2
172 Christoph Wassner Forderung Bayesianischen Denkens - kognitionspsychologi- sche Grundlagen und didaktische Analysen Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften, vorgelegt beim Fachbe- reich Mathematik und lriformatik der Universitat Kassel. Gutachter: Prof Dr. Rolf Biehler Prof Dr. Laura Martignon Datum der Disputation: 25.6.2004 Der in dieser Arbeit wesentliche Fokus ist die Realisierung eines anwendungsbezogenen Konzeptes zur Forderung stochastischer Kompetenzen im Mathematikunterricht, die sich auf Entscheiden und Urteilen unter Unsicherheit beziehen. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die alltagsrelevante Kompetenz, mit Problemen urn bedingte Wahrschein- lichkeiten und Anwendungen des Satzes von Bayes umgehen zu konnen, die i.w.S. mit "Bayesianischem Denken" bezeichnet wird. Die historische und theoretische Grundlage der Arbeit sind kognitionspsychologische Erkenntnisse zum menschlichen Urteilen unter Unsicherheit: Intuitive Formen probabilistischen Denkens basieren auf Haufigkeits- anschauungen (z.B. Piaget & Inhelder, 1975; Gigerenzer, 1991). Meine didaktischen Analysen ergaben aber, dass der Umgang mit Unsicherheit im iiblichen Stochastik- unterricht nach einer haufigkeitsbasierten EinfUhrung des Wahrscheinlichkeitsbegriffes (der ja bekanntlich vieWiltige Interpretationsmoglichkeiten aufweist) nur noch auf Basis der numerischen Formate flir Wahrscheinlichkeiten (z.B. Prozentwerte, Dezimalbruche) und entsprechenden Regeln gelehrt wird. Damit werden m.E. grundlegende Intuitionen von Schiilem leider nur unzureichend beachtet. Das in dieser Arbeit detailliert entwickelte "Didaktische Konzept der natiirli- chen Haufigkeiten" schlagt somit die konsequente Modellierung probabilistischer Prob- Ierne mit Haufigkeitsreprasentationen vor. Unter kontrollierten Laborbedingungen wur- den computergestiitzte Trainingsvergleiche zum Themenfeld "Bayesianisches Denken" durchgefUhrt, die einen deutlich hOheren und nachhaltigeren Lemerfolg durch haufig- keitsbasiertes Training im Vergleich zu wahrscheinlichkeitsbasiertem Training bestatig- ten. Detaillierte Analysen der Modellierungsprozesse zeigten, dass das "Haufigkeitskon- zept" besonders den entscheidenden Schritt der "Ubersetzung" einer realistischen Situa- tion in ein mathematisches Modell unterstiitzt und dabei zu signifikant besseren Model- lierungskompetenzen fUhrt. Auf Grundlage dieser empirischen Befunde und didaktischer Analysen beste- hender Zugange wurde im Rahmen der Arbeit eine Unterrichtsreihe "Authentisches Be- werten und Urteilen unter Unsicherheit" fUr die Sekundarstufe I entwickelt (Wassner, Biehler, Schweynoch & Martignon, 2004). Zum einen erfolgte eine Umsetzung des "Di- daktischen Konzeptes der natiirlichen Haufigkeiten", zum anderen wurde ein Zugang mit hohem Realitatsbezug verwirklicht, in dem sogenannte "allgemeinere Bildungsaspekte" (JMD 26 (2005) H. 2, S. 172-173)

Förderung Bayesianischen Denkens — kognitionspsychologische Grundlagen und didaktische Analysen

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Förderung Bayesianischen Denkens — kognitionspsychologische Grundlagen und didaktische Analysen

172

Christoph Wassner

Forderung Bayesianischen Denkens - kognitionspsychologi­sche Grundlagen und didaktische Analysen

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften, vorgelegt beim Fachbe­reich Mathematik und lriformatik der Universitat Kassel.

Gutachter: Prof Dr. Rolf Biehler Prof Dr. Laura Martignon

Datum der Disputation: 25.6.2004

Der in dieser Arbeit wesentliche Fokus ist die Realisierung eines anwendungsbezogenen Konzeptes zur Forderung stochastischer Kompetenzen im Mathematikunterricht, die sich auf Entscheiden und Urteilen unter Unsicherheit beziehen. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die alltagsrelevante Kompetenz, mit Problemen urn bedingte Wahrschein­lichkeiten und Anwendungen des Satzes von Bayes umgehen zu konnen, die i.w.S. mit "Bayesianischem Denken" bezeichnet wird. Die historische und theoretische Grundlage der Arbeit sind kognitionspsychologische Erkenntnisse zum menschlichen Urteilen unter Unsicherheit: Intuitive Formen probabilistischen Denkens basieren auf Haufigkeits­anschauungen (z.B. Piaget & Inhelder, 1975; Gigerenzer, 1991). Meine didaktischen Analysen ergaben aber, dass der Umgang mit Unsicherheit im iiblichen Stochastik­unterricht nach einer haufigkeitsbasierten EinfUhrung des Wahrscheinlichkeitsbegriffes (der ja bekanntlich vieWiltige Interpretationsmoglichkeiten aufweist) nur noch auf Basis der numerischen Formate flir Wahrscheinlichkeiten (z.B. Prozentwerte, Dezimalbruche) und entsprechenden Regeln gelehrt wird. Damit werden m.E. grundlegende Intuitionen von Schiilem leider nur unzureichend beachtet.

Das in dieser Arbeit detailliert entwickelte "Didaktische Konzept der natiirli­chen Haufigkeiten" schlagt somit die konsequente Modellierung probabilistischer Prob­Ierne mit Haufigkeitsreprasentationen vor. Unter kontrollierten Laborbedingungen wur­den computergestiitzte Trainingsvergleiche zum Themenfeld "Bayesianisches Denken" durchgefUhrt, die einen deutlich hOheren und nachhaltigeren Lemerfolg durch haufig­keitsbasiertes Training im Vergleich zu wahrscheinlichkeitsbasiertem Training bestatig­ten. Detaillierte Analysen der Modellierungsprozesse zeigten, dass das "Haufigkeitskon­zept" besonders den entscheidenden Schritt der "Ubersetzung" einer realistischen Situa­tion in ein mathematisches Modell unterstiitzt und dabei zu signifikant besseren Model­lierungskompetenzen fUhrt.

Auf Grundlage dieser empirischen Befunde und didaktischer Analysen beste­hender Zugange wurde im Rahmen der Arbeit eine Unterrichtsreihe "Authentisches Be­werten und Urteilen unter Unsicherheit" fUr die Sekundarstufe I entwickelt (Wassner, Biehler, Schweynoch & Martignon, 2004). Zum einen erfolgte eine Umsetzung des "Di­daktischen Konzeptes der natiirlichen Haufigkeiten", zum anderen wurde ein Zugang mit hohem Realitatsbezug verwirklicht, in dem sogenannte "allgemeinere Bildungsaspekte"

(JMD 26 (2005) H. 2, S. 172-173)

Page 2: Förderung Bayesianischen Denkens — kognitionspsychologische Grundlagen und didaktische Analysen

Dissertationen/Habilitationen 173

wie Lebensvorbereitung, eigenstandige Problem16seHihigkeit, kritischer Vemunft­gebrauch, Sinnstiftung, motivationale Faktoren etc. wesentliche Beachtung fanden.

Eine folgende Implementation dieser Unterrichtsreihe in der Sekundarstufe I (ftinf 9. Klassen, Gymnasium) verfolgte das Ziel, Stochastikunterricht mit dem "Haufig­keitskonzept" zu explorieren und zu optimieren. Leistungsbezogene Ergebnisse zeigten die schon in Trainingsstudien festgestellte hohe Nachhaltigkeit von Lemerfolgen. Die angestrebten Kompetenzerwartungen konnten von den meisten Schulem auch 14 Wo­chen nach dem Unterricht noch erflillt werden. Die Lehrer- und Schtileraussagen bei durchgeflihrten Befragungen machten deutlich, dass der hohe Lemerfolg maBgeblich auf die Verwendung des "Haufigkeitskonzeptes" zUrUckzuflihren ist. Die Analyse der Unter­richtsbeobachtungsdaten (Video) sttitzte diese Befunde. Die haufigkeitsbasierte Model­lierung realistischer Situationen flihrte an vielen Stellen des Unterrichts offensichtlich zur Fi:irderung oben genannter "allgemeinerer Bildungsaspekte", die sich z.B. in der ei­genstandigen und kompetenten Interpretation und Diskussion auch weiterfiihrender, spontaner Fragestellungen durch die SchUler zeigte.

Das Gesamtergebnis dieser Arbeit belegt den hohen Nutzen des haufigkeits­basierten Unterrichtskonzeptes fUr die Schaffung eines vorlaufigen und tragfahigen Ab­schlusses zum zentralen stochastischcn Themenfeld "Bayesianisches Denken". Die flir Schuler schwierige, formalere Behandlung dieser Inhalte (evtl. in der Sek.II) wird da­durch auf ein solides Fundament gestellt. Der Erfolg besteht offensichtlich in einer For­derung grundlegender Intuitionen des Menschen beim Urteilen unter Unsicherheit, die nach allen bisherigen Erkenntnissen haufigkeitsbasiert sind. Als Implikation aus den Er­gebnissen dieser Arbeit wird empfohlen, das "Haufigkeitskonzept" zur einflihrenden Fi:irderung von Kompetenzen im Bereich "Urteilen unter Unsicherheit" in der Schule konsequent zu verwenden.

Die Arbeit ist im November 2004 im Verlag Franzbecker, Hildesheim unter 0-

bigem Titel erschienen (Reihe: Texte zur mathematischen Forschung und Lehre, Band 34; ISBN 3-88120-393-1). Die VerOffentlichung beinhaltet auch im Unterricht verwen­dete Arbeitsmaterialien mit didaktischen Kommentaren von Wassner, Biehler, Schwey­noch und Martignon.

Literatur: Gigerenzer, G. [1991]: How to make cognitive illusions disappear: Beyond "heuristics and biases".

In: W. Stroebc & M. Hcwstonc (Eds.). European Review a/Social Psychology, 2,83-115.

Piaget, J. & Inhelder, B. [1975]: Thc origin of the idea of chance in children (L. Leake, Jr., P. Burrel & H.D. Fischbein, Trans.). New York: Norton (Franz. Orginalausg. 1951).

Dr. Christoph Wassner KeBlerstr. 10 90489 Numberg Email: [email protected];[email protected]