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[PROD_10: TSP_04-VP_SONNTAG-SONNTAG <SONNTAG5R> ... 16.10.11] Autor:J_MUEHLING 17.10.11 10:34 Moskau D eutschland beginnt mit einem Gitterzaun. Er ist grün, aus Metall und mehr als manns- hoch. Kameras in den Bäu- men folgen dem Fußgänger, der am Zaun entlangwandelt, auf der Su- che nach der Pforte. Dort fragt eine junge Russin nach dem Pass und gewährt Ein- lass. Ein Aufkleber auf dem kugelsicheren Fenster informiert: „Die Corporation She- riff sorgt für Ihre Sicherheit!“ Hier im Südwesten der Stadt ist Moskau so grau-gräulich, wie man sich Russland gerne vorstellt: 20-geschossige Wohnsi- los, die Höfe dazwischen vollgeparkt mit Autos, aus der nahen Ferne grüßt vom Dach eines Betonklotzes das blaue Firmen- logo von Gazprom. Trotzdem gilt der Stadt- teil unter Moskauern als gute Wohnge- gend, weil es hier vergleichsweise wenig Industrie gibt. Eine Dreizimmerwohnung in einem der Betonbauten außerhalb des Zauns kostet ab 1500 Euro im Monat. Drinnen, im „Deutschen Dorf“, plät- schert ein kleiner Brunnen neben schmie- deeisernen Bänken. Die Szenerie könnte ein Suchbild für Mos- kaukundige sein: Was fehlt? Die Schlaglöcher! Die Graffiti! Der Müll! Stattdessen sieht man Hundetüten- spender der Marke „Sac-o-Mat“. Sogar die Zeiten für die Müllentsorgung an den Containern sind auf Russisch und Deutsch ausgeschrieben, und ein Schild am Eingang informiert: „Hier gilt die deut- sche StVO.“ Das „Deutsche Dorf“ ist Deutschland in konzentrierter Form, auf einem Gelände, das kaum größer ist als drei Fußballfelder. „Deutsches Dorf? Wenn ich das schon höre! Wir sind das Wohngebiet der Bot- schaft der Bundesrepublik Deutschland“, wird die Verwaltungsleiterin Heidrun Linke den Unwissenden später zurecht- weisen. Der Name „Dorf“, den manche Bewohner verwenden, ist tatsächlich mehr Wunsch als Wirklichkeit. Böse Zun- gen sprechen eher vom „deutschen Ghetto“. Wer sich hier niederlässt, hat die Wahl zwischen dem 16-stöckigen „Zickzack- haus“ und dem zwölfstöckigen „Lang- haus“. Macht zusammen 400 Wohnun- gen. Die zwei Blocks wurden nach 1975 gebaut, für DDR-Handelsvertreter, DDR-Diplomaten und sonstige Vertreter der sowjetisch-ostdeutschen Nomenkla- tura. Im Grunde könnten sie so auch in Marzahn stehen, ohne Zaun natürlich und nicht so hochwertig saniert: Vier Zimmer kosten 3000 Euro im Monat. Dafür bietet das „Deutsche Dorf“ den Bewohnern ein Gefühl der Sicherheit vor den Untiefen des Moskauer Alltags. Sogar Wladimir Pu- tin schickte seine beiden Töchter auf die deutsche Schule, die ebenfalls auf dem Ge- lände liegt. Aber es ist auch eine Art Zwangsjacke für sehr unterschiedliche Menschen. Die Ostdeutschen, die nach der Wende nach Russland gingen und als Vertreter deut- scher Firmen von ihren alten Parteikon- takten profitierten, sind so eine Gruppe, die völlig unter sich bleibt. „Die grüßen auf der Straße nicht“, sagt ein Bewohner. Auch sonst wird wenig gegrüßt. Obwohl hier nur so viele Einwohner leben wie in einem kleineren Dorf auf der Schwäbi- schen Alb, ist das Sozialleben begrenzt: Christen treffen sich in der ökumeni- schen Gemeinde, junge Eltern in der Schule und im Kindergarten – der Rest im „Deutschen Eck“. Bernd Friedebold sitzt in kurzer Hose und Hemd vor seinem Deutschen Eck, ei- nem Fachwerkhaus, das er letztes Jahr zu- sammen mit sibirischen Arbeitern aus dem Boden gestampft hat. Gerade geht ein Moskauer Arbeitstag zu Ende, die Her- ren Diplomaten und Attachés, die Inge- nieure und Firmenvertreter haben sich durch den Moskauer Stau gekämpft und ihre Wagen auf den durchnummerierten Parkplätzen abgestellt. Die Holztische rundum sind voll be- setzt, die Stimmung locker, fast wie in ei- nem deutschen Biergarten. Man disku- tiert über den deutschen Atomausstieg, der vermutlich mehr Gaslieferungen aus Russland bedeutet. In letzter Zeit schimp- fen sie an den Holztischen auch gerne laut auf Europa, das den Euro an die Wand fährt. In der Mitte des Biergartens dreht sich derweil friedlich eine mannshohe höl- zerne Windmühle, umringt von Garten- zwergen. Letztere sind eher Provokation als Bekenntnis: Nach der Eröffnung hat- ten einige wenige Bewohner Unterschrif- ten gesammelt, weil ihnen die Kneipe „zu deutsch“ war. Weil Friedebold so etwas nicht ausstehen kann, setzte er mit den Gartenzwergen noch einen drauf. Ansons- ten hat er sich bemüht, alle Deutschen zu umarmen, man sieht es der Speisekarte an: Bayrische Schweinshaxe, Badische Kartoffelsuppe, Thüringer Bratwurst und Königsberger Klopse. „Schlips ab, Bier trinken, herzhaft essen“, nennt Friede- bold sein Konzept. Den Deutschen ge- fällt’s, weil es in Moskau inzwischen Res- taurants für jeden Geschmack gibt, aber Gemütlichkeit eben eine deutsche Spezia- lität ist. Friedebold, 50, erinnert an Peer Stein- brück: das Haar licht, der Charakter fröh- lich. Über einen guten Scherz lacht er gern und polternd. Eine randlose Brille würde er dagegen nie tragen, und seine Pranken, die nun das „Maxlrainer“-Bier- glas umschließen, sind robust, man sieht ihnen an, dass sie gerne anpacken. Sein Leben teilt sich ziemlich genau in zwei Hälften. Den Anfang machte er in Sachsen-Anhalt und Potsdam, wurde Leh- rer für Mathematik und Erdkunde. Das war mit der Wende ebenso vorbei wie seine erste Ehe. Friedebold schulte um auf Ingenieur für Holzverarbeitung, da- mit begann das Abenteuer seines Lebens – der wilde Osten. Der gefiel ihm, denn hier konnte er loslegen. „Jeden Morgen aufwachen mit dem Gedanken, dass es 100 Probleme gibt“, erinnert er sich an die wildesten Zeiten, „und dass du 99 von ihnen mit Geld lösen kannst.“ Friedebold ist kein Diplomat, er spricht das aus, wo- von viele deutsche Firmenvertreter ei- nem deutschen Journalisten erst nach sehr vielen Pils erzählen. Sein Abenteuer begann 1993. Mit einer dänischen Firma gelangte er über Ungarn und Rumänien nach Moldawien, wo er seine Frau kennenlernte. 1998 ging es dann richtig los: Zwei Russen aus der sibi- rischen Öl- und Gasförderstadt Surgut rie- fen an. „Keine Ahnung, wie die mich ge- funden haben“, sagt Friedebold lachend, „aber sie brauchten einen Deutschen mit Bauerfahrung“. Die Stadt mit heute 300000 Einwohnern wuchs damals im Gleichschritt mit dem Öl- und Gasboom – und Friedebolds Firma wurde binnen we- niger Jahre zur größten Baufirma mit meh- reren hundert Mitarbeitern. 2004 kehrte die inzwischen vierköp- fige Familie nach Moskau zurück. „Die Kinder mussten an die deutsche Schule, sonst hätte ich ihnen die Rückkehr nach Deutschland verbaut“, sagt Friedebold. „Ansonsten“, jetzt klingt er zum ersten Mal wehmütig, „wäre ich noch in Sibi- rien.“ Hubschrauberflüge am Polarkreis musste er nun eintauschen gegen nervtö- tende Büroarbeit – als Moskauer Bürolei- ter eines deutschen Konzerns. Das Vertrauen der Firmenleitung zu ih- rem Mann in Moskau war schnell dahin, weil das Prinzip der 99 Probleme, das vor- her immer funktioniert hatte, nun auf deutschen Widerstand stieß. Für „Kos- ten, die in Deutschland keiner veran- schlagt“, hatten seine Chefs immer weni- ger Verständnis. Der staatliche Kontrol- leur etwa, der unzufrieden ist mit dem Brandschutz der neuen Produktionshalle. „Mit dem muss ich mich einigen“, er- klärte Friedemann seinen Chefs. „Aber nicht offiziell – das will der gar nicht!“ Nach drei Jahren warf er das Handtuch. Heute berät er Ausländer beim Hausbau in Moskau, das „Deutsche Eck“ ist eher ein Hobby – und ein Wunsch seiner Frau. Zwar ist auch Friedebold der ewigen Kor- ruption im Arbeitsalltag inzwischen et- was müde, aber eines haben die zwei Jahr- zehnte ihn gelehrt: „Wir können nicht Russland verändern – wir müssen uns lei- der anpassen.“ Eher wenig angepasst hat sich über die Jahre Heidrun Linke. Es ist Sonntag, die Mittfünfzigerin hat Bereitschaftsdienst und kommt im roten, ärmellosen Polo- hemd und Dreiviertelhose aus dem zwei- stöckigen Verwaltungsgebäude, das zwi- schen Lang- und Zickzackhaus steht. Die Hälfte der Bewohner ist wie jeden Som- mer in der Heimat oder im Urlaub, Linke kann es also ruhig angehen lassen. Die gebürtige Leipzigerin kam 1988 zum ersten Mal mit ihrem Mann, einem Wissenschaftler, nach Moskau. Und war wenig begeistert. Was sollte eine Fremd- sprachenkorrespondentin mit Englisch und Spanisch hier? „Dass wir Ostdeut- schen grundsätzlich einen besseren Draht zu den Russen hatten, stimmt nicht“, sagt sie. Doch bald schloss sie Freundschaften mitVertretern derMoskauer Intelligenzija und änderte ihre Meinung über die Rus- sen. Ganz besonders lieb gewonnen hat sie die „Küchengespräche“ mit russischen Freunden – Nächte, in denen man bei un- zähligen Tassen Tee über Gott und die Welt diskutiert, bis der Morgen graut. Seit 2001 ist Linke Verwaltungsleiterin des deutschen Wohngebiets. Die Sächsin ist so etwas wie die Dorf- mutter. Linke schlichtet, wenn dem einen Deutschen die Kli- maanlage des ande- ren Deutschen auf den Balkon tropft, sie verwaltet die Warteliste für die be- gehrten Mehrzim- merwohnungen, und wenn es sein muss, legt sie sich nachts mit Sicher- heitsleuten auf die Lauer, um Fahrraddie- ben das Handwerk zu legen. Die meisten ihrer Deutschen bleiben für drei oder fünf Jahre. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Russlands: 2009 gingen in beide Richtungen Waren im Wert von fast 50 Milliarden Euro, über 6000 deutsche Unternehmen haben in Russland Tochterfirmen oder Repräsen- tanzen, die meisten in Moskau. Viele Ge- sandte werfen aber schon nach einem Jahr das Handtuch, sagt Linke. Manch ei- ner erträgt den „Abstieg“ aus seinem Häuschen im Schwarzwald nach Mos- kau-Marzahn nicht. Viele scheitern auch an ihrer deutschen Sturheit. „Mit dem Großmannstum, das manche hier an den Tag legen, kommt man nicht weit“, weiß sie. „Die Russen lieben zwar die Korrekt- heit und die Pünktlichkeit der Deutschen, aber man muss sich auch in ihre Mentali- tät reindenken.“ Vielleicht steht für die Russen Ordnung nicht an erster Stelle, da- für lieben sie spontane, schnelle Entschei- dungen. „Es gibt kein Hin und Her wie bei den Deutschen – wenn sie etwas machen wollen, dann finden sie auch das Geld.“ Dass Deutsche und Russen voneinan- der lernen können, ist ein Befund, der weit in die russische Geschichte zurück- reicht. Schon im 16. Jahrhundert exis- tierte am Moskauer Stadtrand eine Sied- lung namens „Nemezkaja Sloboda“, was übersetzt „Deutsche Vorstadt“ bedeutet. Bewohnt wurde sie von westeuropäi- schen Ingenieuren, Handwerkern und Mi- litärexperten, die Zar Iwan der Schreckli- che gezielt nach Russland rief, um sein technisch rückständiges Land zu moderni- sieren. Lange pflegte Moskau ein zwiespältiges Verhältnis zu seinen Gästen: Einerseits brauchte man ihre Fachkenntnisse, ande- rerseits fürchtete man ihre fremdartigen Sitten, weshalb man sie in einem peinlich abgeschirmten Ghetto jenseits der Stadt- mauern ansiedelte. Erst ein späterer Zar erkannte das Potenzial der Deutschen Vor- stadt: Peter der Große, der wohl nachhal- tigste Reformer der russischen Ge- schichte, entwickelte seine Vision eines europäisch geprägten Russlands bei sei- nen jugendlichen Streifzügen durch das Ausländerghetto. Auch seine erste Geliebte lernte Zar Pe- ter hier kennen, Anna Mons, die Tochter eines westfälischen Weinhändlers. Das ist natürlich lange her, aber auch im heutigen Deutschen Dorf sind transnationale Liai- sons keine Seltenheit. Die meisten Män- ner hier sind mit Frauen aus Russland oder anderen GUS-Ländern verbandelt. Viele finden in Moskau ihre neue Liebe, besonders dann, wenn die deutsche Fami- lie nicht mitkommt nach Russland. Nicht immer endet das glücklich. „Manche Deutsche lassen sich von jungen Russin- nen den Kopf verdrehen, und dann haben sie plötzlich ein Kind und merken, dass es vielleicht doch nicht die große Liebe war“, sagt Friedebold. Dominik Weiel (Zickzackhaus, zehnter Stock) hat sich sogar orthodox taufen las- sen aus Liebe. Dass es dann doch keine Hochzeit gab, lag nicht an ihm, was eine traurige Geschichte ist, über die Weiel nicht so gerne spricht. Lieber erzählt er von den fünf Jahren, die er hier als Geo- loge für die deutsche Wintershall gearbei- tet hat, zuletzt in einem russischen Part- nerunternehmen, das zusammen mit den Deutschen ein riesiges Gasfeld namens Ju- schno-Russkoje entwickelt. Der 43-jäh- rige Weiel pendelte zwischen Moskau und der Stadt Urengoj nahe des Polarkrei- ses und modellierte zusammen mit einhei- mischen Kollegen die Lagerstätte. „Arbeiten in Russland hat einen hohen Erinnerungswert“, sagt er lachend. „Es passiert immer irgendwas.“ Als Geologe für das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, das war lange vor seiner Wintershall-Zeit, ging er auf For- schungsfahrt an Bord der russischen „Aka- demik Petrow“ und überstand den Zusam- menstoß mit einem Eisberg in der arkti- schen Karasee. Ein anderes Mal wären sie beinahe im arktischen Eis gestrandet, weil das russische Partnerinstitut offen- bar das Geld für den gecharterten Hub- schrauber unterschlagen hatte. Im Deutschen Dorf hat Weiel Hilfe ge- funden, wenn sie nötig war. Vor allem aber hat er die besondere Freundschaft der Russen schätzen gelernt: „Sie wirken ja sehr verschlossen, lächeln wenig. Aber wenn man sich erst mal kennengelernt hat, dann hält es meist für immer“, sagt Weiel. Trotz der gescheiterten Hochzeit wird er nicht alleine aus Russland zurück- kehren. Mit ihm im Flieger wird Lubomir sitzen, sein sibirischer Kater. Die Katzen- art zeichnet sich durch besonders dickes Fell an den Pfoten aus. Eine Eigenschaft, die wohl keinem schadet, der in Russland sein Glück versucht. Das „Deutsche Dorf“ liegt unweit der Moskauer Stadtgrenze. In den siebziger Jahren für DDR-Funktionäre gebaut, beherbergt die Siedlung heute neben Botschaftsangehörigen vor allem deutsche Geschäftsleute. D FAKTEN Das deutsche Eck von Tief im Südwesten Ein Wirt und seine Gäste. Besucher des „Deutschen Ecks“ (oben); Bernd Friedebold, Gründer und Inhaber der Gaststätte (unten). Sogar Putin schickte seine Töchter hier zur Schule Was fehlt? Die Graffiti, der Müll, die Schlaglöcher Betonidylle. Gartenzwerge vor der Dorfkneipe. Fotos (3): Gathmann Hier lebt es sich sauber und sicher: Für den Hundekot liegen Tütchen bereit, am Zaun kontrolliert ein Wachschutz – und es gilt die deutsche Straßenverkehrsordnung. Keine Frage: Wir sind in Russland SONNTAG, 16. OKTOBER 2011 / NR. 21 127 DER TAGESSPIEGEL S5 DIE STADT Von Moritz Gathmann

Fotos (3): Gathmann Moskau€¦ · [PROD_10: TSP_04-VP_SONNTAG-SONNTAG ... 16.10.11] Autor:J_MUEHLING 17.10.11 10:34 Moskau D eutschland beginnt mit einem Gitterzaun

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Page 1: Fotos (3): Gathmann Moskau€¦ · [PROD_10: TSP_04-VP_SONNTAG-SONNTAG  ... 16.10.11] Autor:J_MUEHLING 17.10.11 10:34 Moskau D eutschland beginnt mit einem Gitterzaun

[PROD_10: TSP_04-VP_SONNTAG-SONNTAG <SONNTAG5R> ... 16.10.11] Autor:J_MUEHLING 17.10.11 10:34

Moskau

Deutschland beginnt mit einemGitterzaun. Er ist grün, ausMetall und mehr als manns-hoch. Kameras in den Bäu-men folgen dem Fußgänger,

der am Zaun entlangwandelt, auf der Su-che nach der Pforte. Dort fragt eine jungeRussin nach dem Pass und gewährt Ein-lass. Ein Aufkleber auf dem kugelsicherenFenster informiert: „Die Corporation She-riff sorgt für Ihre Sicherheit!“

Hier im Südwesten der Stadt ist Moskauso grau-gräulich, wie man sich Russlandgerne vorstellt: 20-geschossige Wohnsi-los, die Höfe dazwischen vollgeparkt mitAutos, aus der nahen Ferne grüßt vomDacheinesBetonklotzesdasblaueFirmen-logovonGazprom.TrotzdemgiltderStadt-teil unter Moskauern als gute Wohnge-gend, weil es hier vergleichsweise wenigIndustrie gibt. Eine Dreizimmerwohnungin einem der Betonbauten außerhalb desZauns kostet ab 1500 Euro im Monat.

Drinnen, im „Deutschen Dorf“, plät-schert ein kleiner Brunnen neben schmie-deeisernen Bänken.Die Szenerie könnteein Suchbild für Mos-kaukundige sein:Was fehlt? DieSchlaglöcher! DieGraffiti! Der Müll!Stattdessen siehtman Hundetüten-spender der Marke„Sac-o-Mat“. Sogardie Zeiten für die Müllentsorgung an denContainern sind auf Russisch undDeutsch ausgeschrieben, und ein Schildam Eingang informiert: „Hier gilt die deut-sche StVO.“ Das „Deutsche Dorf“ istDeutschland in konzentrierter Form, aufeinem Gelände, das kaum größer ist alsdrei Fußballfelder.

„Deutsches Dorf? Wenn ich das schonhöre! Wir sind das Wohngebiet der Bot-schaft der Bundesrepublik Deutschland“,wird die Verwaltungsleiterin HeidrunLinke den Unwissenden später zurecht-weisen. Der Name „Dorf“, den mancheBewohner verwenden, ist tatsächlichmehr Wunsch als Wirklichkeit. Böse Zun-gen sprechen eher vom „deutschenGhetto“.

Wer sich hier niederlässt, hat die Wahlzwischen dem 16-stöckigen „Zickzack-haus“ und dem zwölfstöckigen „Lang-haus“. Macht zusammen 400 Wohnun-gen. Die zwei Blocks wurden nach 1975gebaut, für DDR-Handelsvertreter,DDR-Diplomaten und sonstige Vertreterder sowjetisch-ostdeutschen Nomenkla-tura. Im Grunde könnten sie so auch inMarzahn stehen, ohne Zaun natürlich undnicht so hochwertig saniert: Vier Zimmerkosten 3000 Euro im Monat. Dafür bietetdas „Deutsche Dorf“ den Bewohnern einGefühl der Sicherheit vor den Untiefendes Moskauer Alltags. Sogar Wladimir Pu-tin schickte seine beiden Töchter auf diedeutsche Schule, die ebenfalls auf dem Ge-lände liegt.

Aber es ist auch eine Art Zwangsjackefür sehr unterschiedliche Menschen. DieOstdeutschen, die nach der Wende nachRussland gingen und als Vertreter deut-scher Firmen von ihren alten Parteikon-takten profitierten, sind so eine Gruppe,die völlig unter sich bleibt. „Die grüßenauf der Straße nicht“, sagt ein Bewohner.Auch sonst wird wenig gegrüßt. Obwohlhier nur so viele Einwohner leben wie ineinem kleineren Dorf auf der Schwäbi-schen Alb, ist das Sozialleben begrenzt:Christen treffen sich in der ökumeni-schen Gemeinde, junge Eltern in derSchule und im Kindergarten – der Rest im„Deutschen Eck“.

Bernd Friedebold sitzt in kurzer Hoseund Hemd vor seinem Deutschen Eck, ei-nem Fachwerkhaus, das er letztes Jahr zu-sammen mit sibirischen Arbeitern ausdem Boden gestampft hat. Gerade gehtein Moskauer Arbeitstag zu Ende, die Her-ren Diplomaten und Attachés, die Inge-nieure und Firmenvertreter haben sichdurch den Moskauer Stau gekämpft undihre Wagen auf den durchnummeriertenParkplätzen abgestellt.

Die Holztische rundum sind voll be-setzt, die Stimmung locker, fast wie in ei-nem deutschen Biergarten. Man disku-tiert über den deutschen Atomausstieg,der vermutlich mehr Gaslieferungen ausRussland bedeutet. In letzter Zeit schimp-fen sie an den Holztischen auch gerne lautauf Europa, das den Euro an die Wand

fährt. In der Mitte des Biergartens drehtsich derweil friedlich eine mannshohe höl-zerne Windmühle, umringt von Garten-zwergen. Letztere sind eher Provokationals Bekenntnis: Nach der Eröffnung hat-ten einige wenige Bewohner Unterschrif-ten gesammelt, weil ihnen die Kneipe „zudeutsch“ war. Weil Friedebold so etwasnicht ausstehen kann, setzte er mit denGartenzwergen noch einen drauf. Ansons-ten hat er sich bemüht, alle Deutschen zuumarmen, man sieht es der Speisekartean: Bayrische Schweinshaxe, BadischeKartoffelsuppe, Thüringer Bratwurst undKönigsberger Klopse. „Schlips ab, Biertrinken, herzhaft essen“, nennt Friede-bold sein Konzept. Den Deutschen ge-fällt’s, weil es in Moskau inzwischen Res-taurants für jeden Geschmack gibt, aberGemütlichkeit eben eine deutsche Spezia-lität ist.

Friedebold, 50, erinnert an Peer Stein-brück: das Haar licht, der Charakter fröh-lich. Über einen guten Scherz lacht ergern und polternd. Eine randlose Brillewürde er dagegen nie tragen, und seinePranken, die nun das „Maxlrainer“-Bier-glas umschließen, sind robust, man siehtihnen an, dass sie gerne anpacken.

Sein Leben teilt sich ziemlich genau inzwei Hälften. Den Anfang machte er inSachsen-Anhalt und Potsdam, wurde Leh-rer für Mathematik und Erdkunde. Daswar mit der Wende ebenso vorbei wieseine erste Ehe. Friedebold schulte umauf Ingenieur für Holzverarbeitung, da-mit begann das Abenteuer seines Lebens– der wilde Osten. Der gefiel ihm, dennhier konnte er loslegen. „Jeden Morgenaufwachen mit dem Gedanken, dass es100 Probleme gibt“, erinnert er sich andie wildesten Zeiten, „und dass du 99 vonihnen mit Geld lösen kannst.“ Friedeboldist kein Diplomat, er spricht das aus, wo-von viele deutsche Firmenvertreter ei-nem deutschen Journalisten erst nachsehr vielen Pils erzählen.

Sein Abenteuer begann 1993. Mit einerdänischen Firma gelangte er über Ungarnund Rumänien nach Moldawien, wo erseine Frau kennenlernte. 1998 ging esdann richtig los: Zwei Russen aus der sibi-rischen Öl- und Gasförderstadt Surgut rie-fen an. „Keine Ahnung, wie die mich ge-funden haben“, sagt Friedebold lachend,„aber sie brauchten einen Deutschen mitBauerfahrung“. Die Stadt mit heute300000 Einwohnern wuchs damals imGleichschritt mit dem Öl- und Gasboom –und Friedebolds Firma wurde binnen we-niger Jahre zur größten Baufirma mit meh-reren hundert Mitarbeitern.

2004 kehrte die inzwischen vierköp-fige Familie nach Moskau zurück. „DieKinder mussten an die deutsche Schule,sonst hätte ich ihnen die Rückkehr nachDeutschland verbaut“, sagt Friedebold.„Ansonsten“, jetzt klingt er zum erstenMal wehmütig, „wäre ich noch in Sibi-rien.“ Hubschrauberflüge am Polarkreismusste er nun eintauschen gegen nervtö-tende Büroarbeit – als Moskauer Bürolei-ter eines deutschen Konzerns.

Das Vertrauen der Firmenleitung zu ih-rem Mann in Moskau war schnell dahin,weil das Prinzip der 99 Probleme, das vor-her immer funktioniert hatte, nun aufdeutschen Widerstand stieß. Für „Kos-ten, die in Deutschland keiner veran-schlagt“, hatten seine Chefs immer weni-

ger Verständnis. Der staatliche Kontrol-leur etwa, der unzufrieden ist mit demBrandschutz der neuen Produktionshalle.„Mit dem muss ich mich einigen“, er-klärte Friedemann seinen Chefs. „Abernicht offiziell – das will der gar nicht!“

Nach drei Jahren warf er das Handtuch.Heute berät er Ausländer beim Hausbauin Moskau, das „Deutsche Eck“ ist eherein Hobby – und ein Wunsch seiner Frau.Zwar ist auch Friedebold der ewigen Kor-ruption im Arbeitsalltag inzwischen et-was müde, aber eines haben die zwei Jahr-zehnte ihn gelehrt: „Wir können nichtRussland verändern – wir müssen uns lei-der anpassen.“

Eher wenig angepasst hat sich über dieJahre Heidrun Linke. Es ist Sonntag, dieMittfünfzigerin hat Bereitschaftsdienstund kommt im roten, ärmellosen Polo-hemd und Dreiviertelhose aus dem zwei-stöckigen Verwaltungsgebäude, das zwi-schen Lang- und Zickzackhaus steht. DieHälfte der Bewohner ist wie jeden Som-mer in der Heimat oder im Urlaub, Linkekann es also ruhig angehen lassen.

Die gebürtige Leipzigerin kam 1988zum ersten Mal mit ihrem Mann, einemWissenschaftler, nach Moskau. Und warwenig begeistert. Was sollte eine Fremd-sprachenkorrespondentin mit Englischund Spanisch hier? „Dass wir Ostdeut-schen grundsätzlich einen besseren Draht

zu den Russen hatten, stimmt nicht“, sagtsie. Doch bald schloss sie FreundschaftenmitVertreternderMoskauerIntelligenzijaund änderte ihre Meinung über die Rus-sen.Ganzbesondersliebgewonnenhatsiedie „Küchengespräche“ mit russischenFreunden – Nächte, in denen man bei un-zähligen Tassen Tee über Gott und dieWelt diskutiert, bis der Morgen graut. Seit2001 ist Linke Verwaltungsleiterin desdeutschen Wohngebiets.

Die Sächsin ist so etwas wie die Dorf-mutter. Linke schlichtet, wenn dem einen

Deutschen die Kli-maanlage des ande-ren Deutschen aufden Balkon tropft,sie verwaltet dieWarteliste für die be-gehrten Mehrzim-merwohnungen,und wenn es seinmuss, legt sie sichnachts mit Sicher-

heitsleuten auf die Lauer, um Fahrraddie-ben das Handwerk zu legen.

Die meisten ihrer Deutschen bleibenfür drei oder fünf Jahre. Deutschland istder wichtigste Handelspartner Russlands:2009 gingen in beide Richtungen Warenim Wert von fast 50 Milliarden Euro, über6000 deutsche Unternehmen haben inRussland Tochterfirmen oder Repräsen-

tanzen, die meisten in Moskau. Viele Ge-sandte werfen aber schon nach einemJahr das Handtuch, sagt Linke. Manch ei-ner erträgt den „Abstieg“ aus seinemHäuschen im Schwarzwald nach Mos-kau-Marzahn nicht. Viele scheitern auchan ihrer deutschen Sturheit. „Mit demGroßmannstum, das manche hier an denTag legen, kommt man nicht weit“, weißsie. „Die Russen lieben zwar die Korrekt-heit und die Pünktlichkeit der Deutschen,aber man muss sich auch in ihre Mentali-tät reindenken.“ Vielleicht steht für dieRussen Ordnung nicht an erster Stelle, da-für lieben sie spontane, schnelle Entschei-dungen. „Es gibt kein Hin und Her wie beiden Deutschen – wenn sie etwas machenwollen, dann finden sie auch das Geld.“

Dass Deutsche und Russen voneinan-der lernen können, ist ein Befund, derweit in die russische Geschichte zurück-reicht. Schon im 16. Jahrhundert exis-tierte am Moskauer Stadtrand eine Sied-lung namens „Nemezkaja Sloboda“, wasübersetzt „Deutsche Vorstadt“ bedeutet.Bewohnt wurde sie von westeuropäi-schen Ingenieuren, Handwerkern und Mi-litärexperten, die Zar Iwan der Schreckli-che gezielt nach Russland rief, um seintechnisch rückständiges Land zu moderni-sieren.

Lange pflegte Moskau ein zwiespältigesVerhältnis zu seinen Gästen: Einerseitsbrauchte man ihre Fachkenntnisse, ande-rerseits fürchtete man ihre fremdartigenSitten, weshalb man sie in einem peinlichabgeschirmten Ghetto jenseits der Stadt-mauern ansiedelte. Erst ein späterer Zarerkannte das Potenzial der Deutschen Vor-stadt: Peter der Große, der wohl nachhal-tigste Reformer der russischen Ge-schichte, entwickelte seine Vision eineseuropäisch geprägten Russlands bei sei-nen jugendlichen Streifzügen durch dasAusländerghetto.

Auch seine erste Geliebte lernte Zar Pe-ter hier kennen, Anna Mons, die Tochtereines westfälischen Weinhändlers. Das istnatürlich lange her, aber auch im heutigenDeutschen Dorf sind transnationale Liai-sons keine Seltenheit. Die meisten Män-ner hier sind mit Frauen aus Russlandoder anderen GUS-Ländern verbandelt.Viele finden in Moskau ihre neue Liebe,besonders dann, wenn die deutsche Fami-lie nicht mitkommt nach Russland. Nichtimmer endet das glücklich. „MancheDeutsche lassen sich von jungen Russin-nen den Kopf verdrehen, und dann habensie plötzlich ein Kind und merken, dass esvielleichtdochnichtdiegroßeLiebewar“,sagt Friedebold.

Dominik Weiel (Zickzackhaus, zehnterStock) hat sich sogar orthodox taufen las-sen aus Liebe. Dass es dann doch keineHochzeit gab, lag nicht an ihm, was einetraurige Geschichte ist, über die Weielnicht so gerne spricht. Lieber erzählt ervon den fünf Jahren, die er hier als Geo-loge für die deutsche Wintershall gearbei-tet hat, zuletzt in einem russischen Part-nerunternehmen, das zusammen mit denDeutschen ein riesiges Gasfeld namens Ju-schno-Russkoje entwickelt. Der 43-jäh-rige Weiel pendelte zwischen Moskauund der Stadt Urengoj nahe des Polarkrei-ses und modellierte zusammen mit einhei-mischen Kollegen die Lagerstätte.

„Arbeiten in Russland hat einen hohenErinnerungswert“, sagt er lachend. „Espassiert immer irgendwas.“ Als Geologefür das Alfred-Wegener-Institut für Polar-und Meeresforschung, das war lange vorseiner Wintershall-Zeit, ging er auf For-schungsfahrt an Bord der russischen „Aka-demik Petrow“ und überstand den Zusam-menstoß mit einem Eisberg in der arkti-schen Karasee. Ein anderes Mal wären siebeinahe im arktischen Eis gestrandet,weil das russische Partnerinstitut offen-bar das Geld für den gecharterten Hub-schrauber unterschlagen hatte.

Im Deutschen Dorf hat Weiel Hilfe ge-funden, wenn sie nötig war. Vor allemaber hat er die besondere Freundschaftder Russen schätzen gelernt: „Sie wirkenja sehr verschlossen, lächeln wenig. Aberwenn man sich erst mal kennengelernthat, dann hält es meist für immer“, sagtWeiel. Trotz der gescheiterten Hochzeitwird er nicht alleine aus Russland zurück-kehren. Mit ihm im Flieger wird Lubomirsitzen, sein sibirischer Kater. Die Katzen-art zeichnet sich durch besonders dickesFell an den Pfoten aus. Eine Eigenschaft,die wohl keinem schadet, der in Russlandsein Glück versucht.

Das „Deutsche Dorf“ liegt unweit derMoskauer Stadtgrenze. In den siebzigerJahren für DDR-Funktionäre gebaut,beherbergt die Siedlung heute nebenBotschaftsangehörigen vor allemdeutsche Geschäftsleute.

DFAKTEN

Das deutsche Eck von

Tief im Südwesten

Ein Wirt und seine Gäste. Besucherdes „Deutschen Ecks“ (oben); BerndFriedebold, Gründer und Inhaberder Gaststätte (unten).

Sogar PutinschickteseineTöchter hierzur Schule

Was fehlt?Die Graffiti,der Müll,dieSchlaglöcher

Betonidylle.Gartenzwerge vorder Dorfkneipe. Fotos (3): Gathmann

Hier lebt es sich sauber und sicher:Für den Hundekot liegen Tütchen bereit,am Zaun kontrolliert ein Wachschutz –

und es gilt die deutsche Straßenverkehrsordnung.Keine Frage:

Wir sind in Russland

SONNTAG, 16. OKTOBER 2011 / NR. 21 127 DER TAGESSPIEGEL S 5DIE STADT

Von Moritz Gathmann