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Historische Stätten der Chemie Friedrich Wilhelm Ostwald Leipzig/Großbothen, 1. September 2005 UNIVERSITÄT LEIPZIG

Friedrich Wilhelm Ostwald - Gesellschaft Deutscher ... · FRIEDRICH WILHELM OSTWALD wird am 2. September 1853 in Riga als zweiter Sohn eines deutschen Böttchermeisters geboren. Er

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Page 1: Friedrich Wilhelm Ostwald - Gesellschaft Deutscher ... · FRIEDRICH WILHELM OSTWALD wird am 2. September 1853 in Riga als zweiter Sohn eines deutschen Böttchermeisters geboren. Er

Historische Stätten der Chemie

Friedrich Wilhelm Ostwald

Leipzig/Großbothen, 1. September 2005

UNIVERSITÄT LEIPZIG

Page 2: Friedrich Wilhelm Ostwald - Gesellschaft Deutscher ... · FRIEDRICH WILHELM OSTWALD wird am 2. September 1853 in Riga als zweiter Sohn eines deutschen Böttchermeisters geboren. Er

Mit dem Programm „Historische Stätten der Chemie“ würdigtdie Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) Leistungen vongeschichtlichem Rang in der Chemie. Als Orte der Erinnerungwerden Wirkungsstätten von Wissenschaftlerinnen oder Wissen-schaftlern in einem feierlichen Akt ausgezeichnet, welche dieseLeistungen vollbracht haben. Eine Broschüre bringt jeweils daswissenschaftliche Werk einer breiten Öffentlichkeit näher undstellt die Tragweite ihrer Arbeiten im aktuellen Kontext dar. Zieldes Programmes ist es auch, die Erinnerung an das kulturelleErbe der Chemie wach zu halten und die Chemie sowie ihrehistorischen Wurzeln stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeitzu rücken.

Am 1. September 2005 gedenken die GDCh, die DeutscheBunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie (DBG), dieSächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, dieUniversität Leipzig und die Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft zuGroßbothen e.V. des Wirkens von WILHELM OSTWALD, der nebenSVANTE ARRHENIUS und JACOBUS VAN’T HOFF als Begründer derPhysikalischen Chemie gilt. Für seine bahnbrechenden Arbeitenauf dem Gebiet der Katalyse erhielt OSTWALD im Jahre 1909 denNobelpreis für Chemie. Außerdem wirkte er als Naturphilosoph,Soziologe, Wissenschaftsorganisator, wissenschaftlicher Schrift-steller und forschender Maler.

Titelbild: Wilhelm Ostwald alsAustauschprofessor in den USA, 1905

Leben und Schaffenin Stichpunkten

2.9.1853 in Riga als zweiter von drei Söhnen des Böttchermeisters WILHELM GOTTFRIED OSTWALD

geboren1864/71 Besuch des Realgymnasiums in

Riga1872/75 Studium der Chemie an der

Universität Dorpat1875 Kandidatenarbeit, danach Assistent

am physikalischen Kabinett bei ARTHUR VON OETTINGEN

1877 Magisterdissertation „Volumchemische Studien über Affinität“

1878 Doktordissertation „Volumchemische und optisch-chemische Studien“

1880 Heirat mit HELENE VON REYHER, aus der Ehe gehen 2 Töchter und3 Söhne hervor.Assistent am chemischen Institut der Universität Dorpat bei CARL SCHMIDT

1.1.1882 Ordentlicher Professor für Chemie am Rigaer Polytechnikum

1887 Gründung der „Zeitschrift für phy-sikalische Chemie, Stöchiometrie und Verwandtschaftslehre“ zusam-men mit JACOBUS HENRICUS

VAN’T HOFF

1.10.1887 Ordentlicher Professor für physika-lische Chemie an der Universität Leipzig

1888 Entdeckung der Beziehung zwi-schen Dissoziationsgrad und Konzentration der Säurelösungen (Ostwaldsches Verdünnungsgesetz)

1889 Erscheinen des Lehrbuches „Grundriß der allgemeinen Chemie“,Gründung der Buchreihe „Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften“

1891/1900 Entwicklung der energetischen Betrachtungsweise zur Untersuchung physikalisch-chemi-scher Vorgänge (Ostwaldsche Stufenregel, Ostwald-Reifung)

1894 Mitbegründer und Erster Vorsitzender der „Deutschen Elek-trochemischen Gesellschaft“, ab 1902 auf Vorschlag OSTWALDS

„Deutsche Bunsen-Gesellschaft fürPhysikalische Chemie“

1894 Wissenschaftliche Begriffsbildung der Katalyse

1901 Abhaltung von Vorlesungen zur Naturphilosophie

1901 Erarbeitung technisch-chemischer Grundlagen zur Herstellung von Salpetersäure durch die katalyti-sche Ammoniakoxidation an Platinkontakten gemeinsam mit seinem AssistentenEBERHARD BRAUER

1905/06 Erster deutscher Austauschprofessor in den USA

1906 Freier Forscher in Großbothen

1909 Verleihung des Nobelpreises für Chemie

1911 Präsident der Internationalen Assoziation der chemischen Gesellschaften und des Weltsprachebundes. Gründung von„Die Brücke - Internationales Institut zur Organisierung der gei-stigen Arbeit“ und Übernahme des Vorsitzes

1913 Gründung des Verlages UNESMA1914 Aufnahme von Arbeiten zur

Farbenforschung im Auftrag des Deutschen Werkbundes

1917/18 Erscheinen des ostwaldschen Farbatlasses und der Farbenfibel

1920 Gründung der Werkstelle für Farbkunde in Dresden. Erstellen der Farbnormen und Entwicklung einer Harmonielehre

1926/27 Erscheinen von „Lebenslinien. Eine Selbstbiographie“

1927 Vortragszyklus im Bauhaus Dessau1929 Erscheinen des Buches „Die

Pyramide der Wissenschaften. EineEinführung in wissenschaftliches Denken und Arbeiten“

4.4.1932 WILHELM OSTWALD stirbt in einer Leipziger Privatklinik und wird aufseinem Landsitz „Energie“ in Großbothen beigesetzt.

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FRIEDRICH WILHELM OSTWALD wird am 2. September1853 in Riga als zweiter Sohn eines deutschenBöttchermeisters geboren. Er besucht die Volksschule undanschließend das Realgymnasium. Dort werden seine über-wiegend naturwissenschaftlichen Interessen besonders vondem Lehrer GOTTHARD SCHWEDER (1831-1913), späterDozent am Rigaer Polytechnikum, gefördert. Der Jungeerkennt frühzeitig den Wert von Büchern als Wissensquelle.

Unbestrittener Favorit ist dabei die „Schule der Chemie“von JULIUS ADOLPH STÖCKHARDT (1809-1886),welche ein nachhaltiges Interesse für die Chemie weckt.Daneben sind es besonders die häuslichen Verhältnisse, dieden Jungen prägen: Praxisorientierung, Beschränkung aufdas Notwendige und Machbare sowie die Freude anHandfertigkeiten. Alle diese Eigenschaften sind bei demspäteren Wissenschaftler augenfällig.

Obwohl der Vater für den Sohn eine technischeAusbildung plante, stimmt er schließlich einem Chemie-Studium an der Universität Dorpat zu. Das dreijährigeStudium endet im Januar 1875 nach russischen Vorschrif-ten mit dem Kandidaten-Examen und einer erstenExperimentalarbeit, die auszugsweise im „Journal für prak-tische Chemie“ gedruckt wird. Damit ergibt sich eineVerbindung zum Herausgeber dieser Zeitschrift, HERMANN

KOLBE (1818-1884), Professor für Chemie an derUniversität Leipzig.

OSTWALDS Begeisterung für die Wissenschaft istgeweckt. Eine Assistentenstelle am physikalischenLaboratorium unter ARTHUR VON OETTINGEN (1836-1920)sichert neben der materiellen Unabhängigkeit auch dieVertiefung der physikalischen Kenntnisse. OSTWALD

beschäftigt sich mit der chemischen Verwandtschaft undsetzt dazu erstmals Dichtemessungen ein. Im November1877 liegt die Magisterarbeit und im Dezember desFolgejahres die Doktorarbeit vor. Neben der Tätigkeit ander Universität nimmt OSTWALD eine Lehrerstelle fürMathematik und Naturwissenschaften an der DorpaterKreisschule an.

Zum 1. März 1880 wechselt OSTWALD an das chemi-sche Laboratorium seines Lehrers CARL SCHMIDT (1822-1894), der ihn ein Jahr später für die vakante Stelle einesordentlichen Professors für Chemie am RigaerPolytechnikum vorschlägt. Der Senat der Hochschule ent-scheidet sich für OSTWALD, und so kehrt dieser imDezember 1881 in seine Heimatstadt Riga zurück.

In Riga ist OSTWALD für die gesamte Chemie verant-wortlich. Unter seinem Vorgänger lief das Studium wieSchulunterricht ab und war ausschließlich auf dieAusbildung von Industriechemikern gerichtet. Eine chemi-sche Forschung existierte nicht. OSTWALD ist der erste

Professor mit chemischer Ausbildung. Die Tagesaufgaben lassen im ersten Jahr wenig Zeit für

eigene Forschungen. Ende 1882 erscheint eineAnkündigung, der sich im Folgejahr eine Reihe vonArtikeln anschließt. OSTWALD bezieht nunmehr die

Die Entwicklung der Wissenschaft kümmert sich nicht um das persönliche Schicksal desEinzelnen, und sie darf in solchen Fällen durchaus keine Dankbarkeit kennen und üben.1

Die Wurzeln – Jugend und erste BerufsjahreDie Erfahrung, [...] daß nämlich in Büchern genügend Auskunft zu finden ist, um gewünschteDinge ausführen zu lernen, [...] ist maßgebend für meine weitere Entwicklung geworden. [...]und tatsächlich verdanke ich meinen Büchern sehr viel mehr als meinen Lehrern.2

Der Wissenschaftler – Von der Düna an die PleisseGute Theorie muß alsbald zur Praxis führen, man kann ihren Wert geradezu daran ermessen.3

1 OSTWALD, WILHELM: Lebenslinien: eine Selbstbiographie. Nach der Ausgabe von 1926/27 überarbeitet und kommentiert von Karl Hansel.Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, Bd.61. Stuttgart/Leipzig, Hirzel,2003, S. 377-378.2 ebenda, S. 27-28.3 OSTWALD, WILHELM: Arbeits- und Laborhefte, Eintrag vom 17.01.1911.

Wilhelm Ostwald als Dozent in Dorpat, 1880

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Dynamik chemischer Reaktionen in seine Affinitätsunter-suchungen ein. Voraussetzung und Ergebnis dieserUntersuchungen ist der Urthermostat, der dann auch alswichtige ostwaldsche Entwicklung unter den Labor- undMessgeräten zusammen mit dem Verdünnungsgesetz dieNobelurkunde von 1909 schmückt.

Diese Entwicklung erhält eine scharfe Wendung durchdie Dissertation von SVANTE ARRHENIUS (1859-1927).OSTWALD erbringt den experimentellen Nachweis für dieenge Beziehung zwischen Affinitätskoeffizienten undLeitfähigkeit, womit die bisherige Arbeitsrichtung auf eineneue Basis gestellt wird. Seine Apparate und Methodenbestimmen über längere Zeit die Leitfähigkeitsmessungenin den chemischen Laboratorien.

Im April 1887 wird in Leipzig der Lehrstuhl für physi-kalische Chemie vakant. Es ist sicher kein Zufall, dass dieJuli-Ausgabe der Zeitschrift „Humboldt“ einen Beitrag„Die Aufgaben der physikalischen Chemie“ enthält. Es istOSTWALDS erster Aufsatz zu allgemeinen Fragen seinerWissenschaft, und die Vermutung liegt nahe, dass er damitzusätzlich auf seine Person aufmerksam machen will. Erhatte zwar bereits im „Lehrbuch für allgemeine Chemie“diesbezügliche Aussagen geäußert, konnte aber auf den grö-ßeren Leserkreis der Zeitschrift hoffen. In der Sache bleibtder Artikel ohne Wirkung, denn schon am 18. Juli ergehtdas Berufungsschreiben an OSTWALD auf Grund einer per-sönlichen Entscheidung des Ministers.

Als unbewältigtes Problem nimmt OSTWALD dieKlärung des Einflusses der Verdünnung auf dieLeitfähigkeit aus Riga mit nach Leipzig. Aber bereits am24. Januar 1888 teilt er JACOBUS HENRICUS VAN’T HOFF

(1852-1911) in einem Brief sein neuestes Ergebnis mit: DasLösungsgesetz für schwache Elektrolyte liegt vor. OSTWALD

orientiert die Kräfte des sich rasch entwickelndenLaboratoriums auf die experimentelle Bestätigung und viel-seitige Anwendung der Theorien von ARRHENIUS und VAN’T

HOFF. Von OSTWALD eingebrachte Ergänzungen sind u.a.die individuellen Ionenreaktionen der komplexen Salze undSäuren, die elektrometrische Titration, die Verwandtschaftzur Elektrizität, die stufenweise Ionendissoziation und derfotografische Nachweis, dass Salze in verdünntenLösungen praktisch vollständig dissoziiert vorliegen.

Während noch um die Durchsetzung der Dissoziations-theorie gerungen wird, beginnt OSTWALD, sich mit denbereits in Riga registrierten „Kontaktwirkungen“ bzw. kata-lytischen Effekten zu beschäftigen. 1890 führt er denBegriff „Autokatalyse“ ein. Dem gleichen Jahr ist vermut-lich auch der Anfang seiner intensiven Beschäftigung mitdem Energiebegriff zuzuordnen. In der LeipzigerAntrittsrede vom Oktober 1887 hatte er Materie undEnergie gleichberechtigt als Substanzen betrachtet. EineGleichberechtigung bzw. Unabhängigkeit der beidenBegriffe schien aber schlecht möglich. Zwei unabhängigeErhaltungssätze konnten keine Berechtigung haben.

Später definiert er als allgemeine Bedingung für denAblauf eines jeden natürlichen Vorganges eine Energie-differenz. Daraus folgert er, dass ein allgemeines Maß-system neben Raum und Zeit als dritte Koordinate dieEnergie enthalten muss, da diese Größe sowohl in derbelebten als auch in der unbelebten Natur vorhanden undbestimmend ist. Aus den Gleichgewichtsbedingungen leiteter ab: Zwei Gebilde, die einzeln mit einem dritten imEnergie-Gleichgewicht sind, sind auch untereinander imGleichgewicht [...] und schlussfolgert hinsichtlich des zwei-ten Hauptsatzes: Ruhende Energie setzt sich nicht aus eige-nem Antrieb in Bewegung – ein perpetuum mobile zweiterArt ist unmöglich.4 Daraus folgen aber auch Einsinnigkeitund Nichtumkehrbarkeit jedes natürlichen Vorganges.

Die Überlegungen zur Rolle der Energie in der Naturbilden den Anfang einer immer stärkeren OrientierungOSTWALDS von der experimentellen Arbeit zur begrifflichenKlärung. Da er seine Gedanken regelmäßig imLaboratorium diskutiert, wird sein Ansatz, chemischeProzesse als Energieumwandlungen zu betrachten, alsgemeinsame Position anerkannt und akzeptiert. Sowohl dieDefinition der Katalyse als auch die Ostwald-Reifung unddie Stufenregel stützen sich auf energetische Begrün-dungen.

Mit seinen Arbeiten auf dem Gebiet der Katalyse gehörtOSTWALD in den Augen seiner Zeitgenossen zu denWissenschaftlern allerersten Ranges. Zusätzlich zu den be-grifflichen Klärungen für die unterschiedlichenkatalytischen Erscheinungen unternimmt er Unter-suchungen zur Ammoniaksynthese und zur Ammoniak-verbrennung. Während ihm die erste nicht gelingt und der

Hauptgebäude des Rigaer Polytechnikums, Ende des 19. Jh.

Sitz des Physikalisch-chemischen Laboratoriums im Gebäudedesehemaligen Landwirtschaftlichen Institutes der Universität Leipzigin der Brüderstraße 34, historische Aufnahme

4 WALDEN, PAUL: Wilhelm Ostwald. In: Berichte der Dt. Chem. Ges. (Berlin) 1932, 65A, 124. Walden bezieht sich dabei auf: OSTWALD, WILHELM: Studienzur Energetik. 2. Grundlinien der allgemeinen Energetik. In: Z. phys. Chem. 1892, 10, 366-367.

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gefundene Ammoniak später als Verunreinigung erkanntwird, läuft die zweite Reaktion unter Laborbedingungenzufrieden stellend ab. Gemeinsam mit seinem Assistentenund späteren Schwiegersohn EBERHARD BRAUER (1875-1958) wird dieses Verfahren bis zur großtechnischen Anlageentwickelt. Die chemische Industrie zeigt allerdings keinInteresse, da Chilesalpeter trotz des langen Transportwegesbilliger ist. Unterstützung findet OSTWALD zuerst bei MAX

VON DUTTENHOFER (1843-1903) in Potsdam-Neubabelsbergbzw. Königswusterhausen und später bei BERNHARD

LEPSIUS (1854-1934) in Griesheim. Engpass ist aber immerder Ammoniak. Dafür ergibt sich schließlich eine kosten-günstige Quelle in den Abwässern der Kokereien desRuhrgebietes. 1907 wird auf der Zeche Lothringen inBochum-Gerthe die erste halbtechnische Anlage angefah-ren. Eine Großanlage entsteht wenig später. Es gehört bisheute zu den Ausnahmen, dass ein Chemiker einen Prozessvom Laborversuch bis zur Industrieanlage eigenhändig lei-tete.

Zu den katalytischen Arbeiten bzw. ihrem Umfeld gehö-ren auch die Untersuchungen zu Übersättigung und „Über-kaltung“, aus denen einerseits die bereits genannte Stufen-regel, andererseits sehr genaue Analyseverfahren ihrenAnfang nehmen. 1902 entwickelt OSTWALD zusammen mitOTTO GROS (1877-1947) ein katalytisches Kopierverfahren.Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auchOSTWALDS Hinweise auf die katalytische Natur der Prozesseim lebenden Organismus. 1894 führt er dazu aus: Verfügtder Mensch [...] über ein Mittel, katalytische Wirkungen beidem Ablauf der mit den geistigen Vorgängen verbundenenchemischen zur Geltung zu bringen, so hat er dadurch dieMöglichkeit, diese geistigen Vorgänge nach Umständen zubeschleunigen oder zu verlangsamen.5 Später leitetOSTWALD daraus Vorstellungen zur chemisch-energetischenNatur des Bewusstseins und der Denkprozesse ab.

Aus den energetischen Betrachtungen entspringen

OSTWALDS Überlegungen zur möglichst verlustfreienUmwandlung chemischer in die leichter zu handhabendeelektrische Energie, die letztlich zur Brennstoffzelle führen.Aus dem Fortschreiten einer Reaktionsfront schließt er aufdie Reizfortpflanzung im Organismus. In der Rede zurEröffnung des neuen Physikalisch-chemischen Institutes inLeipzig am 3. Januar 1898 behandelt OSTWALD denZusammenhang zwischen Dissipation der Energie und Zeitsowie zwischen Katalyse und Zeit.

1901 demonstriert er die Ergebnisse langjähriger Über-legungen zu den Vorgängen in der belebten sowie in derunbelebten Welt in einem Kurs „Vorlesungen zurNaturphilosophie“, der mit großem Interesse aufgenommenwird. Diese Vorlesungen bilden die Grundlage für fast allenachfolgenden philosophischen Arbeiten OSTWALDS.

Die Ergebnisse der langjährigen Forschung, die erfolg-reiche wissenschaftliche Schule und seine Bücher machenOSTWALD international bekannt. Er erhält Ehrungen undwird zu Vortragsreisen und Kongressen eingeladen, so1903, 1904 und 1905/06 in die USA. Für die Arbeit imLaboratorium bleibt immer weniger Zeit, die innereUnzufriedenheit wächst. Im Jahre 1903, anlässlich seines25-jährigen Doktorjubiläums, verkündet OSTWALD erstmalsoffiziell Rücktrittsabsichten. Sein von der UniversitätLeipzig 1905 abschlägig beschiedener Antrag aufVorlesungsbefreiung führt zu einem Rücktrittsgesuch. DerRuf nach Cambridge/Massachusetts (USA) als erster deut-scher Austauschprofessor verschiebt die Trennung von derUniversität um ein Jahr. Zu Beginn des Wintersemesters1906 endet dann die Leipziger Periode, und OSTWALD ver-legt seinen Wohnort und seine Wirkungsstätte nachGroßbothen, wo er sich ein Labor einrichten lässt.

Nach seinem Ausscheiden aus der Universität Leipzigbeschäftigt sich OSTWALD vornehmlich mit wissenschafts-theoretischen, bildungsorganisatorischen sowie philosophi-schen und soziologischen Themen. Auf Grund der gegen-seitigen Abhängigkeit der Einzelwissenschaften konstruierter ein pyramidenförmig aufgebautes Wissenschaftssystem.Außerdem untersucht er den Aufbau der natürlichenSprachen und formuliert Empfehlungen für dieKonstruktion einer Plansprache. Darüber hinaus sucht ernach Wegen zur Verbesserung der wissenschaftlichenKommunikation und zur Vermeidung von Doppelarbeit.Alle Arbeiten haben die Erfüllung der Forderung seinesenergetischen Imperativs zum Ziel: „Vergeude keineEnergie, verwerte sie!“.

Auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten für die Ent-stehung bedeutender wissenschaftlicher Leistungen analy-siert er die Lebensläufe großer Forscher, überwiegend vonChemikern, und zieht Schlussfolgerungen für dieEntdeckung und Förderung hochbegabter Menschen sowiefür die rationelle Nutzung ihrer Fähigkeiten zum Wohle derGesellschaft. Daneben beschäftigen ihn die Entwicklungder Chemie zu einer rationellen Wissenschaft nach demBeispiel der Physik und die Umgestaltung desSchulsystems.

Teilansicht einer Salpetersäureanlage nach dem Ostwald-Brauer-Verfahren, um 1917 (Werksarchiv der BASF)

5 OSTWALD, WILHELM: Chemische Theorie der Willensfreiheit. In: Ber. Verh. Kgl. Sächs. Ges. Wiss. Leipzig 1894, 46, 334-343.

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Über OSTWALD als Lehrer in der Rigaer Zeit liegenwenige Aussagen vor. PAUL WALDEN (1863-1957) berichtetin seiner Biografie von 1903, OSTWALD habe sich, demBeispiel seines Lehrers SCHMIDT folgend, sehr intensiv mitden Studenten beschäftigt. Seine Vorlesungen werdengelobt, er sei ausgiebig auf die Klassiker der Chemie einge-gangen und habe seinen Zuhörern eher zuviel als zuwenigzugemutet. Im Laboratorium sei er stets ansprechbar gewe-sen und habe großen Wert auf rationelle Gestaltung derGeräte und Laborhilfsmittel gelegt. Erstmals seien unterOSTWALDS Anleitung Publikationen der Studenten entstan-den.

Man kann davon ausgehen, dass OSTWALD die gutenErfahrungen von Riga auf den Leipziger Laborbetrieb über-tragen hat. Allerdings hat er in Leipzig wesentlich schlech-tere räumliche Bedingungen als in seiner Heimatstadt.Stand ihm dort ein geräumiger Neubau zur Verfügung, so istes in Leipzig ein Altbau, der eigentlich für die Belangeeines physikalisch-chemischen Laboratoriums völlig unge-

eignet war. Hinreichend anschaulich ist eine Schilderungaus „Nature“: The Leipzig laboratory, in which he workeduntil 1897 was situated in the ‘Landwirtschaftliche Institut’,an old pile originally devoted to agricultural chemistry, andin every way unfitted for carrying on of those delicate expe-riments which brought Ostwald to the forefront of scientificworkers. Research was carried out under countless difficul-ties; the light was bad, the rooms unventilated, the heatingeffected by means of stoves difficult to regulate and produ-cing dust which caused much injury to finer instruments; noprecautions had been taken in laying the foundations toensure the deadening of vibrations; thus many experimentswere ruined; the lack of space precluded the use of telesco-pes for reading scales, and altogether it would have beendifficult to construct a laboratory worse adapted for physi-co-chemical investigations. But in spite of all these draw-backs the laboratories were soon overcrowded, and additio-nal benches had to be fitted up in the corridors and cellarsto accommodate the increasing numbers.9

Der Lehrer – Arbeiten mit Studenten und Reisen in die Welt[...] wenn der Schüler sich erst einmal dessen bewußt geworden ist, daß er wirklich ausEigenem Neues leisten kann, so wird es auch in Zukunft seine Hauptsorge sein, diese Fähigkeitselbständigen Denkens in sich weiter zu entwickeln.8

6 OSTWALD, WILHELM: Nachschrift. In: Die Forderung des Tages, Leipzig, Akad. Verlagsges., 1910, S. 202.7 ebenda8 OSTWALD, WILHELM: Wissenschaftliche Massenarbeit. In: Ann. Naturphil. 1903, 2, 9.9 F.H.N. [d.i. F.H.N[EVILLE] (Anonym): Some scientific centres. II.- The laboratory of Wilhelm Ostwald. In: Nature 1901, 64, 428-430.

1908 bekennt sich OSTWALD zum Atomismus. In seinenErinnerungen bringt er später zum Ausdruck, dass es einFehler war, nicht über eine Diskretheit der Welt nachge-dacht zu haben. Seine eigene Atomdefinition bleibt aberweitgehend unbekannt: Atome sind [...] kleinsteRaumgebilde, in denen die Energie eine andereBeschaffenheit hat, als in ihrer Umgebung.6 Erführt erklärend weiter aus: Daß eine solcheVerschiedenheit besteht, und daß es Tatsachengibt, die nicht wie die früher bekannt gewese-nen sich ausreichend durch die Voraussetzungeiner stetigen Anordnung der Energie imRaum erklären lassen, darin besteht eben die-ser neue Fortschritt, der mich zur Aufgabe mei-nes früheren Widerspruches gegen die wirklicheExistenz der Atome veranlaßt hat. 7

Höhepunkt dieses Lebensabschnittes ist für OSTWALD

die Verleihung des Nobelpreises für Chemie imJahre 1909 für seine Arbeiten über Katalyse undseine grundlegenden Untersuchungen über che-mische Gleichgewichtsverhältnisse undReaktionsgeschwindigkeiten. In seiner aus-führlichen Begründung an das Nobel-Komitee vom Jahre 1908 betonte HANS

LANDOLT (1831-1910) insbesondere auch die„ungemein erfolgreiche Lehrthätigkeit“OSTWALDS in Riga und später in Leipzig, bis er1906 aus gesundheitlichen Gründen das Lehramt aufge-

geben und sich nach Großbothen zurückgezogen hat.In seinem Großbothener Laboratorium nimmt er im

Jahre 1914 im Auftrag des Deutschen Werkbundes experi-mentelle Arbeiten zur Farbenforschung auf, unterstützt

durch den Praktiker PAUL KRAIS (1866-1936). DieAufgabe ist komplex und außerordentlich arbeitsin-

tensiv. So werden Tausende von Farbproben auf-gestrichen und ausgemessen, um die genorm-ten Farben zu visualisieren. In einerSelbstdarstellung zählt OSTWALD folgendebewältigte Unterthemen auf: Nachweis derrichtigen Elemente der Farben, Erfindung der

Methoden zu ihrer Messung, Ermittlung dermethodischen Ordnung der Farben mittels

Messung, Aufstellen der Grundsätze ihrerNormung, praktische Ausführung der Normen im

Farbenatlas, Ableitung einer rationellen Lehre von derHarmonie der Farben. Die schrittweise Abarbeitung

dieses Programmes in Verbindung mit derEntwicklung von Ansätzen einer Harmonie-lehre für Formen führen ihn zu einer allgemei-nen Schönheitslehre (Kalik) nach demGrundsatz: Gesetzlichkeit = Harmonie =Schönheit.

In den letzten Lebensjahren bewegt ihnerneut das Verhältnis von Wissenschaft und

Kunst, womit er sich bereits während der LeipzigerZeit auseinandersetzte.

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Zur Verbesserung dieser Bedingungen und zurSchaffung zusätzlicher Arbeitsplätze wird im Institut stän-dig gebaut. Diese Situation normalisiert sich erst 1897/98mit dem Umzug in das neue Physikalisch-chemischeInstitut in der Linnéstraße.

Trotz der misslichen Zustände kann sich OSTWALD nichtüber mangelnden Zuspruch beklagen. Die Studierwilligenkönnen zwei Gruppen zugeordnet werden: Zufällige, die inden anderen chemischen Instituten der Universität keinenPlatz gefunden haben, und physikalisch-chemischInteressierte. Unter letzteren sind besonders ausländischeWissenschaftler stark vertreten, die mit einer abgeschlosse-nen Ausbildung anreisen und sich weiterbilden oder spezia-lisieren wollen. Zuverlässige Angaben über die im ostwald-schen Laboratorium Ausgebildeten gibt es infolge derAuswirkungen des Zweiten Weltkrieges nicht. Die von derWilhelm-Ostwald-Gesellschaft gesammelten Daten stam-men aus weltweit verstreuten Quellen und erheben keinenAnspruch auf Vollständigkeit. Etwa 500 Namen sind bishermit Aufenthaltsdauer und teilweise mit späterem Arbeitsorterfasst. Mehr als die Hälfte davon sind Ausländer. MitSVANTE ARRHENIUS (1859-1927), WALTHER NERNST (1864-1941), THEODORE WILLIAM RICHARDS (1868-1928) undFRITZ PREGL (1869-1930) waren vier spätere Nobel-preisträger in seinem Laboratorium tätig. Mindestens 170Professoren haben in 23 Ländern ihre Kenntnisse weiterge-geben. Mit über 60 Professoren und weiteren führendenIndustrievertretern sind die USA unter den Absolventen amstärksten vertreten.

Neben dem Kurs Allgemeine und physikalische Chemie(bis 1901) liest OSTWALD Anorganische Experimental-chemie (bis 1896). Dazu kommen Spezialvorlesungen wieElementare Thermodynamik (1888), Theorie der musikali-schen Harmonie (1889 und 1890), Elektrochemie (1890),Photochemie und Photographie (1891 und 1893),Anwendung der Thermodynamik auf chemischeErscheinungen (1892), Energetik in gemeinfasslicherDarstellung (1894 und 1896), WissenschaftlicheGrundlagen der analytischen Chemie (1898), Elemente derallgemeinen und physikalischen Chemie (1902 und 1906),Elemente der chemischen Dynamik (1903) und ChemischeVerwandtschaftslehre in geschichtlicher Darstellung(1904). Zeitgenossen bezeichnen seine Vorlesungen alsanspruchsvoll, insbesondere für Neulinge. Für Fort-geschrittene seien sie dagegen eine unerschöpfliche Quelle

von Anregungen gewesen, da OSTWALD stets seine aktuellenGedanken über das behandelte Thema zur Kenntnis bringt.Deshalb nehmen auch die Assistenten und Praktikantenregelmäßig an den Lehrveranstaltungen teil und diskutierenim Nachgang über den Vorlesungsstoff. OSTWALD hat seineVorstellung von einer Vorlesung wie folgt formuliert: [...]Eine Vorlesung hat nicht die Aufgabe, den behandeltenGegenstand zu erschöpfen, sondern die, über ihn zu orien-tieren und das tiefere Studium anzuregen.10 Hervorgehobenwerden auch die durchdachten und gut funktionierendenExperimente.

In der Aufzählung der Lehrveranstaltungen fehlen diePraktika sowie eine Besonderheit des ostwaldschenInstitutes, die Besprechungen wissenschaftlicher Arbeiten,die im Sommer 1897 eingeführt und bis zum Frühjahr 1905regelmäßig durchgeführt werden. Von den Mitarbeitern alsMittwochskolloquien bezeichnet, sind diese Veranstal-tungen dazu vorgesehen, den Gang bereits in Angriffgenommener oder auch nur geplanter Arbeiten ausgiebig zubesprechen. Ein erwartetes Ergebnis wird mit wenigerAufmerksamkeit bedacht als ein unerwartetes.Schwierigkeiten erwecken allgemeines Interesse. An denDiskussionen können sich alle Interessierten beteiligen,unabhängig vom Ausbildungsstand. Dabei spielen auch all-gemeine Fragen eine große Rolle. OSTWALDS Überlegungenzur Rolle der Energie bei chemischen Umwandlungen oderzu den Vorgängen bei der Katalyse werden ausgiebig disku-tiert.

Im Labor arbeiten Fortgeschrittene neben Anfängern.Das Stehlen mit den Augen ist zur Tugend erhoben, undGemeinsamkeit wird groß geschrieben. Auch bei den tägli-chen Laborrundgängen ist OSTWALD immer bereit, bei einerArbeit auftretende Probleme oder aber Fragen von allge-meinem Interesse im größeren Kreis zu diskutieren.

Da in den ersten Jahren bei den Neuzugängen häufiggroße Defizite in der Vorbildung festzustellen sind, existiertam Institut ein System zusätzlicher Vorbereitungskurse. Sowird vom Sommersemester 1890 bis 1896 ein institutsinter-nes physikalisches Seminar durchgeführt. Es gibtFerienkurse für allgemeine physikalisch-chemischeArbeiten, über die Untersuchung von Nahrungs- undGenussmitteln sowie über Harnanalyse. Außerdem werdenKurse zur Messtechnik und Anleitungen des Instituts-mechanikers zur Entwicklung von Versuchsanordnungenund Geräten angeboten.

Vor der Aufnahme einer eigenen wissenschaftlichenArbeit ist das physikalisch-chemische Praktikum zu absol-vieren. Dort ist jeder Teilnehmer aufgefordert, seine Geräteselbst zu konstruieren, wofür in der Regel nur die einfach-sten Materialien zur Verfügung stehen. Bewährt sich dieLösung, wird sie vom Institutsmechaniker FRITZ KÖHLER inMetall gebracht. OSTWALD selbst arbeitet nach dem glei-chen System. In Großbothen sind noch heute Pappe- undSperrholzkonstruktionen aus der Entwicklungszeit derFarbenlehre zu bestaunen. Kreativität ist gefragt, und nichtwenige der auf diesem Weg entstandenen Mess- undLaborgeräte haben später den Weg ins Deutsche MuseumMünchen gefunden.

Das Physikalisch-chemische Institut der Universität Leipzig in derLinnéstraße 2, um 1900

10 OSTWALD,WILHELM: Vorlesungen über Naturphilosophie, Leipzig, Veit, 1902. S. VI; auch in: Mitt. Wilhelm-Ostwald-Ges. 2004, 9, 5.

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Der Physiker GEORGE JAFFÉ (1880-1965) hinterlässt 1952die nachfolgende Erinnerung an seinen Lehrer: [...] DaOstwald mein Interesse für Musik kannte, beriet er mich fol-gendermaßen, als die Zeit für mich gekommen war, meineAbhandlung zu schreiben: „Sie müssen Ihre Abhandlungschreiben, wie Beethoven eine Symphonie schrieb. DenkenSie an die 5. Symphonie im 2. Satz; gerade vor dem Ende gibter dem zweiten Thema eine vollkommen neue und höchst ein-drucksvolle Wendung. Das müssen Sie auch tun. Wenn Sie einZimmer systematisch untersucht haben, bevor Sie dieBeschreibung abschließen, öffnen Sie das Fenster und zeigenSie den Leuten, in was für eine Landschaft es Ausblick bie-tet.“ Das ist ein sehr guter Rat, aber ich bezweifle, daß manBeethoven leichter als Ostwald folgen kann; da muß manReichtümer auf Lager haben! Immerhin, hier sehen Sie einenerstklassigen Lehrer am Werk. Er weiß den jungen Mann ineiner Weise zu beeindrucken, daß er nicht einmal des Lehrersvergessen hat – in beinahe 50 Jahren.11

OSTWALD ist Lehrer aus Überzeugung. Umso härter trifftihn die Erkenntnis, dass ihm mit der Überarbeitung 1895/96die Begeisterung für diese Seite seiner Tätigkeit abhandengekommen ist. Der Extravertrag mit dem Ministerium Ende1900 bringt nur wenig Entlastung, da die gewonnene Zeitsofort in neue Arbeitsgebiete investiert wird. Eigentlich vor-rangige Aufgaben auf dem Gebiet der physikalischenChemie werden dagegen hinausgeschoben.

Die Bindung an die Universität Leipzig lockert sich.Versuche, in München oder Berlin eine andere Tätigkeit zuerhalten, scheitern. Im September 1905 tritt OSTWALD alserster deutscher Vertreter im kürzlich zwischen Berlin undCambridge/Massachusetts vereinbarten Professorenaus-tausch seine dritte USA-Reise an. In den USA absolviertOSTWALD ein Mammutprogramm mit bis zu drei Vorträgenam gleichen Tag in unterschiedlichen Orten. Außer an derHarvard-University liest er an der Columbia-University inNew York und am Massachusetts Institute of Technology inBoston. Dazu kommen Vorträge über Bildungsorganisationund Weltsprache. An der Lowell-Institution in Boston liest erüber die Chemie der Malerei. Trotzdem kann er nicht alleNachfragen befriedigen. Außerhalb des offiziellenProgrammes informiert er sich über die Arbeit seiner ehema-ligen Schüler und besucht Forschungseinrichtungen.

Mit dem freiwilligen Ausscheiden OSTWALDS aus demUniversitätsdienst zum Sommersemester 1906 zeichnet sich

auch eine endgültige Trennung des Wissenschaftlers vonder physikalischen Chemie ab. OSTWALD als Mitbegründerdieser Wissenschaft, die sich in historisch kurzer Zeit voneinem zarten Pflänzchen in einen mächtigen Baum verwan-delt hat, muss erkannt haben, dass es bei der inzwischeneingetretenen Spezialisierung nicht mehr möglich ist, allewissenschaftlichen Arbeiten im Labor auf die bisherige Artund Weise zu leiten und zu fördern. Von seinen ehemaligenAssistenten überholt oder gar als Ikone zum Hemmschuheiner weiteren Entwicklung werden, wollte er auch nicht.

Der wissenschaftliche Schriftsteller und der Wissen-schaftsorganisator bleiben jedoch mit der Chemie noch aufJahre verbunden. Der Lehrer versucht auch außerhalb einesAmtes mit Vorträgen aktiv zu bleiben. 1908 nimmt er wie-der an den Salzburger Ferialwochen teil. Ein Gesuch umeine neuerliche Vorlesungserlaubnis an der UniversitätLeipzig im Frühjahr 1909 wird abgelehnt. Nach derZuerkennung des Nobelpreises im gleichen Jahr überhäuftman ihn mit Bitten um Vorträge. Eine vierte USA-Reise1912, für die bereits ein umfangreiches wissenschaftlichesProgramm vereinbart ist, wird vermutlich aus gesundheitli-chen Gründen abgesagt. Möglicherweise sind zu diesemZeitpunkt aber auch Organisator und Lehrer in ihm imKonflikt, den der Organisator für sich entscheidet.

Nach dem Ersten Weltkrieg ist OSTWALD alsVortragender in Sachen Farbenlehre wieder aktiv. Es sindaber z.T. auch finanzielle Gründe, die den fast 70-Jährigenerneut an das Rednerpult bringen. Im September 1922spricht er anlässlich der Eröffnung der 27. Jahres-versammlung der Deutschen Bunsen-Gesellschaft zusam-men mit der Jubiläumsveranstaltung der GesellschaftDeutscher Naturforscher und Ärzte das letzte Mal in derLeipziger Universität und tritt am gleichen Tag noch eineVortragsreise durch Nordböhmen an. 1927 findet einVortragszyklus im Dessauer Bauhaus statt, und noch Ende1931 unterweist OSTWALD in Großbothen Werbefachleuteund Maler in seiner neuen Kollonmalerei.

Das ehemalige Labor im Haus „Energie“, heutiger Zustand Wilhelm Ostwald: „Der Niagarafall“, Öl nach eigener Rezeptur aufPapier, 1904

11 JAFFÉ, GEORGE: Recollection of three great laboratories. In: J. Chem. Educ. 1952, 29, 230-235 (Auszug). Übersetzung von Elisabeth Brauer, geb.Ostwald, in Abstimmung mit dem Autor im Mai 1964. Abdruck der deutschen Fassung: Mitt. Wilhelm-Ostwald-Ges. 1999, 4, 25.

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Seine Fähigkeiten als Organisator stellt OSTWALD erst-mals in Riga unter Beweis. Innerhalb weniger Jahre baut erein neues Gebäude für das chemische Laboratorium undorganisiert ein modernes Chemiestudium mit dem Ergebnis,dass sich die Studentenzahl von 120 im Jahr 1882 auf 210im Jahr 1886 fast verdoppelt und auch das neue Gebäudenur mit Schwierigkeiten alle Studierwilligen fassen kann.

Als außerordentlich bedeutsam für die physikalischeChemie erweisen sich zwei andere Aktivitäten OSTWALDS

aus der Rigaer Zeit. Das „Lehrbuch der allgemeinenChemie“ in zwei Bänden von 1885 bzw. 1887 fixiert denWissensstand seiner Zeit auf dem Gebiet der allgemeinenoder theoretischen Chemie und die „Zeitschrift für physika-lische Chemie, Stöchiometrie und Verwandtschaftslehre“bietet eine Plattform zum Austausch neuer Forschungs-ergebnisse. Es hat sich eingebürgert, beide Medien alsGrundpfeiler der neuen Wissenschaft anzusehen. Da diewenigen deutschen Fachkollegen der Gründung einer spe-zialisierten Zeitschrift für die physikalische Chemie skep-tisch gegenüber stehen, organisiert OSTWALD ein internatio-nales Mitstreitergremium, welches über Jahre die führendePosition der Zeitschrift sichert.

Der Wechsel nach Leipzig bringt für OSTWALD dieMöglichkeit, sich vorrangig auf die physikalische Chemiezu konzentrieren. Die ersten Jahre sind der Durchsetzungder Dissoziationstheorie gewidmet. Einen Höhepunktdieses „Feldzuges“ stellt die Tagung der British Associationfor the Advancement of Science 1890 in Leeds dar.

1894 erhält OSTWALD die Einladung, an der Gründungeiner elektrochemischen Gesellschaft mitzuwirken. Erstimmt zu und übernimmt für mehrere Jahre den Vorsitz derneuen Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft. Er setztsich deutschlandweit für die Schaffung von Lehrstühlen fürElektrochemie ein und organisiert eine Werbekampagne. Ineinem Brief an das sächsische Kultusministerium fordert erauch die Einrichtung eines solchen Lehrstuhls an derTechnischen Hochschule Dresden und bietet seinerseits alsZwischenlösung elektrochemische Praktika in seinemLaboratorium an.

Eine seiner letzten Aktivitäten als Vorsitzender derGesellschaft ist 1897 der Widerstand gegen das Staats-examen für Chemiker, der mit Unterstützung durchVIKTOR MEYER (1848-1897) und ADOLPH VON BAEYER

(1835-1917) zur Gründung des Verbandes der Laboratori-ums-Vorstände an deutschen Hochschulen und zu einemeinheitlichen freiwilligen Verbandsexamen an den deut-schen Hochschulen führt, mit dem die Fähigkeit zurPromotion nachgewiesen werden muss. OSTWALD setzt alsSchriftführer des Verbandes auch ein Zusatzexamen in phy-sikalischer Chemie durch. Weitere Vorschläge, wie dieSchaffung eines Gesamtverbandes deutscher Universitäten,etwa zur Regelung von Promotions- und Habilitations-fragen, oder die Gründung einer speziellen Zeitschrift für

alle Probleme des Laboratoriumsbetriebes, können dagegennicht realisiert werden.

Im Dezember 1897 wird eine deutsche Atom-gewichtskommission unter Vorsitz von HANS LANDOLT

(1831-1910) gebildet, der auch OSTWALD und KARL

SEUBERT (1852-1942) angehören. Später übernimmtOSTWALD den Vorsitz. 1906 tritt er an Stelle SEUBERTS in dieinternationale Atomgewichtskommission ein, in der er bis1921 tätig ist.

1902 erweitert die Deutsche ElektrochemischeGesellschaft auf OSTWALDS Vorschlag ihr Tätigkeitsfeld aufdie gesamte physikalische Chemie und nimmt den NamenDeutsche Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemiean.

1903 wird OSTWALD in den Verwaltungsrat desDeutschen Museums gewählt und ist von 1904 bis 1911dort als Vertreter der Gesellschaft Deutscher Naturforscherund Ärzte tätig. Für ihn hat das Museum die Rolle einerVolksuniversität für das Erfinden und Verbessern. Seinelangjährige Rolle beim Aufbau der chemischen Abteilungwird 1907 mit dem preußischen Kronenorden zweiterKlasse gewürdigt.

Der Wissenschaftsorganisator – Umsetzung von IdeenEin bekanntes und recht oberflächliches Wort heißt, daß das Bessere der Feind des Guten sei.Viel häufiger hat sich mir die gegenteilige Tatsache aufgedrängt, daß nämlich das Gute derFeind, und oft genug ein grimmiger Feind des Besseren ist. 12

Wilhelm Ostwald als freier Forscher in Großbothen, 1928

12 OSTWALD, WILHELM: Universitätsfragen. In: Frankfurter Ztg. vom 06.08., 1907, 52, 219.

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Im Dezember 1903 unterbreitet OSTWALD anlässlicheines Vortrages von ARRHENIUS im Berliner KaiserlichenGesundheitsamt der Leitung des Hauses den Vorschlag zurGründung einer Chemischen Reichsanstalt. Nach seinerVorstellung soll diese Einrichtung analog zur Physi-kalischen Reichsanstalt Grundsatz- und Querschnitts-aufgaben auf dem Gebiet der Chemie übernehmen und dieErgebnisse deutschlandweit zugänglich machen. 1905 kanner WALTHER NERNST und EMIL FISCHER (1852-1919) für dieIdee begeistern. Es kommt zu Beratungen und einemMeinungsaustausch in der Presse. Aber schon Anfang 1908distanziert sich OSTWALD von dieser Bewegung, da er seinursprüngliches Anliegen inzwischen zu stark verändert fin-det. Tatsächlich mutiert die Idee vom Grundlageninstitut zuden hochspezialisierten Forschungseinrichtungen derKaiser-Wilhelm-Gesellschaft.

Nach dem Ausscheiden aus dem Universitätsdienst trittOSTWALD mit mehreren international angelegten Vorhabenan die Öffentlichkeit. Dazu gehört die Einführung einerWeltsprache zur Erleichterung der Kommunikation zwi-schen den Wissenschaftlern. Bereits seit 1903 setzt er sichmit Vorträgen und Aufsätzen für dieses Vorhaben ein. Dabeisieht er Sprache als Verkehrsmittel, welches ebenso wietechnische Mittel zu warten und zu pflegen ist. Im Herbst1907 leitet er in Paris eine Kommission, welche eineAuswahl unter den vorhandenen Weltspracheprojekten zutreffen hat. Anschließend konzipiert er das Erscheinen derZeitschrift „Progreso“. 1910 bereitet OSTWALD dieGründung des Weltspracheamtes in Bern vor. Ein Jahr spä-ter schlägt er in einem redaktionellen Artikel den Lesern derZeitschrift für physikalische Chemie vor, künftig dieBeiträge durch ein Weltsprache-Resumé zu ergänzen.Verlag, Mitherausgeber VAN’T HOFF und die Mehrzahl derAbonnenten lehnen den Vorschlag ab.

1911 gründet OSTWALD mit Gleichgesinnten inMünchen „Die Brücke – Internationales Institut zurOrganisierung der geistigen Arbeit“. Die Institution sollWissensinseln verbinden, das Weltwissen sammeln und ver-walten, als Auskunftsstelle dienen – kurz gesagt, eine ArtGehirn der Welt bilden. Mit ihrer Hilfe soll Doppelarbeit imForschungsbereich verhindert und die Effektivität der wis-senschaftlichen Arbeit erhöht werden. Daneben ist auch dieRationalisierung des Umganges mit Wissen vorgesehen,von der einheitlichen Gestaltung der Bibliotheken bis zuden Standardformaten von Büchern und Schriftgut. Dassog. „Weltformat“ für Drucksachen bildet 1922 dieGrundlage für die DIN auf diesem Gebiet. Auch eineSystematisierung der Farben ist vorgesehen. Im Frühjahr1914 wird die „Brücke“ wegen personeller Probleme aufge-löst.

Von besonderer Wichtigkeit ist für OSTWALD dieSchaffung einer Weltorganisation der Chemiker, versprichtsie ihm doch einen ungeheuren Effektivitätsschub und eineweitere Verwissenschaftlichung der Chemie. Auch könntesie mit den Weltspracheaktivitäten und der „Brücke“ ver-netzt werden und deren Erprobungsfeld bilden. Im Jahr1908 unterbreitet OSTWALD in dem Aufsatz „Berzelius unddie internationale Organisation der Chemiker“ denVorschlag der Gründung einer weltumfassendenOrganisation der Chemiker durch den Zusammenschlussder nationalen chemischen Gesellschaften.

In dem Franzosen ALBIN HALLER (1849-1925) und demEngländer WILLIAM RAMSAY (1852-1916) hat er Ver-bündete. Im April 1911 findet die Gründungsversammlungstatt, an der Delegationen aus Frankreich, England undDeutschland teilnehmen. OSTWALD wird für das erste Jahrzum Präsidenten gewählt und konzipiert ein umfangreichesProgramm gemeinsamer Arbeiten von der Schaffung einerumfassenden Informationsbasis über Referatedienste, ein-heitliche Formate für Drucksachen, eine gemeinsameVerkehrssprache, Vereinheitlichung der Nomenklatur undder Formelzeichen bis zur Integration der internationalenAtomgewichtskommission und anderem. Die Gründung derAssoziation und die formulierten Ziele finden Interesse beiden anderen Gesellschaften. Zur Jahrestagung 1913 inBrüssel umfasst sie bereits 14 ordentliche und 3 außeror-dentliche Gesellschaften mit insgesamt über 19.000Mitgliedern. Auf dieser Zusammenkunft kann OSTWALD

auch die Satzung eines Internationalen Institutes fürChemie präsentieren, welche sich an seinem früherenVorschlag für eine deutsche chemische Reichsanstalt orien-tiert. Nach vergeblichen Versuchen, in Deutschland,Schweden oder England Sponsoren zu finden, hat sichERNEST SOLVAY (1838-1922) zur Finanzierung bereiterklärt. Ende Mai 1914 findet unter Leitung von RAMSAY

die letzte Zusammenkunft eines Arbeitsausschusses statt.Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Assoziation aufgelöst.

Im Herbst 1914 zieht sich OSTWALD für die Kriegsjahreweitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Erst zurEinführung seiner Farbenlehre wendet er sich wieder orga-nisatorischen Aufgaben zu. 1918 gründet er im Werkbundeine „freie Gruppe für Farbkunst“, die aber bereits nachkurzer Zeit gegen ihn arbeitet. Auch der 1920 von derIndustrie und dem Freistaat Sachsen in Dresden gegründe-ten Deutschen Werkstelle für Farbkunde, welche dieWeiterentwicklung und Praxiseinführung der Farbenlehresichern soll, ist kein dauerhafter Erfolg beschieden. Es fehltan geeigneten wissenschaftlichen Fachkräften. EineAusweitung der Werkstellenbewegung auf deutsche Städteaußerhalb Sachsens scheitert. 1925 wird die Zentralstelle inDresden dem Textilforschungsinstitut angegliedert. DieEnergie-Werke GmbH, Abt. Farbforschung, in Großbothenkommt während der Inflationsjahre in Schwierigkeiten undwird abgegeben. Die 1923 gegründete WOFAG (WilhelmOstwald Farben AG) besteht nur kurze Zeit. Erfolgreich isthingegen die Zusammenarbeit mit der Filiale der Werkstellein Chemnitz unter EMIL PAUL EUGEN RISTENPART (1873-1953).

Teilnehmer der Brüsseler Tagung, 1913

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OSTWALDS schriftstellerisches Schaffen ist außerordent-lich umfangreich. Bekannt sind 45 Bücher mit bis zu 16Auflagen, über 1.000 Aufsätze, Mitteilungen undStellungnahmen, über 6.000 Referate und Rezensionen,weiterhin Herausgaben, Briefe und sonstige schriftlicheZeugnisse. Dazu kommt ein bedeutender Bestand nochimmer unveröffentlichter Manuskripte. 1903, anlässlich des25-jährigen Doktorjubiläums, schätzte WALDEN denUmfang des schriftlichen Werkes auf annähernd 20.000Seiten im Lexikondruck. Bis 1932 dürfte sich diesesVolumen mindestens verdoppelt haben.

Als erste Publikation OSTWALDS erscheint 1875 eineKurzfassung der Kandidatenarbeit. Dank der Vermittlungdes Lehrers SCHMIDT wird sie von KOLBE in das „Journal fürpraktische Chemie“ aufgenommen. Dieser Fakt erregtbedeutendes Aufsehen im Kreise der Altersgenossen an derUniversität Dorpat. Die Verbindung zu KOLBES Zeitschriftbesteht auch nach dessen Ableben weiter und endet erst1886.

Ab Januar 1879 kündigt OSTWALD eigene Vorlesungenan. Die zur Vorbereitung aufgenommene Material-sammlung weitet sich aus und führt in Riga zu dem bereitserwähnten „Lehrbuch der allgemeinen Chemie“. Es wirdmit zwei Bänden zu je annähernd 1.000 Seiten rechtgewichtig. Allerdings dürften weniger der Umfang als viel-mehr Inhalt und Darstellungsweise der Grund sein, derdiese Monografie bis nach Mitteleuropa und sogar Englandbekannt macht. Es wird später allgemein als „großerOstwald“ bezeichnet, im Unterschied zu seinem bescheide-neren und handlicheren Nachfolger. Der Erfolg mit demLehrbuch erleichtert die Einwilligung des VerlegersENGELMANN zur Gründung einer Zeitschrift für physikali-sche Chemie. Über 30 Jahre steht OSTWALD der Zeitschriftvor und beeinflusst mit Rezensionen und Referaten wesent-lich die Entwicklung der physikalischen Chemie weltweit,obwohl im Laufe der Jahre international weitere Publi-kationsorgane auf diesem Gebiet entstehen.

In Leipzig erscheint 1889 der „Grundriß der allgemei-nen Chemie“, in der Folge auch als „kleiner Ostwald“bezeichnet. 1890 signalisiert der Verleger, dass eineNeuauflage des „Lehrbuches“ fällig wird. Der erste Bandder zweiten Auflage wird 1891 herausgebracht. DieVereinheitlichung des Literaturmaterials für den 1893 abge-schlossenen ersten Teil des zweiten Bandes erfolgt auf„energetischer Grundlage“, die auch in allen weiteren che-mischen Lehrbüchern zur Anwendung kommt und dieUrsache ist, dass diese Bücher bis heute noch nichts anAktualität verloren haben.

1892 bringt OSTWALD die Übersetzung thermodynami-scher Arbeiten des amerikanischen Physikers JOSIAH

WILLARD GIBBS (1839-1903) heraus. In der amerikanischenPresse wird dazu vielfach als Kuriosum vermerkt, dass dieArbeiten von GIBBS in den USA erst durch OSTWALDS Über-setzung bekannt wurden.

1893 erscheint das „Hand- und Hilfsbuch zurAusführung physiko-chemischer Messungen“ alsEinweisung in das notwendige Handwerkszeug der physi-kalischen Chemie. Es soll in erster Linie Studienmaterialfür das Anfängerpraktikum am Institut sein. Das Bucherfreut sich außerordentlicher Beliebtheit und wird vonHerausgebern aus dem Umfeld OSTWALDS in den Jahren vordem II. Weltkrieg ständig aktualisiert und neu aufgelegt.Die erste Auflage hat 302, die fünfte von 1931 über 970Seiten.

Im Folgejahr überrascht er seine Leserschaft mit einerNeufassung und theoretischen Begründung der analytischenChemie, womit diese in den Rang einer Wissenschaft erho-ben wird. Das Buch erlebt 1904 bereits die vierte deutscheAuflage und wird ins Englische, Französische, Japanische,Niederländische, Polnische, Rumänische, Russische undUngarische übersetzt.

1896 erscheint „Elektrochemie: ihre Geschichte undLehre“. Der Autor sieht dieses Buch als eines seiner besten,trotzdem wird es zu seinen Lebzeiten als einziges chemi-sches Lehrbuch nicht übersetzt. Erst 1980 erscheint eineenglische Ausgabe.

In Verbindung mit der Einweihung des Physikalisch-chemischen Institutes der Universität Leipzig im Januar1898 stellt OSTWALD eine Sammlung von Arbeiten seinesLaboratoriums seit 1887 zusammen und überreicht sie demMinister. Die vier Bände dokumentieren die bishererschlossenen Gebiete und die führende Rolle desInstitutes.

1900 unternimmt OSTWALD einen Ausflug in denBereich der anorganischen Chemie. Seine Grundlinien deranorganischen Chemie erscheinen 1904 in zweiter Auflageund werden ins Englische, Französische, Italienische,Japanische und Russische übersetzt.

Während die bisher genannten Bücher ausnahmslosbeim Verlag Engelmann in Leipzig erschienen sind, bringt

Der wissenschaftliche Schriftsteller – Bücher und ZeitschriftenEr hatte begriffen, daß Klarheit und Einfachheit das höchste Produkt wissenschaftlichenDenkens sind, und daß kein Forscher sich sagen darf, daß er einen neuen Gedanken bewältigthat, bevor er fähig ist, ihn in schlichten Worten dem durchschnittlich naturwissenschaftlichgebildeten Laien klarzumachen.13

Übersetzungen und Auflagen Ostwalds Bücher

13 OSTWALD, WILHELM: Zum Geleite. In: Letzte Gedanken/von Henri Poincaré. Übers. von Karl Lichtenecker. Leipzig, Akad. Verlagsges., 1913, S.III.

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der Verlag Vieweg in Braunschweig 1903 und 1904 zweiBände eines Chemielehrbuches für Schulen heraus, welchesman heute als Bestseller bezeichnen würde. Es ist die„Schule der Chemie“. Das Buch wird in vierzehn Sprachenübersetzt. In Japan wird das Buch in drei Bänden verlegt,wobei gegenwärtig der erste Band in der 35. Auflage undder dritte Band in der 30. Auflage im Handel sind.

Bereits nach der Trennung von der Universität gibtOSTWALD die Vorträge an der Columbia-University unterdem Titel „Leitlinien der Chemie“ bzw. in der überarbeite-ten Fassung als „Werdegang einer Wissenschaft“ heraus.Noch weiter von den herkömmlichen Chemie-Lehrbüchernentfernen sich die „Prinzipien der Chemie: Eine Einleitungin alle chemischen Lehrbücher“ (1907). Darin wird derVersuch unternommen, die Chemie als rationelles wissen-schaftliches Systems darzustellen. Das Buch wurde noch1960 ins Chinesische übersetzt. Die „Einführung in dieChemie: ein Lehrbuch zum Selbstunterricht und für höhereLehranstalten“ von 1910 entspricht dann wieder der frühe-ren Sichtweise.

Die bisher genannten Bücher können als Eckpfeiler fürOSTWALDS beschreibende Darstellung der Chemie betrach-tet werden. Dazwischen ordnen sich eine ganze Reihe vonSchriften und Herausgaben ein, die ebenfalls Beziehung zurChemie haben. Die „Malerbriefe“ von 1904 beschäftigensich u.a. mit „chemischen Vorgängen in Gemälden“. In der1889 begründeten Reihe „Klassiker der exaktenWissenschaften“ gibt er 17 historische Arbeiten zu chemi-schen Themen heraus, teilweise übersetzt und alle mitKommentaren versehen. 1904 folgen „GesammelteAbhandlungen“ von ROBERT BUNSEN (1811-1899) in dreiBänden mit ca. 1.800 Seiten, herausgegeben gemeinsammit MAX BODENSTEIN (1871-1942).

Bei dieser Fülle von Büchern ist OSTWALD nicht mehr inder Lage, alles auf aktuellem Stand zu halten. Das ersteOpfer ist das „Lehrbuch der allgemeinen Chemie“. Nachdem Abschluss des ersten Teils des zweiten Bandes„Chemische Energie“, mit dem 1893 der Begriff „Energie“in die Chemie eingeführt wird, beginnt OSTWALD die Über-arbeitung der „Verwandtschaftslehre“. Dabei zeigt sich,dass die Fülle des Materials seit 1887 so stark angewachsenist, dass es sich nicht auf 1.000 Seiten unterbringen lässt.Ein dritter Teil des zweiten Bandes wird konzipiert und denLesern angekündigt. Aber trotz Unterstützung durchHERBERT FREUNDLICH (1880-1941) wird von diesem neuenTeil 1906 nur die erste Sendung von 264 Seiten ausgeliefert.So bleibt die zweite Auflage des „Lehrbuches“ unvollendetund wird letztmalig 1911 unverändert abgedruckt.

Diese Entwicklung ist aber 1908 noch nicht absehbar.OSTWALD fühlt sich frei aller Zwänge und vollerTatendrang. Am 17.11.1908 schreibt er an RAMSAY: [...]eben habe ich die Herausgabe eines Handbuches der allge-meinen Chemie übernommen, welches 15-20 dicke Bändestark sein soll, und alles enthalten soll, was in den einzel-nen Gebieten gemacht ist. [...] Ich werde nicht alles selbstschreiben, sondern mir die Sachen von jüngeren

Mitarbeitern vorarbeiten lassen. Aber das Anrichten unddie letzte Decoration werde ich selbst besorgen, da ich denEhrgeiz habe, lauter amüsante Bände schreiben zu wollen.Es wird eine Industrie ungefähr wie sie Dumas père getrie-ben hat [...]14 Es ist übrigens der gleiche Brief, in demOSTWALD über seine Bekehrung zum Atomismus berichtet:[...] Ich bin noch kein Enthusiast geworden, weil ich meinGehirn nicht so schnell umkrempeln kann. 15

1910 wird das Thema „Handbuch“ im Briefwechsel mitRAMSAY wieder aufgenommen. Der ehemalige AssistentCARL DRUCKER (1876-1959) ist als Mitherausgeber gewon-nen, und LEO JOLOWITZ (1868-1940) von der AkademischenVerlagsgesellschaft hat das Projekt akzeptiert. Für RAMSAY

sind ein Band über „inaktive Gase“ (Edelgase) und ein wei-terer über radioaktive Stoffe vorgesehen. Die Edelgase fin-den seine Zustimmung, und Anfang 1914 gelangt dasManuskript in OSTWALDS Hände. Gedruckt wird es erst1918 als zweiter und einziger internationaler Band desgeplanten Handbuches. Den ersten Band hat sich OSTWALD

vorbehalten. Er erscheint 1919. Sein Titel „Die chemischeLiteratur und die Organisation der Wissenschaft“ lässt ver-muten, dass es sich um eine Art Abschlussbericht desWissenschaftlers wie auch des Organisators über dieVorkriegsprojekte und die Gedanken zur Chemie als ratio-nelle Wissenschaft handelt.

14 GOODALL, DAVID C.; HANSEL, KARL (Hrsg.): William Ramsay und Wilhelm Ostwald in ihren Briefen. In: Mitt. Wilhelm-Ostwald-Ges. 2002, Sonderheft11, S. 218.15 ebenda, S. 219-220.

Ostwalds Farbkreis

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Danach wird die Arbeit am Handbuch allein vonDRUCKER weitergeführt. OSTWALD konzentriert sich auf dasPublizieren der Farbenlehre, sein neues Arbeitsgebiet.

Erste Publikationen über den Umgang mit Farben ent-standen bereits während der Leipziger Zeit. 1915 erscheintin der ersten Nummer der vom Sohn Wolfgang herausgege-benen Kolloid-Zeitschrift der Aufsatz „Zur Begründungeiner Lehre von den Pigmenten“. Eine umfangreicheSammlung von handkolorierten Mikroskopbildern ver-schiedener Pigmente kommen aus finanziellen Gründenwährend der Kriegsjahre nicht zur Veröffentlichung. 1915erscheinen die „Leitsätze zur Herstellung eines rationellenFarbatlas“, die erste und weitgehend unbeachtet gebliebeneVeröffentlichung zu der neuen ostwaldschen Farbenlehre.Möglicherweise ist die Nichtbeachtung durch den Kriegbegründet. 1917 sind die Arbeiten an der ersten Ausführungdes Farbatlas abgeschlossen. Sein Erscheinen wird voneiner ganzen Reihe Publikationen über die Grundlagen derFarbenlehre und die Arbeit mit dem Farbatlas begleitet.Darunter befindet sich auch ein Band „ChemischeFarbenlehre“ mit umfangreichen Angaben zum Materialund dessen Verwendung. Als Bestseller im heutigenWortgebrauch stellt sich die „Farbenfibel“ heraus. Sie erlebt15 Auflagen bis 1930, eine 16. konnte 1944 nachgewiesenwerden. Gleichzeitig regt sich besonders in München ersteKritik aus Künstlerkreisen an der Farbenlehre.

Die Gegenströmung verstärkt sich, als OSTWALD

Vorschläge zur Farbenharmonie publiziert. Kunstmaler undKunsthistoriker sehen in dem vereinfachten Zugang zurFarbenwelt eine Gefahr für ihre Position und organisierteneine Bewegung gegen „Ostwalds Angriff auf die künstleri-sche Freiheit“. Hinzu kommt, dass der Deutsche Werkbund,der eigentliche Veranlasser der ostwaldschen Forschungen,unter dem Druck der Nachkriegssituation einen Schwenkvon der Breitenwirkung zum Elitären vollzieht. Die sichstrukturierende „Elite“ sieht in den Möglichkeiten der ost-waldschen Farbenlehre eine Bedrohung. Es werden einedeutschlandweite Unterschriftensammlung gegen dieFarbenlehre und ein ministerielles Verbot der Benutzungvon „Ostwald-Farben“ im Zeichenunterricht preußischerSchulen organisiert.

OSTWALDS publizistische Tätigkeit konzentriert sich aufdie Propagierung des neuen Systems und dessenHerantragung an die potentiellen Nutzer im Bildungs-bereich, in der Textilindustrie und der angewandten

Wissenschaft. Viele Aufsätze sind dem Umgang mit Farbenim Kindergarten und im Zeichenunterricht derGrundschulen gewidmet. Aus der Zusammenarbeit mit derWerkstelle für Farbkunde in Chemnitz folgt eine Reihepraxisorientierter Beiträge in den deutschen Textil-zeitschriften. Für die Drucktechnik setzt er sich mit demDreifarbendruck auseinander.

In dieser Zeit beschäftigt sich eine nicht geringe Zahlvon Aufsätzen mit der Nutzung der Farben- bzw. derHarmonielehre für künstlerische Aufgaben und allgemeinermit dem Zusammenhang zwischen Wissenschaft undKunst. Während OSTWALD auf sachliche Argumente gegenseine Farbenlehre aus wissenschaftlichen und technischenBereichen bereitwillig eingeht, reagiert er auf die Polemikaus Künstlerkreisen nicht direkt. Stattdessen versucht er mitimmer neuen Aufsätzen seine Vorstellungen von dem„gesetzmäßig Schönen“ ins Bewusstsein zu bringen. DieseThese hatte aber bereits 1905 in KünstlerkreisenWiderspruch hervorgerufen

1925 schreibt er die beiden ersten Bände derSelbstbiografie „Lebenslinien“ über die Jahre bis zumAbschied von der Universität Leipzig 1906. Sie sind einevielseitige Beschreibung seiner Zeit und der wissenschaftli-chen Weggefährten. Der dritte Band mit der Beschreibungseiner Unternehmungen als freier Wissenschaftler gelingtweniger schwungvoll. Der Pessimist findet in dem Bandüberwiegend Misserfolge. Der Optimist sieht die notwendi-gen Anfänge und ist von deren Fortsetzung und erfolgrei-cher Vollendung überzeugt. OSTWALD bleibt ein Optimist.

Die Publikationen der letzten Lebensjahre können alsQuerschnitt durch sein Lebenswerk und als Verall-gemeinerungen seiner Erfahrungen betrachtet werden:„Organisierung des Fortschritts oder: Wie macht man denFachmann unschädlich“ (1928), „Das Wellengesetz in derGeschichte“ aus dem gleichen Jahr, „Das Schreckgespenstder Welt: Gaskrieg! Die Selbstvernichtung des Krieges“oder „Die Technik als Grundlage der Kultur: die sozialeAufgabe der Wissenschaft“ (1929), „Energiequellen derZukunft“ und „Die Maltechnik jetzt und künftig“ (1930),„Schöpferische Jugend“ und „Vollkommenes und unvoll-kommenes Grau“ (1931) sind nur einige der jährlich nochimmer etwa 20 Aufsätze, die er auf Anforderung liefert unddie offenbar gern abgenommen werden. Eine zweiteAuflage der „Lebenslinien“ wird nicht verlangt.

16 GOODALL, DAVID C.; HANSEL, KARL (Hrsg.): William Ramsay und Wilhelm Ostwald in ihren Briefen. In: Mitt. Wilhelm-Ostwald-Ges. 2002, Sonderheft11, S.71.

Der Landsitz „Energie“ und der wissenschaftliche NachlassWenn ich ein reicher Mann wäre, zöge ich nach Grimma, baute mir ein Haus und gäbe allesLaboratorium etc. auf.16

Die Anfänge des Landsitzes „Energie“ gehen auf das Jahr1901 zurück. In diesem Jahr erwirbt OSTWALD inGroßbothen ein Grundstück mit einem Landhaus. Derursprüngliche Beweggrund mag gewesen sein, die Familie inden Sommermonaten aus der Stadt schicken zu können. Das

obige Zitat befindet sich in einem Brief OSTWALDS anRAMSAY aus dem Jahr 1891, als die Familie zurSommerfrische im Muldental weilte. Ob bei demErwerb bereits die künftige Nutzung als ständiger Wohnsitzeine Rolle gespielt hat, ist nicht belegt. Bei OSTWALDS

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Weitsicht kann es durchaus angenommen werden, da erschon früher versucht hatte, die Universität Leipzig zu ver-lassen und den Verlust der Dienstwohnung eingeplant habenmusste. Eingeweiht wird das neue Domizil mit derNiederschrift der „Vorlesungen zur Naturphilosophie“ imSommer 1901.

Ursprünglich nutzt man das Grundstück wirklich nurwährend der Ferien. Vermutlich 1904/05 wird das Gebäudeso erweitert, dass es die Familie aufnehmen kann. Das Hauserhält den Namen „Energie“. Zeitgleich entsteht einHäuschen für den Hausmeister. Zum August 1906 erfolgt derUmzug nach Großbothen. OSTWALD richtet sich ein Laborein, um bei Bedarf chemisch arbeiten zu können. DerArbeitstag beginnt mit einem entspannenden Rundgangdurch das Gelände auf selbst angelegten Wegen.

Bis 1922 kauft OSTWALD bei Gelegenheiten weitereFlächen, um den Besitz abzurunden. Am Ende erreicht er,dass sein Grundstück nur an Staatsland und an das Grund-stück seines Schwiegersohnes grenzt. Damit glaubt er nach-barliche Streitigkeiten weitgehend ausgeschlossen zu haben.Bis 1916 entstehen: ein Wohnhaus im Jugendstil (heute Haus„Glückauf“) für den mittleren Sohn Walter, der dem Vater alsSekretär behilflich ist, ein Sommerhäuschen (das Waldhaus)für den älteren Sohn Wolfgang, den Kolloidchemiker, und alsletztes Gebäude ein schlichter Zweckbau für allerlei prakti-sche Arbeiten zur Farbenlehre. Dieses Haus erhält denNamen „Werk“, da es die Energie-Werke GmbH beheimatet.

Seither sind auf dem Landsitz mit Ausnahme einesWerkstattgebäudes an der Grundstücksgrenze keine Bautenerrichtet worden. Im Jahre 1978 wird der Komplex unterDenkmalschutz gestellt.

OSTWALD verstirbt am 4. April 1932 in einer LeipzigerPrivatklinik. Die letzte Ruhestätte findet er auf seinemLandsitz „Energie“ in einem aufgelassenen Steinbruch. DieKinder kommen überein, den Nachlass nicht zu teilen, son-dern geschlossen dem deutschen Volk und der Wissenschaftzu erhalten. Hinterlassen werden:

- 45 Lehrbücher und Monografien,- über 1.000 Artikel, Reden und Aufsätze,- ca. 6.000 Referate und Rezensionen,- über 60.000 Positionen wissenschaftlicher

Briefwechsel mit ca. 5.500 Partnern,

- ca. 20.000 Positionen persönlicher Unterlagen und Briefwechsel,

- eine unbekannte Zahl von Manuskripten,Entwürfen und Arbeitsbüchern,

- über 4.000 Gemälde und Farbstudien,- einige tausend Fotografien,- eine Vielzahl selbstgebauter wissenschaftlicher Geräte,- der Nobelpreis, Urkunden über zahlreiche

Ehrendoktorwürden und Mitgliedschaften in Akademien, sonstige Auszeichnungen.

- eine Gelehrtenbibliothek mit ca. 22.000 Bänden und ca. 10.000 Sonderdrucken.

Die älteste Tochter GRETE OSTWALD (1882-1960) ordnet denNachlass und richtet das Ostwald-Archiv ein, welches 1936erstmals erwähnt wird. Finanzielle Hilfe erhält sie u.a. vonamerikanischen Schülern des Vaters. Den Zweiten Weltkriegund die Nachkriegswirren übersteht der Nachlass ohneVerluste.

Im Vorfeld des 100. Geburtstages von WILHELM

OSTWALD suchen die Nachkommen nach einer Möglichkeit,den Fortbestand des Nachlasses zu sichern. Nach längerenVerhandlungen mit Regierungsstellen der DDR kommt es1953 zu einer Schenkung an die Berliner Akademie derWissenschaften. Dieser Vorgang wird von einem Beschlussdes Ministerrates der DDR flankiert, in dem als Zusagen andie Schenker u.a. die Einrichtung eines öffentlich zugängli-chen Museums und die Herausgabe des Nachlasses festge-schrieben sind. 1978 wird die Ostwald-Gedenkstätte einge-richtet. Die Editionen aus dem Nachlass beschränken sichauf zwei Bände Briefwechsel17 sowie einen BandForschungstechnologie18. Im Laufe der Jahre verlagert dieAkademie trotz Protestes seitens einer noch lebendenTochter OSTWALDS praktisch das gesamte Schriftgut undandere Gegenstände in das Berliner Archiv und beendetdamit die einmalige Geschlossenheit des Ostwald-Erbes.

Seit 1990 setzt sich der Förderverein – seit 1996 mit demNamen Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft zu Großbothen e.V. –für Erhaltung und Pflege des wissenschaftlichen NachlassesOSTWALDS und für die Nutzung seines Landsitzes „Energie“

• als Stätte wissenschaftshistorischer Forschung, aufbauend auf dem Ostwald-Archiv,

• als Stätte wissenschaftlicher Forschung in Verbindung mit Chemie, Physik, physikalischer Chemie, Energie- und Umweltwissenschaften,

• als Stätte der Farblehre und ihrer Anwendungen sowie• als soziokulturelles Zentrum und Begegnungsstätte

ein. Der Bestand ist erfasst, eine Reihe Publikationen ausdem Nachlass sind erschienen. Gelder aus dem kulturellenInfrastrukturprogramm der Bundesregierung gestatteten dieTeilsanierung der Häuser. Die Häuser „Glückauf“ und„Werk“ werden für Tagungen genutzt, im Haus „Energie“befindet sich der museale Teil der Gedenkstätte mit dem Ost-wald-Archiv sowie mehrere Wohnungen. Waldhaus undHausmannshaus sind ungenutzt.

Seit Ende 1994 ist der Landsitz „Energie“ vermögens-rechtlich dem Freistaat Sachsen zugeordnet.

Das Haus „Energie“ vom Nordwesten, nach der Sanierung 1994

17 KÖRBER, HANS-GÜNTHER (Hrsg.): Aus dem wissenschaftlichen Briefwechsel Wilhelm Ostwalds, Bd. I, Akademie-Verlag, Berlin, 1961 sowie Bd. II, eben-da, 1969. 18 LOTZ, GÜNTER; DUNSCH, LOTHAR; KRING,UTA; MILLIK, BRIGITTE (Hrsg.): Forschen und Nutzen – Wilhelm Ostwald zur wissenschaftlichen Arbeit, 2. Auflage Akademie-Verlag, Berlin, 1982.

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Page 15: Friedrich Wilhelm Ostwald - Gesellschaft Deutscher ... · FRIEDRICH WILHELM OSTWALD wird am 2. September 1853 in Riga als zweiter Sohn eines deutschen Böttchermeisters geboren. Er

Biografische Literatur (eine Auswahl)

OSTWALD, WILHELM: Lebenslinien: Eine Selbstbiographie. Nach der

Ausgabe von 1926/27 überarbeitet und kommentiert von Karl Hansel.

Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig,

Mathematisch - naturwissenschaftliche Klasse, Bd. 61. Stuttgart/Leipzig,

Hirzel, 2003.

OSTWALD, GRETE: Wilhelm Ostwald: Mein Vater. Stuttgart,

Berliner Union, 1953.

WALDEN, PAUL: Wilhelm Ostwald. Leipzig, Engelmann, 1904.

DOMSCHKE, JAN-PETER; LEWANDROWSKI, PETER: Wilhelm Ostwald:

Chemiker, Wissenschaftstheoretiker, Organisator. Leipzig/Jena/Berlin,

Urania-Verlag, 1982.

MESSOW, ULF; KRAUSE, KONRAD: Physikalische Chemie in Leipzig

– Festschrift zum 100. Jahrestag der Einweihung des Physikalisch-chemi-

schen Instituts an der Universität in Leipzig, Leipzig, Leipziger Univ.-

Verl., 1998.

GUTH, PETER: Eine gelebte Idee: Wilhelm Ostwald und sein Haus

„Energie“ in Großbothen. München, HypoVereinsbank Kultur &

Gesellschaft, 1999.

DOMSCHKE, JAN-PETER; HANSEL, KARL: Wilhelm Ostwald. Eine Kurzbio-

grafie. Mitteilungen der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft, 2000, 5,

Sonderheft 10.

ERTL, GERHARD; TANJA, GLOYNA: Katalyse: Vom Stein der Weisen zu

Wilhelm Ostwald, Z. Phys. Chem. 2003, 217, 1207.

ZOTT, REGINE: Friedrich Wilhelm Ostwald (1853-1932), nunmehr 150

Jahre jung..., Angew. Chem. 2003, 115, 4120.

REMANE, HORST: Ostwald, (Friedrich) Wilhelm. Deutsche Biografische

Enzyklopädie. München, KG Saur, Bd. 7, 1998, S. 519

Ehrungen und Mitgliedschaften (eine Auswahl)

EHRENDOKTORWÜRDEN

Universität Halle (1894) ♦ Universität Cambridge (1904) ♦ UniversitätToronto (1906) ♦ Universität Aberdeen (1906) ♦ Universität Liverpool(1907) ♦ Universität Genf (1909) ♦ TH Karlsruhe (1918).

MITGLIEDSCHAFTEN IN AKADEMIEN UND VEREINIGUNGEN

Mitglied der Dt. Chem. Ges. in Riga (1885) ♦ Mitglied der Kgl. Sächs.Ges. d. Wiss. Leipzig (1887) ♦ Ordentl. Mitglied der Kgl. Ges. d. Wiss.Upsala (1897) ♦ Mitglied der Brit. Ass. Adv. Sci. (1890) ♦ Korr. Mitgliedder Ges. d. Wiss. Rotterdam (1890) ♦ Mitglied der Kgl. Ungar. Akad. d.Wiss. (1897) ♦ Mitglied der Kais. Akad. d. Wiss. St. Petersburg (1897) ♦Mitglied der Chem. Soc. London (1898) ♦ Korr. Mitglied der Wiss.Akad. in New York (1899) ♦ Mitglied der Phys. Ges. in Lund (1900) ♦Mitglied der Kgl. Ges. d. Wiss. Göttingen (1901) ♦ Mitglied der Kgl.Niederländ. Akad. d. Wiss. (1904) ♦ Mitglied der Kais. Akad. d. Wiss.Wien (1904) ♦ Korr. Mitglied der Kgl. Akademie Turin (1905) ♦ Korr.Mitglied der Preuß. Akad. d. Wiss. (1905) ♦ Auswärtiges Mitglied derNationalen Akad. d. Wiss. der USA (1906) ♦ Mitglied der Kgl. Akad. d.Wiss. Kopenhagen (1906) ♦ Mitglied der Schwed. Akad. d. Wiss.Stockholm (1909) ♦ Mitglied der Amerik. Philosoph. Ges. inPhiladelphia (1912).

ORDEN

Kgl. Sächs. Verdienst-Orden Ritterkreuz I. Kl. (1895) ♦ Kgl. Preuß.Roter Adler-Orden III. Kl. (1896) ♦ Schwed. Olaf-Orden,

Kommandeurkreuz II. Kl. (1901) ♦ Russ. Stanislaus-Orden, Komtur II.Kl. mit Stern (1903) ♦ Kgl. Sächs. Albrechts-Orden, Komtur II. Kl.(1906) ♦ Kgl. Preuß. Kronen-Orden, Ritter II. Kl. (1907).

EHRENMITGLIEDSCHAFTEN IN AKADEMIEN UND VEREINIGUNGEN

Phys. Verein, Frankfurt (1891) ♦ Naturwiss. Verein, Riga (1895) ♦ Phys.-Med. Societät, Erlangen (1897) ♦ Royal Institution, London (1899) ♦Dt. Elektrochem. Ges. (1899) ♦ Amerik. Chem. Ges., New York (1900) ♦Pharm. Naturwiss. Verein, Leipzig (1902) ♦ Polytechnikum zu Riga(1903) ♦ Kais. Ges. d. Wiss., Moskau (1903) ♦ Akad. d. Wiss. St. Louis(1904) ♦ Amerik. Ges. für Kunst und Wissenschaft, Boston (1905) ♦Kgl. Irische Akad., Dublin (1907) ♦ Akad. d. Wiss. New York (1908) ♦Naturforsch. Ges. in Basel (1910) ♦ Pharmakolog. Ges. in Philadelphia(1910) ♦ Ges. für Physik u. Naturwiss. Genf (1910) ♦ Kgl. Ges. derAkad. d. Wiss. Bruxelles (1912) ♦ Verein Deutscher Chemiker (1920) ♦Chem. Soc. Burlington House, London (1929) ♦ Leopoldina Carolina,Halle (1932).

PREISE UND AUSZEICHNUNGEN

Faraday-Medaille (1904) ♦ Großer Preis für Elektrochemie, St Louis(1904) ♦ Nobelpreis für Chemie (1909) ♦ Guldberg-Medaille,Christiania (1909) ♦ Mitglied des Internationalen Friedensinstituts, Paris(1913) ♦ Wilhelm-Exner-Medaille des NiederösterreichischenGewerbevereins (1923)

Gesellschaft Deutscher Chemiker Henning Hopf, Präsident

Deutsche Bunsen-Gesellschaft für PhysikalischeChemieMichael Dröscher, 1. Vorsitzender

Sächsische Akademie der Wissenschaften zu LeipzigUwe-Frithjof Haustein, Präsident

Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft zu Großbothen e.V.Wladimir Reschetilowski, 1. Vorsitzender

Universität LeipzigFranz Häuser, Rektor

An dieser Stelle sei Dr.-Ing. Karl Hansel, Dr. Wolfgang Hönle, Prof. Dr. Heiner Kaden und Prof. Dr. Horst Remane fürdie Beiträge und Hinweise zur Ausgestaltung der Broschüre ganz herzlich gedankt

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Postfach 90 04 40, D-60444 Frankfurt am Main Fax (069) 791 76 56www.gdch.de

Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft zu Großbothen e.V.

Grimmaer Str. 25D-04668 GroßbothenFax (034384) 72 691 www.wilhelm-ostwald.de