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Flucht vor Juan Alvarez

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Helen Perkins Band 1

Flucht vor Juan Alvarez von Helen Perkins

Sein düsteres Geheimnis lässt Lady Emma keine Wahl.

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Ein Hauch von Frühling lag in der feuchten, klaren Luft, die Lady Em­ma genüsslich einatmete, während sie mit leichtem Schritt den Weg zwischen dem malerisch gelegenen Gärtnerhaus und den in der Mor­gensonne blitzenden Glashäusern zurücklegte. Man schrieb das Jahr 1790, es war eine Zeit des Umbruchs und der Neuerungen, nicht nur in Merry Old England, sondern auf der ganzen bekannten Welt. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich nach langen Kämpfen für unabhängig erklärt, das britische Empire verlor damit einen Teil seiner wichtigsten Kolonien. Die so genannten napoleonischen Kriege standen unmittelbar bevor und England befand sich im Übergang zur industriel­len Revolution mit der Erfindung von Dampfmaschine und Webstuhl.

Auf dem Stammsitz der Familie Saintsbury im ländlichen Somerset spürte man von alldem noch nichts, hier ging das Leben seinen be­schaulichen Gang wie schon seit vielen Generationen. Lady Emma Saintsbury, verheiratete Parks, hatte ihr Ziel nun erreicht und betrat das vorderste der Glashäuser, um ihre tägliche Arbeit zu beginnen. Die Lady war eine grazile und überaus elegante Erscheinung. Selbst im einfachen Arbeitsgewand hatte sie noch Haltung und Attitüde einer Adligen aus uraltem Geschlecht. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit der kla­ren Stirn, der zierlichen Nase und den sinnlichen, nicht zu vollen Lip­pen wurde von einem Paar ausdrucksvoller, himmelblauer Augen be­herrscht und von goldglänzenden Locken umrahmt. Zwei kecke Grüb­chen prägten das Gesicht der Fünfundzwanzigjährigen, der eine ge­wisse Eigenwilligkeit nicht abzusprechen war. Emma war die jüngste Tochter von Earl James, ein Kind aus zweiter Ehe, die in Adelskreisen mit einem leichten, verächtlichen Nasenrümpfen hinter der Hand als Mesalliance bezeichnet worden war. Ihre Mutter war nur von niederem Adel gewesen, eine Frau mit Herz und Verstand, der auch die Pflichten einer Wirtschafterin nicht fremd gewesen waren. Der Earl hatte sich in sie verliebt, als er bereits einige Jahre verwitwet gewesen war. Seine damals halbwüchsigen Kinder Geoffry und Elisabeth hatten die Stief­mutter barsch abgelehnt, sie die ganze snobistische Grausamkeit von Miss und Master spüren lassen, deren sie fähig gewesen waren. Lady Priscilla, geborene Barnsley, hatte sich behauptet. Sie war mit unendli­cher Liebe und Güte Mutter zweier missgünstiger Springteufel gewor­

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den, die ihr bis zuletzt einen Nervenkrieg geliefert hatten. Besonders heftig war der Hass geworden, als die Lady ein Kind zur Welt brachte. Die nachgeborene Miss Emma war ein wonniges Mädchen gewesen, rosig und rund, fröhlich und klug. Sie hatte alle Herzen im Sturm er­obert, nur ihre Geschwister hatten sie mit der gleichen Bosheit verfolgt wie bereits die Mutter.

Lady Priscilla war nur wenige Jahre nach ihrer Eheschließung mit dem Earl of Saintsbury verstorben, woran dieser lange schwer zu tra­gen hatte. Einzig Emma, das strahlende Abbild ihrer bezaubernden Mutter, war ihm noch Freude und Lichtblick gewesen in seinem erneu­ten Witwerdasein. Allerdings war auf seine liebende Fürsorge bald mancher Schatten gefallen, denn Emma hatte ihren eigenen Kopf. Und es wollte ihr gar nicht gefallen, sich den Konventionen anzupassen und so zu leben, wie man es von ihr erwartete. Im zarten Alter von sieb­zehn Jahren hatte sie sich unsterblich in einen schmalen, dunkelhaari­gen Saisongärtner verliebt. Immer wieder schlich sie sich heimlich ins etwas abseits gelegene Gärtnerhaus, um in Henry Parks Nähe zu sein. Ihre angeborene Liebe zu allem, was lebte, Menschen, Tiere und Pflanzen, machte sie zu einer gelehrigen Schülerin des wortkargen, aber tiefgründigen Mannes, der sie vom ersten Moment an ebenso fasziniert hatte, wie es umgekehrt der Fall gewesen war. Das Ergebnis dieser unstandesgemäßen Beziehung war eine heimlich geschlossene Ehe, ein halbes Jahr märchenhaft naiven Glücks und eine verschwen­derisch duftende neue Damaszenerrose, der Henry den Namen ›Rose Red‹ gegeben hatte, im Angedenken an sein Rosenrot, wie er Emma liebevoll genannt hatte.

Als der Winter mit trüben, dunklen Tagen, Nebel und Regen über die Insel kam, verschwand Henry Parks von einem Tag zum anderen spurlos. Emma blieb im Gärtnerhaus wohnen, zermarterte sich lange Herz und Verstand, in der Hoffnung, eine Antwort auf die Frage zu finden, was geschehen war. Wo war Henry? Wieso hatte er ihr nicht einmal Adieu gesagt? Und vor allem, warum war er gegangen? Der letzte Tag, den sie gemeinsam verbracht hatten, zeichnete sich weder durch besondere Höhen, noch Tiefen aus. Sie hatten nicht gestritten und er war nicht verändert gewesen. Nichts deutete darauf hin, dass

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er sein Fortgehen von Saintsbury-Hall geplant hatte. Und doch war und blieb Henry Parks verschwunden...

Lady Emmas schmale porzellanhelle Hände zitterten leicht, als sie nun fortfuhr, Gemüsepflänzchen zu pikieren. Es lag nicht an der Arbeit, die sie mittlerweile gut kannte und oft ausgeführt hatte, vielmehr an einer inneren Erregung, die sie jedes mal ergriff, wenn sie an Henrys Verschwinden dachte. Denn der Gedanke, dass ihre Stiefgeschwister ihre Finger dabei im Spiel hatten, war leider nicht abwegig.

Der Earl war naturgemäß alles andere als begeistert von der viel zu frühen unstandesgemäßen Heirat seiner Jüngsten. Allerdings gab es wenig, was Emma tun konnte, um ihren Vater wirklich gegen sich auf­zubringen. Und auch in diesem Fall hatten sich die Wogen des väterli­chen Zorns bald wieder geglättet. Der Alte hatte erlaubt, dass das frisch vermählte Paar im Gärtnerhaus wohnte und er verbat sich jegli­che Spitzen oder Hetze seiner Kinder aus erster Ehe gegen das ver­hasste Nesthäkchen. Lady Elisabeth und ihrem Bruder war dieser Zu­stand naturgemäß ein Dorn im Auge gewesen. Und was lag da näher, als an die beiden zu denken, nachdem Emmas Mann unter so mysteri­ösen und noch immer ungeklärten Umständen verschwunden war?

Das Ganze lag nun bereits acht Jahre zurück. Doch das Herz der schönen Lady Emma schlug noch immer für Henry. In manch schlaflo­ser Nacht wünschte Sie ihn herbei, nur für eine Stunde, um sich zu vergewissern, dass er lebte, es ihm gut ging. Und auch am Tage, wenn die Vernunft die allzu leidenschaftlichen Sehnsüchte unterdrück­te, dachte Emma oft an ihren Mann. Sie hatte sich im Laufe der Jahre an seine Abwesenheit gewöhnt. Aber die Erinnerung an dieses erste, berauschende Glück begleitete sie immer und wurde jedes Mal über­wältigend, wenn Ende Mai Rose Red ihre üppig gefüllten Blütenbälle öffnete und mit ihrem beinahe narkotischen Duft an die erste Liebe der schönen Lady erinnerte.

Die Stecklinge waren nun pikiert, Emma wandte sich um, als die Tür des Glashauses geöffnet wurde und Ruby Clark, ihre alte Nanny, hereinkam. Die Gute hatte Emma großgezogen und war ihr nach dem frühen Tod der Mutter eine verständnisvolle und liebende Stütze ge­wesen. Auch jetzt noch wachte die runde Alte mit dem pausbäckigen

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Gesicht und der kleinen Brille vor den kurzsichtigen Augen über die Geschicke ihres einstigen Pfleglings. In dem tiefschwarzen Kleid und dem streng geschnittenen Schoßjackchen wirkte sie achtungsgebie­tend, doch ihr runzliges Gesicht drückte deutlich die Gutmütigkeit ihres Herzens aus.

»Duke Edmund ist eben angekommen, Miss Emma. Möchten Sie, dass er im Haus wartet, oder...« Sie verstummte, als die junge Frau sie lachend wissen ließ: »Er soll nur hereinkommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er mich zwischen Steckrüben und Pimpernelle mit einer Grabgabel in der Hand gesehen hat.«

Die alte Nanny schüttelte nachsichtig ihr in Ehren ergrautes Haupt und mahnte dabei: »Sie wissen sehr gut, dass der Duke eine große Schwäche für Sie hat. Aber ich finde, man sollte das auch nicht über­treiben. Eine Lady im Gewand einer Magd, noch dazu mit schmutzigen Händen...«

»Liebe Nanny, wir leben im achtzehnten Jahrhundert. Moderne Zeiten halten überall Einzug. Und auch der gute Edmund weiß sicher bereits, dass wir Frauen einen Kopf haben, den wir bei Zeiten sogar zum Denken verwenden.«

Die alte Kinderfrau konnte über solch lockere Reden nur noch einmal den Kopf schütteln. Mit einer resignierten Geste wandte sie sich zum Gehen, als Lady Emma sie noch fragte: »Weißt du, wie es Papa heute geht? Haben wir Nachricht vom Schloss?«

Der alte Earl litt seit geraumer Zeit unter einer Herzschwäche, die sich fortgesetzt verschlimmerte. Emma sorgte sich sehr um ihren Vater und es verging kein Tag, an dem sie nicht den Weg vom Gärtnerhaus nach Saintsbury-Hall zurücklegte, um zumindest eine Stunde bei ihm sein zu können.

»Es scheint nichts Neues zu geben«, erwiderte die Nanny. »Soll ich herüber schicken und nachfragen lassen?«

»Nein, das ist nicht nötig. Ich schaue später selbst nach meinem Vater.« Die junge Lady wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, nachdem Ruby Clark das Gewächshaus verlassen hatte. In Momenten wie diesen wünschte Emma sich Henry an ihre Seite. Er war ein unverwüstlicher

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Optimist, es war ihm stets gelungen, sie aufzuheitern und zu trösten, selbst in den heikelsten Situationen...

»Emma, meine Liebe, Sie sind schon wieder fleißig, wie ich sehe.« Edmund, Duke of Danby, trat eben ein, lächelte ihr jungenhaft zu und hauchte einen angedeuteten Kuss auf ihre Rechte. Er war eine attrak­tive Erscheinung, hoch gewachsen und schlank, mit dem edlen Profil, das nur eine lange Ahnenreihe vorzubringen vermag. Sein blondes Haar verschwand unter der förmlichen Perücke, die zu Zweispitz, hochgeschlossenem Rock und Kniehosen getragen wurde, wie es dem Zeitgeschmack entsprach.

Lady Emma schmunzelte. »Sie müssen meinen Aufzug entschul­digen, Edmund. Aber ich habe viel zu tun. Und ich fürchte, Sie könnten sich hier schmutzig machen.«

»Werfen Sie mich gleich wieder hinaus?« Er wirkte bekümmert. »Sie vergessen wohl völlig, dass ich selbst ein leidenschaftlicher Bota­niker bin. Wenn auch nur blutiger Laie, verglichen mit Ihren Fähigkei­ten. Ich bewundere, wie es unter Ihren zarten Händen grünt und blüht.«

Sie musste lachen. »Schmeichler! Sagen Sie, was gibt es Neues in London? Hat sich zwischenzeitlich die Mode geändert? Ich fürchte, ich bin nicht mehr auf den Laufenden. Zuletzt war ich im Herbst dort, zur Theatersaison.«

»Es ist ein Jammer, dass Sie hier so ganz abgeschieden leben. Zwar ist es in London auch immer das Gleiche; die hohlen, eitlen Ge­cken werden nie alle. Und die Moden ermüden auf die Dauer. Aber ich würde es sehr zu schätzen wissen, in Ihrer Gesellschaft die Salons und Theater zu besuchen, meine Liebe.«

»Nun, ich muss zugeben, dass mich dies nicht mehr wirklich reizt.« Lady Emma legte den Pikierstab beiseite und ließ ihren Blick über das verschwenderische Grün gleiten, das sie im Glashaus und dem anschließenden weitläufigen Park umgab. »Saintsbury ist meine Welt. Ich möchte gar nicht mehr fort.«

Der junge Duke hatte ihr aufmerksam zugehört, nun zuckte es in verhaltenem Schmerz um seine sensiblen Lippen. Vorsichtig mutmaßte er: »Sie denken noch immer an Parks, nicht wahr? Werden Sie wohl

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irgendwann aufhören, ihn zu vermissen? Das Leben liegt doch noch vor Ihnen, Emma. Und ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen die Welt zu Füßen zu legen.«

»Edmund, bitte...« Sie errötete leicht. »Sie sollten nicht so zu mir sprechen. Wir waren doch immer nur gute Freunde.«

»Selbstverständlich. Verzeihen Sie, ich vergaß kurz...« »Ist schon gut. Ich möchte Ihre Frage auch durchaus beantwor­

ten. Als gutem Freund, der Sie für mich sind, vertraue ich Ihnen an, dass ich durchaus noch an meinen verschollenen Mann denke. Gefühle sterben nicht so schnell. Aber es ist vor allem die Frage nach seinem Schicksal, die mein Herz bewegt.« Sie seufzte leise und ein wenig be­kümmert. »Ich war sehr jung, als ich mich an Henry band. Damals erschien mir das Leben wie ein schöner Traum, nichts, was ich nicht erreichen, kein Abenteuer, das ich nicht bestehen könnte. Heute bin ich älter und weiß, dass man sich im Leben entscheiden muss. Und dass solche Entscheidungen wohl überlegt sein sollten, weil manche von ihnen die ganze Zukunft bestimmen können.«

»Und Sie haben beschlossen, hier zu leben«, warf er zögernd ein. »Tatsächlich für immer?«

»Nun, ich kann nicht in die Zukunft sehen, das kann niemand. A­ber jetzt fühle ich mich hier wohl. Und es ist nicht nur die Erinnerung an Henry, die mich hier hält, oder meine Arbeit in den Gewächshäu­sern. Ich möchte auch meinen Vater nicht allein lassen. Wie Sie wis­sen, geht es ihm nicht gut, er ist leidend. Und ich könnte den Gedan­ken nicht ertragen, dass ich es mir in London gut gehen lasse, wäh­rend er hier ganz verlassen ist.«

Der junge Duke lächelte milde. »Sie haben ein Herz aus Gold, Emma. Kein Vater könnte sich eine bessere Tochter wünschen.« Und in Gedanken fügte er noch hinzu: Kein Mann könnte sich eine bessere Frau wünschten. Doch diesen Satz hätte er nie laut ausgesprochen, wusste er doch, dass Emma solche Gefühle auf seiner Seite weder billigte noch verstand. Für sie war er immer nur der gute Freund ge­wesen, der Vertraute, der ihr stets beistand, wenn es nötig war, aber auch viel Schönes mit ihr teilte. Ein Freund. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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»Sie sind mit einem Mal so still«, stellte sie fest und lächelte ihm so zauberhaft zu, dass es ihm schwer fiel, sein verliebtes Herz zum Schweigen zu bringen. »Woran denken Sie?«

»An die Kindertage, an die Vergangenheit. Damals war alles noch sehr viel einfacher und unkomplizierter. Manchmal wünsche ich mir diese Zeit beinahe zurück.«

Lady Emma lachte, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, die sie nun fort legte und schlug vor: »Lassen Sie uns eine Tasse Tee zusammen trinken. Die wird Ihre Gedankenknäuel wieder entwirren.«

»Ach, Emma, wenn Sie wüssten...« Er reichte ihr den Arm und führte sie nach draußen, wo die Sonne schien und die Vögel in den uralten Buchen und Weiden jubilierten. Es war ein wunderbarer Früh­lingsmorgen. Und doch wurde dem jungen Duke das Herz mit einem Mal so sehnsüchtig schwer wie selten zuvor in seinem Leben, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können...

*

Lady Elisabeth Montfort blickte mit leichtem Unwillen von dem Brief auf, den sie gerade verfasste, als der Butler erschien und die Ankunft ihres Bruders meldete.

»Ich lasse bitten.« Die Lady erhob sich von ihrem verspielten Sek­retär und trat zur Tür, durch die nun Sir Geoffry erschien und sie herz­lich begrüßte. Die Geschwister sahen einander kaum ähnlich, doch beide zeichneten sich durch jene Haltung und Noblesse aus, wie sie den Mitgliedern der alten Adelsfamilien des Landes von klein auf aner­zogen wurden.

Während Lady Elisabeth zierlich und sehr schlank war, mit kokett frisiertem Haar, das in einem warmen Braun schimmerte und meer­grünen Augen, beeindruckte ihr Bruder durch eine beachtliche Körper­größe, ein markantes Gesicht, das in seiner männlichen Rauheit und dem leicht widerspenstigen Blondhaar in den Salons der Gesellschaft schon lange für Getuschel sorgte. Man erzählte sich unter der Hand, dass nicht der Earl der leibliche Vater des jungen Rechtsanwalts sei,

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sondern ein kräftiger Pferdeknecht, der kurz nach der Geburt des Kna­ben überstürzt von Saintsbury-Hall entfernt worden war.

Lord Geoffry kämpfte verbissen gegen diesen äußeren Mangel, gab sich in Gesellschaft übertrieben gespreizt und wurde nicht müde, seine ebenso untadelige wie unantastbare Herkunft zu betonen, was allerdings nur dafür sorgte, dass die Gerüchte über ihn nicht verstum­men wollten...

Nun richtete er seine tief liegenden, grauen Augen in deutlichem Missmut auf seine Schwester, die ihm gerade Tee und Gebäck angebo­ten hatte. »Tee, Gebäck!«, rief er erbost. »Mir fehlt etwas ganz ande­res, meine Liebe. Und ich bin, gelinde gesagt, ratlos, wenn du mich fragst, wie es mit mir weitergehen soll.«

Elisabeth, für die die beständige Finanznot ihres Bruders nichts Neues war, lächelte milde. Sie war klug genug gewesen, einen begü­terten Mann zu heiraten, der dank seiner bewundernswerten Ge­schäftstüchtigkeit vor kurzem die Peerswürde erlangt hatte und ihr damit auch, was den Stand anging, das Wasser reichen konnte. Dass er um vieles älter als Elisabeth war, dazu sehr beleibt und nicht gerade das, was man sich unter einem feurigen Liebhaber vorstellte, war ihr egal. Die Tochter des Earl dachte in erster Linie an ihre sichere Zu­kunft. Und was die Sinnenfreuden anging, auf die sie natürlich auch nicht gänzlich verzichten mochte, so fanden sich, wenn man nur woll­te, stets ebenso dezente wie befriedigende Lösungen...

»Mein lieber Geoffry, ich weiß, was dich bedrückt«, versicherte sie nun liebenswürdig. »Und ich kann dir versprechen, dass es einen Weg gibt, diese Missstände ein für alle Mal abzuschaffen.«

Der junge Anwalt horchte auf. »Wie meinst du das?« »Nun, ich denke dabei an das immense Erbe, das auf dich als

Erstgeborenem in Saintsbury-Hall wartet.« Er winkte ab. »Du weißt genau, dass der Alte mich nicht leiden

kann. Und solange er noch am Leben ist...« »Nun mal langsam und der Reihe nach.« Sie lächelte hinterlistig.

»Vater ist herzkrank, wie du weißt. Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass sich sein Zustand ständig verschlechtert. Deshalb denke

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ich, wäre es nun an der Zeit für dich, nach Saintsbury-Hall zurückzu­kehren, um unser Erbe zu sichern.«

»Aber wie stellst du dir das vor? Ich habe hier in London meine Geschäfte. Ich kann doch nicht einfach...«

Lady Elisabeth erhob sich und lachte dabei ihren Bruder wenig damenhaft aus. »Geschäfte! Du nennst dieses dunkle Hinterzimmer deine Kanzlei und die wenigen finsteren Gestalten, die sich für ein paar Souvereigns wegen einer kleinen Dieberei von dir verteidigen lassen, deine Klienten. Das ist erbärmlich, mein Guter! Und was deine ewigen Spielschulden angeht, die wirst du auf diese Weise niemals los. Wach endlich auf und sieh ein, dass deine Zukunft nicht hier liegt, sondern in Somerset. Du wirst doch das, was uns beiden rechtmäßig zusteht, nicht diesem exzentrischen Ding überlassen, damit irgendwann ein Gärtner in Saintsbury-Hall das Sagen hat!«

Lord Geoffry hätte sich beim letzten Satz seiner Schwester beina­he am Tee verschluckt. Er verkniff sich allerdings einen Huster, bekam statt dessen einen roten Kopf und drohte: »Sag so etwas nie wieder, Elisabeth. Es wäre ein unglaublicher Skandal, wenn dieser... Domestik seine Brut auf unserem Stammsitz einnisten würde. Nein, niemals! Nur über meine Leiche!«

Die Lady zeigte sich von seinen flammenden Worten wenig beein­druckt. »Hebe dir solche pathetischen Floskeln bitte für deine Auftritte im Old Bailey auf«, bat sie ihn. »Wir haben hier über etwas wirklich Wichtiges zu sprechen und sollten uns deshalb auf das Wesentliche konzentrieren.« Sie setzte eine sehr hochmütige Miene auf. »Auch wenn ich finanziell keine Not zu leiden habe, geht es mir doch gegen den Strich, zuzusehen, wie dieses... Mädchen sich in das Vertrauen unseres Vaters einschleicht und den armen, alten Mann, der vielleicht bald nicht mehr Herr seiner Sinne sein wird, um alles bringt, was doch rechtmäßig nur uns allein zusteht!«

»Sehr richtig«, pflichtete ihr Bruder ihr bei und bediente sich dabei ohne großes Zögern vom Gebäck. »Und was schlägst du vor, um das zu verhindern?«

»Musst du fressen wie ein Plebs?«, rügte sie ihn kalt. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn man in meiner Gegenwart die guten Manieren

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vergisst. Auf dieser Ebene ist es mir unmöglich, vernünftig nachzuden­ken.«

Geoffry legte das Biskuit, das er gerade in den Mund hatte stecken wollen, auf seine Untertasse und schaute seine Schwester ebenso ab­wartend wie aufmerksam an. Diese fuhr fort: »Emma sitzt in diesem Gärtnerhaus wie die Spinne im Netz. Sie hat jederzeit Zugang zu Vater und wie ich sie kenne, wird sie diesen auch nutzen, um gegen uns Stimmung zu machen und sich gleichzeitig bei ihm einzuschmeicheln. Dem müsste ein Riegel vorgeschoben werden.« Die junge Lady erhob sich und ging mit nachdenklicher Miene ein paar Schritte im Salon auf und ab.

Ihr Bruder vermied es, noch etwas anzumerken, um ihren Un­willen nicht wieder zu erregen. Zwar kamen die Geschwister im allge­meinen gut miteinander aus. Doch wenn Elisabeth das Gefühl hatte, dass man ihr nicht seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit widmete, konnte sie sehr ›schwierig‹ werden, wie er es im stillen nannte.

Endlich kehrte die Lady an den Tisch zurück und ließ sich wieder auf ihrem Platz nieder. Ein feines Lächeln, das eigentlich nur in ihren Augen stattfand, sagte Geoffry, dass sie eine Idee hatte. Gespannt blickte er sie an.

»Wir müssen versuchen, Emma von Saintsbury-Hall weg zu lo­cken. Wenn sie nicht mehr in diesem Gärtnerhaus sitzt, dann wird sie ihren Einfluss auf Vater verlieren. Und dann sind wir am Zuge!«

Der junge Anwalt lächelte schmal. »Du hast, wie immer, recht. Aber wie stellen wir es an, dass Emma den Herrensitz verlässt? Du weißt so gut wie ich, dass sie sich seit ihrer so genannten Ehe mit die­sem Saisongärtner einbildet, ebenfalls eine begnadete Gärtnerin zu sein. Sie hat sogar eigene Gewächshäuser...«

»Das weiß ich selbst«, unterbrach Elisabeth ihn ungeduldig. »In­dem du mir Dinge erzählst, die mir bereits bekannt sind, hilfst du uns nicht weiter. Denke lieber darüber nach, wie es uns gelingen könnte, sie von dort zu entfernen.«

Eine Weile herrschte nun wieder Schweigen, denn Geoffry hatte natürlich keine Ahnung, was in diesem Fall zu tun war. Seine Schwes­ter hatte stets über mehr Hinterlist und Wagemut verfügt als er, da

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machte der junge Adlige sich gar nichts vor. Doch in diesem Fall schienen die Dinge ein wenig anders zu liegen, denn auch Lady Elisa­beth hatte keine zündende Idee.

»Und wenn sie Nachricht von ihrem... Mann bekäme?«, warf der Lord schließlich ein, indem er nur einen flüchtigen Gedanken laut aus­sprach. »Gewiss würde sie sofort zu ihm reisen.«

»Unsinn. Das wird dir nie gelingen. Wie willst du es anstellen, sie glauben zu lassen, dass Parks noch lebt? Du kennst nicht mal seine Handschrift.«

»Aber man könnte einen Boten schicken...« »Ach, Geoffry, verschone mich bitte mit deinen dilettantischen

Vorschlägen«, rügte Elisabeth ihn verärgert. »Nein, so kommen wir nicht weiter.« Sie warf einen kurzen Blick auf die verspielte Uhr, das auf dem Kaminsims stand und bat ihren Bruder dann: »Du solltest jetzt gehen. Mein Mann kommt bald nach Hause. Und du weißt, er schätzt es nicht, dich hier zu sehen.«

Er zögerte. »Könntest du nicht...« Sie seufzte leise und verzog dann spöttisch den Mund. »Also

schön, aber verspiele bitte nicht sofort wieder alles. Ich wüsste es zu schätzen, wenn du mit dem Geld Schulden tilgst.« Sie überreichte ihm einen Beutel mit klingenden Goldmünzen, der in Windeseile in seiner Rocktasche verschwand.

»Ich bin dir sehr dankbar, Elisabeth. Es wird gewiss nie wieder vorkommen, das versichere ich dir.«

Sie winkte ab. »Keine falschen Versprechungen, bitte. Bist du am Wochenende frei? Oder binden dich Verpflichtungen?«

Er schüttelte, ohne nachdenken zu müssen, den Kopf. »Ich stehe dir zur Verfügung. Worum geht es?«

Lady Elisabeth lächelte hinterhältig. »Wir fahren nach Saintsbury-Hall. Nur du und ich. Mein Mann besucht Freunde auf dem Land. Und er weiß, wie unendlich mich diese Gesellschaften langweilen. Da es ihm sowieso nur darum geht, geschäftliche Kontakte zu knüpfen und mit seinem neuen Adelstitel anzugeben, kann er gut auf meine Be­gleitung verzichten.«

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»Du willst Vater einen Besuch abstatten?« Der junge Lord klang nicht sehr begeistert. »Und ich soll dich begleiten?«

»Sehr scharfsinnig beobachtet, mein Lieber«, spöttelte seine Schwester. »Es genügt mir nicht mehr, nur aus zweiter Hand zu erfah­ren, was auf Saintsbury-Hall vorgeht. Ich möchte mich selbst davon überzeugen.« Sie lächelte maliziös. »Vielleicht kommt mir dort ja end­lich der zündende Gedanke, wie wir Emma ein für alle Mal los werden können...«

*

Ruby Clark schüttelte nachdrücklich den Kopf. »So geht das aber nicht, Miss Emma. Sie können unter gar keinen Umständen ohne Hut und Handschuhe drüben zum Tee erscheinen. Haben Sie denn vergessen, dass Ihre Schwester und Ihr Bruder auch dort sein werden? Sie glau­ben am Ende noch, dass Sie hier wie eine Wilde leben und alle Etikette vergessen haben!«

Lady Emma verdrehte die Augen. »Also schön, Hut und Hand­schuhe bitte! Aber dann muss ich wirklich los, sonst komme ich auch noch zu spät.« Sie drehte sich einmal vor dem Spiegel. »Zufrieden mit mir, Nanny?«

Die kurzsichtigen Augen der alten Erzieherin schienen keinen Ma­kel zu finden, so genau sie auch das nicht mehr ganz moderne Kleid ihres Schützlings betrachteten. Der Reifrock saß perfekt, auch das Schoßjäckchen wies keinen Makel auf. Einzig die himmelblaue Seide, aus der das Überkleid gefertigt war, wirkte hier und da bereits ein we­nig fadenscheinig.

»Sie werden bald ein neues Kleid brauchen«, mutmaßte Ruby ein wenig unbehaglich, denn sie wusste, dass Lady Emma das Stillstehen bei den Anproben gar nicht mochte.

»Ach, dieses hier tut es noch eine Weile«, meinte sie un­bekümmert. »Für Elisabeth und Geoffry ist es allemal gut genug.«

Das Geräusch einer sich nähernden Kutsche ließ die junge Frau aufhorchen. »Oh, das ist Edmund. Er hat sich erbeten, mir gegen mei­ne ›lieben‹ Geschwister beizustehen.«

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»Miss Emma!« Die alte Erzieherin nahm die Hände ihres Schütz­lings und drückte sie leicht. Sie kannte die traurige Geschichte von Emmas Mutter, wusste, was diese in ihrer kurzen Ehe mit dem Earl durch die Niedertracht und Gemeinheit der Kinder zu erleiden gehabt hatte. Und sie wollte nicht erleben, dass es Emma einmal ebenso er­ging. Dann würde ihr mütterliches Herz sicher brechen. Dass diese Befürchtungen unbegründet waren, zeigte allerdings die nun folgende Bemerkung der jungen Frau: »Keine Sorge, liebe Nanny, ich lasse mir nichts gefallen. Und Papa steht auf meiner Seite, das weiß ich.«

»Manchmal genügt es aber nicht, sich nichts gefallen zu lassen«, mahnte die Alte bekümmert. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass Lady Elisabeth und ihr Bruder etwas im Schilde führen. Etwas, das sich gegen Sie richtet.«

»Und wenn schon. Die beiden können mir nichts anhaben«, mein­te Emma leichthin. »Und jetzt muss ich gehen. Bis später, Nanny!« Leichtfüßig verließ sie das Haus und bestieg gleich darauf die Kutsche des jungen Herzogs von Danby, deren schwarz gelackte Türen ein königliches Wappen von aparter Schönheit zierte.

Duke Edmund bewunderte seine junge Freundin mit ehrlicher Be­geisterung, fügte seiner Lobrede allerdings hinzu: »Ich denke, es wäre für uns beide weitaus angenehmer und kurzweiliger, nach London ins Theater zu fahren. Noch ist die Saison nicht vorbei und ich würde ger­ne...«

»Führen Sie mich nicht in Versuchung, Edmund«, bat sie ihn lä­chelnd. »Ich wäre jetzt tatsächlich um vieles lieber auf dem Weg zum Theater. Doch ich kann meinen Stiefgeschwistern leider nicht immer ausweichen. Und ich habe zudem meinem Vater versprochen, zum Diner zu erscheinen.«

»Nun, dann sollten wir dieses Versprechen auch einhalten«, ent­schied der junge Hochadlige und lächelte seiner Begleiterin aufmun­ternd zu. »Keine Angst, es wird schon werden...«

Als Lady Emma wenig später am Arm des jungen Herzogs den großen Salon von Saintsbury-Hall betrat, empfand sie sogleich wieder die feindselige Haltung der beiden Gäste, die wie zwei steinerne Wäch­ter zur Rechten und zur Linken des Earl standen und ihr kühl entgegen

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blickten. Die Begrüßung fiel überaus förmlich aus. Der alte Earl küsste seine jüngste Tochter jedoch zärtlich auf die Wange, wie er es immer tat. Lady Elisabeth registrierte es mit einem giftigen Blick, enthielt sich allerdings eines Kommentars. Edmund verwickelte den Gastgeber mit Leichtigkeit in ein angeregtes Gespräch. Zwischen den beiden unter­schiedlichen Herren bestand von jeher ein herzliches Verhältnis. Lord Geoffry stand mit verkniffener Miene abseits. Ihm war es nie gelun­gen, Zugang zu seinem Vater zu finden. Und es ging ihm ungemein gegen den Strich, dass dieser Danby es scheinbar ohne jede Anstren­gung schaffte, den Alten für sich einzunehmen.

Als das Diner serviert war, schritt Lady Elisabeth am Arm ihres Va­ters ins Esszimmer. Der alte Earl war eine hoch gewachsene Erschei­nung, früher von blendendem Aussehen, doch die Jahre hatten ihn ein wenig gebeugt, zudem setzte ihm seine Herzerkrankung zu. Er hielt sich trotzdem so gerade, wie es ihm möglich war, nie hätte er vor sei­nen Kindern Schwäche gezeigt. Und doch traf Lady Emma beim Essen ein Blick, der ihr genau sagte, wie wenig dem Vater die Gesellschaft seiner älteren Tochter behagte...

»Wie ich höre, arbeitest du noch immer als Landmagd«, merkte Lady Elisabeth beim Dessert spitz an. »Seltsam, welche Marotten man­che Menschen doch entwickeln, wenn sie längere Zeit auf dem Land leben.«

»Elisabeth, ich bitte dich!« Earl James musterte sie streng. »Kannst du deine Schwester denn nicht in Ruhe lassen?«

Die Lady tat überrascht. »Ich wollte nur ein wenig Konversation betreiben, Vater. Und worüber soll man denn mit jemandem reden, der in einem Gärtnerhaus wohnt?«

»Sie interessieren sich wohl nicht für Botanik«, warf Duke Edmund mit leiser Ironie ein. »Es braucht ja auch eine gewisse Sensibilität im Umgang mit Pflanzen. Und über die verfügt nun einmal nicht jeder...«

Der Earl konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, wandte sich dann an seinen Sohn und wollte wissen, wie seine Geschäfte in Lon­don liefen. Sir Geoffry beeilte sich zu versichern, dass er sehr erfolg­reich als Anwalt tätig sei, doch es hatte nicht den Anschein, als ob ihm einer der Anwesenden glauben würde. Um die angespannte Atmo­

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sphäre ein wenig zu lockern, erzählte der junge Herzog von einer For­schungsreise, die ein Bekannter kürzlich angetreten habe. »Sumatra, Borneo, eine ganz eigene Welt«, schwärmte er. »Dort gibt es noch sehr viel zu entdecken. Tiere und Pflanzen, von deren Existenz wir nicht einmal etwas ahnen.«

Earl James bemerkte, wie die Augen seiner jüngeren Tochter zu glänzen begannen. Er wusste um ihre Neugier und ihren Forscher­drang und fragte sie deshalb: »Würde es dich nicht auch reizen, ein­mal eine solche Reise mitzumachen. Liebes?«

Emma war von den Worten des Vaters sichtlich überrascht. Es schien, als wolle sie im ersten Impuls zustimmen, doch dann ver­schloss sich ihre Miene und sie behauptete: »Ach, nein, ich glaube, das wäre doch nichts für mich. Und ich habe ja auch hier meine Arbeit.«

»Trotzdem könnte das sehr spannend sein«, warf Edmund enga­giert ein. »Ich würde Sie liebend gern begleiten, Emma. Wenn wir uns einer großen Expedition anschließen...«

»Ich bitte Sie, Edmund, das steht nicht zur Debatte!« Lady Emmas Miene wurde nun so abweisend, dass der junge Mann es vorzog, zu schweigen.

»Es liegt doch nicht etwa am Geld?«, wollte Lady Elisabeth an­züglich wissen. »Ich meine, wenn man auf dem Land lebt, entstehen einem doch gar keine Kosten. Man ernährt sich von dem, was der Bo­den hergibt. Und für Mode muss man auch nichts investieren. Nicht wahr, Emma?«

Der alte Earl maß Lady Elisabeth streng, dann gebot er: »Keine Zänkereien bei Tisch. Und du, Emma, kannst getrost einmal über diese Idee nachdenken. Selbstverständlich sind die Mittel vorhanden, um eine solche Reise zu finanzieren. Und ich bin jederzeit bereit, sie dir zur Verfügung zu stellen.« Er lächelte ihr liebevoll zu. Sir Geoffry wollte widersprechen, doch seine Schwester warf ihm einen Blick zu, der ihm Schweigen gebot.

Lady Emma schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Darüber brauche ich gar nicht erst nachzudenken, Vater. Eine solche Reise würde mich natürlich reizen, aber ich möchte dich hier unter gar keinen Umstän­den allein lassen.«

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»Ich bitte dich, Emma, das ist doch lächerlich!« Lady Elisabeth lä­chelte ihrem Vater falsch zu.

»Wenn sich jemand um dich kümmern muss, dann kann ich das doch tun.«

»Schluss damit!« Earl James schüttelte unwillig den Kopf. »Für mich braucht niemand zu sorgen, das schaffe ich noch sehr gut allein. Und jetzt möchte ich davon nichts mehr hören!«

»Schon gut, ich dränge mich gewiss nicht auf«, unterstrich Elisa­beth beleidigt. »Das war noch nie meine Art.«

Am späteren Abend, Lady Emma und Duke Edmund hatten sich bereits verabschiedet und den Earl zwangen seine Herzbeschwerden, sich früh zu Bett zu begeben, saßen Elisabeth und ihr Bruder noch im Kaminzimmer. Sir Geoffrys Miene drückte Unzufriedenheit aus. »Dieses Wochenende auf dem Land ist nichts weiter als vergeudete Zeit«, er­klärte er missmutig und sprach dabei dem Brandy zu. »Ich hätte nicht auf dich hören sollen.«

»Und wie kommst du zu dieser negativen Beurteilung?«, wollte seine Schwester wissen, die ihn mit einer Mischung aus Abschätzigkeit und Hochmut betrachtete.

»Na, das liegt doch wohl auf der Hand! Emma ist und bleibt der Liebling unseres Vaters. Er wollte ihr sogar eine Forschungsreise schenken. Und wenn ich ihn um etwas bitte, ist seine Börse fest ver­schlossen.«

»Mag sein, dass sie noch sein Liebling ist. Aber daran könnte sich sehr schnell etwas ändern«, deutete sie vage an.

»Wie meinst du das? Hast du... einen Plan?« »Natürlich. Im Gegensatz zu dir denke ich nämlich nicht nur bis

dahin, wo meine Nasenspitze endet. Statt neidisch auf das Angebot zu sein, das Vater ihr gemacht hat, sollten wir es ganz einfach für unsere Zwecke nutzen.« Sie bemerkte, dass er sie völlig verständnislos an­starrte und fuhr deshalb in gönnerhaftem Tonfall fort: »Das ist doch eine ganz einfache Rechnung. Emma steckt so eine Forschungsreise in der Nase. Aber sie hat nicht das Geld, um daran teilzunehmen. Und sie ist zu stolz, es sich von Vater schenken zu lassen.« Lady Elisabeth lä­

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chelte kalt. »Deshalb werden wir die Gute auf eine Reise schicken. Und zwar auf eine, von der sie nicht zurückkehren wird...«

*

Einige Tage waren seit dem Besuch der Geschwister in Saintsbury-Hall vergangen. Der Gesundheitszustand des Earls hatte sich leicht verbes­sert, worüber Lady Emma sehr froh war. Den Vorschlag ihres Vaters, sich einer Expedition anzuschließen, hatte sie mittlerweile vergessen. Und auch Duke Edmund rührte nicht mehr daran, als er an diesem regnerischen Frühlingsnachmittag zum Tee erschien. Obwohl ihm ein solches Unternehmen mehr als reizvoll erschien, wollte er seine Freun­din doch nicht unter Druck setzen. Er wusste, dass Emmas Dickkopf darauf sehr heftig reagieren konnte...

»Ich denke daran, am Wochenende nach London zu fahren. Möchten Sie mich nicht begleiten, Emma?«, fragte er freundlich. »Ich finde, es wäre mal eine nette Abwechslung.«

»Ja, warum nicht?« Sie lächelte ihm ein wenig zu. »Wenn Sie sich nicht schämen mit einer Dame im zerschlissenen Kleid.«

Er bedachte sie mit einem tadelnden Blick. »Sie ärgern sich noch immer über die frechen Bemerkungen Ihrer Schwester.«

Sie hob die Schultern. »Ich kann es nicht bestreiten. Elisabeth hat eine spitze Zunge und...« Lady Emma verstummte, als Ruby Clark er­schien und sie wissen ließ: »Das wurde gerade eben von einem Boten abgegeben.« Die Alte reichte ihr einen dicken, versiegelten Umschlag. Als Absender prangte ein Wappen, das Emma unbekannt war. »Was mag das denn sein?«, wunderte sie sich. Der junge Herzog warf einen langen prüfenden Blick darauf, dann musste er zugeben: »Dieses Wappen ist mir unbekannt. Es scheint französischen Ursprungs zu sein. Aber ich würde meine Hand nicht dafür ins Feuer legen. Haben Sie Freunde oder Verwandte jenseits des Kanals?«

»Nein, keine Seele.« Die junge Lady lächelte schmal. »Aber ich möchte doch wissen, was sich in diesem Umschlag verbirgt...«

»Warten Sie, lassen Sie ihn mich für Sie öffnen«, bat ihr Besucher galant. »Wer weiß, was sich darin befindet.«

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»Sicher keine giftige Spinne oder Schlange«, scherzte Lady Emma und beobachtete sehr genau, wie der Duke mit geschickten Händen das Siegel erbrach und den dicken Packen Papier auseinanderlöste. Zum Vorschein kamen ein handgeschriebener Brief, sowie ein ganzes Bündel großer Banknoten. Emma nahm eine in die Hand und stellte verwundert fest: »Französisches Geld, Sie scheinen recht zu haben, Edmund. Der Brief kommt aus Frankreich. Aber wer sollte mir von dort Geld schicken? Das verstehe ich nicht!«

»Vielleicht bringt dieses Schreiben Licht ins Dunkel. Sie erlauben, dass ich es Ihnen vorlese?«

»Ich bitte darum!« Eine seltsame innere Erregung hatte von der jungen Lady Besitz ergriffen. Emma liebte Rätsel und Geheimnisse. Und dieser Brief schien ganz offensichtlich ein solches zu enthalten.

»Er ist in unserer Muttersprache verfasst. Der Inhalt lautet folgen­dermaßen: Hochverehrte Lady Saintsbury! Sie werden sich gewiss wundern, dass ein Ihnen völlig Fremder sich an Sie wendet, Ihnen diese Zeilen und noch dazu einen ansehnlichen Betrag Geldes sendet. Doch es hat alles seine Richtigkeit und seinen Sinn. Wenn Sie gestat­ten, werde ich Ihnen darlegen, mit welchem Anliegen ich Sie heute behelligen möchte. Wie mir von Freunden zugetragen wurde, besitzen Sie auf Ihrem Anwesen in Somerset eine beachtliche Sammlung bota­nischer Raritäten, die Sie ganz persönlich mit ebenso großem Geschick wie Fachwissen pflegen und deren Wachsen und Gedeihen bereits als sprichwörtlich zu bezeichnen sind. Sie gelten - was Sie vielleicht wun­dern wird, geschätzte Lady Saintsbury - weit über die Grenzen der Britischen Inseln hinaus als Expertin auf diesem Gebiet. Ein Freund, Botaniker und Forscher, der erst kürzlich von einer Expedition in den Nahen Osten zurückgekehrt ist, empfahl mir, mich an Sie zu wenden, als ich ihn um einen ganz besonderen Gefallen bat. Deshalb tue ich das nun ganz einfach und vielleicht mit einer Keckheit, die Sie nicht nur überraschen, sondern auch verärgern mag, da wir uns nicht ein­mal persönlich vorgestellt wurden. Doch der Wunsch, den ich in mei­ner Brust hege und schon so lang verfolge, sieht in Ihnen, liebe Lady, die vielleicht einzige Möglichkeit seiner Verwirklichung.«

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Emma verdrehte die Augen und schnappte nach Luft. »Um Him­mels willen, was will er denn nun?«, rief sie, deutlich am Ende ihrer nicht sehr ausgeprägten Geduld angekommen.

Edmund hob leicht eine Hand an und bat: »Noch ein wenig Ge­duld, ich denke, er kommt nun endlich zum Wesentlichen... Der Freund, den ich eben erwähnte, wäre für meine Bitte die erste Adresse gewesen, wie ich Ihnen offen eingestehen muss. Leider zwingt ihn eine latente Krankheit, für längere Zeit auf dem Kontinent zu verwei­len. Und deshalb frage ich Sie: Möchten Sie für mich nach Indien rei­sen und dort eine neue Lotusart entdecken, die einst meinen Namen tragen soll? Ich weiß, dieser Wunsch muss Ihnen egoistisch und dumm erscheinen. Und vielleicht ist es auch eine Dummheit, ein kleines Ver­mögen für eine solche Eitelkeit zu opfern. Doch ich kann es finanziell verschmerzen, selbst wenn Ihre Reise ein Misserfolg werden sollte. Und ich wünsche mir schon seit langer Zeit, dass mein Name für die Ewigkeit in etwas Lebendigem wie einer edlen Pflanze, die immer wie­der aufs neue erblüht, erhalten bleibt.«

»Er bietet mir eine Forschungsreise an«, murmelte Lady Emma überwältigt. »Ist das nicht wie ein Wunder? Vor nur wenigen Tagen haben wir noch davon gesprochen und nun...«

»Ja, ein etwas seltsames Wunder«, murmelte Duke Edmund mit grüblerischer Miene.

»Was wollen Sie damit sagen?« »Na ja, es ist doch seltsam, dass ausgerechnet jetzt ein Unbe­

kannter solch ein Angebot macht. Halten Sie es nicht für möglich, dass vielleicht Ihr Vater...«

»Unsinn! Papa hat mir direkt angeboten, mir eine solche Reise zu finanzieren. Und ich habe abgelehnt. Er würde niemals zu solchen... verlogenen Methoden greifen. Das ist ganz ausgeschlossen! Aber fah­ren Sie doch bitte fort, Edmund. Oder war das schon alles, was mein unbekannter Gönner geschrieben hat?«

»Nicht ganz. Hier findet sich noch ein kurzer Nachsatz: Nun wis­sen Sie, hoch verehrte Lady Saintsbury, was mein Anliegen ist. Für alles habe ich bereits gesorgt: Eine Schiffspassage über die Westroute nach Indien wurde hinterlegt, Ihr Schiff sticht in einer Woche von Ply­

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mouth aus in See. Der Kapitän wurde bereits informiert. Es steht Ih­nen zudem frei, eine oder mehrere Begleitpersonen mitzunehmen. Falls Sie sich entschließen sollten, mein Angebot anzunehmen, werden all meine guten Wünsche und Gedanken Sie begleiten. Bitte verzeihen Sie mir, dass ich anonym bleiben möchte. Es hat seine Gründe, glau­ben Sie mir. Doch es liegt mir fern, Ihnen Ungemach zu bereiten. Mein Anliegen ist ehrlich und aufrichtig. Ich vertraue Ihnen und weiß, Sie werden die richtige Entscheidung treffen. Ihr demütiger Bewunderer und - hoffentlich - Ihr stiller Gönner Monsieur X.«

Nachdem der junge Herzog verstummt war, herrschte eine ganze Weile Schweigen in dem kleinen gemütlichen Salon des Gärtnerhau­ses. Schließlich stellte Lady Emma fest: »Ich würde am liebsten auf der Stelle reisen.«

Edmund, der bereits eine ähnliche Reaktion befürchtet hatte, mahnte sie: »Brechen Sie diese Sache bitte nicht übers Knie, Emma. Und bedenken Sie, dass Sie sich im Falle einer Zusage auf Gedeih und Verderb in die Abhängigkeit eines Ihnen völlig Fremden begeben.«

»Aber, Edmund, stellen Sie sich nur vor: Indien! Dieses wun­derbare Land voller berauschender Farben. Ich könnte Landschaften und Städte sehen, von denen ich bislang nur in Büchern gelesen habe. Und eine neue Lotussorte zu finden, das ist eine so reizvolle Aufga­be...«

»Die Passage nach Indien ist lang und voller Gefahren«, hielt er ihr mit ernster Miene vor. »Vergessen Sie nicht, dass selbst alte Teeja­cken und hart gesottene Seebären nur äußerst widerstrebend am Kap vorbeisegeln. Die Winde sind dort unberechenbar. Sturmfronten und Unwetter, unzählige Schiffe sind dabei zerbrochen und wurden von den tosenden Wellen mit Mann und Maus verschlungen. Nicht zu ver­gessen die Gefahren durch Piraten und Freibeuter, denen ein Men­schenleben nicht mehr wert ist als eine Laus, die sie zertreten...«

Lady Emma lachte leise. »Sie schildern sehr anschaulich, lieber Freund. Doch ich bin mir durchaus im klaren darüber, was eine solche Reise bedeuten würde. Trotzdem reizt mich die Vorstellung unge­mein...«

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»Dann bitte ich Sie, sprechen Sie zuvor mit Ihrem Vater. Sollte er nichts einzuwenden haben, werde ich Sie begleiten.« Er merkte, dass sie widersprechen wollte und fuhr entschieden fort: »Diese Reise ist so oder so ein sehr großes Wagnis mit einer Unzahl von Gefahren. Ich sehe es nicht gern, wenn Sie ernsthaft mit dem Gedanken spielen, sie tatsächlich anzutreten. Aber ich werde es unter gar keinen Umständen erlauben, dass Sie sich allein auf diese Fahrt ins Ungewisse begeben. Denn das wäre absoluter Wahnsinn!«

*

Eine Woche später saß Lady Emma Saintsbury zusammen mit Ed­mund, Duke of Danby, sowie der treuen Seele Ruby Clark in einer Mietkutsche, die sie alle nach Plymouth bringen sollte. Ereignisreiche Tage und schlaflose Nächte lagen hinter der eigenwilligen jungen Frau, die gerade im Begriff war, sich auf das größte Abenteuer ihres jungen Lebens einzulassen.

Wie erwartet hatte auch der alte Earl große Bedenken geäußert, als seine Tochter ihm von dem unerwarteten und mysteriösen Angebot berichtet hatte. Seine zunächst eher ablehnende Haltung hatte den Verdacht des jungen Herzogs, dass der Brief von Emmas Vater stamm­te, leider widerlegt. Das Mysterium blieb bestehen und bildete auch einen der Hauptgründe, weshalb Earl James zögerte, die Begeisterung seiner Tochter zu teilen.

»Wer weiß, wer hinter dieser Sache steckt«, hatte er zu bedenken gegeben. »Es ist durchaus möglich, dass sich verbrecherische Absich­ten hinter dieser Geschichte verbergen.« Doch davon wollte Emma nichts wissen. Sie war der Meinung, dass jemand, der eine so hohe Geldsumme an eine ihm völlig Fremde schickte, nur ein Exzentriker sein konnte. Ein Mensch, beseelt von einer fixen Idee, doch kein ge­wöhnlicher Verbrecher. Lady Emmas Abenteuerlust war geweckt. Und es schien selbst ihrem Vater unmöglich, sie noch zu bremsen oder ihr diese Reise ins Ungewisse auszureden. Natürlich waren aber auch Emma gewisse Bedenken gekommen. Vor allem des Nachts, wenn sie schlaflos gelegen und nachgegrübelt hatte. War es nicht ver­

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antwortungslos, ihre beiden Vertrauten in dieses Abenteuer zu verstri­cken?

Wäre es nicht viel besser gewesen, allein zu reisen? Allerdings konnte sie Edmund nicht davon überzeugen. Er bestand

darauf, sie zu begleiten. Und auch ihr Vater war von dieser Idee mehr als angetan. Beim Abschied hatte er Emma lange im Arm gehalten und sie hatte ein schlechtes Gewissen gehabt. Ihn über Monate allein zu lassen - war das nicht falsch und egoistisch? Doch er schien nicht so zu denken. Nun, da es entschieden war, wünschte er ihr alles Gute für die Reise und legte ihr ein zierliches goldenes Medaillon um den Hals, das sie beschützen sollte. Es hatte einst ihrer Mutter gehört...

»Woran denken Sie, Emma?«, fragte Edmund sie nun, denn sie hatte eine ganze Weile schweigend aus dem Fenster der Kutsche in die blühende Landschaft von Somerset hinausgeblickt.

»An meinen Vater«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. »Ich habe ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so lange allein lasse.«

»Und was ist mit uns?«, meldete sich die alte Nanny ärgerlich zu Wort. »Haben Sie uns gegenüber denn kein schlechtes Gewissen, Miss Emma?«

Die junge Lady merkte, dass Edmund Ruby maßregeln wollte, a­ber sie kam ihm zuvor und bekannte: »Oh doch, das habe ich. Eigent­lich wäre es mir weitaus lieber gewesen, allein zu reisen. Es war meine Entscheidung, mich auf dieses Abenteuer einzulassen. Und es ist mir nicht recht, dass Unbeteiligte sich meinetwegen in Gefahr begeben.« Sie lächelte der Alten freundlich zu. »Du kannst dich in Plymouth von mir verabschieden, liebe Ruby. Dann fahre ich sehr viel ruhiger und auch erleichtert los. Willst du wenigstens das für mich tun, meine treue Seele?«

»Ich tue alles für Sie, Miss Emma«, erwiderte sie ebenso freund­lich. »Aber das nicht!« Ihre kurzsichtigen Augen hinter der Brille be­gannen, hell zu funkeln, als sie fortfuhr: »Ich werde Sie niemals im Stich lassen! Damals, als man mich ins Schloss rief, damit ich mich um Sie kümmere, da waren sie ein kleines, verängstigtes Mädchen, dem nur eines fehlte: Mutterliebe. Ich habe versucht, diesen Mangel so gut wie irgend möglich zu ersetzen. Und da werde ich jetzt, da Sie mit

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einem Mal auf Abenteuer ausgehen, kneifen und mich nicht mehr kümmern. Das kommt überhaupt nicht in Frage!«

Der junge Herzog konnte sich nur schwer ein Schmunzeln ver­kneifen, das allerdings sehr wohlwollend ausfiel. Lady Emma drückte der Alten beide Hände und versicherte: »Ich bin dir sehr dankbar, meine gute Ruby. Was täte ich nur ohne dich?«

»Ja, was!« Die Nanny schmunzelte weise. »Danach wollen wir lie­ber nicht fragen...«

Gegen Mittag erreichte die Kutsche Plymouth. Die Hafenstadt gab ein buntes, beinahe exotisches Bild ab. Unter dem blauen Frühlings­himmel strahlte das Meer in Azurblau, als wolle es bereits an die exoti­schen Länder gemahnen; in die man aufbrach. Im Hafen wimmelte es von Menschen. Große Segelschiffe legten an und ab, Ladung wurde an Bord genommen oder gelöscht. Lady Emma wäre beinahe über eine große Kiste mit Portwein gestolpert, weil ein farbiger Seemann mit einem bunten Papagei auf der Schulter sie so faszinierte. Duke Ed­mund bewahrte sie vor einem Sturz und riet ihr: »Sie sollten hier gut acht geben, wohin Sie treten, meine Liebe. Wenn wir erst an Bord sind, können Sie die Umgebung in aller Ruhe studieren.«

»Ja, Sie haben wohl recht, Edmund«, murmelte sie aufgeregt. »Wo liegt denn die ›Battle Doar‹? Haben Sie das Schiff schon aus­machen können?«

»Wenn wir uns nach den Anweisungen dieses unbekannten Fran­zosen richten, sollte uns hier am Peer jemand ansprechen und zu dem Segler führen«, erwiderte der junge Herzog ein wenig unwirsch. Ihm ging das bunte und hektische Treiben im Hafen zuwider, zumal er nicht nur auf Lady Emma, sondern auch auf die alte Ruby Clark achten musste, die im Gewimmel beständig verloren zu gehen drohte. Ihre kurzsichtigen Augen fanden da kaum den rechten Weg. Hinzu kam, dass Emma andauernd etwas entdeckte, was sie faszinierte. Gerade als sie einen Käfig mit zwei Meerkatzen untersuchen wollte, trat ein hoch gewachsener schmaler Inder an sie heran. Er hatte ein längli­ches, fast olivefarbenes Gesicht, in dem die leicht schräg stehenden Mandelaugen geheimnisvoll glänzten. Sein bläulich schwarzes, langes Haar war im Nacken zusammengebunden. Er trug nur eine schmale

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Hose, die anscheinend aus Schlangenleder genäht war und sein ge­samter Oberkörper war über und über tätowiert. Wilde, feuerspeiende Drachen, Phantasiegeschöpfe und Meerjungfrauen zogen sich vom Nabel bis hinauf zum Hals. Ein breiter, goldner Ring hing im rechten Ohr. Der Mann verbeugte sich leicht und sagte mit einer überraschend warmen und tiefen Stimme: »Zur Battle Doar? Bitte folgen Sie.«

Nanny hatte sich einen Schritt hinter Duke Edmund gehalten, denn der Fremde flößte ihr ganz offensichtlich Angst ein, während La­dy Emma ihn fasziniert betrachtete.

»Ist das nicht aufregend?«, raunte sie ihrem Begleiter zu, der es allerdings vorzog, sich eines Kommentars zu enthalten. Wie es schien, war Emma viel zu leicht zu begeistern. Obwohl Edmund Seereisen nicht mochte und, wenn möglich, vermied, war er nun doch froh, Em­ma begleitet zu haben. In ihrer naiven Art hätte ihr auf dieser großen Fahrt vielerlei Ungemach zustoßen können, das er nun entschlossen war, zu verhindern.

»Oh lieber Gott, lass uns alle wieder gesund heimkehren«, mur­melte Ruby Clark mit zitternder Stimme, als sie an der Hand des jun­gen Herzogs über den schwankenden Steg das Segelschiff betrat. Die Battle Doar war ein stolzer Zwölfmaster, ein ehemaliges Handelsschiff, das über viele Jahre Tee und Gewürze aus den Kolonien nach England gebracht hatte. Nun beförderte es Passagiere in aller Herren Länder. Sein Kapitän war ein kleiner drahtiger Mann, der sich nicht für alle Passagiere Zeit nahm. Als Lady Emma und ihre Begleitung erschien, verließ er allerdings seine Brücke und begrüßte die drei Neuankömm­linge mit zurückhaltender Freundlichkeit. In seinem wettergegerbtem Gesicht blitzte ein Paar hellblauer Augen, das für kurze Zeit mit echter Bewunderung auf der jungen Lady ruhte.

Edmund war dies nicht verborgen geblieben. Er fragte den Kapitän mit deutlicher Herablassung nach ihren Quartieren und zog sofort eine Grenze zwischen ihnen, die, so gebot es der Anstand, nicht zu über­schreiten war. Der Kapitän akzeptierte dies ohne Zögern. Er schien ein Mann von Welt zu sein.

»Pitti bringt Sie unter Deck. Ich hoffe, Sie werden alles zu Ihrer Zufriedenheit vorfinden. Mich entschuldigen Sie bitte, wir legen in ei­

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ner halben Stunde ab.« Er verbeugte sich knapp und entfernte sich dann.

Lady Emma warf ihrem Begleiter einen fragenden Blick zu. »Wa­rum waren Sie so unfreundlich zum Kapitän, Edmund? Ich fand ihn recht nett und kultiviert.«

»Etwas zu nett«, murmelte der Angesprochene mit einem schma­len Lächeln, das Emma nicht recht zu deuten wusste. Doch sie kam nicht dazu, sich weitere Gedanken darüber zu machen, denn nun er­schien ein dünnes, klein gewachsenes Mädchen, dessen dunkle Haut und schwarzes Haar einen interessanten Kontrast zu seiner farbenfro­hen, gewickelten Kleidung bildeten. Es lächelte schüchtern und wies den Reisenden dann den Weg zu ihren Quartieren.

»Was für ein hübsches Geschöpf«, stellte Lady Emma fest. »Eine kleine Malaiin«, wusste Edmund. »Die Mannschaft dieses

Schiffes ist wirklich das, was man bunt zusammengewürfelt nennen kann.« Er drehte sich um. »Ruby, kommen Sie?«

Die alte Nanny zögerte, das Deck zu verlassen. Sie warf noch ei­nen letzten, sehnsüchtigen Blick auf den Hafen von Plymouth und murmelte dabei: »Wer weiß, wann wir unser Merry Old England wieder sehen werden. Wenn überhaupt...«

»Nun sei nicht so melancholisch«, bat Lady Emma die Alte und lä­chelte ihr aufmunternd zu. »Du wirst schon sehen, diese Reise wird einfach wunderbar!«

Doch mit ihrem Optimismus konnte sie die Nanny nicht auf­muntern. Als die Luke sich hinter ihnen schloss, war die Alte felsenfest davon überzeugt, so gut wie lebendig begraben zu sein...

Während die Passagiere ihre Quartiere bezogen, wurde die Battle Doar fertig zum Auslaufen gemacht. Die letzte Ladung war gelöscht worden, Gepäck, Handelsware und Lebensmittel an Bord genommen. Der Kapitän besprach mit seinem Steuermann die genaue Route der langen Reise bis nach Bangalur in Indien. In all diesem geschäftigen Treiben fielen zwei Personen nicht auf, die von einer nahen Seiten­straße aus alles genau beobachteten. Und als die Battle Doar dann in See stach, lächelte Lady Elisabeth ihrem Bruder teuflisch zu. »Leb wohl, Emma Parks«, murmelte Sir Geoffry. »Gute Reise ins Jenseits...«

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Und sein Lachen hallte noch eine ganze Weile zwischen den Hauswän­den in der schmalen Seitenstraße wider wie ein böses Omen für jene abenteuerliche Fahrt ins Ungewisse, die Lady Emma und ihre Begleiter eben erst angetreten hatten...

*

Die ersten Tage auf See verliefen in ereignislosem Gleichmaß. Das Wetter war gut, der Himmel meist klar und ein beständiger Nord-Süd-Passat blähte die Segel der Battle Doar zu zügiger Fahrt. Im Golf von Biskaya legte der Kapitän im Hafen von La Rochelle einen ersten Zwi­schenstopp ein, um noch einige Passagiere, sowie weitere Handelswa­re an Bord zu nehmen. Lady Emma beobachtete fasziniert, wie die Seeleute der Mannschaft, die tatsächlich aus aller Herren Länder zu kommen schienen, flink und sicher schwere Kisten oder ganze Eichen­fässer über den schwankenden Steg balancierten. Für die junge Lady waren die zurückliegenden Tage ein wunderbares Erlebnis gewesen. Sie genoss die salzige Seeluft, die unendlich scheinende Weite von Himmel und Wasser und fühlte sich auf den schwankenden Planken des Schiffes so wohl, als sei sie nichts anderes gewöhnt. Die stille Ab­geschiedenheit von Saintsbury-Hall lag weiter denn je von ihr entfernt. Doch wenn Emma des Abends in ihrer Kajüte durch das Bullauge die Sonne in seltener Glut im Meer versinken sah, dann berührten ihre schlanken Finger sehr achtsam das goldene Medaillon, das der Vater ihr mit auf die Reise gegeben hatte. Und dann waren all ihre Gedan­ken und Gefühle daheim in Somerset. Ein wenig wehmütig wurde es Emma dann ums Herz. Und auch auf der Weite des Meeres, auf ihrem Weg ins größte Abenteuer ihres jungen Lebens begleitete sie die leise Sehnsucht nach Henry und die Frage, wo er nun wohl sein mochte, was er tat und ob er sein Leben vielleicht auch ohne sie weiterführte. Vielleicht sogar, ohne noch an sie zu denken? Solche Vorstellungen waren ihr nie zuvor in den Sinn gekommen. Und auch jetzt wollte sie dies weder denken, noch glauben.

Wenn der Morgen dann mit dem ersten Licht der aufsteigenden Sonne kam, der Ausguck oben in seinem Krähennest den neuen Tag

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lautstark einläutete, dann schob die schöne Lady solch trübe Gedan­ken weit von sich und war bereits überaus gespannt, welches Neuland sie an diesem Tage betreten sollte. Der junge Duke war ihr ein auf­merksamer und interessierter Reisegefährte. Sie studierten gemeinsam die Literatur über Indien, die Emma in ihrem umfangreichen Gepäck mitgeführt hatte und sie genossen auch zusammen die vielen neuen Eindrücke, die auch Edmund nicht unberührt ließen. Lediglich die gute alte Nanny litt schrecklich in diesen ersten Tagen auf dem Meer. Die Seekrankheit hatte sie aufs Lager gestreckt und sie jammerte in einem fort, haderte mit ihrem unbarmherzigen Schicksal und war felsenfest davon überzeugt, ihre geliebte Heimat niemals wieder zu sehen. Lady Emma bewies eine wahre Engelsgeduld im Umgang mit Ruby Clark. Doch als die kleine Pitti, jenes malaiische Mädchen, das die Reisenden geschickt und fleißig bediente, in Rubys Kabine erschien, war es ganz aus.

»Ich will diesen schwarzen Teufel nicht in meiner Nähe. Sie hat mich gewiss verhext!«, keuchte die Alte wie im Fieber und ihre hellen Augen schwammen in verzweifelten Tränen. »Ach, liebe gute Miss Emma, es tut mir ja so leid, dass ich Ihnen solch schreckliche Umstän­de machen muss. Hätten Sie mich nur daheim gelassen. Ich bin ja zu nichts mehr nütze...«

Emma legte der Alten ein kühlendes Tuch auf die Stirn und meinte beruhigend: »Nun lass gut sein, meine liebe Ruby. Du hast gewiss viel zu leiden, aber es wird auch wieder besser. Ich habe dieses Pulver vom Schiffsarzt erhalten. Wenn du es in Wasser aufgelöst trinkst, wer­den deine Beschwerden bald fort sein. Dann kannst mit uns an Deck kommen und die frische Luft genießen. Ach, es ist einfach herrlich draußen!«

Die alte Nanny schnäuzte sich verlegen die Nase und bedankte sich für die Medizin, dann fragte sie vorsichtig: »Sind denn nur solch schreckliche Gestalten gottloser Heiden auf diesem Schiff? Oder gibt es auch noch ein paar anständige Mitreisende?«

Lady Emma musste lachen. »Wenn man dich so hört, dann scheint es, als ob wir uns auf einem garstigen Seeräuberschiff befinden. Aber das ist bestimmt nicht der Fall.« Sie beugte sich ein wenig vor und gab

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der Alten das Medikament behutsam ein. »Außer uns befinden sich an die zwei Duzend Reisende an Bord, meist Kaulleute, die in den Kolo­nien Transaktionen tätigen wollen. Ist das nicht aufregend? Sie verdie­nen so ihr Geld... Ja und es sind fast alles Engländer, so wie wir. Heu­te haben wir übrigens in La Rochelle angelegt. Du wirst es merken, weil der Seegang nachgelassen hat.«

»La Rochelle?«, echote die Alte nachdenklich. Und dann erhellte ein plötzliches Lächeln ihr runzliges Gesicht. »Das ist Frankreich, nicht wahr? Ach, liebe Miss Emma, lassen Sie uns doch hier von Bord gehen, dieses schreckliche, schwankende Etwas verlassen und in unser gelieb­tes Heimatland zurückkehren. Es ist doch alles so ungewiss! Und in der vergangenen Nacht, da hatte ich einen ganz furchtbaren Traum von Piraten und Kämpfen und...« Sie verstummte erschöpft und schloss kurz die Augen. Emma strich ihr zart über die welke Wange und versi­cherte: »Du brauchst dich nicht zu fürchten, meine gute Alte. Es wird alles gut werden. Ich sehe dann später wieder nach dir.« Als die junge Lady die Kabine der Kranken verließ, war diese bereits fest eingeschla­fen. Wie es schien, tat die Medizin ihre Wirkung. Und Emma hoffte nun tatsächlich, dass Nanny bald wieder auf den Beinen war. Denn als Pa­tientin war sie in der Tat recht schwierig im Umgang.

Duke Edmund unterhielt sich gerade mit einigen Mitreisenden, als Lady Emma das Deck betrat. Sie kannte den etwas älteren beleibten Gentleman und seinen jüngeren Begleiter bereits flüchtig. Sein Name war Sir Thomas Waldham und der Jüngere war sein Sohn Jeffry. Sie stammten aus Liverpool, besaßen dort eine Spinnerei und waren auf dem Weg nach Indien, wo sie Geschäfte machen wollten. Emma fand die beiden recht sympathisch, wenn auch manchmal zu direkt und ungehobelt. Sie stammten aus einer Familie von niederem Landadel, hatten sich durch ihre Geschäftstüchtigkeit ein großes Vermögen er­worben, waren aber doch bodenständig und bescheiden geblieben.

»Emma, da sind Sie ja«, begrüßte Edmund sie erfreut. »Wie geht es Nanny?«

»Sie schläft. Ich hoffe, das Medikament wird seine Wirkung tun«, erwiderte sie mit einem leisen Seufzer. »Sie war ziemlich... angespannt und dazu noch sehr schlechter Laune.«

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Sir Thomas lachte, er besaß einen dröhnenden Bass. »See­krankheit ist eine scheußliche Sache. Zum Glück bin ich bisher davon verschont geblieben. Aber Jeff, der arme Junge, litt bei unserer letzten Reise darunter. Die See war tagelang stürmisch und er kotzte sich so­zusagen die Seele aus dem Leib.« Wieder lachte er, während sein Sohn, ein schmaler, etwas blasser junger Mann mit lockigem rotem Haar und Sommersprossen betreten den Blick senkte. »Ist doch kein Grund, sich zu schämen«, meinte Sir Thomas daraufhin leutselig. »Die Seefahrerei ist ein notwendiges Übel.«

»Haben Sie schon gehört, dass wieder Piraten in diesen Gewäs­sern ihr Unwesen treiben sollen?«, wechselte Jeffry das Thema. Er sprach Lady Emma direkt an, die er mit einer etwas linkischen Unge­schicktheit verehrte. »Ich hörte den Kapitän sagen, dass man ein wachsames Auge...«

»Rede doch keinen Unsinn, Junge«, tadelte sein Vater ihn un­gehalten. »Willst du der jungen Lady vielleicht Angst einjagen?«

Emma lächelte schmal. »So schnell ängstige ich mich nicht«, ver­sicherte sie. »Außerdem dachte ich, dass unsere Flotte dieses Problem schon längst im Griff hat. Seine Majestät der König hat die entspre­chenden Gesetze erlassen, so dass Freibeuter auf keinem der sieben Weltmeere mehr sicher sein können...«

»Hört, hört, Lady Saintsbury kennt sich zudem in der Politik aus. Sie beschämen uns, meine Liebe«, schmeichelte Sir Thomas.

»Ich tue mein Bestes«, scherzte sie mit leiser Ironie und nahm dann gerne den Arm, den Edmund ihr bot.

»Ein penetranter Mensch«, urteilte der junge Herzog, nachdem sie sich ein Stück von den Waldhams entfernt hatten und weiter über das Deck promenierten. »Ich schätze seine Gesellschaft gar nicht. Doch leider drängt er sich einem immer auf, sobald man auch nur in Sicht­weite kommt.«

»Nehmen Sie es nicht so ernst, Edmund«, riet die junge Lady ihm schmunzelnd. »Alles, was auf diesem Schiff geschieht, ist schließlich Teil unseres großen Abenteuers.«

»Ich wünschte, ich könnte ebenso positiv gestimmt sein wie Sie. Doch es will mir nicht ganz gelingen«, gab er da zu.

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»Es wird schon noch«, meinte Emma optimistisch. »Es wird schon noch...« Als sie am Abend vor dem Schlafengehen noch einen Blick aus dem Bullauge in ihrer Kabine warf, erschrak Lady Emma aller­dings. Mittlerweile hatten sie Frankreich hinter sich gelassen und wie­der Fahrt auf der Südroute aufgenommen. Der Horizont bildete einen völlig geraden Strich, dort, wo Wasser und Himmel ineinander überzu­gehen schienen. Doch das Firmament war nicht mehr so klar, wie Emma es bislang gewohnt gewesen war. Weit im Westen, wo der At­lantik sich in unbekannten Fernen verlor, türmten sich bleigraue Wol­kenberge bedrohlich auf. Was hatte das zu bedeuten? Kam schlechtes Wetter? Die junge Lady wusste es nicht, ihr Wissen um die Eigenhei­ten der Seefahrt war begrenzt. Ein ungutes Gefühl schlich sich aber trotzdem in ihr Herz. Mit einer unbewussten Geste tastete sie nach dem goldenen Medaillon, das um ihren Hals lag. Und als sie das glatte, weich wirkende Schmuckstück zu spüren bekam, gab ihr dies sogleich ein wenig Trost und Selbstsicherheit zurück. Vielleicht würde das schlechte Wetter ja an ihnen vorüberziehen. Ein wenig fürchtete Em­ma sich vor einem Sturm. Und dabei ahnte sie nicht, dass sie weiter im Süden sehr viel Schlimmeres erwartete als eine stürmische See...

*

Als Lady Emma drei Tage später am frühen Morgen erwachte, glaubte sie, noch zu träumen. Alles hatte sich verändert und zwar auf eine nahezu erschreckende Weise. Die ihr mittlerweile vertraute Kabine schien in einer Zentrifuge zu stecken, an deren äußeren Seiten kräftige Männerarme fleißig drehten. Das Bett war am Boden befestigt, ebenso der Schrank. Doch mehrere Stühle und ein kleiner Tisch, an dem sie bisher ihre Morgentoilette verrichtet hatte, flogen herum wie irre ge­wordene, übergroße Schmetterlinge. Platschend schlugen dicken Was­serstriemen gegen das Bullauge, vor dem es kaum hell geworden war. Von Zeit zu Zeit flammte ein schwefelgelber Blitz auf, gefolgt von dumpfem Donnergrollen. Das Unwetter war also doch gekommen. Und schlimmer, als die junge Lady es sich in ihren schwärzesten Träumen hätte ausmalen können. Außer dem Sausen des Windes, dem Toben

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des Gewitters und den unmäßigen Wassermassen, die aus der himmli­schen Schleuse entlassen wurden, hörte Emma noch mehr. Die Battle Doar ächzte und stöhnte, jede einzelne Planke schien von dem schwe­ren Wetter angehoben und gesenkt zu werden und dies geschah nicht ohne Geräuschentwicklung. Kurz schien es selbst dem tapferen Herz der jungen Frau, als befinde sie sich auf einem verfluchten Spukschiff, von dem es so schnell wie irgend möglich zu fliehen galt.

Doch Lady Emma war kein Hasenfuß. Sie hatte sich auf ein wah­res Abenteuer eingelassen. Und sie würde vor der unruhigen See e­benso wenig kneifen wie vor unwegsamem Gelände, Ungeziefer oder feindseligen Eingeborenen auf dem indischen Subkontinent. Während sie sich unter einigen Mühen ankleidete und immer darauf achten musste, auf den Füßen zu bleiben, dachte sie an Nanny Ruby. Die gute Alte hatte sich in der Zwischenzeit einigermaßen von ihrer Unpässlich­keit erholt. Wie würde aber dieses grausige Unwetter auf sie wirken? Emma beschloss, sich rasch zu der ehemaligen Erzieherin zu begeben, um ihr beistehen zu können.

Als sie wenig später ihre Kabine verließ, kam ihr der junge Herzog entgegen und bat: »Bleiben Sie nur unter Deck, Emma, draußen tobt ein Orkan. Der Kapitän hat allen Reisenden streng verboten, ihre Quartiere zu verlassen.«

»Ich möchte nur nach Nanny sehen. Wollen Sie mich begleiten?«, fragte Emma, woraufhin Edmund nickte. »Haben Sie mit dem Kapitän gesprochen? Wie lange wird denn dieses Wetter anhalten?«

»Er weiß es auch nicht. Doch er sagte, es sei nichts Ungewöhn­liches. Zu dieser Jahreszeit sind die Gewässer hier tückisch. Der Golf von Guinea gilt neben dem Kap als eine der größten Heraus­forderungen für die Seeleute.« Er lächelte ihr verhalten zu. »Sie müs­sen sich nicht fürchten, wir werden es überstehen.«

Sie erwiderte sein Lächeln schmal und behauptete: »Ich fürchte mich nicht. Es ist Nanny, um die ich mich sorge. Sie wissen doch, wie sehr sie in den letzten Tagen gelitten hat.« Die junge Lady betrat die Kabine von Ruby Clark, die ängstlich in einem Sessel kauerte und ver­stört an ihrem kleinen Fläschchen mit dem Riechsalz schnüffelte. Als sie Emma gewahr wurde, sprang sie erstaunlich behände auf und rief:

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»Gott sei Dank, Ihnen ist nichts passiert. Ich hatte solche Angst um Sie, Miss Emma! Das können Sie sich überhaupt nicht vorstellen...« Sie drückte die schmalen Hände ihres Schützlings herzlich, Emma versi­cherte: »Es ist ja alles gar nicht so schlimm, wie es vielleicht aussieht. Der Sturm wird uns gewiss nichts anhaben. Und wenn er vorbei ist, dann sind wir unserem Ziel schon wieder ein Stückchen näher gekom­men. Warte nur ab, meine liebe Ruby, du wirst ganz verzaubert sein, wenn du deinen Fuß auf das Festland setzt und all die exotischen Wunder erlebst, die Indien zu bieten hat.«

Die Alte blinzelte ängstlich und erwiderte: »Ach, ich fürchte, wir werden unser Ziel nie erreichen.«

»Wie kommst du denn auf den Gedanken?«, wollte der Duke of Danby verständnislos wissen.

»Sie werden mich sicher auslachen, wenn ich das sage. Aber ich hatte heute Nacht so einen schrecklichen Traum. Ein riesiges Piraten­schiff mit einem brandroten Segel verfolgte uns. Schreckliche Gestal­ten kamen auf unser Schiff. Ich glaube, sie wollten uns alle töten. Ach, es war grauenhaft!«

»Du hast nur geträumt, das bedeutet gar nichts«, versuchte Lady Emma, die Alte zu beruhigen. Doch Ruby Clark, die sonst über einen sehr ausgeprägten Sinn für die Wirklichkeit verfügte, bestand darauf, dass dies nicht nur ein Traum, sondern eine Vision, eine böse Vorah­nung gewesen sei. Und als Emma und Edmund sie verließen, saß sie wieder versunken und zitternd in ihrem Sessel, die kurzsichtigen Au­gen fest auf die Bibel in ihren runzligen Händen geheftet.

»Was mag nur in Nanny gefahren sein?«, wunderte Emma sich besorgt. »So habe ich sie noch nie erlebt. Ob die Reise doch zuviel für sie ist? Ich mache mir nun große Vorwürfe, weil ich nicht darauf be­standen habe, dass sie daheim bleibt. Ach, Edmund, ich könnte es nicht verwinden, wenn ihr auf der Reise etwas zustoßen würde. Denn das wäre ja dann meine Schuld!«

»Ruby wird nichts geschehen«, versicherte der junge Herzog mit Nachdruck. »Sie hat nur ein bisschen Angst. Und bei dem Unwetter, das draußen tobt, ist das doch nur zu verständlich. Kommen Sie, ge­

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hen wir ins Aufenthaltszimmer. Sicher werden Sie dort von Ihren trü­ben Gedanken abgelenkt.«

Lady Emma nickte. »Ja, Sie haben recht. Ich habe mich hinreißen lassen, das war kindisch von mir. Wenn wir erst in Indien sind, werden wir gewiss ganz andere Stürme überstehen müssen. Und damit meine ich beileibe nicht nur das Wetter...«

In dem großen Raum, der früher der Marinschaft zum Essenfassen gedient hatte und nun das gemütliche Ambiente eines einfachen Landhotels hatte, hielten sich tatsächlich die meisten Passagiere auf. Kaum einer wollte nun allein in seiner Kabine sein. Und die Gespräche, die geführt wurden, klangen recht angestrengt oberflächlich. Jeder war bemüht, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Sir Thomas Wald­ham und sein Sohn suchten gleich wieder die Nähe von Lady Emma. Und nun war sie sogar recht froh über die Erzählungen des beleibten Mannes, der sich selbst gern reden hörte. Wenn sie nur ein wenig von dem unheimlichen Heulen, Toben und Tosen abgelenkt wurde... Am späten Nachmittag erschien der Kapitän. Seine Miene war ernst und Lady Emma fürchtete bereits das Schlimmste; dass sie vielleicht um­kehren mussten, dass sie kurz davor standen, zu kentern oder als Schiffbrüchige enden würden. Doch Sir Walter Picard hatte nichts der­gleichen zu verkünden. Seine rauchige Stimme klang ruhig und gemes­sen, als er erklärte: »Sie müssen sich noch auf einige unruhige Stun­den einrichten. Wir werden den Sturm vermutlich erst gegen Morgen hinter uns haben.« Einige Mitreisende gaben Unmutslaute von sich, woraufhin Sir Thomas sich genötigt sah, zu betonen: »Der Kapitän hat den Sturm nicht produziert. Wir sollten froh sein, wenn er uns heil hier heraus bringt.«

Sir Walter warf dem Reisenden einen knappen, schwer zu deu­tenden Blick zu, dann fuhr er fort: »Die Küche bleibt rund um die Uhr geöffnet. Sie können sich jederzeit eine kleine Mahlzeit holen, wenn Ihnen danach ist. Ich muss Sie allerdings streng ersuchen, weiterhin unter Deck zu bleiben. Wenn der Sturm vorbei ist, wird sich die Lage umgehend normalisieren.«

»Wo sind wir eigentlich?«, fragte Lady Emma Picard.

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»Morgen früh werden wir an Sankt Helena vorbeikommen. Dahin­ter sollte das Meer wieder ruhig sein, Mylady«, erwiderte er zuvor­kommend, nickte knapp und verließ dann den Raum.

»Nun, wie sieht es aus, Sir, Lust auf ein Spiel?« Thomas Waldham hatte ein Kartenspiel aus seiner Westentasche gezogen. Sogleich mel­deten sich einige Herren, die gewillt waren, sich die Langeweile auf diese Art zu vertreiben. Duke Edmund zögerte, doch Emma merkte, dass es ihn ebenfalls in den Fingern juckte. »Spielen Sie nur, ich sehe gern ein wenig zu«, ermunterte sie ihn. »Nur, wenn es Ihnen wirklich recht ist«, vergewisserte er sich noch einmal. Und als sie nickte, nahm er am Spieltisch Platz. Es wurde eine lange Nacht auf den schwanken­den Bohlen des ächzenden Schiffes. Irgendwann schlief Lady Emma in einem Sessel ein. Wirre Traumbilder verfolgten sie und als sie wieder zu sich kam, dämmerte im Osten bereits der erste verirrte Lichtschein über dem Horizont. Es dauerte eine Weile, bis die junge Lady begriff, dass der Sturm vorbei war. Die Battle Doar lief wieder in ruhigem Fahrwasser. Emma schaute sich um. Einige Gentlemen spielten noch immer Karten, andere waren ebenfalls in diversen Sitzgelegenheiten eingenickt.

Lady Emma erhob sich, streckte ihre verspannten Glieder und trat dann an das Bullauge, das endlich wieder einen freien Blick nach drau­ßen gewährte. Was sie dann sah, kam allerdings so unerwartet, dass sie zunächst zu keiner Reaktion in der Lage war. Wie gebannt starrte sie auf das fremde Schiff, das sich ihnen in zügiger Fahrt näherte und dessen blutrotes Hauptsegel vom Wind zu voller Größe aufgebläht wurde...

*

»Piraten!« Der schockierte Ruf Jeffry Waldhams ließ die Herren am Spieltisch auffahren und riss die Schlafenden zutiefst bestürzt aus der scheinbaren Sicherheit von Morpheus' Armen. Für ein paar Sekunden schien gar nichts zu geschehen, dann aber brach eine wilde Panik aus. Lady Emma warf dem jungen Mann, der neben sie getreten war, einen

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bösen Blick zu und zischte: »Musste das sein? Wollen Sie Ihre Mitrei­senden um jeden Preis ins Chaos stürzen?«

»Aber sehen Sie doch, das brandrote Segel, es ist Alvarez!«, rief der Sohn des Kaufmanns in höchster Erregung. Hektische Flecken er­schienen auf seiner blassen Haut und Emma wurde den Eindruck nicht los, dass der unscheinbare Junge seine naive Freude an der schnell näher kommenden Gefahr hatte. Duke Edmund griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich, ohne ein Wort zu sprechen. Seine markanten Züge waren angespannt, wie in Stein gemeißelt. Der junge Hochadlige war sich völlig klar darüber, was geschehen würde, wenn Emma in die Hände der Freibeuter fiel. Und er war fest entschlossen, ihr junges Leben bis zum letzten Atemzug zu verteidigen.

»Wohin gehen wir?«, wollte sie verwirrt wissen, denn so kalt ent­schlossen hatte sie den Jugendfreund noch nie erlebt.

»Zu Nanny. Sie bleiben unter Deck, ganz gleich, was geschieht. Ich werde Sie einschließen«, bestimmte er, doch sie sträubte sich. »Nein, das nicht! Wenn das Schiff sinkt...«

»Keine Zeit für Wenn und Aber«, schnappte er und nahm sie ein­fach auf den Arm. Seine sonst so ruhigen, steingrauen Augen blitzten sie leidenschaftlich an. »Ich werde nicht zulassen, dass Ihnen etwas geschieht, Emma!« Es klang wie ein Schwur und sie war von der In­tensität seiner Worte so seltsam berührt, dass sie schwieg und auch nicht mehr daran dachte, sich zu wehren.

Sie hatten die Kabine fast erreicht, als eine ungeheure Detonation die Battle Doar erschütterte. Das Schiff wurde um neunzig Grad ge­dreht, neigte sich zur Seite und schwenkte dann in wildem Tanz zurück in seine Ausgangsposition. Schreie, Knirschen von Holz und das Tohu­wabohu herum geschleuderter Gegenstände jeglicher nur denkbarer Art erfüllten die Luft mit einem infernalischen Schallgemisch. Lady Emma schlang ihre Arme fester um Edmunds Schultern, zum ersten Mal im Leben hatte sie Todesangst. Ihre Stimme vibrierte, als sie schrie: »Was war das?«

»Eine Kanone. Die Freibeuter scheinen sofort schweres Geschütz aufzufahren.« Die Worte des jungen Herzogs gingen fast im Donnern weiterer Kanonenschläge unter. Der Kapitän der Battle Doar hatte es

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nicht zum ersten Mal mit angreifenden Seeräubern zu tun. Und er war keineswegs gewillt, kampflos aufzugeben. Was sich innerhalb der nächsten halben Stunde vor den friedlichen Gestaden der Insel Sankt Helena mitten im atlantischen Ozean abspielte, glich einer Seeschlacht en miniature. Der mächtige und doch leicht zu manövrierende Segler des spanischen Freibeuters Juan Alvarez nahm den englischen Zwölf­master unter Dauerbeschuss. Mehrere Kanonenkugeln trafen den Rumpf des Schiffes, Panik brach unter Deck aus. Flüchtende Pas­sagiere wurden von einem abgeknickten Mast erschlagen. Pulverdampf lag schwer und schweflig in der Luft, als das Piratenschiff längsseits drehte und die ersten Enterhaken sich in die Bordwand bohrten.

Nun zeigte sich, dass der Kapitän alles andere als ein Feigling war. Er stellte sich dem Feind. Und schlug gleich mehrere Angreifer mit dem Degen im tödlichen Kampf. Lady Emma, Edmund und die zittern-de Nanny, die halb ohnmächtig vor Angst war, hatten ebenfalls das Deck betreten. Keinen der Passagiere hielt es mehr in den Kabinen, dort unten stand das Wasser knöcheltief, in Panik umgestoßene Petro­leumlampen hatten kleine Feuer entzündet. Stinkender Rauch drang durch die Luken und vermischte sich mit dem Pulverdampf aus Muske­ten, die von den Piraten und ihren Gegnern unablässig abgefeuert wurden. Duke Edmund streckte mehrere Eindringlinge mit der Waffe nieder, als sie sich ihnen zu sehr näherten. Jedes Mal schrie die alte Ruby Clark gemartert auf und auch Lady Emma wandte sich ab. Die rohe Gewalt, die sie zum ersten Mal im Leben so plastisch erfuhr, machte einen verheerenden Eindruck auf ihre feinfühlige Seele.

»Danby, halten Sie mir den Rücken frei«, keuchte Sir Thomas Waldham plötzlich neben ihnen. Nanny stieß einen spitzen Schrei aus, als der beleibte Kaufmann seinen Dolch in den Magen eines dürren, einäugigen Piraten stieß. »Jeffry ist noch unten, er...« Sir Thomas kam nicht dazu, weiter zu sprechen, denn im nächsten Moment streckte ihn ein Säbelhieb von hinten nieder. Das war für Ruby Clark endgültig zu­viel. Mit einem erstickten Seufzer wurde sie ohnmächtig. Lady Emma fing die alte Nanny auf und bettete sie, so gut es ging, neben sich auf den Boden. Sie verzichtete darauf, ihr Riechsalz zu suchen. Besser,

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Ruby blieb so lange wie möglich ohne Bewusstsein, um dem namenlo­sen Grauen auf der Battle Doar zu entfliehen...

Der junge Herzog blickte sich hektisch um. »Wo sind die Ret­tungsboote? Sie müssen das Schiff sofort verlassen, Emma«, rief er ihr zu. Doch sie schüttelte vehement den Kopf. »Es hat keinen Sinn, die Piraten sind überall«, widersprach sie ihm.

Jeffry Waldham trat nun aus der Luke, er starrte ungläubig auf den toten Körper seines Vaters. Sein blasses Gesicht verzog sich in unbändigem Schmerz. Und dann ging ein Ruck durch seinen ganzen Körper, der nichts Gutes erahnen ließ. Mit zitternden Händen griff er nach dem Dolch, der neben dem toten Sir Thomas lag. Emma rief: »Nein, tun Sie das nicht, es hat ja keinen Sinn!«

In diesem Moment sprang Juan Alvarez an Bord der Battle Doar. Für ein paar Augenblicke schien ein Raunen durch die Masse der Kämpfenden und Sterbenden zu gehen. Alvarez war nicht nur ir­gendein Pirat, er war längst eine Legende. Der König der Freibeuter, ungebunden an Gesetz und Recht beherrschte er seit Jahren die Mee­re, zog mordend, plündernd und brandschatzend durch die Welt, nahm sich, was ihm gefiel und vernichtete gnadenlos, was gegen ihn stand. Hoch gewachsen und wie stets ganz in Schwarz gewandet stand er auf der Brücke und blickte sich nur einen Augenblick lang um, bis er wuss­te, wo sein Gegner zu finden war. Natürlich kämpfte Alvarez nur gegen den Kapitän. Und es sollte ein Kampf auf Leben und Tod werden, das sagten die dunklen Augen des Spaniers dem drahtigen Engländer, der den Säbel ebenso schnell wie elegant zu führen vermochte. Als Alvarez einen Schritt nach vorne machte, fing der kalte Stahl seines Säbels einen verirrten Sonnenstrahl ein, dessen Reflex wie ein flüchtiger Blitz über die schmale Gestalt Lady Emmas lief. Die junge Lady zuckte leicht zusammen, denn der Blick des Spaniers folgte diesem Reflex. Das kan­tige, sonnenverbrannte Gesicht erschien ihr ebenso angsteinflößend wie faszinierend.

Das Herz schlug ihr im Hals und sie spürte, wie ein seltsamer Schwindel von ihr Besitz ergriff. Doch da war der Augenblick bereits vorbei. Und Alvarez griff den Kapitän an.

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Picard wich der ersten Attacke geschickt aus. Mit einem Ausfall­schritt brachte er sich außer Reichweite der tödlichen Säbelspitze, die mit einem sirrenden Laut durch die Luft tanzte. Sofort setzte Alvarez nach. Der Kampf begann. Rings um die beiden ungleichen Männer her senkte sich eine bleierne Stille. Alle Anwesenden wussten, dass hier ihr zukünftiges Schicksal geformt wurde. Mit eleganten, ge­dankenschnellen Hieben umkreisten die Kämpfer sich, einer dem ande­ren ebenbürtig, wenn auch von völlig anders geartetem Temperament. Der Kapitän ein Taktiker, eiskalt kalkulierend teilte er seine Kräfte ein, wusste Schlappen wegzustecken und Vorteile zu nutzen. Alvarez kraft­voll und ausdauernd wie ein junger Stier, geschmeidig, klug bis zur Hinterlist. Und doch vom Gefühl her bestimmt, in dem Hass, Jähzorn und Gewalt die erste Geige spielten.

»Emma, die Rettungsboote...« flüsterte Duke Edmund der jungen Lady in einem letzten Versuch, sie vor all dem hier zu bewahren, zu. Doch sie hörte seine Worte gar nicht. Fasziniert, wie gebannt beobach­tete sie das Schauspiel, das sich ihren Augen bot und konnte nicht sagen, wann und ob sie jemals so seltsam gefangen gewesen war in einem unsichtbaren Käfig aus sich dermaßen widersprechenden Emo­tionen. Sie wusste, was hier geschah, was auf dem Spiel stand. Und dass der Tod des Kapitäns vielleicht ihrer aller Leben kosten würde. Und doch - sie vermochte einfach nicht, sich aus diesem abgründigen Zauber zu lösen.

Jeffry Waldham stand neben Emma, den Dolch des Vaters noch immer in der Hand. Auch er verfolgte das Geschehen, doch in seinem Herzen herrschte nur ein Wunsch: Den Gesetzlosen zu töten, sich zu rächen für das, was man seinem Vater angetan hatte. Dabei kam ihm gar nicht in den Sinn, wie unmöglich dieser Wunsch war. Alvarez kämpfte wie ein Besessener, zugleich blieben all seine Bewegungen leicht und beinahe spielerisch. Immer weiter trieb er den Kapitän in die Enge, dem er an Jugend und Kraft überlegen war. Picard wehrte sich tapfer. Doch das absehbare Ende dieses ungleichen Kampfes rückte gnadenlos näher. Alvarez verletzte den Kapitän am Arm, Blut netzte das weiße Hemd des Seemanns rot, ein gequältes Stöhnen ging durch die Passagiere, die mit blassen, versteinerten Gesichtern dem dramati­

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schen Geschehen folgten. Die Wunde am Arm machte es dem Kapitän zunehmend schwer, den Säbel zu führen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, mit zusammengebissenen Zähnen bot er dem Seeräuber Paroli. Doch sein Widerstand wurde geringer. Wieder sauste der Säbel des Gesetzlosen nieder und traf das rechte Bein des Kapitäns. Dieser schrie auf, wollte zurückweichen, doch die Verletzung behinderte ihn zu stark. Und im nächsten, schrecklichen Moment hob Alvarez seine Waffe zum tödlichen Stoß. Lady Emma schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Der seltsame Zauber, der sie bis eben noch ergriffen hatte, war fort, ernüchtert und zu Tode erschrocken begriff sie, dass mit dem Ende dieses Kampfes auch ihr Schicksal besiegelt war. Tränen ström­ten aus ihren Augen und sie hatte Mühe, ihre Fassung wiederzuerlan­gen. Das triumphierende Geschrei der Piraten verriet ihr, dass alles vorbei war. Doch nicht ganz. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie Jeffry Waldham, der mit gezücktem Dolch auf Alvarez zustürmte. Emma rief Edmund zu: »Bitte, halten Sie ihn zurück, er macht sich nur unglücklich...«

Doch es war zu spät. Noch ehe der junge Duke eingreifen konnte, wurde er von zwei baumlangen Mulatten gepackt und von Emma fort­gezerrt. Jeffry Waldham hatte den Piratenkönig erreicht. Mit einem verzweifelten Schrei wollte er sich auf diesen stürzen, hatte jedoch nicht mit dem Reaktionsvermögen seines Gegners gerechnet. Dieser wirbelte blitzschnell herum, der erhobene Dolch, der seinen Rücken hatte durchbohren sollen, streifte nur seinen Arm. Und im nächsten Augenblick drang sein Säbel bereits in das Herz des ungleichen Geg­ners. Alvarez lachte abfällig, dann irrte sein Blick durch die Menge und er schrie: »Dieses Schiff und alles, was sich darauf befindet, gehört jetzt mir. Tut, was euch befohlen wird, dann könnt ihr leben. Wer sich mir widersetzt, teilt das Schicksal des Kapitäns.« Verächtlich versetzte er dem Toten einen Tritt und sprang dann von der Brücke, um die überlebenden Passagiere zu begutachten. Die meisten waren so ent­setzt, dass sie keinerlei Widerstand mehr leisteten. Alvarez sammelte Schmuck und Geld ein, griff hier nach einer Taschenuhr, stahl dort einen kostbaren Siegelring. Niemand widersetzte sich ihm, der kalte Hauch des Todes schien den Gesetzlosen zu umgeben wie ein dunkler

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Mantel, der dafür sorgte, dass jeder in seiner Nähe von einem namen­losen Grauen ergriffen wurde. Duke Edmund wurde noch immer von den Mulatten gehalten, als Alvarez sich ihm näherte. Auf einen Wink des Piraten hin ließen die Kerle ihn los. Sofort trat er schützend vor Lady Emma, die sich mittlerweile gefangen hatte. Ihre Tränen waren getrocknet. Kalt und verächtlich erwiderte sie den Blick des Spaniers, stolz stand sie vor ihm, unberührbar wie es schien. Alvarez musterte ihren Beschützer eine Weile wortlos. Es schien so, als überlege er, ob er Edmund gleich töten oder lieber zum Kampf herausfordern solle. »Du, Engländer!« Er schmunzelte abfällig. »Dein Geld!« Edmund rea­gierte nicht. Er machte auch keine Anstalten, sich zu wehren. Alvarez versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. »Bist du taub?«

»Bitte, Edmund, geben Sie ihm das Geld«, murmelte Lady Emma. »Das hat doch keinen Sinn.«

»Eine kluge Lady.« Der Seeräuber schnippte mit dem Finger, wor­aufhin die Mulatten den jungen Duke fortzerrten. Er wehrte sich ver­bissen, doch die beiden Muskelpakete kannten keine Gnade. »Wie ist dein Name, schönes Kind?«, fragte Alvarez und trat einen Schritt nä­her. Seine schmale, kraftvolle Hand glitt um Emmas Hals. Diese zeigte keine Regung, obwohl ihr Herz zum Zerspringen klopfte. Nie zuvor hatte sie sich dem Tod so nah gewusst wie in diesem Moment. Doch ihr Stolz verhinderte es, dass sie nachgab. Sie schwieg und bewahrte Haltung. Erst als Alvarez das Medaillon zu fassen bekam, befreite sie sich mit einem Ruck von seinem Griff und fuhr ihn an: »Wagen Sie das nicht!«

Es zuckte beinahe unmerklich um seinen schmalen Mund und für ein paar Sekunden lag eine greifbare Spannung in der Luft. Nie zuvor hatte jemand den Mut aufgebracht, sich dem Gesetzlosen so offen entgegenzustellen. Alvarez starrte Lady Emma zwingend an. Sie ahnte, dass er unsicher wurde, zudem etwas tun musste, um sich vor seinen Spießgesellen keine Blöße zu geben. Doch sie war bereit, sich ihm wei­terhin zu widersetzen. Wenn sie schon sterben musste, dann mit Stolz und Würde!

»Respekt«, murmelte Alvarez schließlich und lächelte spöttisch. Dann wandte er sich an seine Männer: »Nehmt alles von Wert mit.

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Wer unversehrt ist, wird für uns arbeiten. Dann versenken wir das Schiff!« Es waren Befehle, die den Piraten gefielen, denn sie gingen johlend und voller Elan ans Werk. Lady Emma wollte sich abwenden, um nach Ruby Clark zu sehen, doch Alvarez hatte andere Pläne. Er packte sie um die schmale Taille und grinste dabei siegessicher. »Du kommst mit mir, mein Täubchen.«

»Lassen Sie mich sofort los. Sie Schwein!«, schimpfte sie und wehrte sich wie eine Raubkatze. Doch der Seeräuber lachte nur. Sein Griff wurde noch fester, ohne Rücksicht schleppte er die Widerstre­bende auf sein Schiff. Emma kämpfte um ihr Leben, doch sie hatte keine Chance gegen den Mann, der viel größer und stärker war als sie. Er öffnete eine kleine Luke und warf sie wie einen Sack Kartoffeln nach unten. Über ihre entsetzten Schreie lachte er nur und rief ihr nach: »Du gehörst jetzt mir, meine Schöne! Gewöhne dich besser daran.« Die Luke wurde mit einem Knall zugetreten.

Lady Emma blieb eine Weile benommen liegen. Was sie erlebt hatte, war einfach zuviel gewesen. Noch vor wenigen Stunden hatte sie im Aufenthaltszimmer der Battle Doar in einem Sessel friedlich ge­schlummert. Und dann, urplötzlich, hatte sie mit ansehen müssen, wie ihr Schiff beschossen und geentert wurde, wie Menschen, die sie kann­te, starben und der Kapitän eiskalt ermordet worden war. Ein zittriger Seufzer entrang sich ihrer Brust. Doch sie ließ keine Tränen zu. Alvarez konnte jederzeit zurückkehren und ihm wollte sie nicht anders als stolz und unbeugsam begegnen!

Unter einigen Mühen erhob die Lady sich und schaute sich um. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich in einem luxuriös ausgestatteten Raum aufhielt. Es musste die Kajüte des Kapitäns sein, nach all dem Prunk zu urteilen, der sie umgab. Schwere Teppiche aus Indien be­deckten den Boden, an den Wänden fanden sich Seidentapeten und Spannvorhänge aus Brokat. Messingleuchter mit bunten Glasschirmen streuten ein diffuses Licht über die schweren Möbel aus Mahagoni. Ein wuchtiger Tisch war ganz mit Seekarten und Papieren bedeckt, die ein Sextant aus Messing krönte. Auf einem reich verzierten Silbertablett fanden sich neben einer kompletten silbernen Teegarnitur hauchdün­ne, geschliffene Sherrygläser und eine passende Karaffe. Lady Emma

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fragte sich, woher wohl all diese Schätze stammten. Und ob an ihnen wohl Blut klebte... Sie zuckte zusammen, als eine ungeheure Explosion alle übrigen Geräusche ringsum übertönte.

Erschrocken eilte Emma zu einem der Bullaugen, schob den Vor­hang, der es verdeckte, zur Seite und sah, wie die Battle Doar gur­gelnd in den Tiefen des Atlantik versank. In diesem schrecklichen Mo­ment erschien es der jungen Lady so, als ende mit dem Untergang des Schiffes auch ihr Leben...

*

Edmund Duke of Danby schaute sich suchend um. Doch so sehr er auch Ausschau hielt, Lady Emma konnte er unter den Gefangenen nicht entdecken. Sein liebendes Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ihm bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte: Entweder war sie bei den Kämpfen umgekommen, oder Alvarez hatte sie in seiner Ge­walt. Edmund konnte nicht behaupten, dass ihm eine dieser beiden Möglichkeiten weniger schrecklich erschien als die andere. Das Schlimmste aber war für den jungen Herzog, dass er in diesem dunk­len stinkenden Raum unter Deck des Piratenschiffs gefangen war, zu­sammengepfercht mit den anderen Überlebenden wie eine Herde Schafe, die auf den Schlachter wartete. Die Untätigkeit, zu der er ver­dammt war, setzte ihm schwer zu. Und der Gedanke, dass dieser Hund Alvarez nun mit Emma allein war, brachte ihn fast um den Verstand. Mit einem gequälten Stöhnen kehrte er zu Ruby Clark zurück, die in einer Ecke kauerte und kaum Luft bekam. Sie litt unter den Nachwir­kungen des Erlebten, hatte einen schlimmen Schock erlitten. Und Ed­mund wusste nicht, wie er sie trösten oder beruhigen sollte.

»Miss Emma«, murmelte sie mit einer Stimme, die brüchig wie Glas war. »Liebe Miss Emma, was haben Sie ihr angetan, was nur...«

»Es geht ihr ganz sicher gut«, versuchte Edmund, die Alte ein we­nig aufzumuntern. »Sie ist nicht hier unten und das bedeutet auf jeden Fall, dass sie weniger zu leiden hat als wir.«

»Wirklich?« Die Nanny richtete ihren trüb gewordenen Blick wie hilflos auf den jungen Mann. »Ach, wenn sie doch niemals auf die Idee

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verfallen wäre, diese schreckliche Reise zu machen. Schon als wir das Schiff betreten haben, wusste ich, dass etwas Schlimmes geschehen würde...«

»Seien Sie doch still«, mischte sich ein Mann in mittleren Jahren, der neben ihnen saß, unleidlich ein. »Als ob es hier unten nicht schon unangenehm genug wäre. Dieses Gejammer ist ja nicht auszuhalten!«

Noch ehe Edmund den Mann zurechtweisen konnte, wurde die obere Luke aufgerissen, ein greller Streifen Tageslicht fiel in den Dämmer und eine raue Männerstimme befahl: »Zwei Mann raus zum Essen verteilen! Aber ein bisschen schnell!«

Ohne lange nachzudenken trat der Duke vor. Er hoffte, dass sich ihm die Gelegenheit bot, Emma zu sehen. Selbst wenn sie in Ge­sellschaft dieses Alvarez war... Der Pirat ließ eine Strickleiter nach un­ten, über die Edmund und ein zweiter junger Mann nach oben kletter­ten. Ein dritter Reisender, beleibt und nicht mehr ganz jung, versuchte ebenfalls sein Glück. Der Seeräuber, ein kleiner drahtiger Kerl mit oli­vebrauner Haut und rabenschwarzem Haar, ließ ihn bis auf halbe Höhe kommen, dann riss er die Leiter nach oben und lachte meckernd, als der Passagier mit einem Schmerzensschrei auf dem Boden landete. Kaum eine Sekunde später wurde die Luke wieder zugeknallt, die Ge­fangenen blieben im stickigen Dämmer zurück.

Der Duke musste blinzeln, denn er war nicht mehr an das helle Tageslicht gewöhnt. Als sich seine Augen angepasst hatten, schaute er sich unauffällig um. Allerdings blieb ihm dazu nicht viel Zeit, denn der Pirat trieb sie mit groben Stößen nach vorne, Richtung Kombüse. Der zweite Gefangene machte plötzlich einen Ausfallschritt und tauchte seitlich weg. Edmund fragte sich, was er damit bezweckte. Doch der junge Mann schien nur eines im Kopf zu haben: Flucht. Ohne nachzu­denken sprang er über Bord. Der Pirat rannte zur Reling, warf einen kurzen Blick nach unten und stieß dann einen Fluch in einer fremdlän­dischen Sprache aus. Als sei nichts geschehen, fuhr er den jungen Herzog an: »Na los, bist du da festgewachsen? Ab in die Kombüse!«

»Aber was geschieht denn mit ihm?« Edmund deutete aufs Meer. »Wollen Sie ihn nicht rausholen?«

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Der Angesprochene winkte ab. »Den fressen die Fische, die lassen uns nichts mehr übrig, was wir gebrauchen könnten.« Wieder dieses meckernde Lachen. Dann erhielt Edmund einen Stoß und torkelte durch eine Schwingtür in die Küche. Der Koch war ein fetter Kerl mit Glatze und Ziegenbart. Er schwitzte dermaßen, dass sein Hemd völlig durchgeweicht war. Was er zubereitet hatte, sah allerdings wider Er­warten recht appetitlich aus.

»Nimm das und bring es dem Kapitän«, wies er Edmund knapp an. »Aber lass es nicht fallen, sonst...« Er hob ein Hackmesser an, an dem noch Blut klebte. Die Botschaft war eindeutig und der junge Hochadlige fügte sich fürs Erste in seine Rolle als Steward. Er trug ein ausladendes Tablett zu der Kajüte unterhalb der Brücke, vor der aller­dings die beiden kräftigen Mulatten Wache hielten. Einer machte gleich Anstalten, Edmund anzugreifen, aber der Zweite stoppte ihn durch ein paar knappe Worte in einer Sprache, die der junge Mann nicht verstand. Dann war der Weg frei und der Duke konnte die Kajüte be­treten.

Wie vor ihm schon Lady Emma so wunderte auch Edmund sich über die kultivierte Einrichtung des Raums, der aber zu seiner Enttäu­schung leer war. Er stellte das Tablett ab und beugte sich über die Seekarten, als Alvarez vom anderen Ende des Raums her feststellte: »Neues Personal, wie amüsant.«

Duke Edmund fuhr herum und musterte den Piraten abschätzig. Er hatte sich umgekleidet, trug nun die perfekte Kleidung eines galanten Gentlemans, vom Zweispitz bis zu den Schnallenschuhen. Der hochge­schlossene Rock war schwarz, doch so reich mit Gobelinstickereien verziert, dass man ihn durchaus bei einem Empfang im Königshaus hätte tragen können, ohne negativ aufzufallen. Hier, auf hoher See, in­mitten von barbarischen Mördern und Räubern empfand Duke Danby diese Aufmachung allerdings nur als lächerlich und unpassend.

»Nun, mein Lieber, wie gefällt es Ihnen auf meinem Schiff?«, fragte Alvarez freundlich, doch ein deutlich lauernder Ton in seiner Stimme verriet, dass er durchaus nicht so entspannt war, wie er vor­gab. »War es nicht großzügig von mir. Sie am Leben zu lassen, engli­scher Köter?«

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Es zuckte kaum merklich um Edmunds Mund, dann erwiderte er gelassen: »Sie können mich nicht beleidigen, Sir. Denn Sie sind ge­wiss, trotz Ihrer degoutanten Aufmachung, kein Gentleman. Wo hält sich Lady Emma auf? Ich will sie sehen!«

Alvarez legte den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft, wobei er zwei Reihen starker, perlweißer Zähne entblößte. Dann schlenderte er zu dem jungen Adligen, legte ihm eine Hand auf die Schulter und stellte fest: »Sie haben Schneid, mein Guter. Aber...« Sein Mienenspiel änderte sich schlagartig. Und während in seine dunklen Augen ein böses Funkeln trat, spürte Edmund einen doppelseitig geschliffenen Dolch an seinem Hals. »... dies ist eine Eigenschaft, die ich nur bei meinen Männern dulde, nicht bei meinen Gefangenen. Wenn Sie also überleben wollen, seien Sie auf der Hut und reißen Sie Ihr Maul nicht zu weit auf, sonst...« Er verstärkte den Druck seiner Hand nur ein we­nig, Edmund spürte, wie Blut seinen Hemdkragen netzte. Er schwieg und erwiderte den Blick des Piratenkönigs kalt. Dieser überlegte offen­sichtlich, was er tun sollte, denn er murmelte: »Sie entgehen für heute schon zum zweiten Mal dem Tod, Danby. Strapazieren Sie Ihr Glück lieber nicht noch ein drittes Mal. Und nun verschwinden Sie. Aber schnell, bevor ich es mir anders überlege...«

Der Hochadlige zögerte, er wollte nicht weichen, bevor er sicher sein konnte, dass Lady Emma am Leben und gesund war. Doch er hatte Alvarez auch nichts entgegenzusetzen, unbewaffnet wie er war. Als dieser noch einmal den Dolch hob, erklang von der Tür her Emmas erschrockene Stimme: »Nein, bitte, tun Sie ihm nichts, lassen Sie ihn gehen!«

Die beiden unterschiedlichen Männer fuhren herum, Edmund at­mete erleichtert auf, als Emma ihm verhalten zulächelte. Alvarez schien die Anwesenheit des Duke of Danby völlig vergessen zu haben. Er trat auf die junge Lady zu, reichte ihr galant den Arm und bat: »Geben Sie mir die Ehre, mit mir zu essen, Mylady. Ich bitte wirklich sehr darum.« Emma zögerte kurz, dann legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Edmund wollte eingreifen, aber ein Blick aus Emmas Augen warnte ihn davor, unvernünftig zu sein. Sie schien dieses unwürdige Spiel mitmachen zu wollen, bis sich die Gelegenheit zur Flucht bot.

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Und der Duke musste ihr wieder einmal zugestehen, dass sie die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte - leider.

»Verschwinden Sie, Danby«, zischte Alvarez ihm zu, während er Lady Emma den Stuhl rückte. Mit der veränderten Kleidung schien er für kurze Zeit auch seine Identität abgelegt zu haben, denn er benahm sich seinem Gast gegenüber wie ein perfekter Gentleman. Emma war­tete, bis Edmund den Raum verlassen hatte, dann warf sie ihrem Ge­genüber einen spöttischen Blick zu und fragte: »Und wer soll auf­tragen? Oder möchten Sie das vielleicht selbst tun?« Sie musterte ihn so blasiert, dass er versucht war, das Essen mit einem kräftigen Schlag vom Tisch zu fegen, das las sie deutlich in seinen Augen. Doch das kleine ironische Lächeln, das sich bei dieser Feststellung um ihre Mundwinkel legte, kühlte das auffahrende Feuer des Jähzorns, das diesen Mann so augenscheinlich beherrschte, abrupt ab.

»Wir befinden uns hier an Bord eines Schiffes auf hoher See«, er­innerte er sie langmütig. »Da können Sie nicht den gleichen Service wie daheim in Ihrem Schloss erwarten, Lady Emma.«

»Was wissen Sie schon von dem Platz, wo ich lebe. Sie haben nicht den Hauch einer Ahnung, selbst wenn Sie den königlichen Palast ausrauben würden und alles in Ihr verdammtes Schiff stopfen, um...« Sie verstummte, denn nun war es um seine Beherrschung geschehen. Er sprang auf, packte sie bei den Armen und herrschte sie an: »Seien Sie still! Wofür halten Sie sich eigentlich? Sie verdanken es nur meiner Nachsicht, dass Sie überhaupt noch am Leben sind! Ich könnte Sie auf der Stelle töten, niemand wird mich daran hindern. Oder bilden Sie sich vielleicht ein, dass Ihr mickriger Freund gegen mich eine Chance hätte? Gegen Alvarez, den König der Meere?!« Er starrte ihr so zornig und zugleich leidenschaftlich in die Augen, dass es Emma schwindelte. Doch sie besaß einen eisernen Willen und der half ihr, nicht nachzuge­ben. Ebenso kühl wie gerade eben entgegnete sie: »Töten Sie mich doch. Was macht es noch für einen Unterschied? An Ihrem Säbel klebt schon soviel Blut. Und mir wäre es eine Freude zu sterben, wenn mich das von Ihrer Gesellschaft befreit!«

Für ein paar Sekunden mischte sich unendliche Verblüffung in sei­nen Blick. Dann ließ er sie los, wandte sich ab und atmete tief durch.

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Als er sich wieder auf seinen Platz setzte, wirkte er nach außen hin völlig ruhig, doch das unstete Feuer, das noch immer in seinen Augen brannte, widersprach dieser aufgezwungenen äußeren Haltung.

»Sie sollten essen, bevor es kalt wird«, riet er ihr betont gelassen und musterte sie mit einem schwer zu verstehenden Blick. »Wir kön­nen unsere kleine Unterhaltung auch später noch weiterführen...«

*

Lord Geoffry Saintsbury blickte irritiert von seinen Papieren auf, als die Zimmertür geöffnet wurde, ohne dass zuvor angeklopft worden war. Seine fragende Miene verdüsterte sich um eine Spur und er knirschte: »Elisabeth, was willst du? Ich habe zu tun.«

Lady Montfort lächelte abfällig. »Rede keinen Unsinn. Oder tust du zur Abwechslung tatsächlich mal etwas Sinnvolles und sortierst deine offenen Rechnungen?«

Der junge Rechtsanwalt räusperte sich ungehalten. »Es ist durch­aus nicht nötig, dass du mich ständig an meine prekäre Lage erinnerst. Ich weiß, wie es um mich steht und...«

»Sei still und hör mir zu«, unterbrach sie ihn herrisch. Die Lady trug an diesem sonnigen Frühlingsmorgen ein lindgrünes Kleid, das ihr glänzendes, kastanienbraunes Haar sehr vorteilhaft zur Geltung brach­te. Während sie sprach, setzte sie zierliche Schritte zwischen dem Schreibtisch ihres Bruders und dem großen bleiverglasten Fenster, durch das die Morgensonne flirrendes Gold schickte. »Du wirst mir nämlich gleich sehr dankbar sein, dass ich darauf bestanden habe, nach Saintsbury-Hall zurückzukehren. Vater geht es schlecht. Der Arzt war eben bei ihm. Und wie es scheint, geht seine Zeit unwiderruflich zu Ende.« Sie lächelte bei diesen Worten so heiter, als habe sie gerade eine sehr angenehme Nachricht erhalten. »Deshalb möchte ich, dass du heute mit ihm sprichst. Wegen des Testaments.«

»Aber, Elli, das haben wir doch schon getan. Und du weißt, dass Vater nicht mit sich reden lässt«, warf er zögernd ein.

»Ach, du Schwachkopf!« Die Lady schien allmählich die Geduld zu verlieren. Seit Wochen hielten sie sich nun in Saintsbury-Hall auf und

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noch immer hatte Geoffry nicht wirklich verstanden, worauf es ankam, um ihnen das Erbe zu sichern. »Ich werde natürlich bei dem Gespräch dabei sein. Und ich werde dem Alten einiges erzählen, was ihm nicht gefallen wird. Danach sprichst du das Testament an, verstanden? Oh, ich hoffe, dass du wenigstens einmal im Leben dazu in der Lage sein wirst, das Richtige zu tun!«

»Sei nicht unfair, Elli, ich tue doch immer, was du willst«, erin­nerte er sie devot.

»Also schön. Hoffen wir einfach, dass alles gut gehen wird. Und nun komm.« Als sie gleich darauf die Zimmer des alten Earls betraten, war dieser in einen leichten Schlaf verfallen. Seit Lady Emmas Abreise waren einige Wochen vergangen, in denen es dem alten Herren zu­nehmend schlechter gegangen war. Und der ständige Besuch seiner Kinder trug auch nicht eben zu einer Besserung seines Zustandes bei. Der Earl hoffte jeden Tag auf einen Brief von Emma. Und wenn er dann enttäuscht wurde, verstärkte sich seine Sorge um das geliebte Kind, das er fern von daheim und umgeben von tausenderlei Gefahren wähnte.

Als der Schlossherr nun die Augen aufschlug, lächelte Elisabeth ihm salbungsvoll zu. »Wie geht es dir, Vater? Fühlst du dich ein wenig besser?«, fragte sie scheinbar sehr mitfühlend. Doch der alte Earl glaubte, deutlich die falschen Töne aus ihrer Stimme herauszuhören.

»Es geht.« Er warf seinem Sohn einen knappen Blick zu. »Was wollt ihr beide hier? Der Arzt hat mir Ruhe verordnet. Oder... ist etwa ein Brief von Emma gekommen?« In seine müden Augen trat ein le­bendiger Glanz, der in Geoffry sofort Neid weckte. Wenn der Alte nur an seine Lieblingstochter dachte, wurde er wieder ganz munter. Der Anblick seines Sohnes allerdings nötigte ihm nicht mal ein müdes Lä­cheln ab...

Lady Elisabeth schien das nicht zu scheren. Sie erwiderte vor­sichtig: »Es ist kein Brief, aber eine Nachricht. Möchtest du sie erfah­ren? Aber, bitte, lieber Vater, du musst mir versprechen, dich nicht zu sehr aufzuregen, hörst du? Dein Herz...«

»Papperlapapp! Los, raus mit der Sprache. Wie geht es Emma, wo ist sie? Ich möchte alles wissen!«

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»Also schön. Ein Seemann, der auf der Battle Doar angeheuert hatte, jenem Schiff, mit dem die drei reisen, ist kürzlich hier auf­getaucht. Er hat berichtet, dass Emma das Schiff in Frankreich verlas­sen hat. Sie hatte wohl nie die Absicht, wirklich nach Indien zu reisen. Und er hörte, wie sie von einem Mann sprach, den sie dort treffen wol­le.«

»Von einem Mann? Ich verstehe nicht...« Misstrauen drückte sich in dem Blick aus, mit dem der alte Earl seine Tochter maß. »Bitte drü­cke dich ein wenig genauer aus, Elisabeth.«

»Wir glaubten zuerst, es handele sich um einen Witz, den der Seemann sich mit uns erlaubt hat«, fuhr sie bekümmert fort. »Denn schließlich verlangte er eine ansehnliche Summe für seine Geschichte. Aber dann nannte er uns den Namen des Mannes, den Emma in Frankreich treffen wollte. Und da wussten wir, dass er nicht log. Der Name des Mannes ist Henry Parks, Vater. Emma ist fort gegangen, um mit ihrem Mann in Frankreich zu leben. Die Reise war nur eine Finte. Sie hat uns alle getäuscht und wohl geglaubt, dass sie ihre Spuren gut verwischt hätte. Sie ist fort und sie wird nie wiederkommen.«

Der alte Earl hatte seiner Tochter mit wachsendem Unmut zu­gehört, nun fragte er ungläubig: »Sie hat uns angelogen? Das glaube ich nicht. Ich kenne Emma gut genug, um zu wissen, dass sie niemals so hinterhältig handeln würde. Etwas anderes muss dahinter stecken! Ich wünsche, dass ihr es herausfindet. Bringt mir meine Tochter heim.«

»Vater, bitte...« Elisabeth warf ihrem Bruder einen hilfesuchenden Blick zu, dieser trat neben das Bett des Alten und versicherte: »Elli hat dir die Wahrheit gesagt, Vater. Emma hat schon lange heimlich nach Parks gesucht. Nachdem wir erfahren haben, was geschehen ist, sa­hen wir uns im Gärtnerhaus um und fanden Rechnungen von Privatde­tektiven. Sie ist tatsächlich nur fort, um diesen... Gärtner wieder zu ­sehen. Sie ist ihm nachgelaufen, schlimm genug. Doch dass sie dich so einfach im Stich lassen konnte, das ist nicht zu verzeihen.«

Der Earl sackte sichtlich in sich zusammen. Noch immer weigerte sich sein liebendes Herz, die bösen Lügen zu glauben, die seine beiden Kinder ihm so geschickt und hinterhältig einflüsterten. Doch allein die

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Vorstellung, seine Emma nie wieder zu sehen, nagte an seinem In­nersten und sorgte dafür, dass sich sein Zustand noch weiter ver­schlechterte.

»Vater, bitte hör zu. Wir müssen über das Testament sprechen«, setzte Sir Geoffry an. »Du kannst nicht wollen, dass unser Stammsitz an eine verantwortungslose Person fällt, die...«

»Geht und lasst mich allein!«, unterbrach James of Saintsbury sei­nen Sohn harsch. Seine Stimme zitterte, doch sein Blick war entschlos­sen und kalt. »Ich möchte jetzt allein sein.«

»Ja, ruh dich ein wenig aus, Vater«, säuselte Lady Elisabeth mit falscher Sorgsamkeit. »Wir sehen später wieder nach dir.«

Der Kranke wollte widersprechen, denn er hatte nicht das gerings­te Verlangen danach, seine Kinder an diesem Tag noch einmal zu Ge­sicht zu bekommen. Doch er ahnte, dass dies wenig Sinn gehabt hät­te. Sie taten ja doch, was sie wollten...

»Du hast dich wieder einmal selten dämlich angestellt«, warf die Lady ihrem Bruder erbost vor, nachdem sie das Zimmer verlassen hat­ten.

»Aber ich...« »Sei still. Wir haben nichts erreicht, obwohl ich mir alles wun­

derbar zurechtgelegt hatte. Und die Zeit läuft uns davon.« »Aber steht es denn so schlecht um ihn?« »Bist du blind? Er wird noch sterben, bevor er das Testament ge­

ändert hat. Und dann sind wir die Verlierer.« »Aber das macht doch eigentlich nichts aus. Ich meine, wenn

Emma nicht von ihrer Reise zurückkehrt, dann wird uns sowieso alles zufallen. Wir brauchen nur abzuwarten...«

Lady Elisabeth musterte ihren Bruder nachdenklich. Schließlich lä­chelte sie schmal und stellte fest: »Manchmal bist du gar nicht so dumm, mein Lieber. Wer weiß, vielleicht geschieht sogar noch ein Wunder und du hast recht«. Ihr Blick wurde abfällig. »Allerdings möchte ich es nicht darauf ankommen lassen. Ich werde überlegen, was zu tun ist, um auf Nummer Sicher zu gehen. Und dieses Mal rede ich allein mit Vater!«

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*

In den nun folgenden Tagen hatte Lady Emma kaum Gelegenheit, mit Edmund zu sprechen oder Ruby Clark auch nur zu sehen. Alvarez ach­tete darauf, dass sie stets in seiner Nähe blieb. Manchmal hatte sie beinahe den Eindruck, als ob er sie eifersüchtig bewachen würde. Die junge Lady wurde aus diesem mysteriösen Mann nicht klug. Auf der einen Seite war er ein Gesetzloser, ein skrupelloser Räuber und Mör­der, dem ein Leben nichts galt. Doch auf der anderen Seite war er überaus bemüht, einen guten Eindruck auf sie zu machen. Er legte Manieren an den Tag, wenn sie allein waren und kam ihr nie zu nah. Dieses Verhalten irritierte Emma, denn sie hatte nichts anderes als Rücksichtslosigkeit und Gewalt von ihm erwartet. Doch er schien auch durchaus eine weiche, sensible Seite zu besitzen, die sie ihm niemals zugetraut hätte...

Der Piratensegler hatte in der Zwischenzeit das Kap umrundet und steuerte Madagaskar an. Wie es schien, war Alvarez' Ziel ebenfalls Indien. Doch was er dort suchte, verriet er Lady Emma nicht. »Wir werden sehen, wie es in Bangalur weitergeht«, war alles, was er an­deutete. Zudem spürte die junge Lady, dass eine gewisse Unrast den Seeräuber ergriff. Er wirkte fahrig auf sie, wie stets auf dem Sprung. Und sie fragte sich, woher diese Veränderung in seinem Verhalten wohl kommen mochte. Eigentlich gab es dafür nur eine logische Erklä­rung.

Und als Lady Emma an diesem Abend mit Alvarez beim Diner saß, fragte sie ihn ganz nebenbei: »Kann es sein, dass wir verfolgt werden? Ich werde das Gefühl nicht los, dass Ihr Spiel bald aus sein wird.«

Der Pirat lächelte schmal, dabei maßen seine dunklen Augen sein Gegenüber abwägend. »Wie kommen Sie auf die Idee, meine Liebe? Haben Sie sich wieder zu weit, über die Reling gebeugt?«

»Nun, ich habe Augen im Kopf. Sie benehmen sich wie ein gefan­genes Wildtier. Und der Ausguck ist ständig besetzt. Da ist doch was im Gange, nicht wahr?«

»Sie beobachten gut. Allerdings ziehen Sie die falschen Schluss­folgerungen. Wir suchen ständig nach neuen Opfern. Deshalb ist der

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Ausguck besetzt. Schließlich müssen wir von etwas leben. Und Sie, liebe Lady Emma, sind ein kostspieliger Gast. In mehr als einer Hin­sicht.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Sie blitzte ihn aufgebracht an. »Ich habe nicht darum gebeten, hier zu sein. Es wäre mir sogar lieber, wie die anderen Gefangenen unter Deck zu bleiben!«

»Sehen Sie sich denn als meine Gefangene?«, fragte er gefährlich leise. »Nach allem, was ich für Sie getan habe?«

Sie erhob sich mit einem Ruck und starrte ihn böse an. »Was ha­ben Sie denn für mich getan? Sie haben unser Schiff versenkt, den Kapitän ermordet und halten uns alle hier gegen unseren Willen fest! Nennen Sie das vielleicht eine faire Behandlung?«

»Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen«, drohte er. »Sonst könnte es mir in den Sinn kommen, Sie tatsächlich unter Deck bringen zu lassen!«

»Gut, ich gehe freiwillig.« Sie wandte sich zur Tür, doch Alvarez packte sie am Arm und zog sie mit einem Ruck an sich. Lady Emma wehrte sich verbissen und herrschte den Spanier an: »Lassen Sie mich auf der Stelle los, Sie... gemeiner Mensch! Ich hasse Sie, ich... verach­te Sie, Sie Mörder!«

Alvarez lachte nur. Und dann küsste er Lady Emma so leiden­schaftlich, dass ihr fast die Sinne schwanden. Sie wehrte sich noch immer gegen seine Umarmung, doch die fast magische Faszination, die der Pirat auf sie ausübte, schien sie zu überwältigen. Als ihr Wider­stand erlahmte, zerriss eine ungeheure Detonation die abendliche Stil­le.

Alvarez ließ die Lady ruckartig los und sprang nach oben an Deck. »Was ist los, was hat das zu bedeuten, verdammt noch mal?«, herrschte er den Steuermann an. Doch er brauchte auf keine Antwort zu warten, denn im gleißend roten Schein der untergehenden Sonne erkannte er ein halbes Dutzend Schiffe, die sich ihnen in rascher Fahrt näherten. Das spanische Wappen, das die geblähten Segel schmückte, sagte Alvarez, dass diese Armada nur ein Ziel verfolgte: Ihn zu ver­nichten. Die Spanier waren ihm schon lange auf den Fersen, auf sei­nen Kopf war ein hoher Preis ausgesetzt. Und was er schon seit Tagen

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erahnt hatte, schien sich nun zu bewahrheiten: Der Jäger wurde wie­der einmal zum Gejagten...

Duke Edmund, der dem Koch zur Hand ging, konnte kaum fassen, was er durch das Bullauge der Kombüse zu sehen bekam. Wie es schien, wendete sich das Blatt endlich. Und mit ein wenig Glück würde ihre unwürdige Gefangenschaft schon sehr bald enden!

Alvarez gab dem Steuermann Anweisung, volle Fahrt aufzu­nehmen. Innerhalb weniger Minuten waren alle Segel gehisst und der Abstand zu den Verfolgern vergrößerte sich wieder. »Vor den Maske­renen sind tückische Gewässer«, gab der Steuermann zu bedenken. »Wir könnten auf Grund laufen, wenn wir zu schnell sind...«

»Das Risiko müssen wir eingehen«, erwiderte der Piratenkönig knapp. Er wandte sich ab, als unvermittelt Duke Edmund vor ihm stand. »Es scheint so, als ob Ihr Spiel hier enden würde«, stellte er mit einem zufriedenen Lächeln fest. »Ich bin schon sehr gespannt auf Ihre Hinrichtung, Alvarez.«

Der Spanier lächelte abfällig. »Freu dich nicht zu früh, Engländer. So schnell fängt niemand Juan Alvarez!«

»Geben Sie Lady Emma frei. Ich warne Sie, wenn Sie ihr etwas antun, dann...«

»Was dann?« Er zog mit einer gedankenschnellen Bewegung den Säbel und setzte die Spitze an Edmunds Hals. »Du langweilst mich allmählich, Engländer. Auf diesem Schiff wird nach meinen Regeln ge­spielt. Und solltest du sie nicht endlich lernen, dann wirst du es sehr bald bereuen!« Er lachte abfällig und steckte die Waffe wieder fort. Der junge Herzog blieb in ohnmächtigem Zorn zurück. Zum ersten Mal im Leben verspürte er den Wunsch, einen anderen Menschen zu töten. Sein Hass auf Alvarez wuchs ins Unermessliche. Und der Gedanke, dass Lady Emma ihm schutzlos ausgeliefert war, machte Edmund bei­nahe rasend...

Es gelang Alvarez, die Spanier fürs Erste abzuhängen. Als die Nacht ihren dunklen Mantel über die See senkte, war das Piratenschiff außer Gefahr. Fürs Erste. Doch der Gesetzlose war viel zu schlau, um sich in Sicherheit zu wiegen. Er saß noch die halbe Nacht über den Seekarten und brütete eine Finte aus, um die Verfolger endgültig ab­

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zuschütteln. Dabei war er so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkte, wie Lady Emma aus der Kajüte schlüpfte. Nicht zum ersten Mal schlich sie zu der Luke, unter der sich die übrigen Gefangenen befanden. Edmund hatte bereits auf sie gewartet. Und in dieser Nacht hörte die junge Lady auch Ruby Clarks ängstliche Stimme, die leise fragte: »Geht es Ihnen auch wirklich gut, Lady Emma? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit. Ist Ihnen nichts Schlimmes widerfahren?«

»Nein, ich werde recht gut behandelt. Du musst dir keine Sorgen machen, Ruby«, versicherte sie beruhigend und wandte sich dann an Edmund. »Die Armada ist noch in der Nähe, ich glaube nicht, dass Alvarez sie bereits abgeschüttelt hat.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie den jungen Duke wissen ließ: »Er hat Angst. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen.«

»Oh, Emma, wenn Sie wüssten, wie es mir ins Herz schneidet. Sie bei diesem... Banditen zu wissen«, murmelte der junge Mann mit zu­sammengebissenen Zähnen. »Ich wünschte...«

»Nun regen Sie sich nicht auf, Edmund, das hat keinen Sinn. Al­varez hat mir bisher nichts getan, also hören Sie auf, sich so zu quä­len. Ich muss bald zurück, bevor er etwas merkt.«

»Bitte, Emma, geben Sie auf sich acht...« Sie lächelte ihm verhalten zu. »Sicher. Wenn Sie morgen in die

Kombüse gehen, halten Sie bitte Ausschau nach der Armada. Ich hoffe sehr, dass man uns bald befreien wird. Allein um Nannys Willen. Ich mache mir schwere Vorwürfe, dass die gute Alte so zu leiden hat.«

Als Lady Emma wenig später die Kajüte von Alvarez wieder betrat, war dieser nicht mehr da. Sie hörte ihn auf der Brücke auf und ab ge­hen. Er schien keine Ruhe zu finden. Emma lächelte.

*

Der nächste Morgen brachte Sturm und Regen. Das Piratenschiff kämpfte sich durch hohen Seegang Richtung Vorderindien. Auf der Höhe des Somalibeckens wurde das Wetter allerdings unvermittelt zur Nebensache. Denn Alvarez sah sich ohne Vorwarnung von zwei Seiten umzingelt. Die spanische Armada hatte den Gesetzlosen bereits erwar­

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tet. Und zu ihrer Verstärkung waren mehrere Zwölfmaster der Royal Navy König Georgs von England erschienen. Duke Edmund konnte es kaum fassen. Noch ehe das Seegefecht begann, schlug er den Koch nieder und drang mit einem Hackmesser bewaffnet in die Ka­pitänskajüte ein. Doch Alvarez fand er hier nicht. Und auch von Lady Emma keine Spur. Dann wurden die ersten Kanonen abgefeuert, der Kampf fing an...

Der junge Hochadlige wusste, was er zu tun hatte. Er verließ die Kajüte wieder und kämpfte sich zu der Luke vor, unter der seine Mit­gefangenen schmorten. Falls das Schiff eine Breitseite er wischte und sank, waren diese Menschen verloren. Und das konnte Duke Edmund nicht zulassen.

Die Piraten waren damit beschäftigt, das Kanonenfeuer zu erwi­dern, das sie gleich von zwei Seiten in die Zange nahm. Immer wieder bemerkte aber einer Edmund und versuchte, ihn zu töten. Er Wehrte sich verbissen seiner Haut. Dabei tat ihm das Hackmesser schaurige, aber effektive Dienste...

Endlich hatte er die Luke erreicht. Darunter waren gedämpfte Angstschreie zu vernehmen. Inmitten von Pulverdampf und Kanonen­gedröhn versuchte der wagemutige Adlige, die Menschen dort unten zu befreien. Doch noch ehe er die Luke öffnen konnte, sprang jemand von oben darauf und lachte gehässig. Edmund wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte. Alvarez trug wieder sein Markenzeichen; die schwarzen Beinkleider, die in ebenfalls schwarzen Schaftstiefeln mit reicher Silberverzierung steckten, ein schwarzes Seidenhemd und dar­über ein halblanges Cape, dessen Innenseite feuerrot leuchtete.

»Edel bis zuletzt«, spottete er und warf Edmund einen Säbel zu, den dieser geschickt auffing. »Aber ich habe dir schon einmal gesagt, dass auf meinem Schiff alles nach meinen Spielregeln abläuft, Englän­der. Also kämpfe und bereite dich auf deinen Tod vor. Er wird nicht lange auf sich warten lassen!«

Der junge Duke lächelte abfällig. »Ich habe zwar noch nie gegen eine Schießbudenfigur gekämpft. Aber es gibt immer ein erstes Mal, nicht wahr?«

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Ohne Vorwarnung griff Alvarez an. Wie zuvor im Kampf gegen den Kapitän der Battle Doar waren seine Attacken ebenso ungestüm wie taktisch brillant. Der Duke of Danby musste alles aufbieten, um dem standzuhalten. Und Alvarez hatte noch Atem genug, ihn auszulachen, wenn wieder eine seiner Attacken ins Leere gegangen war. Dass um sie herum eine verbissene Seeschlacht tobte, bei der sich der Vorteil immer stärker auf Seiten der Armada befand, nähmen die beiden Männer kaum wahr. Sie kämpften beide unermüdlich und mit dem unbedingten Willen, zu siegen, den Gegner zu vernichten. Als das Pira­tenschiff zugleich von mehreren Kanonenkugeln getroffen wurde, schleuderte die Wucht der Detonationen die Kämpfer allerdings zu Boden. Alvarez war schneller wieder auf den Füßen. Und als Edmund sich umsah, stellte er verwirrt fest, dass der Piratenkönig verschwun­den war. Warum, das zeigte sich bereits im nächsten Moment. Denn da wurde das Piratenschiff seinerseits geentert. Soldaten aus Spanien und England lieferten sich mit den überlebenden Seeräubern ein bluti­ges Gemetzel. Keiner der Gesetzlosen wollte in den Kerker oder ge­hängt werden. Doch dann sprach sich herum, dass Alvarez fort war und die Männer warfen ihre Waffen fort, um sich zu ergeben...

Duke Edmund berichtete dem kommandierenden Kapitän der Eng­länder, was geschehen war. Dieser zeigte sich überrascht, dass man die Geiseln am Leben gelassen hatte. Weniger überrascht war er aller­dings von der Tatsache, dass der berüchtigte Spanier spurlos ver­schwunden war. Und mit ihm Lady Emma...

*

Als das kleine Boot auf Grund lief, schaute Alvarez sich suchend um. Er schien auf etwas Bestimmtes zu warten. Lady Emma musterte ihn fra­gend. Schließlich packte er sie um Taille und Schultern und trug sie durch das seichte Wasser an Land.

»Wo sind wir hier?«, fragte sie, verwirrt durch die wilde, exotische Schönheit der Umgebung. So hatte sie sich ihre Ankunft in Indien nicht vorgestellt.

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»In der Nähe von Bangalur. Wir warten hier, jemand wird kom­men und uns abholen«, ließ er, sie wissen, während er ein kleines Fernrohr auseinander zog und in die Umgebung spähte. Eine ungeheu­re Explosion draußen auf dem Meer ließ die junge Lady zusammenzu­cken, aber der Spanier blieb ganz ruhig. »Keine Panik, die Armada hat es so gewollt. Und wir sind ja in Sicherheit«, erklärte er im Plauderton.

Emma starrte ihn entgeistert an. »Was... hat das zu bedeuten? So reden Sie schon!«

Er steckte das Fernrohr weg, ließ sich auf einer bizarr geformten Wurzel nieder und musterte sie aus halb geschlossenen Augen interes­siert. »Mein Schiff hatte eine Menge Sprengstoff im Bauch. Ein Treffer dorthin und... booommm!« Er lachte sie aus. »Schauen Sie nicht wie ein verängstigtes Kaninchen. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich diesen Schwachköpfen mein Schiff überlasse? Es wird innerhalb kür­zester Zeit sinken. Mit Mann und Maus, wie man so schön sagt.«

Die junge Lady blickte verzweifelt aufs Meer hinaus, doch außer einer schwarzen Rauchfahne konnte sie nichts entdecken. Edmund... Und Nanny! Sie biss sich auf die Lippen, um nicht weinen zu müssen. Alvarez musterte sie noch immer. Und vor ihm wollte sie sich keine Blöße geben. »Sie gemeiner Mörder. Sie schrecken wohl vor nichts zurück«, murmelte sie mit steifen Lippen.

Der Spanier hob lässig die Schultern. »Liebe junge Lady, hat man Ihnen nicht gesagt, dass Seereisen heutzutage noch immer gefährlich sind?«, spottete er. »Und ein Jüngling wie dieser Danby sollte sein Leben lieber in Salons und Theatern verbringen, anstatt zu versuchen, es mit mir aufzunehmen...«

»Edmund ist tausendmal mehr wert als Sie«, herrschte sie ihn empört an. »Sie sind es nicht mal wert, seinen Namen in den Mund zu nehmen. Und Sie werden für seinen Tod bezahlen!«

Alvarez lachte nur. »Sie vergessen eine Kleinigkeit, meine Liebe. Sie verdanken mir Ihr Leben. Dafür könnten Sie ruhig ein wenig dank­barer sein, finde ich.« Er trat neben sie und wollte sie in seine Arme ziehen, aber sie versetzte ihm eine schallende Ohrfeige und schrie ihn an: »Sie haben mich nur gerettet, damit ich Sie verraten kann, Alva­

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rez. Glauben Sie mir, bei der erstbesten Gelegenheit werde ich mit Ge­nuss zusehen, wie Sie in Ketten abgeführt werden!«

Für ein paar Sekunden trafen sich ihre blitzenden Blicke, dann ließ der Spanier die junge Lady los und lächelte schmal. »Sie wissen nichts, Emma. Die Wahrheit liegt nicht dort draußen. Aber gedulden Sie sich nur ein wenig. Vielleicht werde ich sie Ihnen noch erzählen, in einer ruhigen Minute...«

»Was... wollen Sie damit sagen?«, fragte sie verunsichert. Doch in diesem Moment preschte eine geschlossene Kutsche her­

an, die von zwei glänzenden Rappen gezogen wurde. Alvarez packte Emmas Arm und zog die Widerstrebende ohne langes Zögern mit sich. In rasender Fahrt ging es fort. Die junge Frau wusste nicht, wohin, denn die kleinen Fenster der Kutsche waren verhängt. Im Innern herrschte ein düsteres Zwielicht. Ein Geruch nach fremden Gewürzen und Spezereien lag in der schwülen Luft, der Emma Schwindel verur­sachte. Doch trotz dieses seltsamen Zustandes bemerkte sie deutlich, dass sie nicht mehr allein war mit ihrem Entführer. In der Kutsche be­fand sich noch eine Person. Ein schmaler dunkler Schatten nur, der sich in einer Ecke hielt, so weit wie möglich von ihr entfernt. Eine leise, kultivierte Stimme unterhielt sich mit Alvarez auf Spanisch. Die Person hatte jedoch einen fremdem Akzent, der darauf hindeutete, dass es sich um einen Bewohner des Subkontinents handelte.

Obwohl Lady Emma schon so viel durchgemacht hatte, empfand sie die Anwesenheit dieses unsichtbaren Fremden doch beklemmender als alles, was ihr Herz bedrückte. Denn ihr wurde bewusst, dass sie sich völlig in der Hand des Spaniers befand. Sie war fremd in einem fremden Land. Sie kannte hier niemanden. Und keiner würde ihr hel­fen, wenn Alvarez in ihrer Nähe war. Trotzdem blieb ihr Wille un­gebrochen. Und der Wunsch, den Tod Edmunds und Rubys zu rächen, gab ihr Kraft, diese unheimliche Fahrt ins Ungewisse mit bewunderns­werter Haltung zu überstehen...

Die Kutsche hielt nach einer ganzen Weile in einem Innenhof, der wie eine frische Oase inmitten der feuchten tropischen Hitze wirkte. Der Boden und die Wände waren mit weißem Marmor bedeckt, ein silberner Brunnen sprudelte in der Mitte und überall blühten und dufte­

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ten exotische Blumen, wie Lady Emma sie noch nie zuvor gesehen hatte. Alvarez wies sie an: »Tun Sie, was man Ihnen sagt. Wir sehen uns später wieder.« Er folgte dem Fremden, der auf der gegenüberlie­genden Seite der Kutsche ausgestiegen und bereits im Haus ver­schwunden war. Eine junge Inderin in einem tiefblauen Sari verbeugte sich vor der englischen Lady und bat sie, ihr zu folgen. Emma stellte erleichtert fest, dass das Mädchen Englisch sprach und sah eine Chan­ce, zumindest ein wenig über ihren Aufenthaltsort und ihren neuen Gastgeber zu erfahren. Doch die Bedienstete schwieg auf all ihre Fra­gen, sie schien Anweisung zu haben, nicht mit der Fremden zu spre­chen. Statt dessen führte sie Emma in ein helles, luftiges Zimmer, des­sen offene Fenster einen Blick auf einen großen Garten voller fremd­ländischer Farbenpracht freigaben. Für eine Weile vergaß die junge Lady ihre Lage und alles, was geschehen war und ließ sich von dem herrlichen Anblick gefangen nehmen, der berauschend auf alle Sinne zugleich wirkte. Die heiße, feuchte Luft, die von unten aufstieg, brach­te ein fast narkotisch zu nennendes Duftgemisch mit sich, in dem Em­ma Jasmin und Myrrhe, Tuberose und Ylang-Ylang erkannte. Aber noch mehr schwang mit in dieser schwülen Wolke aus einem verbote­nen Garten.

Harzige, schwere, raue Düfte, die seltsam anmuteten und nur da­zu da zu sein schienen, die Sinne völlig zu verwirren.

»Bitte, Miss, folgen Sie mir«, hörte Lady Emma die Inderin da sa­gen und kehrte somit in die Wirklichkeit zurück. Sie verließ ihren Platz vor dem Fenster und trat gleich darauf in ein Badezimmer, das einer Königin angemessen gewesen wäre. Auch hier strahlten die Wände, die mit tiefblauen Kacheln verziert und reich mit Goldornamenten be­malt waren, eine angenehme Kühle aus. Ein Bassin, das in der Mitte des Raums leicht erhöht eingelassen war, hatte man mit süß duften-dem Wasser gefüllt, auf dem Blüten von Rosen und Jasmin schwam­men. Emma zögerte nur kurz, denn der Reiz, nach all den unsäglichen Strapazen in diese Oase der Wohltaten zu gleiten, einfach die Augen zu schließen und auszuruhen, war einfach zu stark.

Die Dienerin half ihr geschickt und unaufdringlich beim Ausklei­den. Und als die junge Lady dann in dem wohligen Nass gleichsam

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versank, war es ihr, als streife sie mit den schmutzigen, verschwitzten Kleidern auch all den Schrecken ab, der hinter ihr lag. Natürlich war Emma sich in jeder Sekunde bewusst, dass dies nur eine angenehme Illusion war. Sie befand sich nach wie vor in der Gewalt von Juan Alva­rez. Sie wusste nicht genau, wo sie war, wem überhaupt dieses Haus gehörte. Und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, wenn sie dar­an dachte, dass sie Edmund und die treue Ruby für immer verloren hatte... Doch sie verbot sich diese bitteren Gedanken und den grau­samen Schmerz, den sie mit sich brachten. Lady Emma wollte diese Gefühle tief in ihrem Herz verschließen, bis die Stunde der Rache, der Abrechnung kam. Bis sie Alvarez bezahlen ließ für das, was er ihr ge­nommen hatte...

Nach dem Bad brachte die junge Dienerin der englischen Lady ei­ne Landestracht und half ihr, diese richtig anzuziehen. Emma fühlte sich zunächst etwas seltsam in dem scharlachroten Sari mit den vielen aufgestickten Perlen und den goldenen Sandalen, in denen ihre Füße steckten. Doch als sie sich ein wenig bewegte, bemerkte sie, dass die­se Kleidung genau den Anforderungen des Klimas entsprach. Sie war luftig und kühlte die Haut ein wenig, ohne etwas zu zeigen, was un­schicklich gewesen wäre. Das Mädchen frisierte Lady Emmas blondes Haar zu einem strengen Knoten und legte ihr zuletzt eine Menge flir­renden Goldschmuck um Hals und Arme, bis die englische Hochadlige aussah wie eine Prinzessin aus tausendundeiner Nacht. Dann führte sie Lady Emma nach unten in einen großen Raum, dessen Stirnseite zum Garten hin offen war. Hier wuchsen Palmen, Orchideen und groß­blättrige Exoten in mächtigen Kübeln aus gehämmertem Messing. Bun­te Vögel stießen kreischende Läute aus und überall standen weiß ge­wandete Diener mit perfekt gewickelten Turbanen. Ein wenig fühlte Emma sich wie in einem Traum. Eine märchenhafte Pracht entfaltete sich da vor ihr. Und doch kam sie über das erste Staunen nicht hin­weg. Ihr Interesse galt weniger der Umgebung als der Frage, wann dieses unwürdige Schauspiel endlich ein Ende fand. Sie wanderte ein wenig durch den Raum, als sich ihr Schritte näherten. Es war Alvarez, der sein Aussehen ebenfalls der Umgebung angepasst hatte. Er schien ein Meister der Verkleidung zu sein, denn nun sah er in den schmal

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gewickelten Hosen und dem reich bestickten langen Gehrock aus Bro­kat wie ein indischer Prinz aus. Seine Augen ruhten mit sichtlichem Wohlgefallen auf Lady Emma, die ihn harsch fragte: »Was soll diese ganze Scharade? Hören Sie endlich auf, mit mir zu spielen, Alvarez! Ich bin keine indische Prinzessin und Sie kein Maharadscha. Vergessen wir doch nicht, welche Rollen uns in der Wirklichkeit zugedacht sind. Sie sind ein gemeiner Mörder und Entführer und ich bin Ihre Gefange­ne!«

Er trat vor sie ihn, legte ihr eine seltene, betörend duftende Orchi­deenblüte in die Hand und bat: »Zerstören Sie nicht den Zauber, ich bitte Sie! Warum träumen Sie nicht ein wenig mit mir? Sie werden es nicht glauben mögen, aber ich lege Ihnen mein Herz zu Füßen. Wenn Sie nur wollen...«

»Werden Sie nicht geschmacklos«, forderte sie kalt und wandte sich ab. Die Blüte fiel unbeachtet zu Boden. »Wo sind wir hier? Wem gehört dieses Haus? Und was beabsichtigen Sie?«

Alvarez schwieg, wie es schien betroffen. Und Emma konnte nicht fassen, dass er dies ganz offensichtlich nur sie für arrangiert hatte. Er sorgte dafür, dass sein Schiff und seine Mannschaft gnadenlos im Meer versanken und zugleich bemühte er sich, auf phantasievollste Weise um ihre Gunst zu werben. Wie war das möglich? Sie zweifelte allmäh­lich an ihrem Verstand.

Als sie sich umdrehte, bat er sie: »Kommen Sie, machen wir einen Spaziergang durch den Garten. Ich denke, es wird Zeit, dass ich Ihnen etwas erzähle.« Er reichte ihr die Hand, eher gegen ihren Willen, ganz sicher aber gegen ihren Verstand legte sie ihre schmale Rechte hinein. Der Spanier lächelte angedeutet.

»Es war kein Zufall, dass wir uns begegnet sind«, ließ er sie dann wissen, während sie auf schmalen Pfaden zwischen üppiger exotischer Pflanzenpracht wandelten. »Vor einigen Wochen trat ein Mittelsmann an mich heran. Ich war damals gerade in England, hielt mich ver­steckt. Mein altes Schiff war vor Gibraltar gesunken, ich hatte keine Mittel, ein neues zu erwerben.« Er lächelte schmal. »Man könnte sa­gen, ich war am Ende. Da tauchte dieser Bote auf mit einem phantas­tischen Angebot: Ein neues Schiff, genügend Mittel, um eine Mann­

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schaft anzuheuern, Vorräte für Monate zu besorgen. Und das alles auf legalem Weg. Ich fühlte mich beinahe ein bisschen wie in einem Mär­chen.« Er lachte. »Ich nahm an, denn es gab noch eine Zugabe, die mich sehr reizte. Für den Auftraggeber war es wohl eine unangeneh­me Sache, wenn ich all die Mühe bedenke, die er sich machte, um mich zu ködern. Dabei vergaß er ganz, was mir im Blut liegt... Und die gute alte Battle Doar hatte immer wieder meinen Weg gekreuzt, ohne dass sich mir die Gelegenheit geboten hätte, sie mir zu nehmen. Nun konnte ich es. Nein, ich sollte es. Denn es war die Bedingung, die mein unbekannter Gönner an all seine Mildtätigkeit knüpfte. Die Battle Doar sollte mit Mann und Maus im Meer versinken. Vergessen für alle Zei­ten...«

Lady Emma blieb wie angewurzelt stehen und starrte den Spanier fassungslos an. »Es... war ein Auftrag? Von wem?«

»Nun, das fragte ich mich auch. Wissen Sie, es liegt mir nicht, et­was zu tun, was ein anderer mir sagt. Noch dazu, wenn ich diesen anderen nicht kenne. Und es fiel mir nicht schwer, den Auftraggeber ausfindig zu machen.«

»War es ein Franzose?«, fragte Emma spontan. Sie dachte an ›Monsieur X‹, jenen unbekannten Gönner, der sie nach Indien ge­schickt hatte. Doch sie sollte sich täuschen.

»Nein, der Auftrag kam aus England.« Alvarez zog einen Brief aus seinem Gehrock und las vor: »Nun, da Sie meine Identität kennen, appelliere ich an Ihre Ehre, Sir, sie zu verschweigen und diese Ver­schwiegenheit bis zu Ihrem Lebensende beizubehalten. Es ist unab­dingbar, dass die Battle Doar mit allem, was auf ihr lebt, für immer in den Fluten des Atlantik versinkt. Allen voran aber mögen Sie sich per­sönlich versichern, dass eine Lady Emma Parks, zweite Tochter des Earl oft Saintsbury, das Festland nicht mehr lebend erreicht. Nur dann sehe ich Ihre Aufgabe als erfüllt an und werde Ihnen die versprochene Belohnung in Form von eintausend spanischen Goldmünzen zukom­men lassen.« Er warf ihr einen fragenden Blick zu und bemerkte, dass sie blass geworden war. »Ich spiele mit offenen Karten, Emma. Und ich möchte, dass Sie mir glauben und vertrauen. Der Mann, der diesen

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Brief schrieb, ist kein anderer als Lord Geoffry Saintsbury, Ihr Halbbru­der!«

»Nein!« Sie wich entsetzt von ihm, starrte ihn aus übergroßen schreckgeweiteten Augen an. »Das... haben Sie erfunden. Sie schre­cken wirklich vor nichts zurück. Ich glaube Ihnen kein Wort, Sie sind ein Lügner, ein Mörder...«

»Nehmen Sie sich zusammen, Lady Emma!«, herrschte er sie barsch an. »Ich kenne Ihre Geschichte. Und woher sollte ich von der Lüge des Monsieur X wissen, von dem Brief mit dem französischen Siegel, der Bitte, eine neue Lotusart zu entdecken...«

»Sie wissen...« Emma wandte sich ruckartig ab. Sie hatte plötzlich das Gefühl, zu ersticken. Mit stolpernden Schritten verließ sie den Gar­ten, kam erst wieder im Innenhof des Hauses zur Ruhe, wo die Nähe des plätschernden Brunnens ihre verwirrten Sinne ein wenig kühlte. Geoffry! Geoffry und Elisabeth! Immer wieder hämmerten diese beiden Namen durch ihren Kopf. Sie konnte nicht fassen, was sie gerade er­fahren hatte. Und doch gab es keinen Zweifel, dass Alvarez die Wahr­heit gesagt hatte. Er wusste viel zu viel, um noch an eine Lüge, eine Finte zu glauben.

Emma spürte die Tränen, die sich nun nicht mehr unterdrücken ließen. Die grausame Erkenntnis, dass sie all das, was hinter ihr lag, nicht einem gnadenlosen Schicksal verdankte, sondern den beiden Menschen, die sie ihr Leben lang mit Neid und Missgunst verfolgt, die schon ihre Mutter gehasst und in ein frühes Grab gebracht hatten, war einfach zuviel für sie. Weinend sank sie auf den Rand des Springbrun­nens, schlug die Hände vors Gesicht und war so verzweifelt wie nie zuvor in ihrem Leben.

Sie spürte kaum, dass der Spanier sie an seine Brust zog und trös­tend über ihr Haar strich. Erst als er zu ihr sprach, blickte sie wie er­wachend zu ihm auf. »Ich liebe Sie, Emma. Seien Sie gewiss, dass Ihnen von mir keine Gefahr droht. Ich werde Ihnen niemals ein Leid zufügen, lieber töte ich mich selbst, ehe ich zulasse, dass Ihnen etwas geschieht.«

*

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Lady Elisabeth Montfort ging unruhig auf dem Gang vor den geschlos­senen Zimmertüren auf und ab. Immer wieder kehrte ihr Blick zu dem dunklen polierten Holz zurück, hinter dem so Wichtiges vorging, das sie doch nicht beeinflussen konnte. Als sich ihr Schritte näherten, schaute sie kaum auf, denn sie wusste, wer da kam. »Geoffry, was willst du? Es gibt noch nichts Neues.«

Der junge Anwalt seufzte ungeduldig auf. »Es dauert nun schon so lange, ich meine...« In diesem Moment wurde die Tür zu den Räu­men des alten Earls leise geöffnet und der Arzt erschien. Seine Miene war ernst. Er schloss die Tür zunächst hinter sich, bevor er an Lady Elisabeth herantrat und ihr die Hand leicht drückte. »Mein Beileid.« Für ein paar Sekunden flackerte ihr Blick, es schien Geoffry so, als müsse sie gleich in ein erleichtertes Lachen ausbrechen. Doch nichts derglei­chen geschah. Lady Elisabeth hatte sich wie stets perfekt unter Kon­trolle. Sie senkte die Lider und schluchzte verhalten auf.

»Unser armer geliebter Vater. Wir verlieren mit ihm den Mittel­punkt unseres Lebens. Niemand wird je an seine Stelle treten kön­nen«, behauptete sie scheinbar ganz verzweifelt. Als sie den Arzt wie­der ansah, hingen sogar ein paar Tränen dekorativ an ihren langen Wimpern. »Ich hoffe, er musste nicht mehr leiden. Dieser Gedanke wäre mir unerträglich...«

»Er ist friedlich eingeschlafen«, versicherte der Mediziner. »Nach den Beschwerden, die ihn in letzter Zeit immer stärker quälten, war der Tod eine Erlösung.«

»Ja, das mag uns wenigstens ein kleiner Trost sein«, murmelte die Lady mit falscher Anteilnahme. »Ich danke Ihnen, Dr. Hurly.«

Kurze Zeit später, der Arzt hatte sich bereits verabschiedet und Lady Elisabeth war ihrer Pflicht nachgekommen, das Personal von Saintsbury-Hall über das Ableben ihres Brotherren zu informieren, fand sie ihren Bruder im Arbeitszimmer des alten Earl vor, wo er gerade einen Stapel Papiere durchwühlte. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen.

»Was tust du da? Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«, fuhr sie Sir Geoffry an. »Was glaubst du, welchen Eindruck es auf das

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Personal macht, wenn du in Vaters Sachen herumwühlst wie ein Lei­chenfledderer?«

»Ich suche das Testament«, wollte er sich rechtfertigen. »Sollte etwas drin stehen, das uns nicht passt, wäre jetzt noch Gelegenheit, es zu ändern.« Er war sichtlich stolz auf seinen Scharfsinn, doch seine Schwester schien anderer Meinung zu sein, denn sie erwiderte abfällig: »Allmählich komme ich zu dem Schluss, dass dein leiblicher Vater tat­sächlich jener Stallbursche gewesen sein muss, den niemand kennt. Wie sonst sollte es möglich sein, dass ein echter Saintsbury dermaßen stupide und beschränkt durchs Leben geht?«

»Elisabeth, ich warne dich, treib es nicht zu weit!«, riet der junge Mann da aufgebracht. Die Gerüchte, die sich um seine angebliche Her­kunft rankten, waren sein wunder Punkt. »Ich bin dir gegenüber schon immer sehr nachsichtig gewesen. Aber beleidigen darfst auch du mich nicht. Schon gar nicht in dieser Form...«

»Ach, hör auf zu jammern und denk einmal logisch nach. Das Tes­tament befindet sich ganz sicher nicht hier unter den Ge­schäftspapieren. Du solltest dich mit Sir William Forsythe in Ver­bindung setzen. Als unser Familienanwalt ist er gewiss auch der Tes­tamentsvollstrecker.«

Ärgerlich stimmte Geoffry zu. Er konnte es nicht ausstehen, dass seine Schwester stets recht behielt. Schon gar nicht, wenn sie ihn zu­vor abgekanzelt hatte...

Drei Tage nach dem Tod des alten Earl fand die Beisetzung in der Familiengruft auf Saintsbury-Hall im engsten Verwandtenkreis statt. Lady Elisabeth hatte dafür gesorgt, dass außer ihrem Mann und ihrem Bruder niemand zur Beerdigung erschien. Sie konnte keine Zeugen gebrauchen, wenn sie sich das Erbe, das eigentlich Lady Emma zu­stand, aneignete. Doch einem Toten konnte man nichts mehr stehlen, das war die Auffassung der skrupellosen Lady. und danach handelte sie auch. Die Testamentseröffnung sollte allerdings ein Schock für La­dy Elisabeth werden...

Der Familienanwalt, Sir William Forsythe, war ein kleiner grauhaa­riger Mann mit runder Brille und Hamsterbacken. Er behandelte die Anwesenden mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit, die allerdings deut­

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lich erahnen ließ, dass er für keinen der Hinterbliebenen auch nur die geringsten Sympathien hegte. Der betagte Anwalt war ein guter Freund des Verstorbenen gewesen und seine scharfen Augen hinter den harmlos aussehenden Brillengläsern hatten bereits in manchen menschlichen Abgrund geblickt. Er wusste genau, dass er es hier mit einer Meute habgieriger Profiteure zu tun hatten, für die der Tod des Earls nur Geld und Besitz bedeutete. Es war Sir William eine Freude, diesen Leuten einen dicken Strich durch die Rechnung zu machen.

»Die Verfügungen sind klar und einfach«, ließ er verlauten, nach­dem das Wachssiegel erbrochen und das mehrseitige Testament eröff­net war. »Haupterbe des gesamten Barvermögens, der Ländereien und jeglichen Gutes fester wie beweglicher Natur, das sich auf diesen befindet, ist Lady Emma of Saintsbury. Lady Elisabeth Montfort, sowie Lord Geoffry of Saintsbury erhalten ein jährliches Legat in Höhe von...«

»Aber das ist unmöglich!«, schrie die Lady da hysterisch. Zum ers­ten Mal schien es um ihre Beherrschung geschehen zu sein. »Sie ist ja fort und kommt nie wieder zurück! Wie kann sie alles erben? Wer soll sich denn um den Besitz kümmern, das Geld verwalten? So ein aus­gemachter Humbug!«

»Lady Elisabeth, ich muss Sie bitten, sich zu mäßigen«, forderte der Anwalt daraufhin mit strenger Miene. »Andernfalls werde ich die Verlesung des Testaments abbrechen müssen.«

»Reiße dich bitte zusammen, meine Liebe«, bat ihr Mann besch­wichtigend, doch sie dachte gar nicht daran. Mit zorniger Stimme fuhr Lady Elisabeth fort: »Er muss geistig umnachtet gewesen sein, als er das verfügte. Ich bin nicht gewillt, hinzunehmen, dass unser Familien­sitz zu Staub zerfällt, bloß weil unser Vater alles einer Herumtreiberin vermacht hat, die kein Verantwortungsgefühl und keinen Anstand hat. Wir sind die rechtmäßigen Erben, wir waren hier, haben uns um ihn gekümmert. Uns steht alles zu, nicht dieser... Person!«

Der Anwalt lächelte schmal. »Das ist Ihre Meinung, Lady Eli­sabeth. Doch Ihr Vater hat anders verfügt. Und er war bei klarem Verstand, als er dies hier unterzeichnete. Für den Fall, dass Lady Em­ma nicht in der Lage sein sollte, ihr Erbe anzutreten, gibt es eine wei­

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tere Regelung: Der Testamentsvollstrecker, namentlich meine Wenig­keit, wird dafür Sorge tragen, dass ein tüchtiger Verwalter eingestellt wird, der die Geschicke von Saintsbury-Hall leitet, bis die rechtmäßige Erbin alle Rechte und Pflichten übernimmt. So ist es bestimmt und so wird es geschehen.«

»Das ist... Betrug! Und ich werde es nicht hinnehmen, das schwö­re ich Ihnen!«, herrschte die Lady den alten Anwalt an, dann rauschte sie aus dem Zimmer.

Sir Geoffry folgte seiner Schwester, die im Park zwischen den al-ten Baumriesen herumhuschte wie ein Irrwisch und dabei wilde, wenig damenhafte Flüche ausstieß. Der junge Mann versuchte, sie zu beruhi­gen, doch sie versetzte ihm nur eine Ohrfeige und warf ihm verbittert vor: »Du bist an allem schuld, du allein! Nun siehst du, wohin uns dei­ne Taktik gebracht hat. Emma wird nicht zurückkommen, dann gehört uns alles, hah! Sie mag tot auf dem Meeresboden liegen, aber was nützt uns das? Vater hat uns den Weg zu unserem rechtmäßigen Erbe ein für alle Mal verbaut. Oh, ich hasse ihn und wünsche ihm jetzt noch alles Schlechte! Möge er in der tiefsten Hölle schmoren!«

»Elli!« Geoffry wich entsetzt von ihr zurück. »Wie kannst du nur so reden. Wir haben verloren, das müssen wir einsehen. Aber du bist reich, dir kann nichts geschehen. Ich bin doch der eigentlich Betroge­ne und stehe mit leeren Händen da.«

Sie starrte eine Weile schweigend vor sich hin, wurde allmählich wieder ruhiger. Schließlich fragte sie ihn: »Willst du das wirklich ein­fach so hinnehmen?«

»Ich wüsste nicht, was wir jetzt noch tun könnten...« »Aber ich vielleicht.« Sie lächelte maliziös. »Lass mich nachden­

ken. Komm, gehen wir noch ein bisschen spazieren.«

*

Lady Emma betrachtete mit abwesendem Blick den gleißenden Son­nenuntergang, der die Umgebung mit einer wahren Sinfonie aus Gold, Rot und Purpur überschwemmte. Sie versuchte, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen, doch dies erwies sich als unmöglich.

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Seit die junge Lady erfahren hatte, wer hinter all dem Ungemach steckte, das ihr seit ihrer Abreise in Plymouth widerfahren war, schien für sie eine Welt zusammengebrochen zu sein. Sicher hatte Emma gewusst, dass Elisabeth und Geoffry sie nicht leiden konnten, dass sie neidisch auf das gute Einvernehmen zwischen ihr und dem Vater wa­ren. Sie hatte sogar geahnt, wie missgünstig sie auf die Vorstellung reagieren würden, dass sie einst die Herrin von Saintsbury-Hall sein könnte. Doch nicht einmal in ihren dunkelsten Momenten hätte sie sich auch nur annähernd vorstellen können, zu was diese beiden Men­schen, die doch zu ihrer Familie gehörten, tatsächlich fähig waren. Sie hatten einen perfiden und menschenverachtenden Plan ersonnen, um Emma zu vernichten, ihr junges Leben auszulöschen und mit ihr alle, die das Schicksal ihr zufällig als Weggefährten nach Indien zugeteilt hatte. Das war für die junge Lady einfach unvorstellbar!

Und doch musste sie es akzeptieren, es hinnehmen, denn es war die Wahrheit. Alvarez hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er völlig offen und ehrlich ihr gegenüber war. Alvarez... Eine feine Röte stieg in Lady Emmas zarte Wangen. In den vergangenen Stunden war sie durch ein Fegefeuer der widersprüchlichsten Gefühle gegangen. Sie hatte diesen Mann gehasst, mit jeder Faser ihres Herzens, das Duke Edmund und der alten Nanny so tief verbunden war. Und sie hatte in seinen Augen all die Liebe und Leidenschaft erblickt, deren ein Mann nur fähig sein mochte. Doch konnten diese Gefühle in ihrem Innern einen Widerklang finden, nach allem, was zwischen ihnen stand? Durf­te Emma überhaupt einen solchen Gedanken hinter ihrer klaren Stirn bewegen? Der Spanier war ein Gesetzloser, an seinen Händen klebte Blut. Und doch hatten diese Hände sie gerade in allertiefster Verzweif­lung gehalten und ihr Trost gegeben. Es war ein schreckliches Tohu­wabohu der Empfindungen in ihrem Herzen und Lady Emma schaffte es einfach nicht, dieses Knäuel voller Fragen und Skrupel zu entwirren. Was sollte werden? Wie konnte die Zukunft für sie aussehen? Blieb ihr überhaupt noch ein anderer Weg, als diesem Mann zu folgen, an den sie das Schicksal so unrettbar gebunden hatte? In England gab es für sie kaum noch eine Existenz. Dafür hatten ihre ›lieben‹ Stiefge­schwister ganz sicher gesorgt. Doch konnte und wollte sie den Rest

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ihres Lebens durch die Welt irren, ohne Hoffnung, ohne Heim? Eine beklemmende Vorstellung...

Mitten in ihre Gedanken hinein vernahm Lady Emma hastiges Pferdegetrappel, das sich rasch näherte. Mehrere Reiter und eine Kut­sche fuhren vor. Alles geschah in fliegender Hast. Uniformierte stürm­ten ins Haus. Aus dem Erdgeschoß war Kampflärm zu hören, Schreie und Schüsse. Noch ehe die junge Frau recht begriff, was hier geschah, wurde ihre Zimmertür aufgerissen und Edmund Duke of Danby stürm­te mit gezogenem Säbel ins Zimmer. Emma erschrak fast zu Tode. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, wich nach hinten zurück und wäre bei­nahe aus dem Fenster gefallen, hätte Edmund sie nicht im letzten Mo­ment mit beiden Armen gepackt und fest an sich gezogen. Als sie den wilden Schlag seines Herzens spürte, begriff sie, dass er kein Geist war, kein Schreckensbild ihrer überreizten Phantasie, sondern wirklich und wahrhaftig bei ihr, gekommen, um sie zu retten.

»Edmund, Sie leben... Aber wie ist das möglich?«, wisperte sie überwältigt und starrte ihn aus großen ungläubigen Augen an.

Er warf den Säbel fort, führte sie zu einer Chaiselongue und nahm neben ihr Platz. Aufmerksam studierte er ihr schönes, vertrautes Ge­sicht, wie, um sich zu vergewissern, dass sie auch tatsächlich unver­sehrt war. Dann berichtete er: »Die Navy und die Spanier haben die Piraten schnell überwältigt. Nachdem Alvarez geflohen war, wollte kei­ner mehr kämpfen. Die feigen Hunde ergaben sich ohne viel Federle­sens.«

»Aber Alvarez sagte, dass Sprengstoff im Schiff gewesen sei. Und dann diese ungeheure Detonation...«

»Der Segler flog tatsächlich in die Luft. Allerdings waren da schon alle Mann von Bord. Die Piraten hatten wenig Lust, auf diese Weise ihr erbärmliches Dasein zu beenden und warnten uns.«

»Und Nanny? Ist sie...« »Sie lebt und hält sich in unserem Hotel auf. Keine Angst, Emma,

nun wird alles wieder gut. Alvarez ist gefangen genommen. Er kann Ihnen nichts mehr tun.«

»Ich fürchte ihn nicht. Er war... sehr aufrichtig zu mir.« Sie senkte den Blick. »Ich habe Schlimmes durch ihn erfahren. Aber jetzt ist we­

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der die Zeit, noch der Ort, dies zu erzählen. Lassen Sie uns gehen, Edmund. Ich wünsche mir nur eines: Endlich nach England heimzukeh­ren und all das hier zu vergessen.«

Er reichte ihr den Arm und als sie ihn fragte, wie es ihm gelungen sei, sie hier zu finden, erzählte er: »Der Besitzer dieses Hauses hat die hiesigen Behörden informiert. Er leistet ihnen wohl öfter solche Diens­te.« Der junge Herzog lächelte abfällig. »Sonst könnte er sich als ein­facher Kaufmann nicht diesen Luxus hier leisten...«

Am Arm des tot geglaubten Freundes verließ Lady Emma den Raum, in dem sie solch schicksalhafte Stunden erlebt hatte. In der Empfangshalle wurde Alvarez gerade abgeführt. Er war verletzt, blute­te aus mehreren Wunden. Man hatte ihn trotzdem in Ketten gelegt, um sicher zu gehen, dass er nicht wieder entwischte. Als er Emma gewahrte, stemmte er sich gegen seine Bewacher. Der Polizeichef warf Duke Edmund einen fragenden Blick zu, dieser nickte angedeutet. Er spürte instinktiv, dass zwischen Lady Emma und dem Spanier mehr war, als man mit Worten ausdrücken konnte. Und er vermochte nicht zu behaupten, dass ihm dies gefiel...

Die junge Lady trat auf den Gefangenen zu. Sie bemerkte die Blü­te der seltenen Orchidee, die sie hier hatte fallen lassen. Wie durch ein Wunder lag sie noch immer unversehrt inmitten zerschlagener Möbel und entwurzelter Pflanzen. Emma bückte sich, nahm die Blüte auf und drückte sie Alvarez in die gefesselte Hand. Für ein paar Sekunden tra­fen sich ihre Blicke, dann wandte die junge Lady sich ab und kehrte zu Edmund zurück.

Der Spanier lächelte angedeutet. »Wir sehen uns wieder«, ver­sprach er ihr leise. »Schon sehr bald...«

Der junge Herzog schwieg. Erst als er mit Emma in einer Kutsche saß, die sie zum Hotel brachte, fragte er vorsichtig: »Was ist zwischen Ihnen und diesem Verbrecher geschehen, Emma? Wollen Sie mir das nicht verraten?«

Sie blickte ihn eine Weile stumm an, dann schüttelte sie den Kopf. »Lieber Edmund, ich danke Gott, dass Sie noch am Leben sind. Und ich werde ihm noch ein weiteres Mal danken, wenn wir alle wieder sicher in England sind. Aber was hier geschehen ist, darüber kann ich

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noch nicht mit Ihnen sprechen. Sicher, irgendwann einmal, wenn mein Herz Frieden gefunden hat. Doch nicht jetzt, nicht heute. Ich muss Sie bitten, das zu akzeptieren.«

Er musterte sie betroffen, eine Frage brannte auf seiner Zunge, doch er ahnte, dass er sich nun bescheiden musste. Er durfte Emma nicht drängen. Und das wollte er auch nicht, zu groß und unbeschreib­lich war sein Glück, sie gesund und unversehrt wieder gefunden zu haben. Alles andere würde sich finden...

*

»Oh, liebe Miss Emma, im ganzen Leben werde ich keinen Fuß mehr auf ein Schiff setzen. Nicht einmal Ihnen zuliebe!« Die alte Ruby Clark half ihrem Schützling beim Ankleiden. »Und nichts und niemand auf der Welt wird mich in meinem Entschluss noch umstimmen können!«

Lady Emma lachte. »Ich verstehe dich nur zu gut, Ruby. Und wenn du mich fragst, mir ist die Lust auf eine Seereise ebenfalls gründlich vergangen. Ich werde heilfroh sein, wenn wir endlich wieder in Saintsbury-Hall sind.«

Seit einer Woche waren sie nun auf der Rückreise, hatten den in­dischen Subkontinent, das Kap und auch die französische Küste hinter sich gelassen. Am nächsten Morgen würde ihr Schiff im Hafen von Plymouth einlaufen. Die junge Lady verspürte zum ersten Mal seit lan­ger Zeit wieder Heimweh. Und sie sehnte sich nach dem Wiedersehen mit dem geliebten Vater. Ihm würde sie all ihre Abenteuer berichten, aber auch die Irrungen und Wirrungen ihres Herzens anvertrauen kön­nen. Sie wusste, der alte Earl würde sie verstehen. Duke Edmund war­tete an Deck auf Lady Emma, sie hatten sich zum Tee verabredet. Da das Wetter schön und sonnig war, konnten die Passagiere des Linien­bootes zwischen La Rochelle und Plymouth, das die drei Reisenden am Vortag bestiegen hatten, den Nachmittagstee an der frischen Luft ein­nehmen. Ruby Clark wollte davon allerdings nichts wissen. Sie hatte Emma klar gemacht, dass sie in ihrer Kabine bleiben würde, bis das Schiff sein Ziel erreichte.

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So saßen Emma und Edmund allein beisammen, genossen die an­genehm salzige Brise und sprachen über dies und das. Der junge Her­zog bemerkte wohl, dass sein Gegenüber mit den Gedanken weit fort war. Nicht zum ersten Mal fiel ihm dies auf und es schmerzte ihn, dass er ihre Gedanken nicht erraten konnte, so wie es früher immer gewe­sen war. Ein Teil ihres Fühlens und Denkens schien von ihm abge­schottet zu sein, es gab dort irgendwo einen geheimen Garten, zu dem sie ihm noch keinen Zutritt gewährt hatte. Und er fragte sich, ob dies überhaupt jemals geschehen würde. Hatte das Erlebte sie einander vielleicht entfremdet, statt sie zusammenzuschweißen?

»Was denken Sie, Edmund, wie wird es Alvarez jetzt ergehen?«, fragte die junge Lady nach einer Weile mitten in seine Überlegungen hinein. »Was wird man mit ihm machen?«

»Er wird vor Gericht gestellt und verurteilt. Der Strang wartet vermutlich auf ihn.« Er hatte seine Worte absichtlich so deutlich ge­wählt und bemerkte nun, wie Emma leicht zusammenzuckte. Ein ge­quälter Ausdruck trat in ihre Augen, der Edmund mitten ins Herz traf.

»Sie haben doch wohl kein Mitleid mit diesem Schurken?«, wollte er ungläubig wissen. »Das glaube ich nicht! Haben Sie vielleicht ver­gessen, dass er Kapitän Picard ermordet hat? Denken Sie an all die Menschen, die durch seine Schuld vor unseren Augen den Tod fanden. Ich sage Ihnen, der Strick ist noch zu gut für ihn!«

»Sprechen Sie nicht so! Er ist doch auch ein Mensch«, bat sie ihn entschieden. »Wie können Sie nur so ohne jedes Gefühl...«

»Emma, ich kenne Sie nicht wieder! Was hat dieser Schurke mit Ihnen gemacht? Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich denken, Sie... empfinden etwas für ihn.«

Die junge Lady schwieg eine Weile, dann ließ sie ihren Freund wissen: »Ich habe Alvarez gehasst. Als ich glaubte, er hätte Ihr Leben und das von Nanny auf dem Gewissen, sann ich einzig auf Rache. Ich sehnte den Moment herbei, wenn er in Ketten abgeführt würde. Doch ich musste begreifen, dass das Leben nicht nur Gut und Böse, Schwarz und Weiß für uns bereithält. Alvarez war vollkommen ehrlich und auf­richtig zu mir. Er hat wohl sehr viel für mich empfunden, weshalb er mich nicht tötete, wie es eigentlich sein Auftrag gewesen ist.« Sie lä­

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chelte traurig, als sie in Edmunds verständnislose Miene schaute. »Der Brief des Franzosen, der mir den Auftrag gab, eine neue Lotusart zu finden, war eine Lüge. Und es war auch kein Zufall, dass unser Schiff geentert wurde. All das diente nur einem Zweck: mich von Saintsbury-Hall zu entfernen und verschwinden zu lassen. Für immer.«

»Emma, was reden Sie da? Ich begreife nicht«, murmelte der Du­ke of Danby bestürzt.

»Ich habe ebenso reagiert. Ich wollte es nicht glauben, doch nun kenne ich die Wahrheit. Elisabeth und Geoffry stecken hinter alldem. Sie haben Monsieur X erfunden, Alvarez angeheuert. Sie haben eine riesige Summe investiert, um mich beseitigen zu lassen und sich mein Erbe anzueignen.«

Nach dieser Eröffnung herrschte erst einmal atemlose Stille. Lady Emma erkannte in der ehrlichen Miene des Jugendfreundes die gleiche Bestürzung, den gleichen Unglauben, der auch sie bewegt hatte, nachdem sie die Wahrheit erfahren musste. Sie ließ Edmund Zeit. Und sie beantwortete all seine Fragen ruhig, die doch nur auf eines abziel­ten: Das Ungeheuerliche als Lüge zu entlarven. Allerdings war dies unmöglich, denn es handelte sich ja um die Wahrheit.

»Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte er sie schließlich betroffen. »Ich meine, Sie müssen etwas gegen Ihre Geschwister unternehmen. Was geschehen ist, kann man nicht einfach hinnehmen.«

»Ich werde mit meinem Vater reden, ihm alles berichten. Sicher wird er eine Lösung finden, ich konnte mich immer auf ihn verlassen.« Sie lächelte Edmund angedeutet zu. »Es ist schwer, sich vorzustellen, was Menschen dazu treibt, einen solch teuflischen Plan auszuführen. Aber ich werde die beiden zur Rede stellen, ich denke, das zumindest sind sie mir schuldig...«

Am späten Abend legte das Schiff im Hafen von Plymouth an. Die drei Reisenden quartierten sich für die Nacht in einem einfachen Gast­hof ein. Lady Emma fand nicht viel Schlaf, ihr Herz war zu aufgewühlt und zugleich ergriffen Heimweh und Wiedersehensfreude ihr Fühlen und Denken. Sie hörte Edmund die halbe Nacht im Nebenzimmer auf und ab gehen. Und sie ahnte, dass das Abenteuer, das hinter ihnen lag, ihrer aller Leben nachhaltig verändern würde...

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Der nächste Morgen war klar und sonnig. Der Sommer hielt Ein­zug im lieblichen Somerset, überall grünte und blühte es und das Zwit­schern der Vögel erfüllte die kristallene Luft.

Die alte Nanny hatte in einem fort Freudentränen in den Augen und begrüßte jeden Baum, jeden Strauch am Wegesrand wie einen guten Freund. Als sie dann Saintsbury-Hall erreichten, hielt es auch die junge Lady nicht mehr auf ihrem Platz. Sie wies den Kutscher an, am großen Tor zu halten und lief den Rest des Weges zu Fuß. Die Ge­wächshäuser grüßten sie von fern wie liebe Bekannte, die einzig ihrer Rückkehr geharrt hatten. Das Herz wurde Emma ganz leicht und weit. Und als sie die breite Freitreppe hinauf wirbelte, war schon ein Ruf auf ihren Lippen: »Vater, ich bin wieder daheim. Vater, Vater...«

Wie angewurzelt blieb Lady Emma mitten in der Eingangshalle von Saintsbury-Hall stehen. Man hätte meinen können, sie sei gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Ihr eben noch strahlendes Gesicht wurde unvermittelt blass, Erschrecken weitete ihre Augen. Und dann sprach sie die Frau an, die ihr, ganz in Schwarz, aus einem der Salons mit gemessenem Schritt entgegenkam.

»Elisabeth, was hat das zu bedeuten, was...« »Das frage ich dich«, kam es kaltblütig von Lady Montfort. »Was

willst du noch hier, nachdem du unseren Vater einfach im Stich gelas­sen hast, um durch die Welt zu ziehen? Nachdem du ihn einem einsa­men, verzweifelten Tod überlassen hast, ohne Trost, ohne Hoffnung? Schämst du dich nicht?«

»Vater ist... tot?« Das letzte Wort war nur ein Hauch gewesen, Tränen strömten über die Wangen der jungen Lady. Und während sie bitterlich weinte, drang Elisabeth erbarmungslos weiter auf sie ein. »Spare dir deine Krokodilstränen. Keiner nimmt dir ab, dass du trau­erst. Du bist eine verantwortungslose Person ohne Gewissen. Schon deine peinliche Heirat mit diesem Gärtner hat das gezeigt. Weißt du eigentlich, wie sehr du Vater damit geschadet hast? Er hing in nahezu idiotischer Zuneigung an dir. Und du hattest nichts anderes zu tun, als ihm das Herz zu brechen!«

»Oh, Elisabeth, sprich nicht so! Du weißt, das stimmt nicht, ich...«

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»Schweig und verlasse auf der Stelle dieses Haus! Du bist es nicht wert, hier zu sein. Geh und komm niemals wieder. Du bist nichts wei­ter als der böse Geist, der den eigenen Vater ins Grab getrieben hat. Verschwinde endlich und lass uns in Ruh!« Sie deutete auf die Tür, wo in diesem Moment Duke Edmund erschien und mit strenger Stimme fragte: »Glauben Sie wirklich, dass Ihnen ein solcher Auftritt zusteht, Lady Montfort? Vielleicht sollten Sie sich ein wenig bescheiden.«

»Was wollen Sie hier, Danby? Sie haben in diesem Haus nichts mehr zu suchen!«, herrschte Lord Geoffry den jungen Herzog an. Er trat neben seine Schwester und musterte Edmund abfällig, der einen Arm um Lady Emmas zuckende Schultern legte. »Verschwinden Sie und nehmen Sie die da gleich mit.«

Edmund lächelte schmal. »Ich denke, wir sind es nicht, die hier verschwinden werden. Ihr böses Spiel ist aufgedeckt, Sie haben verlo­ren, Saintsbury. Muss ich noch deutlicher werden?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, behauptete Lord Geoffry scheinbar sehr selbstsicher.

»Es gibt einen Brief, den Sie persönlich an Juan Alvarez ge­schrieben haben. Was würden Sie dazu sagen, wenn ich diesen Brief dem Gericht vorlege?«, bluffte Edmund kaltblütig. Lady Emma hatte ihm von dem Schreiben erzählt, aus dem Alvarez ihr im Haus des ge­heimnisvollen Inders vorgelesen hatte. Zwar befand es sich nicht im Besitz des jungen Herzogs, doch seine Finte verfing.

Lady Elisabeth herrschte ihren Bruder an: »Du Idiot! Wie konntest du nur... Habe ich dir nicht gesagt, dass keine Spur zu uns führen darf?« Sie biss sich auf die Lippen, als ihr bewusst wurde, dass sie sich hatte hinreißen lassen. Doch im nächsten Augenblick wurde ihr Miene schon wieder kalt und hochmütig. Sie behauptete: »Dieser Brief, falls er überhaupt existiert, beweist gar nichts. Oder bilden Sie sich im Ernst ein, dass ein englisches Gericht einem Gesetzlosen, einem Seeräuber und Mörder mehr Glauben schenken wird als einem ehrbaren Lord, dem zukünftigen Earl of Saintsbury? Versuchen Sie es nur, Danby, Sie werden sich lächerlich machen.«

Emma hatte sich mittlerweile ein wenig beruhigt. Obwohl die Nachricht vom Tod ihres Vaters noch immer wie ein Schock auf sie

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wirkte, wurde ihr doch nun bewusst, dass dies nicht der Zeitpunkt für Tränen und Schwäche war. Sie richtete sich auf und ihr Blick begegne­te dem der Halbschwester ruhig und stolz.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass Geoffry den Titel erben wird. Nach allem, was ihr beide euch habt zu Schulden kommen lassen, könnt ihr froh sein, wenn Alvarez euch nicht ins Gefängnis bringt. Es sollte euch doch wohl klar sein, dass es in seiner Hand liegt, ob ihr ungeschoren davonkommt.« Sie lächelte schmal. »In der Hand eines Gesetzlosen, Seeräubers und Mörders, wie du dich auszudrücken pflegst.«

»Du...« Die hellen Augen der Lady schienen wütende Funken zu schlagen. »Wenn dieser Spanier nicht in der Lage war, dich zu töten, dann werde ich es mit eigener Hand tun!«, drohte sie wie von Sinnen. »Sei bloß nicht zu sorglos, meine Liebe, ich werde kommen, eines Ta­ges... Und ich werde mich rächen!«

»Komm, Elli, das hat doch keinen Sinn.« Sir Geoffry war sichtlich peinlich berührt von dem Auftritt seiner Schwester. Er wollte sie zurück in den Salon bringen, doch sie riss sich von ihm los und fegte aus der Halle. Irgendwo wurde eine Tür ins Schloss geworfen, dann herrschte wieder Ruhe.

Geoffry erklärte gefasst: »Es tut mir leid, was geschehen ist, Em­ma. Sicher wirst du mir nicht glauben, allein der Brief, den du in Hän­den hast, spricht gegen meine Worte. Ich... habe schwere Sorgen, finanzielle Nöte zwingen mich, über kurz oder lang das Land zu verlas­sen. Das wollte ich verhindern und kam in der vagen Hoffnung, mein Schicksal wenden zu können, hierher. Elisabeth überredete mich dazu, dich auf Reisen zu schicken. Sie sprach zunächst nur von einer langen Forschungsreise, die uns Zeit gab, hier in unserem Sinne zu wirken. Aber es dauerte nicht lang, bis sie mit ihren wahren Absichten heraus­rückte. Ich gebe zu, dass ich dem Willen und der Klugheit meiner Schwester nicht viel entgegenzusetzen habe. Und die Aussicht auf ein angesehenes, sorgenfreies Leben in Saintsbury-Hall ließ mich alle Skrupel vergessen. Wenn ich jetzt zurückblicke, empfinde ich Scham und Schuld. Und ich denke, es wäre nur recht und billig, wenn du uns beide für das, was geschehen ist, auch offiziell zur Rechenschaft zie­

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hen solltest. Trotzdem bitte ich dich um Milde, liebe Emma. Ich werde, wie gesagt, England bald verlassen. Und Elli, nun, sie kann dir nicht mehr schaden. Ihr Mann wird auf sie achten, dafür sorge ich.« Er ver­beugte sich knapp und verließ dann gemessenen Schrittes die Halle.

»Was wollen Sie tun, Emma? Werden Sie ihn ziehen lassen?«, fragte Edmund sie nach einer Weile nachdenklichen Schweigens.

»Ich möchte zum Grab meines Vaters«, entschied sie da mit lei­ser, trauriger Stimme. »Wenn er mir auch keinen Rat mehr geben kann, so werde ich in seiner Nähe vielleicht selbst erkennen, wie es für mich weitergehen soll...«

*

Ein Vierteljahr war vergangen, der Sommer neigte sich allmählich sei­nem Ende zu. Lady Emma hatte ihr altes Leben im Gärtnerhaus wieder aufgenommen. Obwohl sie nun die Herrin von Saintsbury-Hall war, mochte sie doch die vertrauten Räume in dem gemütlichen Haus noch nicht gegen den Prunk des Schlosses tauschen. Vielleicht ir­gendwann... Doch die junge Lady machte keine so weit reichenden Pläne. Sie hatte lange gebraucht, um den Tod des geliebten Vaters hinzunehmen. Er fehlte ihr an jedem Tag, der verging. Aber in der beschaulichen Ruhe ihrer Gewächshäuser lernte Emma, mit der verän­derten Lebenssituation umzugehen. Und ihr Freund und Vertrauter Edmund Duke of Danby stand ihr dabei wie eh und je selbstlos und behütend zur Seite.

Lord Geoffry hatte, wie angekündigt, England verlassen, um sei­nen Gläubigem zu entfliehen. Emma hatte ihn ziehen lassen. Sie sah wenig Sinn in einer gerichtlichen Verfolgung seiner Verfehlungen, meinte sie doch, dass der erfolglose Anwalt und Spielsüchtige bereits genug geschlagen war. In der Fremde, ohne die Nähe seiner Schwes­ter oder die ordnende Hand des Vaters schien sein trauriges Schicksal allemal besiegelt.

Lady Elisabeth weilte seit Wochen in der Schweiz. Wut und Verbit­terung über das Scheitern ihrer ehrgeizigen Pläne hatten ihren Geist verwirrt. Ein gefährliches Nervenfieber, unter dessen Auswirkungen sie

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noch immer zu leiden hatte, war die Folge gewesen. Ihr Mann küm­merte sich fürsorglich um sie, doch wie es schien, würde sie noch lan­ge Zeit in dem Sanatorium nahe Basel bleiben müssen...

Lady Emma dachte oft an die Tage auf See zurück, an das große Abenteuer, in das sie so voller naiver Zuversicht gegangen war und das ihr doch die dunkelsten und schwersten Stunden ihres jungen Le­bens gebracht hatte. Und in manch schlafloser Nacht tauchte auch das Gesicht von Juan Alvarez vor ihrem geistigen Auge auf, jenes Mannes, der ihr Leben so nachhaltig verändert hatte. Bislang war sie noch nicht fähig gewesen, mit Edmund über das zu reden, was geschehen war. Und manchmal fragte sie sich, ob dies vielleicht auf immer ein Ge­heimnis zwischen ihr und diesem rätselhaften Spanier bleiben sollte. Ein kleiner Teil ihres Herzens blieb auf unergründliche Weise mit ihm verbunden, das wusste sie längst. Und sie meinte auch, sich dafür nicht schämen zu müssen.

»Miss Emma, ein Bote hat eben diesen Brief gebracht«, ließ Ruby Clark sich von der Tür des Gewächshauses her vernehmen und unter­brach so den Fluss ihrer Gedanken. »Er kommt aus London!«

»Aus London?« Die junge Lady wischte ihre erdigen Hände an ei­nem Lappen ab und verließ das Gewächshaus. Die alte Nanny, die seit ihrer beschwerlichen Seereise ein wenig hinfällig geworden war, hatte sich auf eine Bank unter einer nahen Esche niedergelassen. Sie reichte Emma nur zögernd den Umschlag, was diese zu der Frage reizte: »Stimmt etwas nicht?«

»Ach, ich musste nur daran denken, als dieser verhängnisvolle Brief aus Frankreich hier ankam...«

Lady Emma lächelte schmal. »Das wollten wir doch vergessen, nicht wahr? Lass uns schauen, was diese Depesche Neues bringt...« Sie öffnete den Umschlag, zum Vorschein kam ein einziges Blatt Büt­ten, auf dem nur wenige Worte in schwungvoller Schrift geschrieben standen: »Wir sehen uns wieder, schon bald...« Und die Blüte einer exotischen Orchidee, gepresst und schon ganz blass, lag daneben...

»Was hat denn das zu bedeuten?«, wunderte die alte Nanny sich unbehaglich. »Miss Emma, Sie sind ja ganz blass geworden...«

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Als sich ihnen rasche Schritte näherten, blickte Emma wie er­wachend auf. Es war Duke Edmund, der so plötzlich erschien. Er hatte es offensichtlich sehr eilig, ihr etwas mitzuteilen. Als er den Brief in Emmas Händen sah, erbleichte er.

»Alvarez ist entflohen«, sagte der junge Herzog mit dumpfer Stimme. »Aber ich habe den Verdacht, Sie wissen es bereits...«

Da lächelte Lady Emma angedeutet, erhob sich und bat: »Kom­men Sie, Edmund, trinken wir einen Tee zusammen. Ich habe Ihnen noch vieles zu erzählen. Und ich denke, jetzt ist endlich der richtige Zeitpunkt gekommen, dies zu tun.«

Er bedachte sie mit einem irritierten Blick, folgte ihr aber ohne Widerspruch. Seit ihrer Rückkehr nach England hätte Edmund sehr viel Geduld aufgebracht, obwohl ihm eine Frage unter den Nägeln brannte und er alles dafür gegeben hätte, zu erfahren, was sich tatsächlich zwischen Emma und diesem Seeräuber ereignet hatte. Doch er wollte sie nicht drängen, ahnte er doch, dass sie selbst es schwer hatte, mit den Erinnerungen umzugehen.

Als sie sich dann in dem kleinen, gemütlich eingerichteten Salon des Gärtnerhauses gegenüber saßen, sprach die junge Lady allerdings ein ganz anderes Thema an.

»Sie haben mich einmal gefragt, ob ich noch immer an Henry denke, ihn vermisse. Und ich habe Ihnen geantwortet, dass Gefühle nicht so schnell sterben. Erinnern Sie sich daran, Edmund?«

»Ja, sicher. Ich habe durchaus verstanden, wie Sie empfinden«, entgegnete er verständnisvoll. »Das war eigentlich schon immer so, Emma. Ihre Gedanken waren stets ein offenes Buch für mich. Glaube ich zumindest...«

Sie lächelte fein. »Sehen Sie, Edmund, ich habe mir in letzter Zeit viele Gedanken gemacht. Über die Vergangenheit, aber auch über die Zukunft. Meine Heirat mit Henry Parks geschah sehr spontan, nicht eben aus einer Laune heraus, aber doch impulsiv. Ich habe nur nach meinen Gefühlen gehandelt und nicht an die Konsequenzen gedacht. Als Henry verschwand, war ich geneigt, an eine Intrige zu glauben, vielleicht sogar an ein Verbrechen. Ich konnte und wollte nicht glau­ben, dass ich mein Herz an den Falschen verschenkt hatte.«

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»Und nun ziehen Sie diese Möglichkeit in Erwägung?«, wollte er vorsichtig wissen.

»Ja, sicher. Ich habe Henry wirklich geliebt. Und für eine kurze Zeitspanne war ich auch glücklich mit ihm. Doch mir ist jetzt klar, dass dies nicht für ein ganzes Leben gereicht hätte. Er wusste es wohl schon früher und ist deshalb gegangen.« Sie seufzte leise. »Es schmerzt mich, die Dinge so offen auszusprechen, nichts mehr zu be­schönigen. Doch jetzt, da Vater tot ist und ich die Herrin von Saintsbu­ry-Hall bin, denke ich, wird es Zeit, dass ich endlich erwachsen werde, nicht wahr?«

»Oh, liebe Emma, bleiben Sie so, wie Sie sind«, bat er sie spon­tan. »Ihr liebenswertes Wesen wird ja gerade von ein wenig Un­vernunft und kindlicher Naivität gespeist. Es wäre schade, wenn Sie sich verändern würden.«

Sie musste schmunzeln. »Edmund, Sie sind zu nachsichtig mit mir. Ich sehe selbst, dass ich nicht immer alles richtig gemacht habe im Leben. Aber ich habe jetzt den festen Willen, mein Schicksal in die Hand zu nehmen.«

Er deutete auf den Brief, den sie auf den Tisch gelegt hatte. »Hängt Ihre Entscheidung vielleicht damit zusammen?«

»Oh ja, ein wenig schon. Alvarez hat mir große Angst gemacht, aber er hat mir auch gezeigt, wie wichtig es ist, ehrlich zu sich selbst zu sein.«

»Sie... empfinden etwas für diesen Mann, nicht wahr?« »Mag sein, ich weiß es heute nicht mehr. Was hinter uns liegt, ist

vorbei und sollte wohl auch vergessen werden. Doch es hat mir gehol­fen, ein wenig die Eischalen abzuwerfen. Ich denke, dazu wurde es längst Zeit, nicht wahr?«

Der junge Herzog nahm spontan Lady Emmas Hand. Sein Blick stellte ihr eine Frage, die er doch noch nicht auszusprechen wagte. Aber ihr Lächeln sagte ihm auch, dass ihr Herz längst wusste, zu wem es gehörte...

Sehr viel später, als die Nacht bereits wie ein samten schweres Tuch das Land verhüllte, lag Lady Emma noch wach in ihrem Bett. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf und verhinderten, dass sie

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Ruhe fand. Das lange Gespräch mit Edmund hatte ihr inneren Frieden schenken sollen, doch dies war nicht geschehen. Im Gegenteil. Ihr war nun allmählich klar geworden, dass sich ihr Herz dem jungen Herzog zuwandte. Bisher hatte sie diese Gefühle weit von sich geschoben. Edmund war ihr Freund gewesen, ihr Vertrauter. Doch ihre Liebe hatte Henry Parks gehört.

Nun wagte Emma, sich selbst einzugestehen, dass dies nur eine Ausflucht gewesen war. Sie hatte sich der Wahrheit nicht stellen wol­len, fürchtete sich einfach davor, ihr Herz noch einmal zu verschenken und wieder enttäuscht zu werden. Doch nach allem, was sie und Ed­mund zusammen durchgemacht hatten, schien diese Sorge ganz un­begründet. Die junge Lady wusste, dass sie sich auf Edmund verlassen konnte. Er würde sie nie im Stich lassen, er war sogar bereit, sein Le­ben für sie zu geben. Welchen Beweis hätte sie noch benötigt, um an die Aufrichtigkeit seiner Liebe zu ihr glauben zu können?

Emma verließ das Bett, denn sie fand einfach keine Ruhe. Sie wollte sich gerade ein wenig Wasser in ein Glas gießen, als ihr Blick aus dem Fenster in den nachtdunklen Park fiel. Der Mond stand voll und hell am wolkenlosen Himmel, kein Lüftchen regte sich. Und doch hatte die junge Herrin von Saintsbury-Hall gerade einen dunklen Schatten ausgemacht, der sich flink wie ein Wiesel zwischen den alten Baumriesen im Park hin und her bewegte.

Emma erstarrte. Ihr Herz begann ängstlich zu klopfen und sie musste wieder an die Nachricht denken, die Alvarez ihr hatte zukom­men lassen. War er tatsächlich ebenso vermessen wie tollkühn, ihr hier seine Aufwartung zu machen? Sie mochte es kaum glauben. Doch der huschende Schatten im Park wies ganz deutlich in diese Richtung. Die junge Lady zog ihren Morgenmantel über, schlüpfte in ihre Pantoffeln und verließ dann ihr Schlafzimmer. Sie wollte die Haustür abschließen, um sich vor dem ungebetenen Besucher zu schützen. Doch als sie die Diele des Gärtnerhauses betrat, wurde ihr bewusst, dass es bereits zu spät war. Die Tür stand weit offen, im silbernen Schimmer des einfal­lenden Mondlichts sah sie sich einer hoch gewachsenen Gestalt ge­genüber, die ganz in Schwarz gekleidet war. Für ein paar Sekunden war Lady Emma wie gelähmt vor Schreck. Dann hörte sie Alvarez sa­

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gen: »Ich bin gekommen, wie versprochen. Ich nehme dich mit mir, Emma...«

»Nein!« Sie hatte sich aus ihrer Erstarrung gelöst, zündete eine Lampe an und forderte: »Gehen Sie, Alvarez. Wissen Sie denn nicht, wie gefährlich es für Sie ist, hier zu sein?«

Er trat auf sie zu, betrachtete sie mit jenem glutvollen Blick, der sie einst so völlig aus der Fassung gebracht hatte und forderte: »Ver­leugne nicht deine Gefühle, Emma. Wir gehören zusammen, ich lebe nur noch für dich!«

»Bitte, gehen Sie!« Die junge Lady wollte sich abwenden, doch ihr nächtlicher Besucher packte sie bei den Armen und herrschte sie an: »So kannst du mich nicht fortschicken. Ich habe es in deinen Augen gesehen, dass du mich liebst!«

Sie erwiderte seinen Blick so unnahbar und ruhig, dass es gleich­sam schien, als kühle sich die heiße Glut seiner Leidenschaft daran ab. Und als sie zu ihm sprach, ließ er sie los. »Was in Indien geschehen ist, liegt lange zurück. Es ist vorbei, für mich nicht mehr von Bedeu­tung. In meinem Leben hier auf Saintsbury-Hall ist kein Platz für einen Mann wie Sie, Alvarez. Es wäre besser für uns alle gewesen, wenn Sie nicht hergekommen wären. Etwas anderes kann ich Ihnen nicht sa­gen.«

Noch ehe der Pirat reagieren konnte, erschien Edmund Duke of Danby in der offenen Haustür. Lady Emma erschrak zutiefst, als sie den Säbel in seiner Rechten sah. Alvarez zuckte herum.

»Ich denke, Sie sind mir noch eine Revanche schuldig«, erklärte der junge Herzog furchtlos. »Auf dem Schiff sind Sie einfach geflohen. Das habe ich nicht vergessen!«

Alvarez lachte. »Die kannst du haben, Engländer!« Er schleuderte seinen Umhang von sich, zog mit einer gedankenschnellen Bewegung den Säbel. Und im nächsten Augenblick entspann sich ein Kampf auf Leben und Tod, in dem sich zwei ebenbürtige Gegner nichts schenk­ten. Lady Emma hatte für einen furchtbaren Moment den Eindruck, als erlebe sie die Schrecken ihrer Seereise noch einmal. Dann aber flüch­tete sie die Treppe hinauf, weckte Ruby Clark und wies diese an, zum Schloss zu laufen.

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»Wir brauchen Hilfe, um Alvarez davon abzuhalten, Edmund etwas anzutun«, erklärte sie angsterfüllt. Erst bei ihrem Wiedersehen mit dem gefährlichen Seeräuber hatte sie begriffen, dass ihre romanti­schen Gefühle für ihn nur der besonderen Situation entsprungen wa­ren, in der sie sich auf ihrer Reise befunden hatte. Bei Licht besehen war Alvarez ein Gesetzloser, vor dem sie sich ebenso fürchtete wie vor dem Gedanken, er könne sie tatsächlich mit sich nehmen und noch einmal all den Schrecken aussetzen, die sie auf hoher See und in fremden Ländern hatte durchmachen müssen. Die alte Nanny rührte sich nicht vom Fleck.

»Ich werde mein Zimmer nicht verlassen, wenn dieser Räuber im Haus ist«, erklärte sie kategorisch. »Und Sie bleiben hier bei mir, Miss Emma, bitte, setzen Sie sich nicht noch einmal einer Gefahr aus, das...« Sie verstummte, als das Geräusch einer näher kommenden Kutsche und einiger Reiter deutlich wurde. Lady Emma blickte aus dem Fenster und murmelte überrascht: »Das ist Polizei, ich verstehe gar nicht, woher die mit einem Mal kommen. Ich werde nach unten gehen und nachsehen.«

»Bitte, Miss Emma, bleiben Sie hier!«, flehte Ruby sie an, doch die junge Lady hielt es nicht mehr im Zimmer der alten Nanny. Bereits auf der Treppe vernahm sie aufgeregte Stimmen und Kampfgeräusche, die abrupt mit einem schmerzhaften Schrei verstummten. Emma erschrak zutiefst. Sie wagte kaum, die Stufen nach unten zu steigen, aus Angst vor dem, was sich ihren Augen dort präsentieren würde. Doch da kam Edmund ihr bereits entgegen. Sein Hemd war über der Brust und dem linken Arm zerfetzt, blutige Spuren malten sich unter dem Stoff ab, die eindeutig von Alvarez' Waffe stammten. Als die Lady dies sah, stieß sie einen entsetzten Laut aus und murmelte: »Mein Gott, Edmund, Sie sind verletzt...«

»Es ist nicht weiter schlimm, nur ein Kratzer«, wehrte er ihre Sor­ge ab. »Alvarez ist geflohen. Aber der Sheriff ist ihm auf den Fersen. Dieses Mal wird es ihm nicht wieder gelingen, sich aus der Affäre zu ziehen. Zumal er verletzt ist. Ich hoffe sehr, das war sein letztes Bu­benstück!«

»Woher wussten Sie...«

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Er lächelte ihr verhalten zu. »Nachdem Sie den Brief erhalten hat­ten, war mir klar, dass er hierher kommen würde. Ich habe mich im Park auf die Lauer gelegt und auch den Sheriff eingeweiht. Ich wollte nicht, dass Ihnen noch einmal etwas zustößt, Emma.«

»Kommen Sie, ich verbinde Ihre Wunde.« Sie erwiderte sein Lä­cheln erleichtert und glücklich. »Oder ist Ihnen das nicht recht?« Er schaute sie auf eine Weise an, die ihr fremd und doch vertraut war. Und als der junge Herzog Lady Emma dann in seine Arme zog und ebenso zärtlich wie sehnsuchtsvoll küsste, ließ sie es nur zu gern ge­schehen. Sie spürte, dass ihr Herz endlich heimgekehrt war, dass es Ruhe und tiefes Glück in der Liebe finden würde, die es nur einmal im Leben gab.

Der Wahren Liebe, die Lady Emma und Duke Edmund nun für immer vereinen sollte.

Ende

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