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Prof. Dr. Wilfried Breyvogel Frankreich: Jugendrevolte der Banlieues

Frankreich: Jugendrevolte der Banlieues - uni-due.de · „Der Islam hat mit dieser Revolte nichts zu tun. Der Islam ist eine längst in Der Islam ist eine längst in Frankreich verwurzelte

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Prof. Dr. Wilfried Breyvogel

Frankreich:

Jugendrevolte der

Banlieues

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Der Auslöser

Am 27. Oktober 2005 um 18.12 verbrennen zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einer Umspannstation (Namen der Jugendlichen: Bouna Traoré, Ziad Benna)

25. Oktober 2005: Der Innenminister Nicolas Sarkozy, 50 Jahre, Bewerber um das Amt des Präsidenten 2007, wird in „Le Monde“ mit dem Satz zitiert: Man werde die Banlieues von nun an dampfstrahlen, man werde sie „mit dem Kärcher reinigen“.

(Der Spiegel, 46/2005, S. 200)

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HintergrundSeit Januar 2005 bis zum 25. Oktober 2005 wurden ca. 9000 Autos der Polizei angegriffen und verbrannt. Jede Nacht ca. 20 – 40.

Nicolas Sarkozy selbst ist der Sohn eines ungarischen Einwanderers und einer Arzttochter aus Saloniki. Er ist mit 22 Jahren Stadtrat, mit 28 Jahren Bürgermeister, mit 38 Jahren zum ersten Mal Minister, mit 52 Jahren vielleicht (2007) Präsident Frankreichs.

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Der Höhepunkt der Revolte„Auf dem Höhepunkt der Krawalle, um den elften Tag, Anfang vergangener Woche (ca. 10./11 November), als der Ausnahmezustand noch nicht verhängt war, randalierten Jugendliche in 300 Städten und Dörfern, und es gingen jede Nachtweit über 1000 Autos in Flammen auf. Kinderkrippen wurden demoliert, Rathäuser, Feuerwachen, Schulen, Post- und Sozialämter. [...] Und immer schrien sie Hassparolen gegen Sarkozy. Immer nährte sich ihre Wut von seiner Rhetorik, immer ging es um den ‚Kärcher‘, um die Logik der Säuberung, um das Wort vom ‚Abschaum‘, das der Innenminister kurz vor den Krawallen in die Debatte geworfen hatte, als er wieder, wie schon dutzende Male zuvor, die ‚voyous‘ attackierte, die Ganoven, Strolche, Rüpel, zuletzt Donnerstagabend voriger Woche, live im Fernsehen, zur besten Sendezeit.“ (Der Spiegel 46/2005, S. 201)

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Kennzeichen der Revolte

Fabian Jobard, ein Polizeisoziologe in Paris, verweist auf das besondere Kennzeichen der Revolte:

Nicht die Zahl der brennenden Autos – Zeichen für Anpassung und bescheidenen Erfolg – seien verwunderlich; vielmehr sei es der ungeheuer genau dosierte Einsatz von Gewalt auf beiden Seiten, der an eine Waage erinnere, auf der die politischen Verhältnisse neu ausgewogen würden. Anders als in Amerika hat die Polizei nicht scharf geschossen, und ebenso wenig haben die Jugendlichen geschossen. Den kriminellen Banden der Banlieues komme der ganze Ärger höchst ungelegen.

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Erklärungen1. Die Siedlungen, die „Wohnmaschinen“. Hartmut Häussermann

in Die Zeit 46/2005

In Frankreich habe sich das soziale „Draußen“ mit dem räumlichen„Draußen“ verbunden. „Ebenso wie die französischen Großsiedlungen sind die deutschen ein Produkt des technokratischen Sozialstaates: Unter staatlicher Regie entstanden in den 1960er und 1970er Jahren – in Ost wie West – Wohnmaschinen für ein vorgefertigtes Leben. In Frankreich konnte man 1968 das Graffito ‚metro, boulo, dodo‘: Pendeln, Malochen, Pennen. Darin erschöpfte sich das von Stadtplanern definierte ‚moderne Leben‘. Heiner Müller charakterisierte die ostdeutschen Plattenbauwohnungen mit der Formel ‚Fickzellen mit Fernheizung‘.

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Erklärungen

Der öffentlich geförderte Wohnungsbau zielte in Frankreich wie in Deutschland auf die Aufsteiger aus dem Proletariat. Den kleinen Angestellten und den qualifizierten Arbeitern sollten Wohnmöglichkeiten geboten werden, die den Anschluß an die modernen Konsumstandards ermöglichten. Raus aus den verfallenen Altbauvierteln! Sozialstation und Supermarkt inklusive. Doch mit steigendem Einkommen verließ das einheimische Kleinbürgertum die hochverdichteten Siedlungen und wanderte weiter in monotone Einfamilienhausgebiete. In den ungeliebten Hochhäusern am Stadtrand war nun Platz für die Zuwanderer, die die einheimischen Arbeiter auch an den Fließbändern der Fabrikenersetzten.“

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Erklärungen2. Die soziale Lage in den Siedlungen

Am Beispiel von Clichy Sous Bois ergibt sich folgendes Bild:

„Die Gemeinde zählt 28.000 Einwohner, sie ist zur Zeit die ärmste aller Pariser Vorstädte, die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 25 Jahre, fast jeder Zweite ist arbeitslos, das Steueraufkommen erreicht noch nicht einmal die Hälfte des Niveaus vergleichbarer Siedlungen.“

Allerdings: „Auch das 15km vom Pariser Zentrum entfernte Clichy Sous Bois entspricht kaum dem Horrorgemälde eines vom Staat aufgegebenen Ghettos, in dem Banden herrschen und das Faustrecht gilt. Es gibt drei neue Schulen, großzügige Sportanlagen, der neue Jugendclub in einer umgebauten Diskothek steht kurz vor der Fertigstellung. Clichy ist vielmehr ein zentrales Lehrstück dafür, dass die Anstrengungen, welche die Regierung seit den 80er Jahren in den Vorstädten unternommen hat, nichts genützt haben.“

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Erklärungen„Unter den 83 Problemquartieren in Frankreich, für welche die Regierung neun Milliarden Euro bereitstellt, ist Clichy mit 333 Mio. Euro das landesweit größte Sanierungsprojekt. Doch allmählich dämmert es den Sozialexperten, dass die Reparatur derInfrastruktur allein nichts nützt.“

Der Bürgermeister von Clichy Sous Bois:

„Wir haben die Häuser renoviert, öffentliche Einrichtungen und Schulen gebaut, Vereine und Gruppen unterstützt. Aber selbst wenn wir hier alles mit Marmor auslegen – gegen die soziale Ausgrenzung der Immigranten und ihrer Kinder sind wir machtlos.“

(Alle Zitate: Die Zeit 46/2005)

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ErklärungenDer Bürgermeister Claude Dilain wendet sich vor allem dagegen, dass die Quartierspolizei 1997 abgeschafft wurde, auch die berufliche Eingliederungshilfe Jugendlicher wurde zurückgenommen.

„Die öffentlichen Beschäftigungsprogramme holten die Jungen nicht dauerhaft von der Straße, und die bewährte Nachbarschaftspolizei war dem law-and-order-Minister Sarkozy zu lasch. [...] Statt der einst ortskundigen Beamten setzt der Minister jetzt, wo es brennt, lieber die knallharte Bürgerkriegspolizei der CRS ein.“

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ErklärungenDie Beschimpfungen des Innenministers nimmt die Banlieuejugend sehr persönlich:

„Geld ist nichts, Respekt ist alles. Lieber sterben, als auf denKnien leben.“ lautet die Losung von ihren Websites.

„In ihrer Welt geht es um Ansehen und Ehre“, so ein Autor und Lehrer in den Cités.

„Nicht nur mit ihrem akzentfreien Französisch zeigen sich die Immigrantenkinder als Produkte des republikanischen Erziehungssystems [...] Was Frankreich derzeit erlebt, ist nichtallein der Aufstand der Rechtlosen und Unterdrückten, sondern auch eine Revolte gegen die Republik im Namen ihrer eigenen Ideale. Denn die Halbwüchsigen haben in der Schule gelernt, dasszu ihrem Status als Staatsbürger untrennbar die republikanischenVersprechen von Gleichheit und Brüderlichkeit gehören.“

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Die Beschäftigungssituation am Beispiel des Pariser Vorortes EvryEvry selbst sei eine Stadt, die funktioniere.

„Sie zählt 56.000 Arbeitsplätze bei 80.000 Einwohnern, [...] Evry, das bei seiner Gründung als ‚ville nouvelle‘ sogleich zum Zentrum der Prefecture des Départements Essone erkoren wurde und als administratives Zentrum gar nicht zu umgehen ist, hat zudem den scheinbaren Vorteil, dass hier einige wichtige Forschungs- und Geschäftszentren angesiedelt sind.“

So ist z.B. die französische Raumfahrt, die Biotechnologie und ein weltweit führendes Hotelunternehmen in Evry angesiedelt.

„Alle diese französischen Unternehmen haben also ihre Zentrale in Evry – aber davon haben die meisten Bewohner des Vorortes nichts. Es verhält sich vielmehr so, dass die große Mehrzahl derer, die in diesen Unternehmen arbeiten, auf keinen Fall in Evry wohnen wollen, sondern lieber jeden Tag die Schnellbahn nehmen, mit der sie dann in irgendeines der inneren Arrondissements von Paris fahren.“

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Die Beschäftigungssituation am Beispiel des Pariser Vorortes Evry„All denen, die es nicht schaffen, sich selbst in Arbeit und Brot zu setzen, wird hier ein Leben vorgelebt, wie es für sie auch möglich sein sollte – aber nahezu unendlich weit entfernt scheint.“

(Alle Zitate: FAZ 15.11.2005, S. 42)

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„...eine Meute ohne Ziel...“Einen sehr viel schärferen Akzent setzt Malek Boutih, 41 Jahre, der selbst in der Pariser Banlieue geboren ist und aus einer algerischen Einwandererfamilie stammt. Zwischen 1999 und 2003 war er Vorsitzender der „Association SOS Racisme“:

„Wenn soziale und ethnische Probleme zusammenkommen, kann man ihnen mit den üblichen Mitteln nicht mehr beikommen. Das ist ein höchst explosives Gemisch. Sogar die radikalsten politischen Bewegungen, die extreme Linke, setzt in diese Orte keinen Fuß, da ihr Diskurs hier nicht funktioniert. Diese Bereiche entziehen sich jedem Diskurs. Sie befinden sich außerhalb der Nation, außerhalb der Normalität. Niemand wagt sich dort hin. Diese Vorstädte sind keine Orte für Studien, wie es in den 70er Jahren die Fabriken waren, in denen Soziologen das Arbeitermilieu erforschten. Wenn Sie das hier versuchen, schneidet man Ihnen die Kehle durch.“

„Auch wenn ich nur Fragen stellen will?“

„Ganz besonders dann! In den Vorstädten herrscht ein Gleichgewicht des Schreckens. Ein genau definiertes Gebiet wird von einer Gruppe beherrscht, die ihre Macht durch Gewalt zur Schau stellt. Deshalb haben die Ereignisse auch, ausgehend von einem Vorfall in Clichy Sous Bois so eine Welle ausgelöst. Und dann ist da diese reine zerstörerische Wut. Hinter all dem steht nicht etwa ein politisches Bewusstsein. Und die Lage wird sich nicht verbessern, ganz im Gegenteil. Man muss in der Geschichte schon bis zum Lumpenproletariat zurückgehen, um diese Art von sozialen Strukturen zu finden. Das ist eine Meute ohne Ziel. Sie reagiert ausschließlich, sie agiert nicht.“

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„...eine Meute ohne Ziel...“

„Jedoch sagen einige Jugendliche, sie wollten weitermachen, solange Sarkozy im Amt ist. Diese Aussage setzt doch ein politisches Bewusstsein voraus?“

„Nein, diese Leute leben in einer Medien-Gesellschaft. Sie kennen die medialen Mechanismen genau, und sie wissen sie zu nutzen.“

[...]

„Wir befinden uns in einer Krise der Politik. Das Problem der jetzigen politischen Klasse ist, dass sie im Gestern verhaftet ist und die tiefgreifenden Umwälzungen nicht versteht, die die Gesellschaft gerade durchläuft. Was die Krise noch verschlimmert, ist, dass das Ansteigen von Armut und die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen in einer Zeit der Globalisierung und der technologischen Revolution fällt, in der sich die Entwicklung zu beschleunigen scheint. Die Jugendlichen in den Vorstädten befällt das Gefühl, diese Entwicklung zu verpassen, auf den Zukunftszug nicht mehr aufspringen zu können. Also sagen sie sich, dann können wir auch gleich alles zerstören.

Die Lösung kann nur die räumliche Durchmischung der Bevölkerungsräume sein. Die Ghettoisierung muss aufhören, und die alten Ghettos müssen abgerissen werden. Man muss sich aber klar darüber sein, dass dies enorme Summen verschlingen würde.“

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„...eine Meute ohne Ziel...“[...]

„Wenn der Staat wirklich die Verteilung sozialen Wohnraumes in die Hände nähme, würde alles anders ablaufen. Um nichts anderes geht es im französischen Modell. Schließlich war eines der wichtigsten Elemente bei der Schaffung einer republikanischen Identität in Frankreich die ‚Organization du Territoire‘. Der Ort der Geburt oder der, an dem man lebt, formt die Identität.“

Die Bildung von Ghettos zu verhindern, ist eine der Hauptforderungen des 20. Jahrhunderts, der sich Frankreich und die restlichen europäischen Länder stellen müssen.

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Zur Frage des IslamAuszüge aus einem Interview mit Tareq Ramadan, er gilt als einer der wichtigsten Vordenker des Islam:

„‘Für seine Bewunderer ist er der Führer des liberalen europäischen Islam, für seine Gegner ein gefährlicher Theokrat, der sich verstellt.‘ schreibt der ‚Boston Globe‘ über den 43jährigen Intellektuellen, der in Genf geboren wurde und Schweizer Bürger ist.“ (Der Spiegel 46/2005)

„Der Islam hat mit dieser Revolte nichts zu tun. Der Islam ist eine längst in Frankreich verwurzelte Religion, und die religiöse Frage in diesem Land ist erledigt. Der Islam bedroht in keiner Weise die Zukunft Frankreichs. Es ist die soziale Frage, welche die wirkliche Gefahr für die Einheit der Republik darstellt. Die Politiker von links bis rechts verkennen diese Realität. Sie stecken den Kopf in den Sand und machen ihren Wählern etwas vor, wenn sie den Islam als Quelle des Übels anzuprangern versuchen. [...]

Die Debatten über den Islam, die Integration und über die Einwanderung dienen vor allem dem Schüren von Ängsten. Es sind gewissermaßen ideologische Strategien, die den Politikern erlauben, der Realität nicht ins Auge zu sehen.

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Zur Frage des Islam[...] Die Wahrheit ist, dass bestimmte französische Bürger wie zweitklassige, wenn nicht wie aussätzige Mitglieder der nationalen Gemeinschaft behandelt werden. Man schickt sie in Ghetto-Schulen mit unerfahrenen Lehrern, man pfercht sie in menschenunwürdige Wohnsilos, und man konfrontiert sie mit einem zugeregelten, verschlossenen Arbeitsmarkt.

[...] Sarkozy ist sich vor allem des Stimmenpotentials bewusst, das in den Vorstädten ruht. In Krisen wie jetzt zeigt er sein wahres Gesicht: Verachtung, Beleidigung. Wenn er ganze Bevölkerungsteile für ‚Gesindel‘ hält, braucht er sich nicht zu wundern, dass die sich auch so benehmen.

[...] Die Islamisierung der sozialen Frage pervertiert und verfälscht die politische Auseinandersetzung. Die überwiegende Mehrheit der Muslime in Europa schätzt die Tatsache, dass sie in einem demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaat leben, der ihnen Gewissens- und Glaubensfreiheit garantiert. Aber das Vertrauensverhältnis ist oftmals zerbrochen, Ängste und Rassismus erschüttern Frankreich, Großbritannien, die Niederlande und Deutschland.“

(Der Spiegel 46/2005, S. 164 – 166)

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Oskar Negt: Die Armee der dauerhaft ÜberflüssigenGegen die Tendenz, die krisenhaften Bedingungen ausschließlich auf Frankreich zu begrenzen, wendet sich der Hannoveraner Philosoph und Soziologe Oskar Negt. Er verweist darauf, dass allein mit einer Integrationspolitik gegenüber den Randgruppen das Problem nicht gelöst werden könne. Es gehe heute nicht mehr um das Paradigma der Zweidrittel-Gesellschaft, wie es noch in den 80er Jahren thematisiert wurde, „vielmehr dringen diese sogenannten Randgruppenprobleme immer tiefer ins gesellschaftliche Zentrum.“ Deshalb ist eine Blickerweiterung auf die Strukturprobleme unserer Gesellschaft erforderlich für die bereits der Soziologe Alain Touraine den Begriff der neuen Dreiteilung der Gesellschaft geprägt habe.

„Die Dreiteilung ist eine neuartige Tendenz, die der gegenwärtigen Verfassung der kapitalistischen Produktionsweise und dem entsprechenden Macht- und Herrschaftssystem entspringt – dieses aber auch zementiert. Ein Drittel der Bevölkerung ist integriert, hat einigermaßen befriedigende Arbeitsplätze und fühlt sich bestätigt in diesem Ordnungszusammenhang. Ein weiteres Drittel lebt in fortwährend prekären Lebensverhältnissen, von Job zu Job, kurzfristigen Arbeitsverträgen, mit der Unsicherheit, sie verlängert zu bekommen. Und das letzte Drittel wird für den zentralen gesellschaftlichen Produktions- und Lebenszusammenhang nicht mehr gebraucht.

Für die Betroffenen gilt, was Jeremy Rifkin einmal gesagt hat: Es ist schlimm, wenn Menschen ökonomisch ausgebeutet werden, weit schlimmer ist es jedoch, wenn sie dafür nicht einmal gebraucht werden.“ (Frankfurter Rundschau 18.11.2005)

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Jean Baudrillard: Die Stadt und der Hass

Wie zu vielem hat Jean Baudrillard sich bereits vor einigen Jahren prognostisch zu der gegenwärtigen Revolte geäußert:

„Das französische Kino hat jüngst mit einem Film namens ‚Der Hass‘ einen großen Kassenerfolg erzielt [...] Die Tatsache, dassdiese periphere Kriminalität eine solche Bedeutung gewonnen hat,– man könnte einen Film wie ‚Der Hass‘ jeden Tag drehen –macht sichtbar, dass sie ein umfassendes soziales Faktum ist, inwelchem sich ein universeller Prozess, nämlich jener der Konzentration und der Entleerung spiegelt. Er zeigt die universelle Problematik des Abfalles. Wenn die Gewalt aus der Unterdrückung aufsteigt, dann der Hass aus der Entleerung.“ (S. 130)

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Jean Baudrillard: Die Stadt und der Hass

„Da unsere Gesellschaft der realen Gewalt, der klar definierten historischen Klassengewalt, keinen Platz mehr einräumt, erzeugt sie eine virtuelle und reaktive Gewalt. Der Hass [...] ist paradoxerweise eine von ihrem Objekt und ihren Zielen abgelöste Leidenschaft [...] daher gehört er zeitgemäß zur Hyperrealität der großen Metropolen. Er ist im Übrigen in gewisser Weise cool. Hervorgegangen aus der Gleichgültigkeit, insbesondere aus der von den Medien verbreiteten Indifferenz, ist er eine coole, sprunghafte Form, die sich gegen dieses oder jenes Objekt richten kann. Er arbeitet ohne Überzeugung, ohne Feuer, er erschöpft sich im Ausagieren und genügt sich oft mit dem Bild seiner selbst und seinem unmittelbaren Wiederhall, wie man an den neueren Vorfällen der vorstädtischen Kriminalität beobachten kann.“

(S. 138)

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Jean Baudrillard: Die Stadt und der Hass

„Das macht den Unterschied zwischen Hass und Gewalt deutlich. Die historische oder leidenschaftliche Gewalt hat einen Gegenstand, einen Feind, einen Zweck. Der Hass hat keinen. Er ist etwas ganz anderes. Und der gegenwärtig zu beobachtende Übergang von der Gewalt zum Hass ist der leise Schritt von einergegenstandsbezogenen Leidenschaft zu einer Leidenschaft ohne Objekt.“

(S. 137)

Baudrillard, Jean: Die Stadt und der Hass, in: Keller, Ursula: Perspetiven metropolitaner Kultur, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2000, S. 130 – 141