – sie kam gerade von einem kurzen Treffen mit Ukeleie Ysa, und Polo hatte dieses Treffen als »Kaffeeklatsch« bezeichnet – den Vorschlag machte, die acht verbliebenen CHARONS abzuschießen und zum Adlerhorst in einer Etappe vorzustoßen. Mycara würde dann Atlan orten können.

Weiter hatte die Pilotin aber nicht gedacht. Arien war zwar auch für ein konsequentes und schnelles Handeln, der Ausgang eines solchen Unternehmens war aber auch für ihn zu waghalsig. Carl Nimahis »Kätzchen« berechnete eine Erfolgschance von weniger als einem Prozent. Damit war dieser Plan verworfen, und man beschränkte sich weiter auf das Abwarten.

»Alarm!« Mycara, die wieder einmal den Spielpartner für das Bordmaskottchen Moppy abgeben mußte, schnellte in die Höhe. Wieselflink schlängelte sie über den Boden und hüpfte förmlich zu Arien hoch. »Das Chaos ist ausgebrochen. Und noch jemand. Gefangene. Sie sind von einem Planeten namens Corp, der zum Bewachungsring des Adlerhorsts gehört, mit einem Raumschiff geflohen. Die Horde ist alarmiert. Von unseren acht Bewachern ziehen vier ab. Die Flüchtlinge

kommen aus dem Adlerhorst. Namen wurden nicht genannt.«

»Polo!« sagte Arien Richardson. »Wirf unsere Kokusnuß an. Zitrus, an seine Seite. Den Flüchtlingen wird geholfen, egal, wer es ist. Aber ich hoffe, daß es Atlan ist.«

»77 Prozent der Wahrscheinlichkeit sprechen dagegen«, quakte das Kätzchen.

»Ysa! Mach die Feuerorgeln klar! Die Celester kommen!«

Die VIRGINIA raste aus den tiefen Schichten des Blauen Riesen. Jedes Besatzungsmitglied ging auf seinen Posten. Colobar Tuira verließ die Zentrale und dachte an seine beiden Sonden VK-2 und VK-3, die er nun wohl nie mehr wiedersehen würde.

Noch bevor die Korvette in den Linearraum ging, waren der Planet Corp und seine Sonne geortet worden. Die Entfernung betrug gut elf Lichtjahre, denn Corp lag aus der Sicht der VIRGINIA jenseits des Adlerhorsts. Und bevor der Wechsel in den Zwischenraum vollzogen wurde, existierten vier der Robot-CHARONS nicht mehr.

»Also doch«, meinte »Zitrus« McMooshel und wartete auf ihren Einsatz am Pilotenpult.

»Wir haben den Flüchtling«, meldete Morrisson Kaukiki aus der Ortungszentrale.

»Und ich habe einen offenen Funkspruch«, ergänzte seine Frau Carla aus der Funkzentrale, »aus dem die Namen der Flüchtlinge hervorgehen. Soll ich sie vorlesen?«

»Spann uns nicht auf die Folter«, rief Sandra »Zitrus« McMooshel. »Sonst mache ich meine Drohung wahr und mixe Zitronensaft in deinen Kaffee.«

Mycara hatte die Namen längst Arien ins Ohr geflüstert. Über das Gesicht des Feuerwehrmanns ging erst ein Lächeln, und dann fiel ihm der Wachtraum ein. Und er wurde unsicher.

»In Träumen stimmt nicht immer alles«, sagte Mycara. »Und in einem Traum, wie wir beide ihn hatten, schon gar nicht.«

»Klecks«, antwortete Arien und wartete auf den Moment, in dem die VIRGINIA wieder in den Normalraum zurückkehren würde.

Dann würde sich zeigen, was seine Crew wirklich taugte.

*

Ich sah den Flammenstrahl aus den Waffen der Facette, und mein Gehirn setzte aus. Selbst der Extrasinn war in diesem Sekundenbruchteil wie gelähmt. Ich hörte nichts. Ich schloß aber auch nicht die Augen. Zu oft hatte ich in meinem Leben schon dem Tod ins Auge gesehen. Und diesmal würde ich ihm entkommen, dessen war ich mir sicher. Gedanken sind schneller als die Hochenergien aus Strahlwaffen.

Es gab einen Ausweg. Die Kosmokraten hatten ihn mir für diese freiwillige Mission gegeben. Ich brauchte nur den Willen zu haben, meinen Auftrag abzubrechen und das Stichwort »Varnhagher-Ghynnst« zu denken. Und schon wäre ich wieder auf Kran.

Beim Anblick der Energien dachte ich »Varnhagher-Ghynnst!« Ich dachte es mit tausend Ausrufezeichen, und ich wünschte mir dabei, daß die Wirkung des Abbruchs der Mission auch Kjok-Almergund erfaßte. Ich dachte auch an Sarah. Und an ANIMA. Und an Drei-B, an Flora Almuth, an EVOLO, an Arien Richardson und Gentile Kaz…

Ich dachte wohl zuviel an andere. Und zu wenig an meinen Willen, den Auftrag abzubrechen. Allein das wäre eine plausible Erklärung dafür gewesen, daß ich scheiterte.

Es funktionierte nicht, denn als ich an den alten Weltraumtramp Colemayn dachte, erschien dessen

Gesicht vor mir. Es veränderte sich, während ich mich noch wunderte, daß mich die Energien der Facette nicht getötet hatten, und es verwandelte sich in das Gesicht Kjok-Almergunds.

Falsch! erklärte der Extrasinn kategorisch. Das ist nicht Almergund, das ist Duun!Duun? Duun! Kjok-Duun!

Meine Überlegungen im Angesicht des Todes waren vielfältiger und umfangreicher gewesen als die, die ich jetzt anstellte. Da war eine Hemmschwelle in meinem Kopf, die sich weigerte, die Wahrheit zu erkennen. Der Extrasinn hatte es da einfacher. Er registrierte die Veränderungen und teilte die ausgewerteten Ergebnisse kühl mit.

Als Yog-Mann-Yog feuerte, holte Duun ihre Transversal-Teleportationspartnerin Almergund zurück. Und Almergund, die sich an dich klammerte, nahm dich mit. Und die neue Umgebung? Das ist nicht der Raum, in dem du eingesperrt warst, du, Wasterjajn und die Kjokerinnen. Und zuletzt auch der kopflose Klecks. Aber sie alle sind hier. Hier, an einem Ort, den ich nicht kenne, der aber nach meiner Diagnose zum Adlerhorst gehört. Das bedeutet, daß die vier sich selbständig gemacht haben, während du deine Dienste dem Feisten angeboten hast.Ich verstand. Der letzte Satz des Extrasinns war zwar boshaft gemeint, aber ich erkannte auch, daß dies aus gutem Grund geschehen war. Für mich waren die sich überstürzenden Ereignisse zu plötzlich gewesen. Der Logiksektor, der sie schnell verkraftet hatte, wollte mich ein bißchen ernüchtern. Und das konnte ich auch gebrauchen.

»Wohin?« fragte ich nur.

Klecks winkte mit seinem Handlappen. »Hundert Schritte. Transmitter. Ab nach Corp.«

Ich mußte mich erst einmal dem Kopflosen anvertrauen. Daß ich dies beruhigt tun konnte, wußte ich. Klecks rannte los. Ich nahm die beiden Kjokerinnen unter die Arme und folgte ihm. Als mein neuer Verbündeter das sah, schnappte er sich Wasterjajn, der mit seinen eineinhalb Metern auch zu den »Zwergen« gehörte und bei größeren Geschwindigkeiten Probleme hatte, und trug diesen. Die Transmitterstation, die Klecks erwähnte, tauchte auf.

Wasterjajn reichte mir seinen Strahler, als ich neben ihm lief.

»Ich habe noch einen«, erklärte ich ihm und hielt die Waffe hoch, die mir der Stählerne-378 vor dem Betreten von Yog-Mann-Yogs Arena gegeben hatte.

Der Transmitter war bewacht. Ich zögerte keine Sekunde und feuerte ohne Warnung auf die beiden Roboter. Sie zerschmolzen, weil sie wohl auf unser Auftauchen nicht vorbereitet gewesen waren.

Klecks und Wasterjajn, der Kopflose und der Zweiköpfige, arbeiteten wie ein eingespieltes Team zusammen, um den Transmitter zu justieren.

»Es geht nach Corp«, erklärte das Kunstwesen zufrieden. »Corp ist ziemlich verlassen. Der Feiste hat dort eine kleine Reserveflotte, von der wir uns ein Schiff kapern sollten.«

Der Transmitterbogen flammte auf. Wir stellten uns auf die Abstrahlplattform und warteten auf das Grünsignal. Noch war es nicht soweit.

»Da!« schrie Klecks und verwandelte sich vor Schreck in einen breiten Fladen, der die Plattform fast vollständig ausfüllte.

Wasterjajn und Kjok-Duun reagierten nur wenig langsamer als ich. Unsere Waffen spien ihre Flammenstrahlen auf die aufgetauchten Roboter. Beschädigen konnten wir sie nicht, denn sie waren in Defensivschirme gehüllt. Wir schleuderten sie nur etwas zurück, und diese Zeitspanne reichte aus, um uns abzustrahlen.

Ich verließ den Empfangstransmitter und zerstrahlte sofort alle dortigen Einrichtungen.

»Von Technik verstehe ich nichts«, hörte ich Klecks. »Aber das dort sind kleine Raumschiffe. Was

ich gesehen habe, kann ich behalten und zur Not auch bedienen. Aber ein Raumschiff, auch ein ganz kleines, ist für mich noch undurchschaubarer als der Feiste.«

Wasterjajn, dessen Pilotenkünste ich kennengelernt hatte, und ich blickten uns an.

»Du die Waffen«, sagte der Katzenähnliche. »Ich die Steuerung.«

Er las mein Einverständnis aus meinen Gesichtszügen, und wir spurteten los.

Keine Minute später waren wir im Leerraum.

10.Yog-Mann-Yog befand sich wieder in seiner Techno-Zentrale. Er kontrollierte wie eh und je seine Bildschirme und gab Anweisungen an den Diamanten, der außergewöhnlich zufrieden wirkte. Das hochgezüchtete Robotgehirn hatte nach dem Auftauchen Atlans und nach dem offensichtlichen Interesse seines Herrn für dieses Wesen um seine Existenz gefürchtet. Diese Bedrohung war nun gewichen, und der Diamant arbeitete besser und zuverlässiger als je zuvor.

Die Facette nahm alle Informationen in sich auf. Als die Flüchtigen entdeckt wurden, schickte er die verfügbaren Stählernen los, um sie abzufangen. Atlan und seine Begleiter entkamen durch einen Transmitter. Es dauerte eine Weile, bis der Leuchtende erfuhr, welches Ziel angewählt worden war. Als er erfuhr, daß dies der Außenposten Corp war, ein unbewohnter Planet, der zum Sicherungsgürtel des Adlerhorsts gehörte, merkte er, daß er nicht nur Atlan (der von Corp nichts wissen konnte), sondern auch Klecks falsch eingeschätzt hatte.

Diese Erkenntnisse bereiteten der Facette keinen Kummer. Sie hatte noch andere Eisen im Feuer!

Und Atlan sollte das wissen, sagte sich Yog-Mann-Yog, denn er hatte es ihm indirekt gesagt. In Janzonborr konnte niemand etwas tun, was dem Willen der Facette widersprach.

Corp! Die Ersatzflotte von Corp! Es gab dort keine Roboter – abgesehen von den Wartungseinrichtungen. Aber es gab das, was Yog-Mann-Yog als Notschaltung bezeichnete. Das bedeutete, daß es keine Stationen, keine Planeten und keine Raumschiffe in Janzonborr gab, auf denen er nicht die Notschaltung auslösen konnte. Der Diamant wußte davon nichts. Und auch der biologische Diamant Atlan, der so greifbar nah als Helfer und Diener dagewesen war, hätte nie etwas davon erfahren.

Yog-Mann-Yog war davon überzeugt, daß er die fähigste Facette von Alkordoom war. Und wenn jemand einen (wie beispielsweise Colemayn) gefragt hätte, ob das stimmt, die Antwort wäre ein »Ja« gewesen.

Im sicheren Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, erhob der Leuchtende seinen mächtigen Leib. Er klappte eine Abdeckung hoch, und eine Stimme mit künstlichem Charakter meldete sich:

»Notschaltung aktiviert. Bitte nenne den Ort.«

»Alle Ersatzraumer auf Corp«, sagte Yog-Mann-Yog. »Tod allen, die dort sind. Tod allen, die es wagen, sich gegen mich zu erheben!«

»Ausgeführt«, hörte die Facette. »Der langsame Tod rafft alles hin, Herr!«

Für Yog-Mann-Yog waren die Kapitel »Klecks«, »Atlan« und »biologischer Diamant« damit beendet.

*

Wir waren noch keine Minute im Raum, als ich die Verfolger feststellte. Unser Raumer war klein, eine Nußschale im Vergleich zu den Aufklärern der Stählernen Horde. Die Bewaffnung war dürftig. Es mußte sich um alte Modelle handeln, die Yog-Mann-Yog auf Corp stationiert hatte. Er hätte sie besser verschrottet.

Aber wendig waren diese Raumvögel. Und Wasterjajn legte alles hinein, um die Verfolger zu irritieren oder abzuschütteln. Mit dem einzigen Waffensystem konnte ich nichts erreichen, und so schaltete ich die Funkanlagen ein.

Wenn ich nicht gesessen wäre, so hätte ich mich hingesetzt, denn nach dem ersten automatischen Suchlauf der Empfangssysteme hörte ich eine bekannte Stimme:

»Arien Richardson ruft ATLAN. Wir sind mit der VIRGINIA hier, um dich zu holen. Melde dich, Arkonide! Nicht nur deine Hohen Mächte brauchen dich! Nicht nur deine Terraner! Auch wir!«

Meine Hände zitterten, als ich versuchte, die Sender hochzufahren. Es gelang, während ich hin und her gebeutelt wurde, weil die Andruckabsorber dieser alten Kiste Wasterjajns Pilotenkünsten nicht gewachsen waren.

»Hier Atlan.« Meine Stimme mußte belegt klingen. »Ich kenne deine VIRGINIA nicht, aber es ist wie ein Wunder, daß du hier bist. Wenn du kannst, dann schnappe uns, denn die Horde ist auf unseren Fersen.«

Er antwortete etwas, was ich akustisch verstand, aber dennoch nur mit einem Kopfschütteln beantworten konnte:

»Mycara hat dich erfaßt, den Rest machen Zitrus am Ruder und Colobar im Unterdeck an den Schotten.«

Celester! dachte ich nur. Menschen! Terraner!

Die Ortungsanzeigen registrierten ein heftiges Raumgefecht. Mehr bekam ich zunächst nicht mit, aber der Doppelköpfige schrie plötzlich aus beiden Mündern gleichzeitig:

»Geschafft! Wir sind in der VIRGINIA!«

Ich atmete auf.

*

Wir waren in der VIRGINIA!

Vorläufig gerettet, denn der Kugelraumer der Celester war um vieles stärker und größer als das Schiffchen, mit dem wir geflohen waren. Und damit auch stärker als die CHARONS.

Arien Richardson begrüßte uns herzlich. Ich sah ihm an, wie er sich freute.

»Es gibt viel zu erzählen, Atlan, aber das muß warten. Noch sind wir nicht außer Gefahr. Die Stählerne Horde verfolgt uns.«

»Wo kann ich helfen?« wollte ich wissen. Auch Wasterjajn, Klecks und die beiden Kjokerinnen standen relativ hilflos herum.

»Meine Leute machen das schon.« Der Celester winkte dankbar ab. »Sucht euch ein ruhiges Plätzchen, und überlaßt alles andere uns.«

Von den in der Leitzentrale anwesenden Celestern kannte ich niemand. Da das Schiff mir auch nur prinzipiell bekannt war, sah ich ein, daß ich Arien alles überlassen mußte.

Einige CHARONS, die der VIRGINIA gefährlich nahe kamen, vergingen im konzentrierten Feuer des Kugelraumers. Die beiden Piloten ergänzten sich ausgezeichnet. Ich merkte schnell, daß Arien eine gestandene Crew um sich geschart hatte.

Ein rotblonder Jüngling reichte meinem Begleiter und mir Speisen und Getränke von einem Tablett. Als er Klecks näher betrachtete, rutschte ihm das Tablett vor Schreck aus der Hand. Ich konnte es gerade noch abfangen. Mit Schweiß auf der Stirn verließ der junge Celester die Zentrale.

Ich nahm einen herzhaften Bissen und trank ein Glas Fruchtsaft. Dann widmete ich mich wieder dem aktuellen Geschehen.

Die CHARONS der Horde traten nun so massiert auf, daß es den beiden Piloten unmöglich erschien, auf geradem Kurs in den Linearraum zu gehen. Zwei Raumforts, in deren Nähe die VIRGINIA geriet, feuerten mit schweren Geschützen. Die Defensivschirme flackerten bedenklich,

als ein Schuß die leuchtende Hülle der VIRGINIA streifte. Die Celester feuerten zurück, wobei sie gegen die Forts überhaupt nichts erreichen konnten.

Ariens Anweisungen kamen schnell und genau. Er setzte die aktuellen Aussagen der Ortung in Kursanweisungen um.

»Die Bahn ist einigermaßen frei«, rief die Pilotin, die nur wenige Schritte von mir entfernt hockte. »Ich bringe den Schaukelstuhl in die Labilzone.«

Der Mann neben ihr, der irgendwie kalt und nüchtern wirkte, zog seine Hände von den Steuerelementen zurück. Die VIRGINIA raste los. Eine Salve aus drei Aufklärern traf sie direkt von vorn. Lichter flackerten, aber das Schiff hielt durch.

»Noch zehn Sekunden«, rief die Pilotin.

Ich war irritiert, denn der Mann neben ihr sank plötzlich schlaff in seinem Sessel zusammen. Die Frau flog so konzentriert, daß sie dies gar nicht bemerkte. Auch Arien entging dies, denn seine Augen waren auf die Anzeige der Ortung gerichtet.

Ich blickte mich um und hörte einen Schrei.

Kjok-Duun wälzte sich auf dem Boden, als hätte sie schreckliche Schmerzen. Ein anderer Celester faßte sich in den Nacken und sank in sich zusammen.

»Arien!« rief ich. »Da…«

Ich brach ab, denn in diesem Moment fiel der Körper der Pilotin im Sessel zurück. Der VIRGINIA wurde dadurch die notwendige Beschleunigung genommen, um in den Linearraum zu wechseln.

Arien Richardson stieß einen Fluch aus. Er wollte zu den Pilotensesseln stürzen, aber ich war schneller. Meine Hände packten über die Celesterin hinweg in das Tastenfeld. Die VIRGINIA beschleunigte weiter.

Die Sekunden verstrichen endlos langsam. Erneut schrien die Aggregate der Schutzschirme auf, als die CHARONS eine Serie von Treffern landen konnten.

Arien zerrte die offensichtlich besinnungslose Pilotin aus dem Sessel. Ich quetschte mich hinein, als das Signal für eine ausreichende Geschwindigkeit ertönte, um dem Einsteinraum zu entfliehen.

Von einer Sekunde zur anderen wurde es still. Der Linearraum hatte uns aufgenommen.

Arien schrie nach Barm O’Hara, dem Bordmediziner.

»Du kannst die Steuerung freigeben«, wandte sich ein Celester an mich. »Ich bin Carl Nimahi, der Positroniker an Bord. Mein Kätzchen steuert den Linearflug. Die Piloten werden gleich wieder fit sein.«

Ich erhob mich, als direkt vor meinen Augen buchstäblich aus dem Nichts ein grauer Klumpen entstand. Er sank schnell zu Boden, und ich wich instinktiv zur Seite. Er wuchs dabei bis zur Größe einer geballten Faust. Die Masse wirkte wie ein Brei oder wie… Bio-Plasma!

Ein furchtbarer Verdacht kam in mir auf.

Inzwischen hatte Arien das Heft in der Hand. Barm O’Hara war mit seinen beiden Medorobotern erschienen. Sie untersuchten die Bewußtlosen rasch. Bei allen wurden Plasmaklumpen festgestellt, die dem glichen, der langsam vor meinen Füßen auf dem Boden kroch.

Ich wollte etwas sagen, aber plötzlich fühlte ich mich unheimlich müde. Ich taumelte und hielt mich an einem Sessel fest. Dabei fiel mein Blick auf meine linke Hand. Dort hatte sich so ein Plasmabrocken festgesetzt. Ich versuchte, ihn abzureißen, aber das Ding ließ sich nicht entfernen. Oder fehlte mir schon die Kraft?

Ich spürte das heftige Pulsieren meines Zellaktivators, aber ganz offensichtlich kam er gegen diese Parasiten nicht an.

Barm O’Hara und seine beiden Medorobots arbeiteten wie die Wilden. Inzwischen häuften sich die Hiobsbotschaften aus allen Teilen des Raumschiffs.

Ilk, einer der Medorobots, machte eine erste Analyse und verkündete das schockierende Ergebnis.

»Biologische Parasiten unbekannter Konstruktion. Zweifellos künstlich. Also ein Produkt aus der Hexenküche Yog-Mann-Yogs. Sie verbreiten sich über Sporen und wachsen in der Anfangsphase durch Umsetzung von Stickstoff aus der Luft. Wer noch nicht befallen ist, sollte sofort einen Raumanzug anlegen. Die Ausbreitung geschieht so schnell, daß wir sie nie und nimmer, in den Griff bekommen.«

Mir war klar, daß es unsere Schuld war. Unser Fluchtschiff mußte diese Parasiten mitgebracht haben.

Klecks stieß einen langen Seufzer aus.

»Ich hätte es wissen müssen, Atlan«, blubberte er nervös. »Der Feiste hat es mir gegenüber einmal erwähnt. Er besitzt auf jedem seiner Schiffe etwas, was er Notschaltung nennt. Zweifellos handelt es sich dabei um diese Parasiten. Sie werden uns alle vernichten. Es entkommt eben niemand den Klauen der Facette.«

Ich kämpfte gegen meine Benommenheit, aber ich spürte, daß ich über kurz oder lang verlieren würde. Arien wirkte noch frisch. Er trug inzwischen seinen Raumanzug. Außer ihm war eigentlich nur noch der Positroniker Nimahi voll auf dem Posten. Auch er hatte blitzschnell seinen Anzug übergezogen.

Jetzt stand Nimahi vor der Konsole seiner Robotik und klärte mit ihr Zusatzprogramme für den eingetretenen Notfall ab.

»Wir müssen zurück in den Normalraum.« Arien sprach über den Außenlautsprecher. »Die Entfernung ist groß genug. Hier wird uns die Facette nicht so schnell aufspüren.«

Ein kastenförmiger Roboter der VIRGINIA tauchte neben mir auf. Er öffnete sich. Ein Raumanzug wurde mir entgegengestreckt. Ich nahm ihn heraus. Dann war der Medorobot Ilk da. Er packte meine linke Hand und schnitt den Parasiten mit einem Vibrator exakt ab.

»Das hilft nur vorübergehend«, erklärte der Roboter. »Wir müssen sehen, wer Glück hat.«

Ich zog den Anzug über. Auch Wasterjajn, die Kjokerinnen und Klecks wurden versorgt. Das Bio-Wesen aus dem Adlerhorst, dem ich meine Rettung zum großen Teil zu verdanken hatte, weigerte sich jedoch, den Anzug anzuziehen. Klecks war mit den Nerven am Ende.

Arien Richardson und Carl Nimahi übernahmen die Steuerung der VIRGINIA. Die Positronik unterstützte die beiden Männer, aber ich merkte, daß diese nicht so hochleistungsfähig war wie terranische Typen. Barm O’Hara gab seine Versuche sehr bald auf. Die Parasiten waren überall. Und in der Eile gab es keine Möglichkeit, ein geeignetes Mittel gegen sie zu finden.

Ich legte meinen Raumanzug wieder ab, als ich zwei Beulen spürte, eine am Knie, eine am rechten Oberarm. Einer der Medoroboter half mir noch einmal. Ich war wieder zu benommen, um das Geschehen genau zu verfolgen.

»Landung in zwei Minuten«, hörte ich Arien. Auch er trug keinen Raumanzug mehr, und auf seinem Kopf hockte ein graues Ding.

Ich blickte mich um. In der Zentrale waren nur noch Arien und ich bei Bewußtsein. Auch Nimahi war zusammengebrochen, und ebenso der Doc O’Hara. Den beiden Robotern Alk und Ilk konnten die Parasiten nichts anhaben, aber diesen beiden stand eine unüberwindbare Aufgabe bevor.

Rumpelnd landete die VIRGINIA. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Auch die Positronik schien die Orientierung verloren zu haben.

Als das Schiff stand, schleppte sich Arien zu mir. Alk befreite ihn von zwei Parasiten und zerstrahlte

diese.

»Eine verteufelte Sache, Atlan«, keuchte der Celester. »Nun sieht es so aus, als ob wir es doch nicht mehr schaffen. Im Triebwerkssektor hat es schon den ersten erwischt. Nomi Leterta. Er ist tot. Vielleicht sterben wir alle bald. Laß mich daher eine letzte Pflicht erfüllen.«

Er griff in seine Brusttasche und holte einen Brief heraus.

»Von Sarah«, sagte er.

Während ich die wenigen, aber bedeutsamen Zeilen las, gab Arien Anweisungen an seine Roboter, auf dem Planeten ein Notlager aufzubauen und die Mannschaft dort unterzubringen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn wieder befiel mich eine große Benommenheit. Alk kam heran. Er schnitt an mir herum, und ich spürte schon fast nichts mehr. Der klare Verstand kehrte aber wieder zurück.

Arien stand vor mir.

»Von Colemayn«, sagte er. Ich meinte, er spräche aus weiter Ferne zu mir, aber er war ganz nah. Er hielt mir ein seltsames Ding unter die Nase. »Das Sambol. Der Retter in der Not.«

Ich sah, wie er die beiden Metallscheiben zueinander verdrehte. Dann erklang eine freundliche Stimme und fragte nach Ariens Begehr. Der schilderte unsere Notlage.

»Die Samariter von Alkordoom werden kommen«, hörte ich nur. Vielleicht träumte ich auch schon im Fieberwahn.

Ich wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als ich später wieder einen Moment der Besinnung hatte. Neben mir stand ein Roboter der VIRGINIA, und bei diesem war Arien. Der Roboter zog mich hoch. Arien deutete auf einen Bildschirm.

»Dieses Schiff ist eben über uns erschienen«, erklärte er matt. »Es sieht aus wie das Sambol, nur eben sehr groß.«

Über meine Augen legte sich wieder ein Schleier.

*

Im Adlerhorst erfuhr Yog-Mann-Yog davon, daß die Flüchtigen die Samariter von Alkordoom um Hilfe gerufen hatten. Er hatte von diesen schon früher gehört. Und er kannte das Tabu, das über den Samaritern lag. Niemand wagte es, diese anzugreifen oder in ihrer Tätigkeit zu behindern. Das Tabu der Samariter verbot ein gewaltsames Eingreifen durch Dritte.

Yog-Mann-Yog zögerte jedoch keine Sekunde. Er gab seine Anweisungen an den Leitroboter der Stählernen Horde, an den Diamanten.

»Tabus scheren mich nicht. Vernichtet die Flüchtigen und die, die ihnen geholfen haben. Und auch diese komischen Samariter, wenn sie sich euch in den Weg stellen.«

ENDE

Dank der Unterstützung von Seiten der Celester ist Atlans Flucht aus den Fängen Yog-Mann-Yogs gelungen. Doch der Herrscher von Janzonborr hat für jeden Flüchtling eine tödliche Überraschung

parat.Und diese Überraschung ist es auch, die geheimnisvolle Retter auf den Plan ruft – die Samariter von Alkordoom…DIE SAMARITER VON ALKORDOOM – unter diesem Titel erscheint auch der nächste Atlan-Band. Der Roman wurde von H. G. Ewers geschrieben.