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Sucht Kernspintomografie (fMRI) wurde die Aktivierung neu- ronaler Netze während der Durchführung des SST er- fasst. Mithilfe von „Diffusion Tensor Imaging“ (DTI) im Kernspintomografen wurde die fraktionale Aniso- tropie (FA) bestimmt, die als Maß der Integrität von Faserbahnen im Gehirn dient. Zusätzlich wurde das Volumen der grauen Substanz gemessen. Ergebnisse: Gegenüber den gesunden Kontrollproban- den waren die Reaktionszeiten im SST bei den Verwand- ten mit und ohne Abhängigkeit in gleicher Weise verlän- gert (je circa 280 ms im Vergleich zu circa 240 ms bei den Kontrollen). Ebenso war die FA bei den verwandten Paaren im Vergleich zu den Kontrollen signifikant redu- ziert. In der fMRI-Untersuchung wurden während der Durchführung des SST die bekannten Netzwerke, beste- hend aus inferiorem frontalem Gyrus (IFG), Basalgan- glien und der präsupplementorischen Motorarea (pre- SMA), aktiviert. Die FA in Faserbahnen nahe dem IFG war signifikant assoziiert mit einer schlechteren inhibi- torischen Kontrolle im SST. Die graue Substanz war in Schlüsselregionen für Abhängigkeit (medialer Temporal- lappen und Basalganglien) bei den Verwandten im Ver- gleich zu den Kontrollen vergrößert, während sie bei- spielsweise in der hinteren Insel verkleinert war. Schlussfolgerungen: Die Autoren folgern, dass die Ähnlichkeit der Störung fronto-striataler Regelkreise bei Stimulanzienabhängigen und deren gesunden Ver- wandten auf einen zugrunde liegenden neurokognitiven Endophänotyp von Abhängigkeit hinweist, der als neurobiologischer Risikofaktor für Abhängigkeit ver- standen werden kann. 14 IN|FO|NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2012; Vol. 14, Nr. 4 Journal Screen Ersche KD, Jones PS, Williams GB et al. Abnormal brain structure implicated in stimulant drug addiction. Science 2012; 335: 601–4 Stimulanzienabhängigkeit Fronto-striatale Netzwerkstörung im Gehirn als Risikofaktor? Fragestellung: Zeigen nicht-abhängige Verwandte von Stimulanzienabhängigen ähnlich gestörte fronto- striatale Netzwerke wie die Abhängigen? Hintergrund: Patienten mit einer Abhängigkeitserkran- kung zeichnen sich durch eine gestörte Selbstkontrolle bezüglich der Substanzeinnahme aus. Diese wird neuro- biologisch als Schwierigkeit konzeptualisiert, prä-fronta- le Hirnregionen zur Verhaltenssteuerung zu aktivieren. Stimulanzien wie Amphetamine oder Kokain aktivieren Netzwerke im Gehirn, die unter anderem die Basalgan- glien, das limbische System und präfrontale Hirnregionen umfassen. Da sowohl die Ausprägung von Hirnstrukturen als auch das Risiko der Entwicklung einer Abhängigkeits- erkrankung genetisch mitbedingt sind, haben sich die Autoren die Frage gestellt, durch welche neurobiolo- gischen Netzwerke das Risiko der Entwicklung einer Stimulanzienabhängigkeit vererbt wird. Patienten und Methodik: Die Autoren untersuchten 50 Paare von Verwandten, von denen je einer eine Sti- mulanzienabhängigkeit nach DSM-IV aufwies und der andere keine chronische Medikamenten- oder Alkohol- abhängigkeit zeigte. Zusätzlich wurden 50 weitere, nicht verwandte gesunde Probanden untersucht. Die Fähigkeit der Probanden, präformierte Handlungstendenzen zu unterdrücken, wurde mit einem einfachen Test, dem „Stop Signal Test“ (SST), erfasst. Die Reaktionszeit, die die Probanden bei einem Stop-Signal benötigen, um die präformierte Handlungstendenz (nämlich auf den Reiz zu reagieren) zu unterdrücken, kann als Maß inhibito- rischer Kontrolle angesehen werden und ist bei Abhän- gigkeitserkrankten verlängert. In der funktionellen Kommentar: Die Daten zeigen, dass Patienten mit ei- ner Stimulanzienabhängigkeit auf der Verhaltensebene eine gestörte inhibitorische (Selbst-)Kontrolle zeigen, der ein gestörtes neuronales Netzwerk zugrunde liegt, das im Wesentlichen durch Veränderungen der grauen Substanz im dorsalen Striatum und einer gestörten Kon- nektivität in inferioren frontalen Regionen gekennzeich- net ist. Da diese neurobiologischen Auffälligkeiten auch bei nicht-abhängigen Verwandten gefunden werden, liegt es nahe, diese als neurobiologische Risikofaktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeit und nicht als deren Folge zu interpretieren. Damit werfen die Daten neue Fragen auf, zum Beispiel welche Resilienzfaktoren entscheidend dafür sind, dass die Verwandten, die ja die gleiche neuronale Netzwerkstörung aufweisen, nicht abhängig werden. Möglicherweise könnte in Zukunft die Identifika- tion gestörter Regelkreise ermöglichen, Risikopersonen frühzeitig zu identifizieren und entsprechende Präven- tionsprogramme zu entwickeln. Klinisch könnten die Daten dazu anregen, bei Verwandten von Stimulanzien- abhängigen vorsichtig auf eine ähnlich hohe Veran- lagung für die Entwicklung einer Substanzabhängigkeit hinzuweisen. Klaus Lieb, Mainz

Fronto-striatale Netzwerkstörung im Gehirn als Risikofaktor?

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Kernspintomografie (fMRI) wurde die Aktivierung neu-ronaler Netze während der Durchführung des SST er-fasst. Mithilfe von „Diffusion Tensor Imaging“ (DTI) im Kernspintomografen wurde die fraktionale Aniso-tropie (FA) bestimmt, die als Maß der Integrität von Faserbahnen im Gehirn dient. Zusätzlich wurde das Volumen der grauen Substanz gemessen.

Ergebnisse: Gegenüber den gesunden Kontrollproban-den waren die Reaktionszeiten im SST bei den Verwand-ten mit und ohne Abhängigkeit in gleicher Weise verlän-gert (je circa 280 ms im Vergleich zu circa 240 ms bei den Kontrollen). Ebenso war die FA bei den verwandten Paaren im Vergleich zu den Kontrollen signifikant redu-ziert. In der fMRI-Untersuchung wurden während der Durchführung des SST die bekannten Netzwerke, beste-hend aus inferiorem frontalem Gyrus (IFG), Basalgan-glien und der präsupplementorischen Motorarea (pre-SMA), aktiviert. Die FA in Faserbahnen nahe dem IFG war signifikant assoziiert mit einer schlechteren inhibi-torischen Kontrolle im SST. Die graue Substanz war in Schlüsselregionen für Abhängigkeit (medialer Temporal-lappen und Basalganglien) bei den Verwandten im Ver-gleich zu den Kontrollen vergrößert, während sie bei-spielsweise in der hinteren Insel verkleinert war.

Schlussfolgerungen: Die Autoren folgern, dass die Ähnlichkeit der Störung fronto-striataler Regelkreise bei Stimulanzienabhängigen und deren gesunden Ver-wandten auf einen zugrunde liegenden neurokognitiven Endophä notyp von Abhängigkeit hinweist, der als neuro biologischer Risikofaktor für Abhängigkeit ver-standen werden kann.

14 IN|FO|Neurologie & Psychiatrie 2012; Vol. 14, Nr. 4

Journal Screen

Ersche KD, Jones PS, Williams GB et

al. Abnormal brain structure implicated

in stimulant drug addiction. Science

2012; 335: 601–4

Stimulanzienabhängigkeit

Fronto-striatale Netzwerkstörung im Gehirn als Risikofaktor?Fragestellung: Zeigen nicht-abhängige Verwandte von Stimulanzienabhängigen ähnlich gestörte fronto-striatale Netzwerke wie die Abhängigen?

Hintergrund: Patienten mit einer Abhängigkeitserkran-kung zeichnen sich durch eine gestörte Selbstkontrolle bezüglich der Substanzeinnahme aus. Diese wird neuro-biologisch als Schwierigkeit konzeptualisiert, prä-fronta-le Hirnregionen zur Verhaltenssteuerung zu aktivieren. Stimulanzien wie Amphetamine oder Kokain aktivieren Netzwerke im Gehirn, die unter anderem die Basalgan-glien, das limbische System und präfrontale Hirnregionen umfassen. Da sowohl die Ausprägung von Hirnstrukturen als auch das Risiko der Entwicklung einer Abhängigkeits-erkrankung genetisch mitbedingt sind, haben sich die Autoren die Frage gestellt, durch welche neurobiolo-gischen Netzwerke das Risiko der Entwicklung einer Stimulanzienabhängigkeit vererbt wird.

Patienten und Methodik: Die Autoren untersuchten 50 Paare von Verwandten, von denen je einer eine Sti-mulanzienabhängigkeit nach DSM-IV aufwies und der andere keine chronische Medikamenten- oder Alkohol-abhängigkeit zeigte. Zusätzlich wurden 50 weitere, nicht verwandte gesunde Probanden untersucht. Die Fähigkeit der Probanden, präformierte Handlungstendenzen zu unterdrücken, wurde mit einem einfachen Test, dem „Stop Signal Test“ (SST), erfasst. Die Reaktionszeit, die die Probanden bei einem Stop-Signal benötigen, um die präformierte Handlungstendenz (nämlich auf den Reiz zu reagieren) zu unterdrücken, kann als Maß inhibito-rischer Kontrolle angesehen werden und ist bei Abhän-gigkeitserkrankten verlängert. In der funktionellen

Kommentar: Die Daten zeigen, dass Patienten mit ei-ner Stimulanzienabhängigkeit auf der Verhaltensebene eine gestörte inhibitorische (Selbst-)Kontrolle zeigen, der ein gestörtes neuronales Netzwerk zugrunde liegt, das im Wesentlichen durch Veränderungen der grauen Substanz im dorsalen Striatum und einer gestörten Kon-nektivität in inferioren frontalen Regionen gekennzeich-net ist. Da diese neurobiologischen Auffälligkeiten auch bei nicht-abhängigen Verwandten gefunden werden, liegt es nahe, diese als neurobiologische Risikofaktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeit und nicht als deren Folge zu interpretieren. Damit werfen die Daten neue Fragen auf, zum Beispiel welche Resilienzfaktoren

entscheidend dafür sind, dass die Verwandten, die ja die gleiche neuronale Netzwerkstörung aufweisen, nicht abhängig werden.

Möglicherweise könnte in Zukunft die Identifika-tion gestörter Regelkreise ermöglichen, Risikopersonen frühzeitig zu identifizieren und entsprechende Präven-tionsprogramme zu entwickeln. Klinisch könnten die Daten dazu anregen, bei Verwandten von Stimulanzien-abhängigen vorsichtig auf eine ähnlich hohe Veran-lagung für die Entwicklung einer Substanzabhängigkeit hinzuweisen.

Klaus Lieb, Mainz