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Deutschunterricht in der Volksschule Für alle gleich - für jeden anders Plappern – erste Sprechversuche –- sich mündlich ausdrücken – durch Sprache mit anderen in Beziehung treten - und dann? Was ist der nächste Schritt in der Sprachentwicklung eines Kindes? Die Autorin sieht das Schreibenlernen, das Sich-schriftlich-Ausdrücken als diesen Schritt. Ausgehend von ihrer täglichen Arbeit mit Kindern in ihren vielen Jahren als Volksschullehrerin hat sie eine Kartei für den Unterricht auf der ersten Schulstufe entwickelt. Fakten rund um den Deutschunterricht Hohe Ziele Der Deutschunterricht in der Volksschule hat einen ausnehmend hohen Stellenwert. Das ist schon an der Anzahl der Deutschstunden zu erkennen: es sind sieben Unterrichtsstunden auf jeder der vier Schulstufen, etwa ein Drittel der Gesamtanzahl der Wochenstunden. Die Kinder haben also ein bis zwei Stunden pro Tag Deutschunterricht - ein bis zwei Stunden, um die Kulturtechniken Schreiben und Lesen zu erlernen. Dabei sollen sie schließlich eine solche Sicherheit erlangen, dass sie am Ende der vier Volksschuljahre unter anderem imstande sind, sich schriftlich verständlich auszudrücken ihre Gedanken und Gefühle schriftlich in Worte zu fassen sich schriftlich zu allen möglichen Themen Gedanken zu machen beim Verfassen von Texten hohe Verantwortung für die Schreib- und Sprachrichtigkeit zu zeigen fließend und sinnerfassend zu lesen Für die Erreichung dieser hohen Ziele erscheint die oben genannte Stundenanzahl gerade noch ausreichend. Die Vielfalt in unseren Klassen Wenn unsere Kinder mit sechs Jahren in die Schule kommen, ist kaum eines dem anderen gleich. Wir haben es mit 25 und mehr einzelnen Persönlichkeiten zu tun, die sich in Sprache, Kultur und Entwicklungsstand voneinander unterscheiden und auch ihre ganz persönlichen Stärken und Schwächen in die Klasse mitbringen. Diese Kinder in all ihrer Verschiedenheit gemeinsam zu unterrichten stellt hohe Ansprüche an uns VolksschullehrerInnen. Wie schwierig ist es, im Unterricht kein Kind übermäßig zu belasten, aber zugleich auch besonders begabte Kinder entsprechend zu fördern! Ganz besonders schwierig ist es neben Mathematik wohl im

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Deutschunterricht in der Volksschule

Für alle gleich - für jeden anders

Plappern – erste Sprechversuche –- sich mündlich ausdrücken – durch Sprache mit anderen inBeziehung treten - und dann? Was ist der nächste Schritt in der Sprachentwicklung eines Kindes? DieAutorin sieht das Schreibenlernen, das Sich-schriftlich-Ausdrücken als diesen Schritt. Ausgehend vonihrer täglichen Arbeit mit Kindern in ihren vielen Jahren als Volksschullehrerin hat sie eine Kartei fürden Unterricht auf der ersten Schulstufe entwickelt.

Fakten rund um den Deutschunterricht

Hohe Ziele

Der Deutschunterricht in der Volksschule hat einen ausnehmend hohen Stellenwert.

Das ist schon an der Anzahl der Deutschstunden zu erkennen: es sind sieben

Unterrichtsstunden auf jeder der vier Schulstufen, etwa ein Drittel der Gesamtanzahl

der Wochenstunden. Die Kinder haben also ein bis zwei Stunden pro Tag

Deutschunterricht - ein bis zwei Stunden, um die Kulturtechniken Schreiben und

Lesen zu erlernen. Dabei sollen sie schließlich eine solche Sicherheit erlangen, dass

sie am Ende der vier Volksschuljahre unter anderem imstande sind,

• sich schriftlich verständlich auszudrücken

• ihre Gedanken und Gefühle schriftlich in Worte zu fassen

• sich schriftlich zu allen möglichen Themen Gedanken zu machen

• beim Verfassen von Texten hohe Verantwortung für die Schreib- und

Sprachrichtigkeit zu zeigen

• fließend und sinnerfassend zu lesen

Für die Erreichung dieser hohen Ziele erscheint die oben genannte Stundenanzahl

gerade noch ausreichend.

Die Vielfalt in unseren Klassen

Wenn unsere Kinder mit sechs Jahren in die Schule kommen, ist kaum eines dem

anderen gleich. Wir haben es mit 25 und mehr einzelnen Persönlichkeiten zu tun, die

sich in Sprache, Kultur und Entwicklungsstand voneinander unterscheiden und auch

ihre ganz persönlichen Stärken und Schwächen in die Klasse mitbringen. Diese

Kinder in all ihrer Verschiedenheit gemeinsam zu unterrichten stellt hohe Ansprüche

an uns VolksschullehrerInnen. Wie schwierig ist es, im Unterricht kein Kind

übermäßig zu belasten, aber zugleich auch besonders begabte Kinder entsprechend

zu fördern! Ganz besonders schwierig ist es neben Mathematik wohl im

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Unterrichtsgegenstand Deutsch. Hier fallen zusätzlich zu den vorher erwähnten

Unterschieden auch noch die individuelle Entwicklung der Feinmotorik und die

Sensible Phase1, in der sich das einzelne Kind befindet, besonders ins Gewicht.

Überlegungen zum Deutschunterricht

Vom Kind aus - zum Kind hin

Gerade aus diesen Gründen war mir der Sprachunterricht von Anfang an ein ganz

besonders Anliegen. Ich wollte eine Möglichkeit finden, jedem einzelnen Kind im

Deutschunterricht dort zu begegnen, wo es sich in seiner sprachlichen Entwicklung

gerade befand, alle besonderen individuellen Fähigkeiten und Schwachpunkte mit

einbezogen. Ich wollte die Kinder dabei unterstützen, Deutsch als Sprache auf

dieselbe Weise weiter zu entwickeln, wie sie die gesprochene Sprache bis zum

Schuleintritt gelernt hatten: ganz selbstverständlich, mit Freude, ohne Druck, ohne

Angst und in ihrer persönlichen Geschwindigkeit. Jedes Kind sollte erfahren,

• dass es, was es erzählen wollte, auch aufschreiben konnte,

• dass es sein eigenes Vokabular beim Schreiben verwenden konnte,

• dass seine eigenen Gedanken und Gefühle aufschreibenswert waren,

• dass es wichtig war, was es zu sagen hatte,

• dass nur seine eigenen Fortschritte zählten und nicht der Vergleich mit

anderen -

- und alles das von Anfang an.

So habe ich, ausgehend von Marion Bergks Buch „Rechtschreibenlernen von Anfang

an“2, ein Unterrichtsmodell3 entwickelt, bei dem Kinder den Deutschunterricht als

natürliche sprachliche Weiterentwicklung erleben können. Jedes Kind darf von Beginn

der ersten Klasse an aufschreiben, was es von sich erzählen will, und seine

Gedanken und Gefühle schreibend ausdrücken – jedes auf seiner individuellen

Entwicklungsstufe. Und jedes Kind lernt an Hand seiner eigenen Texte, seines

eigenen Vokabulars Rechtschreiben und Grammatik.

Kinder brauchen Wörter

Kaum ist ein Kind dem Babyalter entwachsen, beginnt es einzelne Wörter

nachzuplappern. Sobald es den Sinn der Wörter begriffen hat, kann es mit anderen

1 Maria Montessori, Sensible Phasen (www.montessori.at, Zugriff 5.10.2006: „. . . ist auch jedes Kindzu einem anderen Zeitpunkt besonders empfänglich für das Lernen des Lesens, des Schreibens . . .“)2 Marion Bergk, Rechtschreibenlernen von Anfang an, Frankfurt, Diesterweg 6, 19873 LEBENDIGE SPRACHE LEHREN – SPRACHE LEBENDIG LEHREN, 2006, Verlag Lernen mit Pfiff

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sprachlich in den Dialog treten. Es kann von sich erzählen, Fragen stellen, seine

eigene Meinung ausdrücken. Ich habe bei meinen eigenen beiden Kindern fasziniert

beobachtet, wie schnell sie neu gelernte Wörter sinngemäß anwenden konnten, als

sie in Bezug auf das Sprechenlernen in der Sensiblen Phase waren, und wie durch

das dauernde Sprechen ihre Sprachgeschicklichkeit und damit auch ihre

Selbstsicherheit von Tag zu Tag größer wurde.

. . . Wörter auch als Mittel zum Schreiben

Beim Schreibenlernen habe ich ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich stimme die

Kinder auf ein bestimmtes Thema ein und biete ihnen das Wort, das sie brauchen,

damit sie erzählen können. Auf diese Weise schreibt jedes Kind von Anfang an

täglich eigene Texte, drückt das, was es mitteilen will, schriftlich aus. Dabei lernt es

die Grundlagen der deutschen Sprache wie Rechtschreiben und Grammatik und

erweitert langsam sein Vokabular.

Auswahl der Wörter

Vor allem am Anfang kommt es dabei darauf an, Wörter zu wählen, mit denen das

Kind recht viel und in den verschiedensten Zusammenhängen erzählen kann.

Dafür bieten sich die Wörter ich, mag, kann, hat/habe einfach an. Mit diesen Wörtern

können die Kinder über sich selber und über ihre Lieben schreiben und so ihr

Erzählbedürfnis befriedigen, sie können aber auch schon über andere Kinder in der

Klasse schreiben und so erste Kontakte aufbauen. Mir liegt gerade an diesen beiden

Aspekten im Deutschunterricht sehr viel.

Entstehung der Kartei

Im Laufe der letzten Jahre habe ich sehr viele Seminare zu diesem Thema gehalten.

Motiviert von der Begeisterung vieler KollegInnen und ihren gezielten Fragen wie

• Welche Themen soll ich wählen?

• Welche Wörter sind für die Kinder wichtig?

• Wie kann ich dabei alle sechs Bereiche des Deutschunterrichts abdecken?

• Werde ich für die tägliche Arbeit genügend Einfälle haben?

habe ich schließlich eine Kartei für die Arbeit auf der ersten Schulstufe entwickelt, die

ich hier vorstellen möchte.

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FÜR ALLE GLEICH – FÜR JEDEN ANDERS. Erste Texte4

Das Konzept der Kartei

Wortkarten

Die Kartei ist eine Sammlung von Wörtern, die mit den Kindern in der ersten und

auch noch in der zweiten Klasse erarbeitet werden können. Die Vorderseite jeder

Karteikarte ist als Kopiervorlage gedacht – jedes Kind bekommt einen Wortstreifen.

Das Wort ist für eine vielfältige rechtschreibmäßige Erarbeitung aufbereitet: die

Buchstaben sind in schöner Druckschrift geschrieben, die Linien sind dünn wie

Bleistiftstriche, jeder Buchstabe ist für das richtige Nachspuren mit Richtungspfeilen

versehen. Zwischen den Buchstaben sind strichlierte Linien eingezeichnet, so dass

die Kinder das jeweilige Wort nach dem „Regenbogenschreiben“ (nachdem sie also

das Wort oft und oft mit verschiedensten Buntstiften nachgespurt, sich so die

Schreibweise eingeprägt und sein endgültiges Aussehen gestaltet haben)5

auseinander schneiden und anschließend wie ein „Puzzle“ wieder zusammensetzen

können. Sehen Sie hier ein Beispiel einer solchen Karte6:

٭٭

Ideensammlung

4 FÜR ALLE GLEICH- FÜR JEDEN ANDERS. Erste Texte. Kinder schreiben auf der ersten Schulstufe,2007, Verlag Lernen mit Pfiff5 siehe Kapitel „Die Erarbeitung des Wortes“ in LEBENDIGE SPRACHE LEHREN – SPRACHE LEBENDIGLEHREN, S 38 f6 In dem vorliegenden Fall könnte man die Silbe –ling auch einfach „wegfalten“ und so auf das WortFrüh kommen. In meiner Kartei habe ich vor allem bei Verben und Nomen viele Faltvorschlägegemacht, so dass Kindern das Prinzip des Wortstammes mit der Zeit klar wird.

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Auf der Rückseite jeder Karte sind viele Schreibanlässe angegeben, für die die Kinder

das betreffende Wort brauchen. So verwenden die Kinder das Wort jeden Tag in den

verschiedensten Zusammenhängen und erzählen damit schreibend von sich selbst

und von anderen. Jedes Wort ist also in erster Linie Mittel zum Schreiben – durch das

lustvolle Anwenden wird es automatisch auch zum gesicherten Rechtschreibwort.

Entscheidend ist hier der hohe Anteil der positiven Emotionen des einzelnen Kindes.

Es sind einerseits genügend Schreibanlässe angeführt, um der/dem LehrerIn Themen

für eine ganze Woche (inklusive Hausübungen) zu bieten. Andererseits bleibt aber

genügend Raum für eine kreative, auf die eigene Klasse bezogene Gestaltung des

Unterrichts. Die angeführten Möglichkeiten sollen KollegInnen auch zu eigenen Ideen

inspirieren. Hier sehen Sie die Rückseite der oben gezeigten Karteikarte:

٭٭

Wahlmöglichkeiten bezüglich der Wörter

Ich gehe bei der Worterarbeitung sehr langsam vor. Ein einziges Wort pro Woche ist

genug! So bin ich sicher, dass ich kein Kind in der Klasse überfordere. Trotzdem weiß

ich, dass ich damit sehr begabten Kindern nach oben hin kein Limit vorgebe. Jedes

einzelne Kind kann ja bei dieser Unterrichtsweise sein eigenes Vokabular anwenden

und sich individuell weitere Wörter „holen“.7 Keinem Kind sind sprachlich und im

Ausdruck irgendwelche Grenzen vorgegeben. So kann ich mit ein und derselben

7 siehe Kapitel „Karteiarbeit“ in LEBENDIGE SPRACHE LEHREN – SPRACHE LEBENDIG LEHREN, S 99

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Unterrichtsweise so unterschiedliche Ergebnisse erhalten, wie Sie an den folgenden

beiden Texten sehen:

Sprachlich talentierte Kinder entwickeln

bei dieser individuellen Unterrichtsweise

erzählerisch bald eine unglaubliche

Gewandtheit. Das ist der Text eines

solchen begabten siebenjährigen Kindes

zum Thema „Frühling“:

Das ist der Text eines gleichaltrigen

Kindes mit sprachlichen Defiziten. Sehen

Sie, wie dieses Kind mit seinen

individuellen Mitteln, aber mit gleich

hoher Motivation an das Thema

„Frühling“ herangeht:

٭

Langsame Kinder und Kinder mit sprachlichen oder anderen Defiziten brauchen Zeit.

Deshalb auch mein Appell, in der ersten Klasse nicht mehr als ein Wort pro Woche

gemeinsam zu erarbeiten! Da alle Kinder daneben entsprechend ihren Fähigkeiten

und Fertigkeiten ihren individuellen schriftlichen Wortschatz ungehindert aufbauen

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können, ist das für kein Kind eine Einschränkung in seiner Entwicklung. 8 Wenn jedes

neue Wort während einer ganzen Woche täglich in den verschiedensten

Zusammenhängen verwendet wird, ist die Erwartung, dass es dann

rechtschreibmäßig bei allen Kindern nachhaltig gesichert ist, sehr realistisch.

Bei den 57 Wortkarten, die die Kartei beinhaltet, bedeutet das, dass hier also

unbedingt eine Auswahl getroffen werden muss! So ist die Kartei auch gedacht. Sie

ist eine Wortsammlung, aus der Wörter ausgewählt werden können, die die/der

LehrerIn für diese eine spezielle Klasse passend findet. Und nicht nur das. Sie ist

offen genug, dass die/der LehrerIn jederzeit auch eigene individuelle Wörter

dazwischenfügen kann, um jedenfalls insgesamt auf etwa 35 bis 37 Wörter zu

kommen. Diese Anzahl entspricht der Gesamtwochenanzahl eines Schuljahres.

Mitsamt den vielen „kleinen“ Wörtern (in, auf, ist, sind, auch, weil, . . .), die sich die

Kinder sozusagen „von allein“ erarbeiten, weil sie sie für das Schreiben ihrer Texte

immer wieder brauchen, ergibt das eine Anzahl von ungefähr 50 rechtschreibmäßig

gefestigten Wörtern nach dem ersten Schuljahr, die wirklich jedes Kind erreicht. Aber

auch hier gibt es nach oben hin kein Limit: die meisten Kinder erreichen eine Anzahl

von 150, manche auch weit mehr, abhängig von der Anzahl ihrer individuellen

Wörter, von denen viele auch bald zu ihrem nachhaltig gefestigten Wortschatz

gehören.

Beginn in der ersten Schulwoche 9

Ich sehe im Unterrichtsgegenstand Deutsch von Anfang an meine Hauptaufgabe

darin, Kinder zum Ausdrücken ihrer eigenen Gedanken und Überlegungen zu

motivieren – eigentlich mehr noch, ihnen die Freude daran zu erhalten, denn damit

kommen die meisten von ihnen ja schon am ersten Schultag in die Schule! Es zahlt

sich hoch aus, diese freudige Erwartungshaltung unserer Schulanfänger zu nützen

und ihnen bereits am ersten oder zweiten Schultag das erste Wort zu bieten. Sehen

Sie, wie begeistert und auf welch verschiedenen Entwicklungsstufen Kinder mit dem

Wort „ich“ erzählen – so, wie es eben der oben erwähnten Vielfalt in unseren Klassen

entspricht:

8 siehe Kapitel Rechtschreiben, Seite 91, und G r e n z e n - los, Seite 107, in LEBENDIGE SPRACHELEHREN – SPRACHE LEBENDIG LEHREN9 siehe Kapitel „Vom ersten Schultag an“ in LEBENDIGE SPRACHE LEHREN – SPRACHE LEBENDIGLEHREN, Seite 38

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Jedes Kind „erzählt“ in seiner ganz eigenen Weise (mit Hilfe von Zeichnungen oder

individuellen Wörtern, viele Sätze oder wenige, in langsamer oder zielstrebiger

Arbeitsweise, feinmotorisch mehr oder weniger geschickt). Anschließend liest es mir

seinen Text vor. So kann ich täglich auf die persönlichen Stärken und Schwächen des

Kindes eingehen und es dabei unterstützen, individuell sein Vokabular und seine

Sprachgeschicklichkeit weiter zu entwickeln. Genau wie beim Sprechenlernen kann so

beim Schreibenlernen das Selbstvertrauen des Kindes täglich wachsen. Und so

verschieden die Sprachentwicklung bei Kleinkindern abläuft, so verschieden

entwickeln sich auch die Texte von Schulanfängern – jeder ist auf seine Weise

besonders und berührend. Die beiden folgenden Beispiele sind Verschriftungen von

Kindern in der dritten Schulwoche auf der ersten Schulstufe:

٭

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Begegnung mit dem Kind

Diese Art des Deutschunterrichts ist nicht nur eine Begegnung mit dem Kind auf

seiner individuellen Entwicklungsstufe. Es ist auch eine Begegnung mit ihm als

Persönlichkeit. Wenn ein Kind eigene Texte schreibt, vertraut es mir viel von sich

selbst an. Damit gibt es mir als Lehrerin auch die Chance, auf den Inhalt seiner Texte

einzugehen. So kann ich mit dem Kind in den Dialog treten. Ich kann seine Meinung

kennen lernen, ihm mein Interesse daran zeigen und durch meine wertschätzende

Reaktion und Anteilnahme sein Selbstwertgefühl aufbauen. Damit verändere ich

meine Position grundlegend: ich bewege mich weg von einer, die nur lehrt und dann

beurteilt, hin zu einer, die anbietet und motiviert und ermutigt – und dann teilhaben

darf am Gedankenreichtum der Kinder und oft genug nur noch staunen kann über

das, was die Kinder leisten und sich selber abverlangen.

Aspekte bei den Schreibanlässen

Inspiration für das Schreiben

In der alltäglichen Arbeit ist es mir bei diesem Unterrichtszugang sehr wichtig, die

Priorität nicht aus dem Auge zu verlieren. In Anlehnung an St. Exupery10 möchte ich

sagen:

Wenn wir wollen, dass unsere Kinder große Sicherheit in der Ausdrucksweise, in

der Sprach- und Schreibrichtigkeit erlangen, dann lehren wir sie doch die Freude

daran, sich schriftlich auszudrücken!

Kinder zum Schreiben zu motivieren, sie mit ihren ersten Texten anzunehmen, sie zu

bestätigen und dadurch zu ermutigen, sind meiner Erfahrung nach die ersten Schritte

dazu, ihr Selbstwertgefühl aufzubauen und ihnen Freude am Sich-Ausdrücken,

Freude an der Arbeit zu vermitteln. Dass zum Schreiben von Texten Rechtschreiben

und Grammatik einfach notwendig ist, verstehen Kinder nämlich bei entsprechender

Anleitung ganz von selbst. Sie sind also mehr als bereit, sich dafür anzustrengen.11

10 Wenn du Menschen beibringen willst, ein Schiff zu bauen, dann lehre sie nicht, einen

Baum zu fällen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem Meer“ (A.de St.Exupery)Quelle: www.business-wissen.de, Zugriff am 20. Juli 2007

11 Siehe Kapitel „Rechtschreiben“ in LEBENDIGE SPRACHE LEHREN – SPRACHE LEBENDIG LEHREN,Seite 91

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Wichtig ist aber hier der Stellenwert: das Ziel soll das Schreiben von Texten, das

Sich-schriftlich-Ausdrücken sein – Rechtschreiben, Grammatik und der Aufbau des

individuellen Wortschatzes sind dazu einfach notwendige Fertigkeiten. Wenn Kinder

den Deutschunterricht so begreifen, entwickeln sie sich so rasant, dass sie schon

nach zwei bis drei Monaten Texte wie die folgenden schreiben können:

Abdeckung aller Bereiche des Unterrichtsgegenstandes Deutsch

Bei allen Schreibanlässen decken wir neben den Bereichen „Verfassen von Texten“

zusätzlich auch andere ab. Die Bereiche „Sprechen“ (Kinder befragen einander oft

und nehmen Kontakt auf – das ist ein wichtiger Teil des Deutschunterrichts) und

„Lesen“ (die Kinder lesen ihre „Geschichten“ täglich mindestens einmal, meistens

jedoch mehrmals vor – auch das ist ein fixer Bestandteil dieses Unterrichtszugangs)12

sind nirgends angeführt. Auf „Rechtschreiben“ habe ich in manchen Fällen besonders

hingewiesen. Die beiden anderen Lehrplanbereiche sind aber immer gesondert

bezeichnet.

Die soziale Komponente

Besonders hervorheben möchte ich die große Chance, die uns mit diesem

Unterrichtsmodell einerseits in Bezug auf die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit

des Kindes und andererseits hinsichtlich der Erziehung zum Umgang miteinander in

die Hand gegeben ist.13

12 siehe Kapitel „Lesen lernen durch Schreiben“ in demselben Buch, Seite 6913 siehe „Arbeit an der Atmosphäre in der Klasse“ in demselben Buch, Seite 55

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• Jedes Kind schreibt sehr oft über sich selbst, drückt seine eigenen Gedanken

und Gefühle aus. Indem wir es mit all seinen Ansichten und auch mit seinen

Problemen und Schwierigkeiten annehmen, drücken wir ihm seine

Wertschätzung aus. Ich erlebe jeden Tag, wie sehr dadurch das

Selbstwertgefühl des Kindes wachsen kann. Ein Kind mit innerer Größe ist

imstande, anderen achtsam zu begegnen, und die Auswirkungen davon kann

ich täglich in meiner Klasse beobachten. Weil mir das so viel bedeutet, habe

ich alle Schreibanlässe, mit denen wir an der Persönlichkeitsentwicklung des

Kindes arbeiten können, in der Kartei entsprechend gekennzeichnet.

• Jedes Kind schreibt auch sehr oft über andere. Wenn es das machen will,

muss es vorher mit dieser anderen Person in Beziehung treten – gedanklich

oder tatsächlich. Vor allem in Bezug auf die Klassengemeinschaft ist das für

uns LehrerInnen eine unschätzbare Hilfe. So oft ein Kind mit einem anderen

spricht, es befragt, nimmt es Kontakt auf, erfährt es mehr über seinen

Klassenkameraden. Je mehr es über ihn weiß, desto enger wird die Beziehung

zu ihm. Seit ich auf diese Weise unterrichte, kann ich innerhalb meines

Deutschunterrichtes täglich am friedlichen Miteinander meiner Schulkinder

arbeiten – Gewaltprävention im besten Sinne, wie ich auch schon an anderen

Stellen betont habe. Deshalb habe ich auch Schreibanlässe, die die

Klassengemeinschaft und das Verständnis für andere fördern, mit einem

entsprechenden Symbol versehen.

Schlussbemerkung

Ich habe so schöne Erfahrungen mit diesem Zugang zum Deutschunterricht mit all

seinen positiven Auswirkungen auf Entwicklung und Leistung jedes einzelnen Kindes

gemacht, dass mir an der Weiterverbreitung dieser Idee sehr viel liegt. Die Kartei

FÜR ALLE GLEICH – FÜR JEDEN ANDERS. Erste Texte soll durch ihre leichte

Handhabung und individuelle Modifizierbarkeit KollegInnen dazu verlocken und

motivieren, diese Unterrichtsweise auszuprobieren und für sich zu adaptieren. Wenn

Kinder von Anfang ihrer Volksschulzeit an die Möglichkeit haben, sich schriftlich

auszudrücken, und mit Freude eigene Texte schreiben, haben sie sehr gute Chancen,

die hohen Ziele zu erreichen, die ich eingangs erwähnt habe – ein jedes in seiner

individuellen Geschwindigkeit und seinen persönlichen Fähigkeiten entsprechend.

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Zur Autorin: Marlene Walter unterrichtet seit 38 Jahren an der Volksschule Wien 22., Meißnergasse 1.In den letzten Jahren hat sie im Raum Wien, aber auch in einzelnen Bundesländern vermehrtSeminare zum Thema Deutschunterricht angeboten. Im November 2006 ist ihr Buch LEBENDIGESPRACHE LEHREN – SPRACHE LEBENDIG LEHREN im Verlag „Lernen mit Pfiff“ erschienen. Es enthältviele Kapitel mit näheren Details aus der Praxis zu Rechtschreibung, Arbeit mit der Rechtschreibkartei,Elternarbeit, individueller Arbeit, Gedichte-Schreiben mit Kindern und vielem mehr. Ihre Kartei FÜRALLE GLEICH – FÜR JEDEN ANDERS. Erste Texte. Kinder schreiben auf der ersten Schulstufe. istAnfang September 2007 im selben Verlag erschienen.

Die mit ٭ versehenen Beispiele sind dem Buch LEBENDIGE SPRACHE LEHREN-SPRACHE LEBENDIG LEHREN,2006, Verlag Lernen mit Pfiff, entnommen.

Die mit ٭٭ bezeichneten Beispielseiten entstammen der Kartei FÜR ALLE GLEICH –FÜR JEDEN ANDERS, 2007, Verlag Lernen mit Pfiff, www.lernen-mit-pfiff.at

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