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Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung e.V. Der Vorstand Information Nr. 1 / 2011 Braune „Vergangenheitsbewältigung“ im Rechtsstaat BRD Für Mitglieder und Sympathisanten Berlin, Januar 2011

G R H...Schatten der Vergangenheit !? 28 Klaus Steiniger Die Lüge vom Nationalsozialismus 33 (Aus RotFuchs, 13. Jahrgang, Nr. 155, Dezember 2010, Seite 1) Ellen Brombacher Niemals

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Page 1: G R H...Schatten der Vergangenheit !? 28 Klaus Steiniger Die Lüge vom Nationalsozialismus 33 (Aus RotFuchs, 13. Jahrgang, Nr. 155, Dezember 2010, Seite 1) Ellen Brombacher Niemals

Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung e.V.Der Vorstand

InformationNr. 1 / 2011

Braune „Vergangenheitsbewältigung“ im Rechtsstaat BRD

Für Mitglieder und Sympathisanten

Berlin, Januar 2011

Page 2: G R H...Schatten der Vergangenheit !? 28 Klaus Steiniger Die Lüge vom Nationalsozialismus 33 (Aus RotFuchs, 13. Jahrgang, Nr. 155, Dezember 2010, Seite 1) Ellen Brombacher Niemals

Wir stellen den Kampf erst ein,

wenn auch der letzte Schuldige

vor den Richtern der Völker steht.

Die Vernichtung Des Nazismus

Mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.

Der Aufbau einer neuen Welt

des Friedens und Der Freiheit

ist unser ziel.

Das sind wir unseren gemordeten Kameraden

und ihren Angehörigen schuldig.

Aus dem Schwur von Buchenwald vom 19. April 1945

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Inhalt Seite

Hans Bauer, Herbert Damm, Dieter StiebertBraune „Vergangenheitsbewältigung“ im Rechtsstaat BRD 4

Hans BauerRechte Geschichtskontinuität der BRD und aktuelle Schlussfolgerungen(Aus „Die Rote Fahne“, Zentralorgan der KPD, September 2010, Seite 4) 5

Die BRD-Justiz und die eigene Nazivergangenheit 9

Der Geist ist aus der Flasche 10Gespräch mit Dieter Skiba Über die braune Vergangenheit bundesdeutscher Geheimdienstler und Polizisten sowie die jetzt freigegebenen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit ( jungeWelt vom 17.07.2010)

Jan KorteInstrument Antikommunismus: Sonderfall Bundesrepublik 16

Norbert Podewin Ein "Braunbuch“ mit Langzeitfolgen 20(Aus „Berliner Anstoß“, Dezember 2010, Seite 10/11)

Hans DanielZurück in die Gegenwart 23(jungeWelt vom 29.11.2010, Seite 10)

Dieter SkibaSchatten der Vergangenheit !? 28

Klaus SteinigerDie Lüge vom Nationalsozialismus 33(Aus RotFuchs, 13. Jahrgang, Nr. 155, Dezember 2010, Seite 1)

Ellen BrombacherNiemals ist auch nur annähernd solcher Haß auf Nazideutschland erzeugt worden wie auf die DDR 35( Aus „Mitteilungen“ der Kommunistischen Plattform in der Partei „DIE LINKE, Heft 12 / 2010, Seite 28-30)

Eine Auswahl weiterer Literatur zum Thema 37

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Braune „Vergangenheitsbewältigung“ im Rechtsstaat BRD

Die „Ausrottung des deutschen Nazismus“ zählte zu den fundamentalen Prinzipien des Potsdamer Abkommens vom 02.August 1945, mit dem die Zukunft Deutschlands nach den Verbrechen des Hitlerfaschismus vorgezeichnet wurde. Die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Vernichtung der NSDAP mit allen Gliederungen, die Abschaffung nazistischer Gesetze und Institutionen, die Entfernung Belasteter aus öffentlichen Ämtern und die Internierung gefährlicher Personen sowie das Verbot jeglicher nazistischen Propaganda waren Forderungen zur Realisierung dieser Aufgabe. Ein demokratisches und friedliches Deutschland sollte unter Verantwortung von Personen errichtet werden, welche über die entsprechenden „moralischen und politischen Eigenschaften“ (Potsdamer Abkommen) verfügen. Im Osten Deutschlands wurden die Vorgaben des Abkommens strikt umgesetzt und eine antifaschistisch-demokratische Ordnung aufgebaut. An der Spitze standen bewährte Antifaschisten, Widerstandskämpfer und Demokraten. Im Westen dagegen wurden die Absichten der Antihitlerkoalition schon bald preisgegeben. Mit der Gründung beider deutscher Staaten im Jahre 1949 vertiefte sich die Gegensätzlichkeit dieser Entwicklung weiter. Schon frühzeitig griff die Bundesrepublik auf „bewährtes Personal“ der braunen Vergangenheit zurück. Es gab faktisch keinen Bereich, in dem nicht eine Eingliederung alter Nazis erfolgte. Geheimdienste, Polizei und Militär, Justiz, Innen- und Außenpolitik, Wirtschaft und Finanzen, Presse, Rundfunk und Bildungswesen waren von ehemaligen Amtsträgern der braunen Diktatur durchdrungen. Entsprechende Gesetze und Erlasse ermöglichten ihre problemlose Wiedereingliederung. Kriegs- und Verbrecher gegen die Menschlichkeit wurden von Strafverfolgungen weitgehend verschont, Hintermänner gehörten zu den Stützen des bundesdeutschen Staates. Lübke, Globke, Kiesinger, Heusinger, Fränkel schafften es bis in höchste Ämter. Sie stehen für Hunderte von Altnazis, die in der Bundesrepublik wieder zu Ehren kamen und im „Braunbuch“ der DDR entlarvt wurden. Zugleich erfolgte eine verschärfte Unterdrückung aller Kräfte, die sich gegen Kriegsgefahr, Aufrüstung und Revanchismus wandten, wurden die FDJ, DSF, der DFD und schließlich die KPD verboten. Hunderttausende wurden verfolgt, verurteilt, inhaftiert, mit Berufsverbot belegt und ihrer Menschenwürde beraubt. Auch geringfügige Korrekturen und Alibimaßnahmen in der Folgezeit änderten am Wesen nichts. Antikommunismus, Militarisierung, Revanchismus und Neofaschismus blieben in Übereinstimmung mit den Interessen der USA bestimmende Merkmale westdeutscher Innen- und Außenpolitik. Mit dem Anschluss der DDR an die BRD trafen auch in Bezug auf die Bewältigung der braunen Vergangenheit zwei völlig unterschiedliche Systeme aufeinander. Nun galt es für die Bundesrepublik, ihr zwielichtiges Image in dieser Frage aufzubessern. Mit Lug und Trug sowie mit medialen Kampagnen sollte der Nachweis erbracht werden, dass die BRD der bessere antifaschistische deutsche Staat ist. Angebliches Versagen bei der braunen „Vergangenheitsbewältigung“ wurde eingeräumt (um die Abrechnung mit der DDR umso gründlicher zu betreiben), einige zweitrangige Prozesse gegen Kriegsverbrecher wurden inszeniert, die „Aufarbeitung“ der nazistischen Vergangenheit von bundesdeutschen Ämtern schweren Herzens unter dem Druck der Öffentlichkeit in Gang gesetzt. Von auch nach 1990 noch möglichen Verfahren gegen bundesdeutsche Juristen wegen Rechtsbeugung (sie hatten Naziverbrecher ihrer Strafe wissentlich entzogen) ist nichts bekannt. Gleichzeitig musste der international anerkannte Antifaschismus der DDR diskreditiert werden. Er wurde als „verordnet“ diffamiert, wenn nicht gar völlig ins Gegenteil verkehrt, Antifaschisten des sozialistischen Staates wurden kriminalisiert und die DDR mit dem faschistischem Regime nicht nur verglichen, sondern sogar weitgehend gleichgesetzt. Heute existieren in Deutschland neofaschistische Parteien, deren Verbot mit scheinheiligen Argumenten hintertrieben wird.

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Linke und Antifaschisten können ungestraft als „Rotlackierte Faschisten“ beschimpft, als „Sozialistische Globkes“ (Gauck) oder „Furchtbare Juristen“ (Staadt, Forschungsverbund SED-Staat) in volksverhetzender Weise beleidigt werden (Nazirichter Filbinger, späterer Ministerpräsident von Baden-Württemberg, wurde von Hochhuth zu recht wegen seiner Beteiligung an Todesurteilen öffentlich als „furchtbarer Jurist“ bezeichnet). Kein Staatsschutz, kein Staatsanwalt nimmt Ermittlungen auf. Die Bundesrepublik Deutschland ist sich treu geblieben.

Die vorliegende Information soll die kritische Sicht auf bundesdeutsche Vergangenheit und Gegenwart schärfen, zur Aufklärung historischer Wahrheit beitragen und das Ringen um ehrlichen Antifaschismus im heutigen Deutschland bestärken.

Januar 2011

Hans Bauer Herbert Damm Dieter StiebertVorsitzender AG Information/Dokumentation Geschäftsführer

Hans BauerRechte Geschichtskontinuität der BRD und aktuelle Schlussfolgerungen(Beitrag auf der Konferenz für Aktionseinheit am 15. Mai 2010 in Berlin, aus „Die Rote Fahne“, Zentralorgan der KPD, September 2010, Seite 4)

Auf einem Kolloquium bezeichnete jüngst Lorenz Knorr, antifaschistischer Widerstandskämpfer und deshalb vom NS-Regime und in der BRD verfolgt, die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches im doppelten Sinne. Das Wort vom R e c h t s nachfolger im politischen Sinne hat nichts an Aktualität verloren. Den Beweis für diesen Tatbestand liefert ein ganz einfacher Sachverhalt:

Die Kommunistischen Partei, die KPD, ist seit 54 Jahren verboten, die neofaschistische Partei, die NPD, genießt in der BRD unangetastet volle Legalität! Eigentlich, liebe Genossinnen und Genossen, bedarf es keiner weiteren Begründung, wollte man die heutige Verfasstheit in einem besonders für Deutschland wichtigen Bereich charakterisieren. Und doch, hinter dieser sachlichen Feststellung stehen politische und juristische Entscheidungen, die von 1945 bis heute ungebrochene rechte Kontinuität aufweisen. Trotz aller Bekenntnisse vom angeblichen Antifaschismus.

Aus meiner Sicht sind es folgende Linien, die zu diesem Befund führen:

1. In wenigen Wochen begehen wir den 65. Jahrestag des Potsdamer Abkommens. Dieses Abkommen vom 2. August 1945 forderte die Bestrafung von Kriegsverbrechern und einflussreichen Nazianhängern. Deutschland sollte umfassend entnazifiziert und entmilitarisiert werden. Das völkerrechtlich zwingende Gebot ist in den westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik niemals konsequent realisiert worden.

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Mehr noch, wesentliche Punkte des Abkommens wurden bewusst und gewollt verletzt. Deutlicher als der Antifaschist Lorenz Knorr kann man es wohl nicht fassen: Es waren vor und nach dem 8. Mai dieselben Richter, vor denen wir standen. Der unverdächtige Amsterdamer Wissenschaftler, Professor Rüter, belegt jüngst in einer Studie zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen im deutsch-deutschen Vergleich, wie grundsätzlich unterschiedlich die Verfolgung in Ost und West war. Das gleiche „Unsere Leute-Prinzip“ führte zu einer völlig unterschiedlichen Ausrichtung der Strafverfolgung. „…die meisten Angehörigen der für die Ahndung von NS-Verbrechen maßgeblichen Kreise der DDR (waren) politische Gegner des Naziregimes gewesen und nicht wenige von ihnen – darunter auch zahlreiche Jude - 1945 aus dem Zuchthaus, dem KZ oder der Emigration zurückgekommen. Das konnte man von den Strafverfolgungsbehörden in Westdeutschland beim besten Willen nicht behaupten. Unsere Leute waren also nicht die gleichen“ (Deutschland Archiv, 2/2010, S. 213).1 Hier waren es die Opfer, die das Potsdamer Abkommen umsetzten, dort die Täter und ihre Helfer, die es hintertrieben. Tätergünstige Gesetze, wie die Nichtverjährung nur im Falle von Mord, und eine täterfreundliche Rechtsprechung, falls es überhaupt zur Anklage kam, begünstigten eine Nichtverfolgung oder milde Bestrafung, wenn nicht gar Freispruch. Kein Nazi-Jurist wurde in Westdeutschland verurteilt. Der Publizist Ingo Müller hierzu: „Allzu oft waren die Freisprüche für die Nazi-Justiz nur um den Preis zu erreichen gewesen, dass die Terrorgesetze und die Scheinverfahren des Dritten Reichs als rechtsstaatlich einwandfrei erklärt, die Unrechtsakte verharmlost und die Justizopfer quasi noch einmal verurteilt wurden“ (Ingo Müller, Furchtbare Juristen, S. 285). Als Alibi wurde zwar die „Zentrale Stelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg“ geschaffen, diese besaß aber keine Verfolgungskompetenz. Auch die gegenwärtig betriebenen Verfahren gegen nachgeordnete Täter haben im wesentlichen Alibifunktion. Und im Übrigen, wo blieben und bleiben die Verfahren gegen BRD-Juristen wegen Rechtsbeugung, weil sie NS-Täter laufen ließen? Das Ergebnis der Erfüllung des Potsdamer Abkommens bei der Verfolgung von NS-Verbrechen ist bekannt: In der DDR wurden nahezu 13 000 NS-Täter verurteilt, in der wesentlich größeren BRD nur ca. 6 500 bei oft sehr milden Strafen und frühzeitiger Entlassung.

2. Mit dem Anschluss der DDR und der Herstellung der staatlichen Einheit setzte eine in der Bundesrepublik beispiellose so genannte Aufarbeitung der Geschichte ein. Zwei Enquetekommissionen unter Eppelmann legten dafür das Fundament. Die Aufarbeitung erfolgte nach dem Prinzip einer umfassenden Fälschung und Klitterung durch Verschweigen, Verdrehen, Entstellen, Erfinden. Einer der zentralen Punkte war und ist der Antifaschismus. Dabei werden zwei Richtungen verfolgt:Die Geschichte der Alt-BRD wird geschönt, weitgehend ausgeblendet und – wenn es wirklich nicht anders geht, wird in angemessener Weise Selbstkritik geübt und der Eindruck erweckt, man habe Lehren aus eigener Vergangenheit gezogen. Vergessen und unerwähnt bleiben:. die genannte ungenügende Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen,. die systematische und massenhafte Wiedereingliederung von ehemaligen Nazis in öffentliche und einflussreiche Ämter (Ende März 1957 waren insgesamt 181 202 "Ehemalige" wieder im staatlichen Dienst). die Besetzung von Spitzenfunktionen des Staates mit Hunderten hohen NS-Tätern, wie

Globke, Filbinger, Oberländer, Lübke, Vialon, Speidel, de Maiziére,

1 siehe vorstehender Beitrag: Die Ahndung von NS-Gewaltverbrechen im deutsch-deutschen Vergleich – Das „Unsere Leute-Prinzip“

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. das Blitzgesetz von 1951, mit dem ein Gesinnungsstrafrecht eingeführt wurde,

. das Verbot der KPD von 1956 und weiterer 80 Massen- und Bündnisorganisationen,

. die Verfolgung und Bestrafung demokratischer Kräfte (über 200 000 EV mit über 10 000 Verurteilten),

. die Berufsverbote gegen Links, die mit dem Adenauer-Erlass 1950 begannen und sich über Jahrzehnte auf der Grundlage des Radikalenerlasses, verbunden mit massenhafter Überprüfung durch den Verfassungsschutz, fortsetzten.

Die Reihe staatlicher Willkür und staatlichen Unrechts ließe sich ergänzen. Ins öffentliche Bewusstsein gerückt wird aber ausschließlich eine Erfolgbilanz. Konträr dazu steht das gezeichnete Bild des „Unrechtsstaates“ DDR. Nachdem anfangs nur vom „verordneten“ Antifaschismus gesprochen wurde, wird nunmehr zunehmend versucht nachzuweisen, dass die Wurzeln des Neofaschismus bereits in der DDR, der so genannten zweiten deutschen Diktatur gelegen haben. Dabei wird ihr inzwischen sogar Antisemitismus angedichtet. Schulbildung und Kultur, Alltag und Erinnern seien - wenn überhaupt - falsch und einseitig nur auf kommunistischen Widerstand orientiert gewesen. Verschwiegen werden und vergessen scheinen die großen Gedenkstätten für die Opfer der Barbarei, die antifaschistischen Romane, die jeder von uns gelesen und verinnerlicht hat, die antifaschistische Erziehungsarbeit in Schulen und Bildungseinrichtungen, aber auch die konsequente Unterbindung faschistischer Umtriebe. Besonders perfide ist bis heute der Versuch, bewährte und bekannte Antifaschisten der DDR zu diffamieren und, wenn möglich, sogar zu kriminalisieren. Z.B. unsere kürzlich verstorbene Irmgard Jendretzky, die bereits als Kind unter den Faschisten Verfolgung und Willkür in der eigenen Familie kennen lernte, als Richterin 1950 bei den sog. Waldheim-Prozessen über Nazis urteilte und nach mehr als 50 Jahren von der Klassenjustiz der BRD deshalb wegen angeblicher Rechtsbeugung zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Unvorstellbar! Weil sie aus antifaschistischer Überzeugung unter komplizierten historischen und juristischen Bedingen an der Umsetzung des Potsdamer Abkommens bei der Ahndung von Naziverbrechen mitgewirkt hat, wird sie vom „Rechtsstaat“ BRD, der kriminelle Nazis verschonte, gerichtlich bestraft. Das ist rechte Geschichtskontinuität. (Oder Hans Reinwarth: Antifaschist, gezwungen zum Dienst im Strafbataillon 999, wurde als ehemaliger Vize-Präsident des OG der DDR von der BRD-Justiz ebenfalls zu mehrjähriger Freiheitsstrafe verurteilt). Auch unser Referent Heinz Keßler, ehemaliges Mitglied im „Nationalkomitee Freies Deutschland“, erfuhr mit seiner Kriminalisierung und Inhaftierung, wie Antifaschisten in diesem Staate behandelt werden. Offenbar meinten die Herrschenden dieses Landes, dass dem weltweit antifaschistischen Ansehen der DDR am meisten geschadet werden kann, wenn scheinbar unabhängige Gerichte Antifaschisten kriminelles Handeln „nachweisen“.

3. Aber nicht nur die Geschichte der BRD und ihre gefälschte Darstellung ist eine Quelle des heutigen Neofaschismus. Es ist in besonderer Weise die aktuelle Politik, die das Wiederaufleben faschistischer Ideologie und Aktivitäten toleriert und sogar fördert. - Ich erinnere daran, wie einerseits immer wieder rechte Gefahr verharmlost, ihr gegenüber Nachsicht und Unentschlossenheit gezeigt wird, z. B. beim Verbot von Demonstrationen, andererseits antifaschistischer Widerstand gegen rechte Aufmärsche kriminalisiert wird. An einer Vielzahl von Beispielen kann belegt werden, wie „die geforderte zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung, auch der gewaltfreie Protest gegen Neonazismus und Rassismus von Staats wegen behindert – nicht selten die Träger der antifaschistischen Gegenwehr in Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder als linksextremistisch und damit

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verfassungsfeindlich diffamiert (werden)“ (Rolf Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors, S. 221). Und – aktuelle Beispiele zeigen es - kriminalisiert werden.- Ich erinnere an die Art und Weise, wie vor wenigen Tagen der 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus offiziell von Staats wegen begangen – oder besser – nicht begangen wurde. Selbst im Sprachgebrauch bleiben Politik und Medien überwiegend hinter der späten Erkenntnis von Weizsäckers über die Befreiung zurück. - Ich erinnere an die gegenwärtige bundesdeutsche Erinnerungs- und Gedenkstättenkultur, mit der eine Umbewertung im Sinne einer radikalen Verfälschung historischer Tatsachen erfolgt. Die mutige Tat eines Wilfried Bretschneider aus Döbeln in Sachsen, der sich gegen das Gedenken an „Opfer von Krieg, Unrecht und Willkür … 1933 – 1989“ auf einem Denkmal vor dem Gymnasium wandte – ist beispielhaft. Beispielhaft auch die Solidarität mit ihm.- Ich erinnere – und wir können nicht oft genug daran erinnern - an die Vernichtung der Thälmann-Gedenkstätte in Ziegenhals. Hier soll Geschichte entsorgt werden. Vor allem antifaschistischer Widerstand der Kommunisten soll in Vergessenheit geraten.Wir als GRH haben in mehrfacher Hinsicht erfahren, wie eng faschistische Tendenzen und antidemokratische Entwicklungen miteinander verbunden sind. Öffentliche Beschimpfungen, z. B. als „rot lackierte Faschisten“, die bereits im Bereich der Volksverhetzung liegen, sowie verbale Angriffe bis zur Gewaltandrohung sind geduldet, beleidigende und diskriminierende Äußerungen in Publikationen und in den Medien gehören zum gängigen Repertoire, die Ausübung demokratischer Grundrechte, wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit, wird durch rechtliche Formalien beschränkt. Permanent wird versucht, den Druck zu erhöhen. So sind Forderungen von Politikern, die Leugnung von „DDR-Unrecht“ ebenso wie den Holocaust unter Strafe zu stellen, geeignet, die faschistische Vernichtungspolitik zu bagatellisieren, die sozialistische DDR zu diffamieren sowie Bürger- und Grundrechte zu beschneiden.

Nach diesem historischen und aktuellen Tatbestand dürfte es niemanden wundern, woher das Erstarken des Faschismus, des Neofaschismus, in der heutigen BRD kommt. Er ist das Ergebnis einer bundesdeutschen unbewältigten Vergangenheit u n d einer Gegenwart, die neofaschistischen Aktivitäten neue Räume eröffnet. Dabei erweist sich immer wieder, dass Antikommunismus und Faschismus Hand in Hand gehen.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für uns?

1. - Unterstützung aller Aktionen und Maßnahmen, die geeignet sind, die antifaschistischen Kräfte zu stärken. So auch den jüngsten Antrag der PdL vom 4. Mai 2010 an den Bundestag „Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offen legen".2. - Verstärkung der öffentlichen Aufklärung über die historischen Tatsachen zur Erfüllung des antifaschistischen Vermächtnisses und der völkerrechtlichen Verpflichtungen in beiden deutschen Staaten.3. - Kritische Begleitung der staatlichen Erinnerungs- und Bildungspolitik auf allen Ebenen, im Bund, in den Ländern und Kommunen.4. - Offensiver Widerstand gegen das Schleifen und Verfälschen antifaschistischer Gedenk- und Erinnerungsstätten und die Verletzung der Würde von Antifaschisten.5. - Weitere organisatorische Vernetzung aller antifaschistischen Kräfte, bundesweit, ungeachtet unterschiedlicher Auffassungen in Einzelfragen.Der 13. Februar in Dresden hat bewiesen, wozu Aktionseinheit fähig ist.Auch das Ostdeutsche Kuratorium von Verbänden (OKV) wird sich diesem Anliegen verstärkt widmen.6. - Kampf für das Verbot der NPD und für die Aufhebung des Verbots der KPD.

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Die BRD-Justiz und die eigene Nazivergangenheit

Die politischen Strafverfahren gegen Bürger der DDR nutzte die BRD-Justiz, um mit Antifaschisten, die am Aufbau eines neuen Deutschland verantwortlich beteiligt waren, abzurechnen. Zu Recht schätzte E. Honecker in seiner Erklärung vor dem Moabiter Gericht ein: „Dieser Prozess offenbart seine politische Dimension auch als Prozess gegen Antifaschisten“. So wurde z.B. Hans Reinwarth, ehemaliger Vizepräsidenten des OG der DDR und späterer Wissenschaftler an der DASR, der als aktiver Nazigegner im KZ Dachau inhaftiert war, wegen angeblicher Rechtsbeugung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.Offenbar hatte die bundesdeutsche Justiz aber ihr perfides Spiel gegen deutsche Antifaschisten selbst erkannt und fühlte sich veranlasst, den Anschein von Objektivität, Ehrlichkeit und Wiedergutmachung zu erwecken. Im Urteil gegen H. Reinwarth vom 16. 11. 1995 nahm der BGH zur eigenen Geschichte Stellung:„Obwohl die Korrumpierung von Justizangehörigen durch die Machthaber des NS-Regimes offenkundig war, haben sich bei der strafrechtlichen Verfolgung des NS-Unrechts auf diesem Gebiet erhebliche Schwierigkeiten ergeben. Die vom Volksgerichtshof gefällten Todesurteile sind ungesühnt geblieben, keiner der am VGH tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt; ebenso wenig Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte. Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des BGH. Die Rechtsprechung ist auf erhebliche Kritik gestoßen, die der Senat als berechtigt erachtet...“

Mit dieser schwachen Selbstkritik und ein paar darauf basierenden Aufsätzen meinte offenbar die deutsche Justiz, ihre Legitimation für die Verurteilung von Antifaschisten bewiesen zu haben. Der Publizist Erich Köhler schrieb dazu: „Das Rechtskunststück ist von beeindruckender Akrobatik. Durch die Verurteilung des DDR-Richters Hans Reinwarth bewältigte die westdeutsche Justiz endlich ihre eigene Nazivergangenheit“ - und - hinzugefügt sei - ging wieder zur Tagesordnung über.Wie sah diese aus?Nicht ein Strafverfahren wegen Rechtsbeugung wurde gegen BRD-Richter und -Staatsanwälte wegen Verschonung von Nazi-Verbrechern eingeleitet. Die Strafverfahren gegen Amtsträger der DDR - Antifaschisten beim Aufbau der neuen Ordnung - wurden hingegen intensiviert.

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Wochenendgespräch

17.07.2010 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)

»Der Geist ist aus der Flasche«

Gespräch mit Dieter Skiba. Über die braune Vergangenheit bundesdeutscher Geheimdienstler und Polizisten sowie die jetzt freigegebenen Akten des Ministeriums für StaatssicherheitRobert Allertz

Oberstleutnant a. D. Dieter Skiba (geb. 1938) war von 1958 bis 1990 beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR und dort der letzte Leiter der Hauptabteilung IX/11. Sie war seit den 60er Jahren für die Aufklärung und Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen zuständig.

Zwanzig Jahre nach Schließung Ihrer Abteilung hat die Birthler-Behörde einige von deren Akten offengelegt, und die Medien stürzten sich begierig auf das Thema: »Jetzt freigegebene Stasi-Akten belegen, daß frühere Nationalsozialisten bei westdeutschen Geheimdiensten und der Polizei Karriere machten.« So jedenfalls die Berliner Zeitung am Montag.

Wir wollen mal schön die Kirche im Dorf lassen oder, um im Bilde zu bleiben, die Behörde hält ja die meisten dieser Akten unverändert weiter unter Verschluß. Es sollen zwei von insgesamt 27 Aktenordnern aus lediglich einem Forschungsvorgang der Hauptabteilung (HA) IX/11, nämlich dem FV 5/72, zur Besichtigung freigegeben worden sein. Sie enthalten unsere Rechercheergebnisse zu einigen NS-belasteten Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes, des Verfassungsschutzes, des Militärischen Abschirmdienstes und der Polizei. Das war aber nicht der einzige Vorgang unserer Abteilung zur Aufklärung ehemaliger Naziverbrecher und faschistischer Geheimdienstexperten in offiziellen und geheimen Diensten der Bonner Republik. In jahrzehntelanger Arbeit hatten verschiedene Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und wir mehrere zehntausend Karteikarten und Dossiers über zu »Demokraten« mutierte Altnazis erarbeitet. Viel interessanter an der Nachricht – und das will ich als sachliche und keineswegs polemische Feststellung verstanden wissen – ist doch die Tatsache, daß man jetzt, immerhin schon zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR, zumindest einen Teil dieser Akten freigibt und würdigt.

Die doch als verschollen galten.

Ja, ich kenne auch die Aussage von Oberstaatsanwalt Alfred Streim. Als Chef der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung in Ludwigsburg – der federführenden Behörde für die Verfolgung der Nazi- und Kriegsverbrechen erst in der BRD, dann im vereinten Deutschland – hatte er in den 90er Jahren behauptet, daß unsere Akten verschwunden seien. »Entweder sind sie vom MfS nach der Wende vernichtet worden, oder sie sind nicht auffindbar. Möglicherweise werden sie anderweitig benötigt.«

Was meinte er damit?

Vermutlich wollte er damit signalisieren, daß er keinen Fall habe, den er weiter verfolgen müsse. Schließlich hatten die Ludwigsburger im Mai 1991 Einsicht in unsere Zentralen Untersuchungsvorgänge genommen. Anschließend bescheinigte uns Staatsanwältin Solf, daß

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wir »solide Arbeit« geleistet hätten. Das galt jedoch nur für die Ermittlungen gegen NS-Täter in der DDR und deren Überführung – die Dossiers über die NS-Täter im Westen hatte man ihnen ja vorenthalten.

Kann man das so verstehen, daß die damalige Überprüfung der MfS-Unterlagen durch die Weststaatsanwaltschaft weniger auf die Feststellung von Naziverbrechern zielte, sondern mehr darauf, ob das MfS dabei unsauber gehandelt hätte. Es ging also primär nicht um die Überführung von Nazis, sondern von DDR-Ermittlern?

Das kann man so sehen.

Und diese Unterlagen hatten Sie 1990 ordentlich ins Staatsarchiv der DDR überführt?

So wie es der Zentrale Runde Tisch angeordnet hatte. Das Archiv sollte als Komplex erhalten bleiben und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Diese Absicht wurde von Joachim Gauck und seinem westdeutschen Berater Hansjörg Geiger allerdings unterlaufen. Gaucks Behörde bestand darauf, sämtliche »operative Materialien« aus dem Bestand der HA IX/11 zu bekommen, nur die Originalakten von vor 1945 sollten im Bundesarchiv verbleiben. Damit wurde sichergestellt, daß vor allem die Karteien, Dossiers und Vorgänge gegen Nazis in der BRD vor ungewünschtem Zugriff geschützt waren.

Und das funktionierte?

Vermutlich. Zunächst gab es kein Interesse an den Naziakten, zumindest wurde es nicht publik. Im Jahr 2000 soll ein Journalist erstmals diese Akten verlangt haben, worauf Herr Gauck nach Rücksprache mit dem Bundesinnenministerium die Akten gesperrt und als »VS-Vertraulich« etikettiert habe. So berichteten jedenfalls die Medien.

Mit anderen Worten, der Erzdemokrat Gauck, der sich nur der Wahrheit und sonst niemandem verpflichtet fühlt, wie wir unlängst wieder um die Ohren gehauen bekamen, hat Aufklärung verhindert, also Wahrheit unterdrückt?

So muß man es sehen. Er hat verhindert, daß die braunen Wurzeln der »demokratischen Geheimdienste« offengelegt wurden.

Vielleicht weil er vorsichtig war und Ihren Akten nicht traute? Wir wissen doch: Die »Stasi« hat doch stets gelogen. Selbst in ihren eigenen Akten.

Wenn er jemandem etwas am Zeuge flicken wollte, hatte Gauck diese Bedenken nie. Da war’s nichts als die Wahrheit, was man dort in den »Stasi«-Papieren fand und an die Presse gab, damit diese jemanden schlachtete und aus dem Weg räumte. Aber wir reden ja nicht über die Causa Gauck, die hat sich wohl endgültig erledigt. Wir reden über Dokumente, die wir seinerzeit zusammengetragen haben, welche man zuerst verschwiegen, dann vergraben und nunmehr veröffentlicht hat – auszugsweise zumindest. Aber der Anfang ist gemacht, der Geist ist aus der Flasche, und diese kriegt man nun nicht mehr verkorkt.

War die Hauptabteilung IX seit Gründung des MfS 1950 mit der Bearbeitung von Nazi- und Kriegsverbrechen befaßt?

Nein. Das sollte die Kriminalpolizei damals weiterhin besorgen. Dann aber bemerkten wir im MfS, daß die Nachrichtendienste, die gegen die DDR arbeiteten, ihr Personal bevorzugt aus

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ehemaligen Nazigeheimdiensten, aus SD und Gestapo, aus Wehrmacht und Waffen-SS rekrutierten. Selbst Kriegsverbrecher waren darunter. Etliche wurden durch das MfS bearbeitet und festgenommen. Dadurch bekam die Sache eine sicherheitspolitische Dimension und ging zunehmend in die Verantwortung des MfS über.

Außerdem sollten wir uns in Erinnerung rufen: In der BRD galten ab dem 8. Mai 1960 alle vor dem 8. Mai 1945 begangenen, nach dem BRD-Strafrecht als Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, Freiheitsberaubung mit Todesfolge und Raub eingestufte NS-Verbrechen als verjährt. Dieser kollektive Freispruch Tausender Nazimörder, welche nunmehr nach westdeutscher Lesart nur Totschläger waren, führte nicht nur im Ausland zu Protesten, sondern motivierte auch uns. Die DDR als zweite deutsche Republik und konsequenter antifaschistischer Staat hatte nicht nur Interesse daran, das Personal der Bundesrepublik mit brauner Vergangenheit zu entlarven und dieses, wo möglich, juristisch zu verfolgen. Es ging uns auch um den Nachweis, daß aus personeller auch eine politische Kontinuität erwachsen könnte.

In der Folge kam in der DDR erstmals 1965 das »Braunbuch« heraus, das auf der Buchmesse in Frankfurt am Main von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurde. Der 2002 in der edition ost erschienene Reprint erlebte seither drei Auflagen.

Das »Braunbuch der Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin«, wozu auch wir Material bereitstellten, listete Tausende Personen auf, die auf verschiedenen Feldern sowohl vor 1945 als auch in der Bundesrepublik verantwortliche Funktionen ausübten. Das Buch wurde bis auf den heutigen Tag geschmäht, bagatellisiert, als Machwerk »der Stasi« denunziert, von der Politik ignoriert. Aber nicht einer der dort Genannten hat jemals geklagt. Denn die Fakten stimmten nachweislich. Der ehemalige Kriminaldirektor Dieter Schenk im Bundeskriminalamt (BKA) räumte im Herbst 2001 vor Fernsehkameras sogar ein: Das Braunbuch habe »sachlich nur einen Makel: Es untertreibt.« Von den 57 Führungskräften des BKA hätten »nur zwei keine braune Weste getragen«, schreibt er in seinem Buch »Die braunen Wurzeln des BKA«. Dort nennt er eine Vielzahl solcher SS- und SD-Angehörige in Diensten des BKA, zu denen in der HA IX/11 Material gesammelt und Dossiers angelegt worden waren.

Die Abteilung 11 bei der Hauptabteilung Untersuchung des MfS (HA IX) wurde vor dem Hintergrund der Schlußstrichmentalität im Westen per Ministerbefehl vom 23. Dezember 1967 gegründet. Ausgangspunkt war die sicherheitspolitische Prämisse, daß eine »völkerrechtliche und nationale Verpflichtung der Deutschen Demokratischen Republik zur Verfolgung und Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit« bestehe. Dazu wurden als die beiden Hauptrichtungen der Tätigkeit dieser neuen Struktureinheit genannt: erstens systematische Erfassung, Archivierung und politisch-operative Verwertung aller im Bereich des MfS vorhandenen und noch zu beschaffenden Materialien aus der Zeit bis 1945, um die im Staats-, Wirtschafts- und Militärapparat sowie in Parteien und Organisationen der Bundesrepublik und in Westberlin tätigen belasteten Personen zu enttarnen; zweitens Sammlung von Belastungs- und Beweismaterial zur operativen Bearbeitung und Einleitung von Ermittlungsverfahren im In- und Ausland. Auch wenn es illusorisch war, daß wir auf diese Weise möglichen Rechtshilfeersuchen aus dem Ausland würden nachkommen können – es hat aus der BRD dergleichen nie gegeben –, trug unsere Arbeit sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch Früchte. Wir demonstrierten vor aller Welt sichtbar, daß diese DDR konsequent mit der Nazidiktatur abrechnete und mit ihr nichts, aber auch gar nichts am Hute hatte.

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Was sagen Sie zu den Einwänden: »In den Diensten der DDR standen auch Nazis« und »Das war doch alles nur Propaganda«.

In der DDR gab es keine ehemaligen Naziverbrecher in Führungsfunktionen – das ist eine der Lebenslügen der offiziellen BRD bis heute. Im MfS beispielsweise gab es nicht einen einzigen ehemaligen Nachrichtendienstler der Nazis. Das schloß nicht aus, daß das MfS sich als Quellen auch solche Leute in BRD-Diensten nutzbar machte.

Und was die Propaganda betrifft: Der Kalte Krieg wird doch von der übriggebliebenen Seite mit unverminderter Wucht weitergeführt.

Inwiefern?

Allein durch das Eingeständnis, daß die Akten gesperrt waren und zu großen Teilen noch sind, bestätigt man deren Wahrheitsgehalt. Niemand fürchtet die Lüge, wohl aber die Wahrheit. Wir haben also ordentlich gearbeitet. Was man stets aus ideologischen Gründen in Abrede stellte. Eben weil der Kalte Krieg unverändert weiter geführt wird.

Und was bedeutet das? Sie lächeln leicht.

Nun ja, die in der Presse wiedergegebenen Namen und Passagen kommen mir ziemlich bekannt vor. Mir scheint, daß mancher Journalist in unserem zweibändigen Buch »Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS« nachgelesen und auch daraus abgeschrieben hat, womit sich unsere Annahme durchaus bestätigt, daß es sich um ein Standardwerk handelt. Seit seinem Ersterscheinen 2002 wurde daran herumkritisiert, es verächtlich gemacht. Der Hohn war unbegründet. Jetzt zeigt sich deutlich: Wer sich seriös mit dem Thema beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Gemeinsam mit Karli Coburger habe ich auf den Seiten 426 bis 483 alles Wichtige zur Arbeit der IX/11 mitgeteilt. Und darauf greift man jetzt zurück.

Späte Genugtuung?

Meinen Sie: Ätsch, wir wußten es schon immer? Solche Empfindungen habe ich nie, zumal bei diesem Thema. Wenn mich etwas befriedigt, dann allein die Bestätigung meiner Grundüberzeugung, daß die seit 1990 betriebene Verteufelung der DDR und ihrer politischen Absichten nicht bis in alle Ewigkeit durchzuhalten sein wird. Einen solch riesigen Teppich, unter den der ganze Sozialismus gekehrt werden kann, kriegt nicht mal die reiche Bundesrepublik gewebt.

Ich kann mich noch erinnern, als 1990 Professor Kahlenberg, damals Präsident des Bundesarchivs, mir erklärte, weshalb bei ihm die Mitarbeiter der IX/11 keine Arbeit bekämen: »Sie haben mit ihrer Nazischnüffelei das Ansehen der Bundesrepublik nachhaltig im In- und Ausland beschädigt!« Und jetzt greift man auf unsere Arbeit zurück.

Die Birthler-Behörde hat 18 Personen – Nazis, die beim BND, beim Verfassungsschutz, beim MAD und der Polizei Karriere machte – gewissermaßen zum publizistischen Abschuß freigegeben, nachdem ihre Namen bereits am 17. März in der FAZ genannt worden waren...

Ihre Namen finden sich übrigens auch in »Angriff und Abwehr. Die deutschen Geheimdienste nach 1945«, eine verdienstvolle Arbeit meiner Genossen Klaus Eichner und Gotthold Schramm, die 2007 ebenfalls bei der edition ost erschien.

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Dort waren noch mehr Namen zu lesen. Geben die freigegebenen Akten nur einen Bruchteil preis?

Das ist richtig. Mich amüsiert die Begründung, die für die Sperre geltend gemacht wird – bislang auch für diese beiden Aktenordner. Mit dem Paragraphen 37 des »Stasi«-Unterlagengesetzes deckelte man bisher alles. Dort heißt es: »Gesondert zu verwahren sind Unterlagen über Mitarbeiter von Nachrichtendiensten des Bundes, der Länder und der Verbündeten.« Selbst die Akten von Toten, denn es geht weiter: »Wenn der Bundesinnenminister im Einzelfall erklärt, daß das Bekanntwerden der Unterlagen die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde.«. Nun fragt mein gesunder Menschenverstand: Worin besteht die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und des Landeswohls, wenn die Nazikarriere eines verstorbenen Bundesbeamten publik wird?

Und was antwortet Ihnen der gesunde Menschenverstand?

Daß man sich bei moralischen Vorwürfen zurückhalten sollte, wenn man selbst moralisch gefehlt hat.

Klingt sehr verklausuliert.

Ich kann es auch deutlicher formulieren: Diese offizielle Bundesrepublik hat in ihrer Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich soviel Mist gebaut, daß sie besser zum Antifaschismus der DDR aus Scham schwiege.

Aber das kann doch nicht überraschen: Das Dritte Reich war ein kapitalistischer Staat, die Bundesrepublik nicht minder. 1945 war ein Betriebsunfall, keine Stunde Null. Und daß die Ostdeutschen auch nach der Einheit Außenseiter sind und nicht in dieser ungebrochenen Kontinuität stehen, sieht man auf jeder Rentenberechnung: Ein Arbeitsjahr im Nazireich war dreieinhalbmal soviel wert wie ein Arbeitsjahr in der DDR. Und auch die Arbeit heute wird im Osten per Gesetz schlechter vergütet als im Westen. Strafe muß eben sein!

Natürlich überrascht mich diese doppelbödige Moral, dieses gesellschaftliche Pharisäertum überhaupt nicht. Als 2007 das RAF-Mitglied Christian Klar nach 26 Jahren Haft begnadigt werden sollte, schrie man auf. Bayerns Innenminister Beckstein etwa sprach von einer »Verhöhnung der Opfer«. Übrigens: die »Verhöhnung der Opfer« ist eine der schönen, schwammigen Formeln, die man gern benutzt, wenn man keine Argumente hat.

»So viel Mitgefühl bekamen die Millionen Opfer deutscher Massenmörder bei den Konservativen nicht immer zu spüren«, bemerkte damals Claus Lutterbeck auf stern.de sarkastisch. »Hätte Klar mitgeholfen, deutlich mehr Leute umzubringen, zum Beispiel 37000 Kinder, Frauen und Männer in der Ukraine, hätte er nur 13 Jahre Gefängnis bekommen. Dann wäre er nach sieben Jahren wieder rausgekommen, wie der SS-Obersturmbannführer Otto Bradfisch, der ›wegen Beschwerden in der linken Kopfseite‹ nur ein paar Minuten pro Opfer absitzen mußte. Von einem Aufschrei bei CDU und FDP hat man damals nichts gehört. Wäre Klar ein braver Beamter im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) gewesen und hätte dort ein bißchen vom Schreibtisch aus gemordet, wäre er noch heute ein freier Mann.« Und Lutterbeck schloß verbittert: »Hätte Klar als Richter eines von mehr als 50000 Nazi-Todesurteilen verhängt, wäre er vielleicht später einmal CDU-Ministerpräsident geworden. Hinter Gittern wäre er sicher nie gelandet. Denn in der Bundesrepublik ist kein einziger Nazi-Richter oder Staatsanwalt jemals wegen seiner Beteiligung an Todesurteilen angeklagt

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worden, im Gegenteil: Für die besonders Belasteten zimmerten CDU, CSU und FDP 1961 ein Gesetz, das ihnen ermöglichte, freiwillig in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Proteste gab es keine aus der CSU, als sie auch noch ihre volle Pension kassieren durften.Wenn die Liberalen sich durchgesetzt hätten, wären viele der schlimmsten NS-Mörder nie vor Gericht gekommen, denn die FDP wollte 1965 einen Schlußstrich ziehen und Nazimorde verjähren lassen. Seit dem Krieg hat die (west-)deutsche Justiz über 70000 Ermittlungsverfahren eingeleitet, sie führten zu wenig mehr als 700 Verurteilungen. Viele dieser NS-Täter wurden geräuschlos begnadigt, kaum einer saß die volle Zeit ab. Wir warten noch immer auf den Aufschrei der Konservativen über diese Verhöhnung der Opfer.« Das war 2007.

Immerhin.

Ja, natürlich, ziemlich spät. Trotzdem: Ich bin doch kein Ignorant, der nicht sieht, daß sich einiges bewegt hat. Ich habe vorhin schon gesagt, daß es solchen Teppich nicht gibt, unter den sich alles kehren ließe. Das kommt alles nach und nach zum Vorschein und wird von mehr Menschen wahrgenommen als noch vor Jahren. Zu DDR-Zeiten konnte man es als »Ostpropaganda« abtun, nach 1990 waren es »Stasi«-Fälschungen. Nun muß die vorsätzliche Täuschung eingestanden werden.

Ich sehe kein Eingeständnis. Kein Offizieller hat erklärt: Ja, Globke war so wenig wie Gehlen eine Erfindung der DDR, ja Bundespräsident Lübke hat im Nazireich als Bauingenieur KZ-Baracken errichtet, ja, wir haben Mittäter und Mitläufer ungeschoren gelassen, ja, wir haben der DDR vorgeworfen, daß sie den Antifaschismus instrumentalisiert habe, was eine Infamie ist ....

Ich weiß. Eine solche Erklärung wird es auch nie geben. Aber das erzwungene Eingeständnis, daß unsere Vorhaltungen bezüglich der Herkunft ihrer Geheimdienstlern richtig waren, ist trotzdem ein bemerkenswerter Schritt.

Der aber eine Pointe hat. Die konservative Welt schrieb nämlich zur Aufdeckung dieser personellen Kontinuität von Sicherheitsapparaten des Dritten Reiches und der Bundesrepublik in dieser Woche: »In Wirklichkeit sind diese Verbindungen seit Jahrzehnten bekannt.«

Na, warum wohl?

Genau. »Erstmals öffentlich waren sie schon 1954 durch – wahrscheinlich aus der DDR lancierte – Veröffentlichungen in englischen Zeitungen geworden.«

Das finde ich nun wirklich witzig. Es wird endlich Zeit, daß alles auf den Tisch kommt und sich die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht mehr nur auf das MfS und die DDR, sondern auch auf die BRD und ihre Dienste erstreckt. In diesem Sinne ist wohl auch der Antrag der Fraktion der Linken vom 4. Mai 2010 zu verstehen, in der »eine rückhaltlose Aufklärung aller personellen und institutionellen Verstrickungen von ehemaligen Mitarbeitern von Bundesbehörden und Einrichtungen des Bundes mit dem Herrschaftssystem des deutschen Faschismus« gefordert wird. »Dies bezieht sich selbstverständlich auch auf die aktive Mitarbeit an bzw. mögliche Behinderung der Aufklärung von NS-Verbrechen und der juristischen Verfolgung möglicher Täter durch Bundesbehörden und andere Einrichtungen des Bundes.«

Einem solchen Ansinnen kann ich nur zustimmen.

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BuchempfehlungJan KorteInstrument Antikommunismus: Sonderfall Bundesrepublik(Karl Dietz Verlag Berlin 2009, 125 S. , ISBN 978-3-320-02173-3, Preis 9,90 €)

Der Autor ist Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke. Er weist nach, wie der Antikommunismus in der Zeit der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer gleichsam zu einer Staatsdoktrin wurde, an der sich die Politik der 1949 gegründeten Bundesrepublik orientierte.

Antikommunismus ist bekanntlich keine deutsche Erfindung. Auch in anderen Staaten werden antikommunistische ideologische Dogmen politisch genutzt, um konservative und unsoziale Ziele zu verfolgen. In der BRD entstand jedoch in den späten 40er und 50er Jahren eine besondere Form dieser Ideologie, die demokratische Entwicklungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges behinderte und beschädigte.

Jan Korte geht den Ursachen und Hintergründen nach, warum sich der Antikommunismus, der nicht zuletzt mit dem Aufkommen des Nazismus in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts verbunden war, so tief verwurzeln konnte (vgl. S. 16 ff.).

Nach der Niederlage des Faschismus gab es eine Chance für eine demokratische Entwicklung in ganz Deutschland (vgl. S. 71).

Chance für demokratische Gesellschaft

In den Jahren nach 1945 hatten in Ost- und Westdeutschland im Ergebnis des Sieges der Antihitlerkoalition über den Faschismus Antifaschisten, engagierte Menschen aus Widerstandsgruppen und zurückgekehrte Emigranten unter dem Schutz der Besatzungsmächte begonnen, das gesellschaftliche Leben demokratisch zu ordnen. Es entstanden demokratisch gewählte Gemeinde-, Kreis- und Landesparlamente und Verwaltungen. Aus den Verwaltungen, aus dem Bildungswesen und Justizbehörden wurden nazistische Aktivisten und Kollaborateure entfernt.Mit dem Aufkommen des Kalten Krieges zwischen den Unterzeichnern des Potsdamer Abkommens wurde diese Entwicklung unterbrochen.Unter dem Einfluss der westlichen Besatzungsmächte wurde die im Potsdamer Abkommen vorgesehene Entmachtung der Stützen des Naziregimentes, z. B. die Enteignung der Großindustrie, die Demilitarisierung und die demokratische Bildungsreform sowie die Demokratisierung der Verwaltung und Justiz beendet oder weitgehend rückgängig gemacht. Seit Gründung der Bundesrepublik 1949, die von massiven antikommunistischen Kampagnen begleitet wurde, verstärkten sich auch die bereits früher in Westdeutschland begonnenen juristischen Verfolgungen antifaschistischer und demokratisch denkender und handelnder Bürger, die sich für die Ziele des Potsdamer Abkommens, insbesondere gegen die Remilitarisierung und für die staatliche Einheit Deutschlands einsetzten.Massenhaft fanden Ermittlungsverfahren und Gerichtsprozesse gegen Aktivisten der Friedensbewegung, gegen Mitglieder der noch legalen KPD, gegen Mitglieder der SPD und gegen Gewerkschaftsmitglieder statt. Viele von ihnen hatten bereits während des NS-Faschismus großes Unrecht – z. T. im KZ – erlitten. Es handelte sich – wie die ehemalige Berliner Justizsenatorin und spätere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Jutta Limbach, im Jahre 1995 feststellte – um politische Justiz. D. h. politische Ziele, wie die

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Spaltung Deutschlands, die Remilitarisierung und die Forderungen antikommunistischer Kräfte wurden mit Hilfe polizeilicher und justizieller Mittel durchgesetzt.

Strafrecht des Kalten Krieges

Einen Höhepunkt politischer Justiz bildete das Verbotsverfahren gegen die KPD von 1951 bis 1956. In diese Zeit fällt auch das so genannte Blitzgesetz von 1951, (das <erste> Strafrechtsänderungsgesetz vom 30.8.1951 – BGBl. I 1951, Nr. 43, S. 749 ff.), das vom Bundestag in der aufgeheizten Atmosphäre des Korea-Krieges beschlossen wurde. Damit hatten sich die Bundesregierung unter Konrad Adenauer und die konservative Mehrheit des Bundestages ein wirksames Instrument geschaffen, um regierungskritische Meinungen, Publikationen, Kundgebungen, Initiativen und Organisationen strafrechtlich zu verfolgen (vgl. S. 68 f.).Die Tatvorwürfe auf der Grundlage dieses und anderer später erlassener Gesetze sowie des KPD-Verbotsurteils lauteten: Hochverräterisches Unternehmen, landesverräterische Fälschung, Verstoß gegen verbotene Vereinigungen (seit 1964), fahrlässiger Landesverrat, Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens, verfassungsverräterische Zersetzung, Staatsgefährdung, staatsgefährdende Störungen, Verfassungsverrat, verfassungsverräterische Vereinigung, verfassungsverräterischer Nachrichtendienst, landesverräterischer Nachrichtendienst, Verunglimpfung des Staates sowie seiner Symbole und Organe, Geheimbündelei, kriminelle Vereinigung u. a. (vgl. S. 70 ff.).Der Autor und Rechtsanwalt Rolf Gössner, den Jan Korte hier zitiert, nennt diese Straftatbestände ein „wahres Panoptikum des Verrats, der Zersetzung, Verunglimpfung und Geheimbündelei“, der sich die politische Justiz der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre bediente (vgl. Rolf Gössner: Die vergessenen Justizopfer, Berlin 1998, S. 71).Die politische Justiz richtete sich nicht nur gegen Mitglieder und Sympathisanten der KPD. Sie war Ausdruck des Antikommunismus, der in der Tagespolitik während des Kalten Krieges ein immer größeres Gewicht erlangte, obwohl der Einfluss der KPD auch infolge des Verbots der Partei deutlich zurückgegangen war.Jan Korte, der in seiner Publikation den engen Zusammenhang zwischen der politischen Strafverfolgung Andersdenkender und der antikommunistischen Hysterie nachgeht, hat für seine Analyse u. a. die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung aus den Jahren 1949 bis 1953 ausgewertet (vgl. S. 58 ff.). Daraus ergibt sich, in welchem Ausmaß antikommunistische Gesinnung wirkte. Z. B. wird im Kabinett beschlossen, gegen einen Hilfsarbeiter aus Oberhausen Strafantrag zu stellen, der Plakate kommunistischen Inhalts geklebt hatte.In der 33. Kabinettssitzung am 3.1.1950 informiert der Bundesminister der Justiz über einen Presseartikel, in dem Adenauer als „Verrats-Kanzler“ bezeichnet wird. Der Minister setzt sich dafür ein, dass in solchen Fällen Strafantrag gestellt werden soll.Korte bewertet die politische Justiz der BRD der 50er und 60er Jahre im Einklang mit demokratischen Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland wie Heinrich Hannover, Diether Posser, Alexander von Brünneck und Rolf Gössner, wenn er schreibt: „Die politische Justiz (der BRD während Adenauers Kanzlerschaft – d. Red.) stabilisierte den antikommunistischen Konsens in der Bundesrepublik und verlieh ihm den Anschein rechtsstaatlicher Objektivität… Der Antikommunismus rechtfertigte das eigene angeblich alternativlose kapitalistische Gesellschaftssystem und wurde durch eine radikale, ja hysterische Abgrenzung vom Osten selbst legitimiert. Gleichzeitig war der Antikommunismus Disziplinierungsmittel im Innern…Der Justiz kam damit die Aufgabe zu, den Antikommunismus sozusagen unpolitisch als rechtsstaatliche Instanz >unabhängig< zu begründen und seine Notwendigkeit zu legitimieren“ (vgl. S. 72 und 74).

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Widerstand und Gegenposition

Jan Korte untersucht in seiner Arbeit nicht nur die Ursachen und verheerenden Wirkungen der antikommunistisch orientierten Politik und Justiz; er erinnert an den gleichzeitig vorhandenen Widerstand in Gestalt von Gegenpositionen, wie sie von Persönlichkeiten wie Eugen Kogon und Walter Dirks, Gustav Heinemann, Martin Niemöller, Diether Posser und Heinrich Hannover vertreten wurden.Posser und Heinemann verteidigten viele Angeklagte, denen in politischen Verfahren vorgeworfen wurde, kommunistische Auffassungen zu vertreten.Posser, der den Kommunismus als Ideologie ablehnte, verteidigte Kommunisten, weil er deren Behandlung als unvereinbar mit dem Grundgesetz ansah. Er und andere wiesen u. a. nach, das Straftatbestände der Staatsgefährdung Elemente des Gesinnungsstrafrechts enthalten, weil z. B. für ein und dasselbe Geschehen Kommunisten bestraft, aber Nichtkommunisten freigesprochen wurden.Diese Verteidiger sahen, wie antikommunistische Stereotype aus der Nazizeit in den bundesdeutschen Gerichtssälen auftauchten (vgl. S. 97).Die Positionen der genannten Persönlichkeiten machen deutlich, dass es Alternativen zur antikommunistisch ausgerichteten Politik gab, die zwar weitgehend nicht aufgegriffen wurden, aber darauf hinweisen, dass eine Gegenkultur bestand (vgl. S. 98).

Wiedergutmachung für Naziunrecht!

Korte schlägt u. a. vor, dass zunächst auf der Grundlage des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) von 1956 insbesondere die Opfer der politischen Justiz wenigstens Wiedergutmachung für das ihnen während der Nazizeit zugefügte Unrecht erfahren. Dies erfordert eine Änderung des BEG, in dem festgelegt ist, dass Personen, die nach dem 23.5.1949 die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft hatten, von Entschädigungsleistungen ausgeschlossen sind und dass gezahlte Leistungen zurückgefordert werden können. Diese Regelung in § 6 BEG besitzt deutlich antikommunistischen Charakter und grenzt als kommunistisch eingestufte Widerstandskämpfer gegen das Naziregime aus der Gesellschaft aus.Bei Verurteilungen wegen so genannter Propagandadelikte in der BRD erfolgte regelmäßig die Aberkennung bzw. Rückforderung von Entschädigungszahlungen für erlittenes Naziunrecht. Aber auch ohne Verurteilung wurden Entschädigungszahlungen aberkannt oder zurückgefordert.Ehemaligen hohen Nazifunktionsträgern wurden und werden dagegen üppige Pensionen gezahlt. Die Aberkennung von Wiedergutmachungsleistungen für Naziopfer bedeutet, dass nachträglich deren Verfolgung während des Faschismus legitimiert wird (vgl. S. 99).Um diesen politischen Skandal zu beenden, hatte die Fraktion Die Linke im Bundestag beantragt, auch die kommunistischen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung zu entschädigen (vgl. S. 100 ff.). Dies wurde nach z. T. unsachlichen polemischen Debatten abgelehnt. Darin zeigt sich, wie stark der Antikommunismus in aktuelle politische Entscheidungen von Regierung und Parlament hineinwirkt. Es wird noch erheblicher politischer Überzeugung und Arbeit bedürfen, damit alle Opfer der Nazijustiz eine Wiedergutmachung erhalten.

Wann erfolgt Rehabilitierung für Opfer der politischen Justiz?

Dringend – insbesondere wegen des Alters vieler Opfer der politischen Justiz – ist die strafrechtliche, verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierung von denjenigen, die sich gegen die Politik der Bundesregierung in den 50er und 60er Jahren eingesetzt hatten und

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deswegen verurteilt oder gemaßregelt wurden (vgl. S. 15). Sie waren in das System der politischen Verfolgung geraten, weil sie gegen die Remilitarisierung in der Bundesrepublik, für die Erhaltung bzw. Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, gegen die Notstandsgesetzgebung und Atombewaffnung oder für soziale Rechte eingetreten waren. Es handelt sich übrigens nicht um Einzelfälle. Korte erinnert (vgl. S. 72), unter Hinweis auf von Brünneck, dass ca. 125 000 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren zwischen 1951 und 1968 wegen grundgesetzlich geschützten Verhaltens stattgefunden haben (vgl. Alexander von Brünneck: Politische Justiz gegen Kommunisten in der BRD 1949 bis 1968, Frankfurt/Main 1978). Darunter gab es Ermittlungsverfahren mit anschließender Verurteilung, weil z. B. jemand zum 1. Mai eine rote Fahne gehisst hatte oder weil jemand einige Male kommunistische Zeitungen verteilt hatte.Ausführlich schildert Korte das Schicksal des 1931 geborenen, inzwischen verstorbenen Journalisten Walter Timpe, der in den 50er Jahren für kommunistische Zeitungen gearbeitet hatte. Er war 1955 wie auch andere Journalistenkollegen vom Landgericht Lüneburg zu einem Jahr Haft und zu drei Jahren Berufsverbot verurteilt worden. Der Strafvorwurf lautete „Beleidigung von Repräsentanten der Bundesrepublik“, „Verunglimpfung von Staatsorganen“ und diverse „verfassungsfeindliche“ Aktivitäten (vgl. S. 11 ff.).Einer seiner Richter, Konrad Lenski, hatte sich im „Dritten Reich“ als Henker des gaullistischen Widerstands in Strasbourg einen Namen gemacht. Neben diesem ehemaligen Feldgerichtsrat Lenski als Richter agierte im Verfahren gegen Walter Timpe der ehemalige Vorsitzende des Sondergerichts Kattowitz, Ottersbach, als Oberstaatsanwalt. Ottersbach war während seines Dienstes im Nazistaat an einer Reihe von Todesurteilen beteiligt.Allein in Niedersachsen fanden – wie Korte zitiert – zwischen 1951 und 1956 ca. 2 300 Verfahren gegen regierungskritische Bürger statt (vgl. Thorsten Fuchs: Wir waren keine Verbrecher, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung Nr. 265 vom 13.11.2006, S. 11).Auch nach dem KPD-Verbot fanden Tausende von Verfahren gegen Menschen statt, deren tatsächliche oder unterstellte kommunistische Gesinnung der Justiz zum Vorwurf strafbaren Handelns diente und die dafür verurteilt wurden.Bis zu seinem überraschenden Tode im Jahre 2008 war Walter Timpe aktiver Gewerkschafter. Als Mitglied der „Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges“ setzte er sich für die Aufhebung der Unrechtsurteile aus den 50er und 60er Jahren ein.Es mag für ihn eine gewisse Anerkennung seiner Lebensleistung bedeutet haben, als ihm 2001 der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland in „Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen Verdienste“ vom damaligen Bundespräsidenten Rau verliehen wurde; das Walter Timpe – ebenso wie anderen – zugefügte Justizunrecht wurde damit nicht beseitigt (vgl. S. 15).

Nach der Lektüre der aufschlussreichen Publikation von Jan Korte ergibt sich die Frage: Wann werden Bundesregierung und die Mehrzahl der Bundestagsabgeordneten endlich bereit sein, diese Opfer der politischen Justiz der BRD zu rehabilitieren? …?

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Aus „Berliner Anstoß“, Dezember 2010, Seite 10/11, Monatszeitschrift der DKP-Landesorganisation Berlin

Norbert Podewin

Ein "Braunbuch“ mit Langzeitfolgen

Über die Nichtverfolgung und Wiederverwendung der Nazi- und Kriegsverbrecher in der BRD, wie man 2010 plötzlich überrascht tut und was das mit der DDR zu tun hat

Der Meinungsbogen spannt sich von Überraschung bis hin zu blankem Entsetzen: Die gerade vorgelegte Studie „Das Amt und die Vergangenheit" - Auftraggeber war 2004 der BRD-Außenminister - dokumentiert dass führende Diplomaten des "Dritten Reiches" zu maßgeblichen Gestaltern des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik wurden. Zumindest hei den politischen, .Bauherren" des deutschen Teilstaates BRD ist das pure Heuchelei. Das antiÜ1schistische Deutschland. von Konrad Adenauer lebenslang als "Pankoff" bekämpft. hat sich von Anbeginn konsequent auch für die personelle Aufarbeitung der braunen Diktatur eingesetzt. Öffentliche Prozesse des Obersten Gerichts der DDR galten 1960 dem damaligen Bonner Minister Theodor Oberländer und 1963 Adenauers "Grauer Eminenz" Hans Globke. Vom Rhein aus als .. Schauprozesse" eleklariet1. verschafften sie doch der Wcltöff1ichkeit einen Einblick in den personellen Grundstock des "Rechtsstaates“. Ein prominentes internationales Gremium in Sachen NS- Täter stellte sich dann am 2. Juli 1965 im Haus am Kastanienwäldchen in der DDR Hauptstadt Berlin der Presse. Zu den Sachverständigen zählten u. a. Dr. Czeslaw Pilichovsky. Direktor der Hauptkommission zur Untersuchung \von Nazi-Verbrechen in Polen. Nikolai Alexandrow, sowjetischer Ankläger in den Nürnberger Prozessen gegen Hauptkriegsverbrecher. Dr. Karel Kamis: CSSR sowie Sam Goldblom. Vizepräsident des Jüdischen Rates zur Bekämpfung des Faschismus und Antisemitismus. In ihrer aller Namen übergab Albert Norden, Mitglied der SED-Führung, das. ' Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik" der Weltöffentlichkeit. Es enthielt 1200 Kurzbiografien von einflussreichen Stützen des Naziregimes, die nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend straflos ausgingen. Speziell ausgeleuchtet wurden politische Lebensläufe von 21 Ministern und Staatssekretären der BRD. 100 Generalen und Admiralen der Bundeswehr, 828 hohen Justizbeamten, Staatsanwälten und Richtern. 245 leitenden Beamten des Auswärtigen Amtes sowie 297 mittleren bis hohen Beamten der Polizei bzw. des Verfassungsschutzes. Es ginge - so Norden - "nicht um Einzel- oder Zufalle. Die Nichtverfolgung und Wiederverwendung der Nazi- und Kriegsverbrecher ist fester Bestandteil der Politik eines Staates. in dem die ökonomischen Spitzen des Hitleregimes ... ihre Machtpositionen nicht nur erhalten, sondern verdoppelt und verdreifacht haben." Im Kapitel "Die Stützen der aggressiven Bonner Außenpolitik" wurden neben einer generellen, mit Dokumenten gestützten Übersicht insgesamt noch 230 Kurzbiografien früherer NS-Diplomaten in ihren derzeitigen Funktionen aufgelistet. Zugleich stellte das Vorwort klar: „Selbstverständlich enthält das Braunbuch keine Namen nomineller Mitglieder der NSDAP. Die DDR hat immer konsequent zwischen der Millionenzahl ehemaliger Mitglieder der Nazi-Organisationen unterschieden, die selber irregeleitet und betrogen wurde. Und jener abscheulichen Gruppe von Hintermännern, Initiatoren und Profiteuren der Naziverbrechen. Wir denken nicht daran, irgend jemandem, der einmal einen politischcnln1um beging, inzwischen aber längst seinen Fehler erkannt und einen neuen Weg beschritten hat, aus seiner Vergangenheit einen Vorwurf zu machen - schon gar nicht 20 Jahre danach."

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Es gab diverse internationale Presseberichte Über die "Braunbuch" -Premiere; die I. Auflage war nach kurzer Zeit vergriffen, so dass im Oktober 1965 ein Nachdruck erfolgte, der auch in Fremdsprachen erschien. Als vermeintlichen Konterschlag legte daraufhin noch im Juli 1965 der "Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen" eine neue, erweiterte Ausgabe (101 Seiten) der Publikation "Ehemalige Nationalsozialisten in Pankows Diensten" vor. Dort erfuhr man z. B. über "Prof Heinrich Dathe: Direktor des Tierparks Berlin-Friedrichsfelde; Mitglied des Präsidiums der Deutsch-Afrikanischen Gesellschaft; Mitglied des Präsidialrates des Dcutschen Kulturbundes; Me-daille 'Für ausgezeichnete Leistungen'; Verdienstmedaille der 'DDR'. Vor 1945: Eintritt in die NSDAP: 1.9.1932. NI'. 1 318207." Ähnlich "belastend" waren weitere Biografien. So wurde Dr. Gerhard DengIer, dem Leiter des Westbereichs im Nationalrat und Mitwirkender am "Braunbuch", außer dem NSDAP-Beitritt am 1. Juli 1937 zum Vorwurf gemacht, als Hauptmann der Hitler- Wehrmacht (er hatte mit seiner Einheit in Stalingrad vorzeitig kapituliert) später Mitglied des "Natio-nalkomitees Freies Deutschland" gewesen zu sein. Das "DDR-Braunbuch", inzwischen auch in mehreren Fremdsprachen erhältlich, erwies sich für den "Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland" als zunehmend gefährlicherer Sprengstoff So kam es zu einem Aufsehen erregenden Eklat auf der Frankfurter Buchmesse: am 17. Oktober 1967 wurde das dort ausgelegte -Exemplar gerichtlich beschlagnahmt, worauf die DDR-Verlage ihre Stände schlossen und abreisten. Die Verbündeten der Bundesrepublik waren insgeheim vor allem schockiert über die Tätigkeit des Bundespräsidenten Heinrich Lübke, der in der NS-Ära als Verantwortlicher den Bau mehrerer KZ-Lager wissentlich betrieben hatte, ein dokumentarisch auch im "Braunbuch" belegter Fakt, den der oberste BRD-Repräsentant zuerst abstritt und schließlich vorgelegte, von ihm signierte Bauzeichnungen, rundweg als "Fälschungen" abtun wollte. Die Weltöffentlichkeit sah das anders. Vielseitig gedrängt gab Heinrich Lübke dann zum Juli 1969 vorzeitig auf. Er begründete seinen Rücktritt 3 Monate vor Beendigung der offiziellen Amtszeit mit "staatspolitischen Gründen", um eine "angemessene Zeitspanne" zwischen der Einsetzung seines Nachfolgers und der Wahl des künftigen Bundestages zu schaffen. Albert Nordens sarkastische Langzeit-Prognose hatte ein weiteres Mal Wirkung gezeigt: "Die nicht existente Deutsche Demokratische Republik stürzt mit ihren nicht existierenden Akten existierende Bonner Minister, die dann allerdings nach unserer Enthüllung nicht mehr existieren." Im Mai 1968 gab es eine erweiterte 3. Auflage des "Braunbuches" - diesmal mit 1400 Täterprofilen. Zudem wurde seitens der DDR ein weiteres Mal der BRD Akteneinsicht in die Archivbestände zu Nazi-Straftätern angeboten - und wiederum hüllte sich der Bonner Staat in Schweigen; ein gleichfalls immer wieder offeriertes Rechtshilfeabkommen kam ebenfalls nie zustande. Sarkastische Schlussbemerkung eines Mitgestalters des DDR-"Braunbuches": Nach Ende der staatlichen Teilung bemühte sich der Verlag "edition ost" darum, Wissen über Nazitäter gesamtdeutsch zu vermitteln: der 2002 erschienene Reprint der 3. Auflage 1968 wurde auf der Leipziger Messe vorgestellt, deutschlandweit angenommen ... und ist bereits seit längerer Zeit vergriffen. Vielleicht gab man damit ein Signal an den damaligen Außenminister Joschka Fischer?! Geschadet haben dürfte es bei der Erarbeitung des nun allenthalben diskutierten Buches keinesfalls.

(Allein 520 faschistische Diplomaten im Auswärtigen Dienst der BRD wurden von der DDR 1968 veröffentlicht)

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Hans Daniel

Zurück in die Gegenwart(jungeWelt vom 29.11.2010, Seite 10)

Nach dem »Schock« über Nazidiplomat en im Auswärtigen Amt rückt die »Stasi« wieder in den Fokus bundesdeutscher Vergangenheitsbewältigung Der Tagesspiegel gibt dabei die Linie vor

Nach der Befreiung aus der Starre des Entsetzens, die das öffentliche Leben des Landes im Gefolge der Vorlage des nach fünf Jahren Forschung erstellten Auftragswerkes »Das Amt und die Vergangenheit. Die deutschen Diplomaten im Dritten Reich und der Bundesrepublik« überfallen hatte, spricht nun alles dafür, dass der Schock überwunden ist. So ist es nun an der Zeit, wieder zur eigentlichen »Sache« zu kommen und den Historikern erneut das eigentliche Aufgabenfeld für das nächste Jahrzehnt klarzumachen: der »Unrechtsstaat« DDR und das Ministerium für Staatsicherheit (MfS). Dessen Wirken drohte doch dadurch aus dem Blickfeld zu geraten, dass es, wie dem Rauschen im medialen Blätterwald und aus den mit Trauerflor belegten Kehlen diverser überraschter Politiker zu entnehmen war, doch tatsächlich »gewissenlose Diplomaten« gegeben hat, die erst in Hitlers Völkermord »verstrickt« waren und sich nach 1945 ihre Wiederverwendung im System der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erschleichen konnten.

Den Diplomaten, die vordem die DDR vertreten haben, ist das dank großer Wachsamkeit nicht gelungen. Mit ihnen ist radikaler umgegangen worden. Da wurden nach dem »Beitritt« lediglich die Immobilien in aller Welt übernommen, in denen sie einst den »Unrechtsstaat« repräsentiert hatten. Das war konsequent im Sinne des Urteils des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 16. November 1995 anlässlich der Verurteilung eines DDR-Richters wegen »Rechtsbeugung«: Es seien die Lehren zu ziehen aus den »erheblichen Schwierigkeiten«, die sich bei der Verfolgung des »NS-Unrechts« ergeben hätten. Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung habe nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gehabt, der die daran geübte erhebliche Kritik nun als »berechtigt erachtet«. Das solle nie wieder geschehen können.

Wahrheitsgehalt null

Die Ahndung der »Vergehen« nicht nur der DDR-Diplomaten ist, wie der Evangelische Pressedienst 15 Jahre nach dem richtungweisenden Urteil des BGH unter Berufung auf den FDP-Bundestagsabgeordneten Reiner Deutschmann am 5.November meldete und der Deutschlandfunk am 9.November bestätigte, noch nicht abgeschlossen. Es geht in die Verlängerung. Gleichsam als Begleitmusik zur Veröffentlichung über das Fortwirken des faschistischen Diplomatenkorps im Nachkriegswestdeutschland, beschloss die schwarz-gelbe Koalition die »Verlängerung der Stasi-Überprüfung im Öffentlichen Dienst bis 2019«.

Die bislang bis 2011 befristete Überprüfung solle auf weitere Gruppen ausgedehnt, der Gesetzentwurf noch im Dezember in den Bundestag eingebracht werden. Um die »Sache« inzwischen nicht aus dem Auge zu verlieren, übergab die inquisitorische Birthler-Behörde fast zeitgleich der Bild-Zeitung auf deren Antrag hin Unterlagen über Vertreter der Linkspartei in Mecklenburg-Vorpommern. Unter dem Motto »20 Jahre Einheit – Und die Stasi-Spitzel sind immer noch unter uns« ergab das dann am 11. November die Schlagzeile »5 Spitzenpolitiker der Linken unter Stasi-Verdacht«.

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Im Berliner Tagesspiegel hatte Lorenz Maroldt bereits wenige Tage nach der Übergabe des Außenamt-Berichts an Außenminister Westerwelle Warnlichter angezündet. Vor dem Hintergrund der »Trümmer der Legende vom Auswärtigen Amt als Hort wenn auch nicht wirklich guter, so doch besserer Menschen« warnte er vor dem aufsteigenden »Mythos« des »etwas besseren Nachkriegsdeutschland«, dem »Mythos von der nazifreien Zone, der antifaschistischen DDR« (Onlineausgabe des Tagesspiegel, 31.Oktober 2010).

Kollegen der Berliner Zeitung und der taz waren bei ihm in Tatverdacht geraten, Derartiges verbrochen zu haben und darob gescholten worden. Mehr Ärgernis aber hatte hervorgerufen, dass auf Leserbriefseiten und in Onlineforen »angesichts der Veröffentlichungen der neuen Studie über das Auswärtige Amt beklagt (wird), wie ungerecht im Vergleich zu den Westkarrieren alter Nazis doch nach der Vereinigung frühere DDR-Funktionäre behandelt worden seien«. Die DDR, gesteht der Autor zwar großzügig, »hatte als Staat keinen Holocaust zu verantworten«. Zur »Wahrheit« gehöre aber, so weiter im kurzen Aufklärungslehrgang über die wirklich bewegenden Angelegenheiten, »dass sie auf den Verbrechen Stalins gebaut war«.

Nun war die DDR ja in der Tat auf Trümmern gebaut worden, die, was wohl vergessen ist, jedoch nicht Stalin, sondern neben anderen jene verursacht und hinterlassen hatten, die in der BRD recht bald wieder die Kommandohöhen des Auswärtigen Dienstes besetzten, die sie nach dem 8.Mai 1945 nur kurzfristig hatten räumen müssen. Diese DDR, so ist im Tagesspiegel (über dessen Nachkriegskommandohöhen noch zu sprechen sein wird) weiter zu lesen, habe »ein großes Herz für kleine Nazis« gehabt und außerdem noch das Ministerium für Staatssicherheit, das dafür zuständig war, »die Geschichte von der Bundesrepublik als Nazi-Nachfolgestaat aufrechtzuerhalten. Eigener Mittel hätte es dazu zwar kaum bedurft, aber zur Sicherheit ließ die Stasi im Westen immer mal wieder antisemitische Aktionen inszenieren und gefälschte Unterlagen zwecks vermeintlicher Nazi-Beweise lancieren.«

Der Wahrheitsgehalt dieser, selbst von mit getreuen SS- und Gestapo-Gefolgsleuten durchsetzten BRD-Geheimdiensten widerlegten Mär, wird auch durch Wiederholung nicht größer. Aus der Welt ist damit auch nicht die Tatsache, dass, wie die Märkische Allgemeine am 5.November erinnerte, bereits im Juli 1965 das »für die Aufarbeitung der Nazi- und Kriegsverbrechen zuständige Politbüromitglied Albert Norden in einer Pressekonferenz ein propagandistisch aufgemachtes ›Braunbuch‹, das die Lebensläufe von mehr als 1800 ehemaligen Nazis und Kriegsverbrechern in der Bundesrepublik beschrieb«, präsentiert hatte. »Obwohl die Angaben zu 99 Prozent korrekt waren, wurde es in der Bundesrepublik vier Jahre nach dem Mauerbau als SED-Propaganda abgetan (...) Doch mittlerweile steht fest, dass fast alle Fakten aus dem ›Braunbuch‹ stimmten. Sie waren nur leider zur falschen Zeit von den falschen Leuten der Öffentlichkeit präsentiert worden.«

Nun aber schonungslos

Da davon auszugehen ist, dass mittlerweile auch der letzte aus jener Schar, über die der »für die Aufklärung der NS- und Kriegsverbrechen« zuständige Albert Norden 1965 informiert hatte und von denen nun im »Amt« die Rede ist, nach einem doppelt erfüllten Berufsleben und staatlich garantierten wohlumsorgten Lebensfeierabend von dannen gegangen ist, darf man nun »schonungslos« offenbaren, dass sie einer »verbrecherischen Organisation« angehört haben. Da muss nicht mehr, wie in der Vergangenheit oft geschehen, mit Klagen wegen »verletzter Ehre« dieses oder jenes Herren gerechnet werden.

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Es sei denn, einen der Nachfahren, z.B. des Konstantin Freiherr von Neurath auf Gut Leinfelder Hof bei Einzweihingen, überkommt beim abendlichen Schlummertrunk aus den edlen Karaffen – made im »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« – Zorn ob der posthumen Schmähung des Ahnen. Besagter Freiherr und Berufsdiplomat hatte das Anwesen seinerzeit mit den 250000 Reichsmark gekauft, die ihm der Führer 1943 für »besondere Verdienste« als Statthalter des faschistischen Deutschland in der okkupierten Tschechoslowakei, bei der Exekutierung der Mordpolitik im »Reichsprotektorat« als Dotation hatte zukommen lassen. Neurath deklamierte 1940: »Die radikalste und konsequenteste Lösung des Problems wäre die totale Aussiedlung aller Tschechen aus diesem Lande und seine Besiedlung mit Deutschen.«

Ein Bild des Trägers des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP, des »Reichsprotektors«, der von Hitler 1943 zum SS-Obergruppenführer befördert worden war, wird immer noch in der BRD-Botschaft in London präsentiert. Es wird wohl noch eine Weile dort hängen. Nach allen Erfahrungen kann es dauern, bis der heutige Chef des AA, Guido Westerwelle – der, wie er äußerte, die Ergebnisse der vorgelegten Studie »sehr ernst« nimmt – durch die Einrichtung einer Arbeitsgruppe in einem »nächsten Schritt« die Konsequenzen geprüft hat. Von der Ankündigung durch seinen Vorgänger Walter Scheel (im Amt von 1969 bis 1974) bis zur Fertigstellung der jetzigen AA-Studie ist ja bekanntlich fast ein halbes Jahrhundert vergangen. Bestandteil der »Prüfung« ist auch der Umgang mit der »Ahnengalerie« in den BRD-Botschaften weltweit. Akonto hat er erst einmal verfügt, dass, wie die Süddeutsche Zeitung meldet, »die Mitgliedschaft in der NSDAP (...) nicht zwingend die persönliche Würdigung in einem Nachruf« ausschließt. Die Formulierung »ehrendes Gedenken«, so konsequent will Westerwelle die Ergebnisse der Studie zu einer »festen Größe« der Diplomatenausbildung machen, soll laut »Übergangsregelung« nicht mehr verwendet werden.

Unbeantwortete Fragen

Jener Artikel des Tagesspiegel zur Abfertigung der Zeitgenossen, die in Leserbriefen und On-lineforen den Umgang mit früheren DDR-Funktionären im Vergleich mit den Westkarrieren alter Nazis als ungerecht beklagten, war, nebst der Entlarvung des »Mythos von der nazifreien Zone, der antifaschistischen DDR«, wohl auch ein wenig Prävention vor eventuellen Fragen nach der eigenen Vergangenheit. Der Untertitel: »Warum sich die deutsche Geschichte nicht für Gesten moralischer Überheblichkeit eignet – weder im Westen, noch im Osten« könnte darauf schließen lassen.

Und es gab ja dann auch in den Onlinekommentaren neben der (unbeantwortet gebliebenen) Frage nach den beachtlichen Karrieren der wackeren Wehrmachtsoberleutnante Richard von Weizsäcker (Altbundespräsident) und Helmut Schmidt (Altbundeskanzler) auch die (ebenfalls nicht beantwortete) Frage nach der Geschichte des Tagesspiegel.

Die begann nach der Befreiung mit den üblichen Lizenzerteilungen durch die Besatzungsbehörden in Westberlin. Peter Köpf schildert in seiner beachtlichen Untersuchung über die Entwicklung der Nachkriegspresse der BRD und Westberlins, wer da beim Neustart das Zepter führte. Zu lesen ist dort, wie sich unter dem Dach bewährter brauner Federn das Blatt mit der zunächst »sowjetfreundlichen Haltung« im Chor mit den anderen im Westteil Berlins erscheinenden Zeitungen recht bald mit der Verschiebung des »Kampfes gegen den Nationalsozialismus« zur »Auseinandersetzung mit dem Kommunismus« in den in Westdeutschland 1947 begonnenen »Medienfeldzug gegen die Kommunisten« einreihte (vgl. Peter Köpf: Schreiben nach jeder Richtung. Goebbels-Propagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse, Ch. Links, Berlin 1995).

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Erik Reger, der heute noch im Impressum als Mitbegründer genannt wird, war erster Lizenzträger. 1936 kehrte er aus dem Schweizer Exil zurück nach Deutschland, wurde Mitglied der inzwischen von allen Regimegegnern gesäuberten Reichsschrifttumskammer und fand von 1938 bis 1945 seinen Platz beim – der Familie Ullstein geraubten – Deutschen Verlag. Hier half er, wie Neues Deutschland am 19.November 1948 anmerkte, »SS-Literaten bei der Abfassung nazistischer Bücher«. Gegebener Anlass zur Erinnerung an Regers Tätigkeit in den Jahren zuvor war ein von ihm verfasster Artikel im Tagesspiegel vom 7.November, der sehr eindeutige Revanchegedanken angesichts der Niederlage des faschistischen Regimes erkennen ließ: »Was anderes könnte die Aufgabe des amerikanischen Präsidenten sein als die, (...) den dritten Weltkrieg so energisch, furchtlos und neuartig zu führen, dass er mit einem die freiheitlichen Völker vom Alpdruck erlösenden Frieden beendet werden kann.«

Als zweiter Lizenzträger amtierte Edwin Redslob, der sich bereits in der Wochenzeitung Das Reich, die von Joseph Goebbels regelmäßig mit Leitartikeln bestückt wurde, seine Meriten verdient hatte. In einem Aufsatz für das Naziblatt erklärte er Goethe zu einem NS-Vordenker, der den Begriff der »Volkheit« als »naturgebundener Gemeinschaft« geschaffen und »die Erfüllung in der Nation als Voraussetzung für die Erfüllung in der Menschheit« gefordert habe.

Altgediente fanden in dieser Zeit vor allem im Wirtschaftsressort des Blattes Unterschlupf. Otto Bach war publizistischer Anwalt der deutschen Industrie im überfallenen Frankreich und gab in Paris eine Zeitschrift heraus, die »mehr oder weniger ein offizielles Sprachrohr der deutschen Wirtschaftspolitik in Frankreich« war.

In der Deutschen Bergwerkszeitung schrieb Robert Arzet während des Krieges über »die Zukunft des deutschen Kapitalexports« im Zuge der »wirtschaftlichen Neuordnung des europäischen Raumes«. Für die Kapitalbewegung »zwischen den künftigen Großräumen« müssten neue Lösungen gesucht werden. Aus der Redaktion des Goebbels-Organs Das Reich kam 1947 Ludwig Eberlein, der zunächst die Leitung der Berlin-Redaktion übernahm und dann, wie einst beim Reich, wieder als kulturpolitischer Redakteur wirkte.

Hexenjagd auf Demokraten

Blickt man auf diese Personalliste, nimmt es nicht wunder, dass von diesem Blatt eine der übelsten Verleumdungskampagnen der Frontstadtgeschichte ihren Ausgang nahm. Mit der Meldung, die »rote Propagandistin« Anneliese Groscurth habe eine »Kommunistenfiliale in Westberlin« eröffnet, wurde in den ersten Maitagen 1951 eine über 20 Jahre währende Hexenjagd auf Dr. Anneliese Groscurth eingeleitet, die zu dieser Zeit Amtsärztin in Charlottenburg war. Ihr Mann, der Mediziner Georg Groscurth, war am 8.Mai 1944 im Zuchthaus Brandenburg als Mitglied der Gruppe »Europäische Union« hingerichtet worden. Ausgangspunkt der Meldung des Tagesspiegel war eine von Anneliese Groscurth verschickte Einladung zu einer für den 2.Mai geplanten Pressekonferenz. Hier sollte über die Gründung eines Berliner Ausschusses zu einer Volksbefragung in ganz Deutschland gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages im Jahre 1951 informiert werden. (Der Senat verbot diese Initiative.)

Die Denunziation des Tagesspiegel war Grundlage einer ersten Einvernahme im Bezirksamt Charlottenburg am 4.Mai, der am 9.Mai die amtliche Mitteilung über die Entlassung der Amtsärztin folgte. Sie sei nicht »würdig«, im öffentlichen Dienst zu wirken. »Rote

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Propagandistin entlassen«, jubelte der Tagesspiegel, dessen Veröffentlichungen Drohanrufe bei Anneliese Groscurth, Bedrohungen ihrer Patienten und dergleichen mehr zur Folge hatten. Die Ärztin musste ihre Praxis schließen. Es folgte die Aberkennung der Rente als Verfolgte des Faschismus, der Ausschluss aus dem Verband des Öffentlichen Gesundheitswesens und 1955 die Verweigerung der Ausstellung eines Reisepasses. Im Herbst 1951 wurde im Krankenhaus Moabit, der langjährigen Wirkungsstätte von Georg Groscurth, auch noch die dortige Ehrentafel zur Erinnerung an dessen Widerstand entfernt; sie wurde erst im Herbst 1995 wieder angebracht. Die Geschichte der Jagd auf die 1995 verstorbene Anneliese Groscurth hat Friedrich Christian Delius in seinem Buch »Meine Jahre als Mörder« (Berlin 2004) literarisch verarbeitet.

Hitlerapologet beim Tagesspiegel

Am 7.Juni 1949 erfuhren die Leser des Tagesspiegel, dass im fernen Heidelberg ein gewisser Karl Heinrich Silex nach seiner Ablösung als Chefredakteur der Hamburger Allgemeinen Zeitung zum Leiter der Redaktion des Heidelberger Tageblattes berufen worden ist.

»Jener Silex, der das Impressum der Deutschen Allgemeinen Zeitung in ihrer wildesten NS-Zeit zierte (...)«, war da im Tagesspiegel zu lesen. Und am 24.Juli gab es, nicht ahnend, dass »jener Silex« 1955 Chefredakteur des Frontstadtblattes werden sollte, einen Nachschlag: »Der Weg von Hitler bis Heidelberg scheint recht angenehm gewesen zu sein. Über Nürnberg führte er jedenfalls nicht.«

Er führte nach Westberlin. Die Atmosphäre hier, fast Aug in Auge mit den Sowjets, behagte ihm sehr. Als die Hitlerwehrmacht die Sowjetunion am 22.Juni 1941 überfiel, hatte er in der von ihm von 1933 bis 1943 als »Hauptschriftleiter« geleiteten Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) an die Adresse des Führers geschwelgt: »Unendlicher Dank gebührt ihm dafür, dass er das getan hat.« Zuvor aber hatte er bereits mit seinem »Führer« Großbritannien ins Visier genommen und wusste: »Der Führer hat daher zur Doktrin unserer Außenpolitik den Satz erhoben, dass England in unserem Lebensraum nichts zu suchen hat« (DAZ, 2. April 39). Zu »Führers« Geburtstag am 20. April 1939 entfuhr ihm: »So bringen wir ihm unsere Glückwünsche dar, als dem Manne, dessen Weg der Weg Deutschlands ist.«

Am 5.Juni 1939 riet er den Engländern, sie möchten »doch unser Soldatentum mehr an dem Lebensschicksal Adolf Hitlers studieren, der in tiefster Not des Volkes beschloss, Politiker zu werden (...), damit nie wieder ein Zweifel an der totalen Abwehrbereitschaft entstehen kann«.

Als im Verlaufe der von Silex mit glühender patriotischer Feder begleiteten Zeit dennoch im Lande Zweifel aufkamen, gab er am 1.Januar 1942 die Richtung an: Die Soldaten müssten nun »neuen Einsatz und neue Opfer« bringen: »Es gilt, noch härter zu werden (...), den gewaltigen Kampf um die Zukunft zum siegreichen Ende durchzustehen.« Ein Jahr später, am 1. Januar 1943 klang sein Durchhalteappell noch blutrünstiger: »Es geht um Sein oder Nichtsein. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, in dem es kein Anhalten gibt.« Man wisse, »dass noch mancher den Fahneneid, den er dem Führer schwor, mit dem letzten Einsatz besiegeln wird (...). Denn an der Größe des Kampfes messen sich die wahren Entscheidungen des Führers, der von allen Deutschen die größte Aufgabe hat. Unter seiner Führung wird es uns, so hart es kommen möge, gelingen, durch den Sieg die Zukunft von Volk und Reich zu sichern.«

13 Jahre später, zum 60. Geburtstag des innigen Hitlerapologeten am 6. Juli 1956, enthüllte der Tagesspiegel in einem Jubelartikel, dass der seinerzeit die Leitung der DAZ nur

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angenommen habe, »um die drohende Einsetzung eines nationalsozialistischen Chefredakteurs zu verhindern«.

Wer, so bleibt also zu fragen, wäre berufener als der Tagesspiegel, den »Mythos vom Antifaschismus der DDR«, dessen »großes Herz für kleine Nazis« zu entlarven und, wie ehedem »Hauptschriftleiter« Silex, die Feder zu schärfen zur Entlarvung des Hauptfeindes unserer Zeit?

Dieter Skiba, Berlin, 25.11.2010

Schatten der Vergangenheit !?Es ist wieder einmal davon die Rede, dass auf den Deutschen in Ost und West seit der Zeit des Faschismus und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in ganz besonderer Weise „Schatten der Vergangenheit“ lasten. Das ist richtig und falsch zugleich, wenn man bedenkt, wer wie mit wem und warum damit umgegangen ist. Über die Ausmaße des „Schattens der Vergangenheit“, über die daraus abgeleiteten Konsequenzen und die damit einhergehenden Widersprüche gab und gibt es bis heute nicht zu übersehenden politischen Streit. Er zieht sich immer noch durch alle Parteien und breite Teile der Gesellschaft und war bis 1989/90 ein weites Kampffeld der Auseinandersetzung zwischen beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Das war die vom Antifaschismus sowie vom Willen zu Völkerverständigung und Frieden geprägten und auf der Seite der Opfern des Faschismus stehenden DDR auf der einen Seite der Barrikade sowie die auf militanten Antikommunismus und Revanchismus ausgerichtete BRD mit vor Strafverfolgung geschützten Nazi-Eliten und faschistischen Verbrechern an den Schalthebeln der Macht und mit deren nachhaltigem politischen Einfluss nach innen und außen auf der anderen Seite.

Das wurde erst jetzt wieder mehr als deutlich, seit eine Historiker-Kommission ihre Studie zum faschistischen Auswärtigen Amt und die nahtlose Übernahme von selbst aufs Schwerste mit Nazi-Verbrechen belastetem Personal in den auswärtigen Dienst der Bonner BRD vorlegte. Vieles von dem, was jetzt in dem 880 Seiten umfassenden Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ dokumentiert ist, stellt für geschichtlich Interessierte keinen spektakulären Neuwert da, weil das meiste davon schon seit den 50er Jahren durch demokratisch gesinnte Akteure im Westen und insbesondere von Seiten der DDR immer wieder öffentlich gemacht und dokumentiert worden ist.

Zunächst fällt an dem Buch auf, dass zwar auf eine Vielzahl von Nazi-Aktivisten und deren verbrecherisches Handeln hingewiesen wird, aber eine Auflistung all derjenigen mit „brauner Vergangenheit“ im auswärtigen Dienst der BRD – wie in anderen Bereichen auch - noch immer nicht zu finden ist.Da war die DDR mit ihren Veröffentlichungen seit den 50er Jahren zu Nazis in Bonner Diensten - auch in Bezug auf das AA – weitaus konkreter und hat diese Leute, soweit es der jeweilige Stand der Erkenntnis aus Archivmaterial und sonstigen Quellen ermöglichte, öffentlich namhaft und damit auch für die andere Seite bekannt gemacht. Im Quellen- und Literaturverzeichnis zum Buch (S. 807-861) sind allerdings nur ganz verschwindend gering bzw. so gut wie keine Quellen aufgeführt, die aus diesseitigen Veröffentlichungen bzw. Forschungen und Dokumentationen in der DDR resultieren.

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Es wird fast ausschließlich auf westliche Quellen aus der Zeit vor 1990 und solche Bezug genommen, die erst nach 1990 vor allem im Zusammenhang mit dem vom damaligen BRD-Justizminister Kinkel (FDP) 1991 regierungsoffiziell erteilten Generalauftrag zur Abrechnung mit der DDR und der danach einsetzenden, einseitig gen Osten gerichteten „Geschichtsaufarbeitung“ und den krampfhaften Versuchen zur Delegitimierung der DDR und des Antifaschismus entstanden sind. In der Auflistung von gedruckten Quellen (S. 815 ff) ist zwar die vom Ausschuss für deutsche Einheit (Berlin- Ost) bereits 1956 herausgegebene Informationsschrift mit dem Titel „ Aus dem Tagebuch eines Judenmörders“ aufgeführt, aber ein Hinweis auf das im März 1959 vom Ausschuss vorgelegte Tatsachenmaterial über mehr als 80 namentlich genannte führende westdeutsche Diplomaten ist nicht zu finden. Als eine weitere gedruckte Quelle wird die Dokumentation des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten der DDR „Von Ribbentrop zu Adenauer“ aus dem Jahre 1961 mit den Namen von über 180 Nazi-Diplomaten angegeben – aber das am 2. Juli 1965 von Prof. Albert Norden auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellte „Braunbuch über Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin“ (3. erweiterte Auflage von 1968 als Reprint im Verlag edition ost 2002 erschienen) ist unter den gedruckten Quellen nicht verzeichnet. Dabei wurde in dem unter maßgeblicher Mitwirkung des MfS zu Stande gekommenen Braunbuch speziell zum faschistischen AA und zur Wiederverwendung von ehemals aktiven Nazis bis hin zu an Kriegsverbrechen/Verbrechen gegen die Menschlichkeit direkt oder mittelbar beteiligt gewesenen Tätern nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich ...“in dem bisher erschlossenen Archivgut ...Unterlagen über die Tätigkeit von mehr als 520 ehemaligen Nazi-Diplomaten und anderer getreuer Beamten des faschistischen Staatsapparates...“ befinden, die wieder führende Positionen im Bonner AA innehatten. Auf den Seiten 233 bis 277 sind zahlreiche Dokumente und die Namen von 244 leitenden Beamten des Bonne AA sowie der Botschaften und Konsulate mit Nazi-Vergangenheit öffentlich gemacht worden. Von diesen 244 namentlich benannten Nazis tauchen im Namensregister des Buches zum AA lediglich 63 auf. Das Braunbuch enthält – ausdrücklich als unvollständige Zusammenfassung bezeichnet – die Namen von insgesamt 2300 führenden Nazi-Funktionären bis hin zu Kriegsverbrechern, die sich „... ungehindert in entscheidenden Stellungen des westdeutschen Staats- und Wirtschaftsapparates betätigen oder aber hohe Staatspensionen für ihre `verdienstvolle` Tätigkeit im `Dritten Reich` beziehen...“.Aufgezählt wurden neben den 244 Angehörigen des AA - der Bundespräsident ( „KZ-Baumeister“ Heinrich Lübke)- 20 Angehörige des Bundeskabinetts und Staatssekretäre,- 189 Generale, Admirale und Offiziere in der Bundeswehr oder in den NATO- Führungsstäben sowie Beamte im Kriegsministerium- 1118 hohe Justizbeamte, Staatsanwälte und Richter,- 300 Beamte der Polizei und des Verfassungsschutzes sowie anderer Bundesministerien.

Signifikant erscheint in diesem Zusammenhang die in der Einleitung zum Buch „Das Amt...“ auf Seite 19 getroffene Feststellung der Historiker-Kommission über den Umgang mit alten Nazis in der BRD. Dort heißt es u.a.:...“Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts standen die Außenpolitik der Bundesrepublik und mit ihr das Auswärtige Amt unter Dauerbeschuss aus dem Osten, vor allem aus der DDR. Nicht nur deren „Braunbuch“ von 1965 verwies auf die hohe personelle Kontinuität zwischen dem alten und dem neuen Amt und auf die NS-Belastung führender westdeutscher Diplomaten. Die Angaben in dem Buch trafen zum allergrößten Teil zu; aber

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weil die Vorwürfe aus der DDR kamen, halfen sie , wie auch der Fall Franz Nüßlein zeigt, im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges den Beschuldigten eher, als dass sie ihnen schadeten. Und sie trugen dazu bei, dass die in den späten vierziger und fünfziger Jahren entstandenen Geschichtsbilder und Geschichtslegenden erhalten blieben und fortwirkten...“. (Anmerkung zu Nüßlein: Wegen seiner Beteiligung als Nazi-Staatsanwalt an massenhaften Todesurteilen gegen Tschechen war er 1947 in der CSR zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Als nicht begnadigter Kriegsverbrecher wurde er 1955 an die BRD ausgeliefert und hier unmittelbar folgend ins Auswärtige Amt übernommen. Dort brachte er es bis zum Referatsleiter in der Zentralabteilung und war von 1962 bis 1974 Generalkonsul in Barcelona).Sollten wir nun etwa auch noch daran Schuld sein, dass erst 65 Jahre nach Kriegsende und nach 60 Jahren BRD endlich offiziell eingestanden die westdeutschen Geschichtslügen und tatsachenwidrigen Behauptungen aufgedeckt werden?

Die sich aufdrängende Frage, ob die Autoren des Buches tatsächlich alles an verfügbaren Quellen für ihre durchaus respektable Arbeit und die vorgelegten Forschungsergebnisse genutzt haben bzw. nutzen konnten und durften, bleibt bisher unbeantwortet. Die Autoren der Studie zweifeln – wahrscheinlich nicht zu Unrecht- selbst daran, ob ihnen alles Material, was sie hätten sehen müssen, auch tatsächlich seitens des AA und anderer außerhalb des Bundesarchivs Archivgut hortender Einrichtungen zugänglich gemacht worden ist.Es fällt auf, dass sich im Quellen- und Literaturverzeichnis zum Buch so gut wie kein Hinweis finden lässt auf diejenigen Materialien, die im Zusammenhang mit dem Braunbuch im Dokumentationszentrum der Staatlichen Archivverwaltung im MdI der DDR (Dok.-Zentrum) dort seit 1964 zusammengetragen wurden und in zig Tausenden von Karteikarten registriert sowie in Dossiers über Personen (Dok.P) und Sachkomplexe (Dok.K) zusammengefasst worden sind. Dieses Material war mit dem 3.10.1990 in den Besitz des Bundesarchivs übergegangen und wurde nach der Auflösung des Dok.-Zentrums nach Hoppegarten umgelagert. Ebenso verhält sich das mit den Erkenntnissen und Archivunterlagen der HA IX/11 des MfS. Die über 1,5 Millionen Karteikarten umfassende Personenkartei, Dossiers, Vorgänge und operativer Schriftverkehr zu Alt-Nazis und zu faschistischen Verbrechen sind nach 1990 sämtlich in den Besitz der Gauck-Birthler-Behörde (BStU) übergegangen; die im Archiv der HA IX/11 zusammengetragenen Originalakten aus der Zeit des Faschismus gelangten ins Bundesarchiv – Außenstelle Hoppegarten. Unter „Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Berlin“ werden zwar 12 verschiedene MfS-Diensteinheiten / Hauptabteilungen etc. aufgeführt, aber ohne konkrete Angaben über dort vorhandenes und als Quelle genutztes Archivgut.Dabei hätten doch gerade die umfangreich überlieferten Archivalien der vormaligen HA IX/11 des MfS eine ganz besonders ergiebige Quelle der Erkenntnis über Alt-Nazis in Bonner Diensten allgemein und speziell auch im AA ebenso sein können wie über faschistische Systemverbrechen und daran beteiligt gewesene Täter aus dem AA. In der HA IX/11 wurden auch nach dem letzten Braunbuch die Forschungen zu den Nazis in öffentlichen und geheimen Diensten der BRD fortgesetzt. Das betraf den BND und andere Geheimdienste ebenso wie das AA. Im Zusammenhang mit der in den 70er Jahren einsetzenden weltweiten diplomatischen Anerkennung der DDR war es nämlich dringend geboten, darauf zurückgreifen zu können, wenn Diensteinheiten unserer Aufklärung und Abwehr Informationsbedarf über „wer ist wer“ bei ihrem Gegenpart hatten. Dazu gab es entsprechende Forschungsvorgänge (FV) und es wurden zu den identifizierten Nazis Hunderte von Dossiers (PA) mit Informationen und Dokumenten über sie angelegt. Ein

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solcher speziell das AA betreffender Vorgang war der ca. 20 Aktenordner umfassende FV 15 /75.Unter Bezugnahme auf diesen FV 17 / 75 der HA IX/11 machte der Journalist Andreas Förster in einem von der Berliner Zeitung am 28.10.2010 veröffentlichten Artikel darauf aufmerksam, dass er hierin ...“eine Reihe von bislang wenig oder gar nicht bekannten Vorgängen, die eine Verstrickung des AA in nationalsozialistische Verbrechen belegen...“ , gefunden habe. Aber offenbar sei dieses Material ...“auch den Historikern bislang verborgen geblieben...“, da es in der Studie nicht auftaucht.

Neu an dem Buch und insoweit bedeutsam ist vor allem, dass - diese Studie zustande gekommen ist durch einen im Jahre 2005 vom damaligen

Außenminister Joschka Fischer (Grüne) gegen erheblichen Widerstand der „Nazi-Mumien“ und ihrer Klientel erteilten offiziellen Auftrag an eine externe Expertenkommission;

- durch deren Courage nunmehr eine weitere von über 60 Jahre lang gehegten und sorgsam gepflegten westdeutsche Legende entlarvt und „unliebsame“ Wahrheiten offiziell ans Licht der Öffentlichkeit gebracht worden sind;

- ausgerechnet ein amtierender FDP-Außenminister der schwarz-gelben Koalition diese Studie „regierungsamtlich“ als offizielle Dokumentation entgegen nehmen musste, wo doch hinlänglich bekannt ist, dass , wie bei Spiegel-online unter der Überschrift „FDP soll Nazi-Aufklärung behindert haben“ nachlesbar ist, ein weit in die FDP reichendes Netzwerk noch bis in die 70er Jahren versuchte, Nazi-Täter zu schützen.

Nun also ist eine weitere große Lebenslüge der BRD (der Gründungs-Mythos von einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung und quasi von unbefleckter Empfängnis) geplatzt wie eine zu groß gewordene Seifenblase und ihre reaktionären Geschichtsdeuter sind von den „eigenen Leuten“ öffentlich und „regierungsamtlich“ als diejenigen überführt worden, die geschichtliche Wahrheiten nach ihrem Gutdünken leugnen, fälschen und ins Gegenteil verkehren, was sie gern der DDR und deren Akteuren unterstellen. Die von den im Westen Deutschlands nach 1945 wieder in Amt und Würden gekommenen und an die Schalthebel von Macht und politischem Einfluss gelangten Alt-Nazis, ihrer Klientel und geistigen Erben über Jahrzehnte gehegte und gepflegte Legende vom faschistischen AA als „Hort des Widerstandes“ und seines Personals als „Ritter von edler Gesinnung“ ist nunmehr mit einer regierungsamtlich in Auftrag gegebenen Dokumentation beweiskräftig entlarvt und widerlegt.Das bedeutet aber keineswegs, dass die politische Auseinandersetzung damit und der „Streit der Historiker“ darüber erledigt ist, aus und vorbei wäre. Auch wenn das „Rauschen im Blätterwald“ nach den ersten Aufregungen in den letzten Wochen schon wieder verstummt ist – die Auseinandersetzungen um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden weiter gehen, die Dimensionen zunehmen und an Schärfe gewinnen!Wie aktuell die Forderungen nach Untersuchungen zur Nazi-Vergangenheit und zur Rolle von Alt-Nazis in der alten BRD und bis in die Gegenwart hinein sind, belegen immer lauter werdende Forderungen nach weiteren Untersuchungen auch im anderen Ministerien, öffentlichen und geheimen Diensten sowie weiteren gesellschaftlichen Bereichen und Einrichtungen.Das betrifft derzeit z.B. das Reichsfinanzministerium und dessen Rolle bei der „Arisierung“ und Finanzierung der Kriegspolitik ebenso wie die personelle Kontinuität in den bundesdeutschen Finanzbehörden. (Hierzu nur folgende Anmerkung: Wenn es nach Leuten wie Herrn Knabe vom „Gruselkabinett“ in Hohenschönhausen gegangen wäre, hätte ein an dem als „Arisierung“ tituliertem Nazi-Verbrechen zur Entrechtung und Ausplünderung von

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Juden unmittelbar Beteiligter Namenspatron für einen „Walter Linse-Preis“ sein und ihm so „ehrendes Gedenken“ als „Opfer der Stasi“ zuteil werden sollen.)

Untersuchungen/Studien zu anderen Ministerien/Einrichtungen/Organisationen etc. müssen und werden folgen – das ist nicht mehr aufzuhalten. Die Büchse der Pandora ist zwar erst einen Spalt breit geöffnet, aber all die skrupellosen Weißwäscher, Nazi-Klientel und „Schweinejournalismus“ werden sie nicht mehr schließen können. Auch und vor allem die BRD-Geheimdienste und die Kumpanei der Justiz mit den dort massenhaft angesiedelt gewesenen Nazi-Verbrechern werden davon nicht mehr ausgenommen werden können.Erste Ansätze dazu liegen bereits vor - auch wenn sich so manche immer noch vor einer vollständigen Nazi-Aufklärung scheuen.Insoweit erschein das jetzige „Erschrecken“ mancher Leute in Politik und Gesellschaft, allen voran in den Medien, über das Ausmaß von wieder verwendeten Nazis im diplomatischen Dienst der BRD – und anderswo - als pure Heuchelei und als Ausdruck dessen zu verstehen, wie in der BRD über Jahrzehnte mit der Nazi-Vergangenheit umgegangen wurde und welche Mythen bis in die Gegenwart hinein gepflegt worden sind. Der Aufschrei der „Nazi-Mumien“ und ihrer geistigen Erben konnte darum auch nicht ausbleiben.Schon mehren sich öffentlich diejenigen Stimmen, die sich auf Adenauers Forderung aus dem Jahre 1952 berufen, dass endlich Schluss sein müsse mit der „Nazi-Riecherei“! Zugleich werden zum Zwecke der Ablenkung und zur Reinwaschung der BRD massiv weitere Forderungen dahingehend aufgemacht, dass man sich doch endlich mehr der „Aufarbeitung“ des „SED-Unrechtsstaates“, der „Zweiten deutschen Diktatur“ und der „Stasi-Verbrechen“ widmen solle, als im Nachhinein das öffentliche Ansehen der BRD weiter zu schädigen.

Man darf gespannt sein, wie sich die Haltung zur Geschichte und der Umgangs mit ihr weiter entwickeln und wie sich so manche aus der Riege der „Saubermänner“ und ihrer „Nachfolger im alten Geiste“ , „Gewendete“ und „Angekommene“ noch drehen und wenden werden.

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Aus RotFuchs, Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland, 13. Jahrgang, Nr. 155, Dezember 2010, Seite 1

Klaus Steiniger

Die Lüge vom Nationalsozialismus

Als Deutschlands Bankiers, Industrielle und Junker den senilen Reichspräsidenten von Hindenburg im Januar 1933 dazu veranlaßten, Hitlers Faschisten die Staatsgewalt auszuliefern, zogen sie damit die Notbremse. Das Großkapital wollte in einer äußerst zugespitzten Klassenkampfsituation der unausweichlichen Machtprobe mit den Kommunisten und den durch sie geführten proletarischen Massen zuvorkommen. Dabei störte der von Hitler gewählte Tarnname Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) die eingefleischten Arbeiterfeinde und Sozialistenhasser nicht im geringsten. Denn das Schafsfell, in dem sich der faschistische Wolf präsentierte, zielte allein auf Irreführung. Der KPDErnst Thälmanns – mit 6 Millionen Wählerstimmen und 300 000 Mitgliedern sowie einem straff organisierten paramilitärischen Rotfrontkämpferbund die damals schlagkräftigste kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion – sollte durch massives Eindringen in deren soziale Basis das Wasser abgegraben werden. Deshalb hüllten sich Hitlers Horden in die Toga von „Anwälten für Arbeiterinteressen“. Der Trick blieb nicht ohne Wirkung. Mit demagogischen Versprechungen lockten die Faschisten unzählige deutsche Proletarier – darunter auch viele Erwerbslose – in die „Sturmabteilungen“ ihrer SA. Da die den Ausgepowerten vorgegaukelte „zweite Revolution“ nach der „Machtergreifung“ aber ausblieb, kam unter den Genasführten bald Unzufriedenheit auf. Deshalb wurde die SA nach dem sogenannten Röhm-Putsch vom 30. Juni 1934 in die zweite Reihe verbannt und durch die elitären Totenkopf-Verbände der SS ersetzt, deren Angehörige überwiegend aus gehobeneren Schichten“ stammten.Stellte Hitlers NSDAP das direkte Gegenteil einer Arbeiterpartei dar, dann hatte sie mit dem Sozialismus noch weniger am Hut. Allein die seit der Oktoberrevolution ständig wachsende Anziehungskraft der sozialistischen Ideen zwang die Faschisten zur Anpassung an das Vokabular ihrer ideologischen Todfeinde. Während die Herrschaft der Krupps unangetastet blieb, balbierte man die Krauses fortan mit Schlagworten wie „Volksgemeinschaft“,„Volksempfänger“, „Volkswagen“, „Volkseintopf“ und „Volksempfinden“ über den Löffel, um sie anschließend dem großen Volkssterben an den Fronten des von Hitler entfesseltenKrieges auszuliefern.Übrigens diente auch das N im Kürzel des faschistischen Parteinamens dazu, die Masse der Deutschen hinter das Licht zu führen und bei ihnen niedrigste Instinkte auszulösen. Der rassistischchauvinistische Herrenmenschen-Taumel, der die Hölle von Auschwitz hervorbrachte, richtete sich frontal gegen die nationalen Interessen des deutschenVolkes. Hitlers NSDAP, die nach Mussolinis italienischen und Salazars portugiesischenFaschisten vom Kapital ans Ruder gebracht worden war, hatte den Auftrag, von ihren wahrenAbsichten durch griffige und gängige Parolen abzulenken. Nur so konnte das Trojanische Pferd in die gegnerische Burg gezogen werden.Nach der Niederwerfung des deutschen Faschismus durch die Rote Armee und deren Alliierte im Jahre 1945 verfuhr man mit Drahtziehern und Exekuteuren der Hitlerschen Schreckensherrschaft in Ost und West auf völlig entgegengesetzte Weise. Während in der späteren DDR nicht nur die Stallburschen der braunen Diktatur zur Rechenschaft gezogen, sondern auch die Herrenreiter politisch wie ökonomisch ausgeschaltet wurden, machte das Bonner Adenauer-Regime tragende Säulen des faschistischen Repressionsapparates zu Stützpfeilern seiner „Demokratie“. Nazi-Generäle, Nazi-Richter, Nazi-Lehrer und Nazi-

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Beamte gaben weitgehend den Takt und den Ton an. Globke, der Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, stieg sogar zum Guru des Kanzlers auf.Dieser inhaltlichen Konstellation entsprach dann auch die Wortwahl beider Seiten: Nannte man in der DDR den Faschismus an der Macht – die offene, unverhüllte Diktatur der reaktionärsten und aggressivsten Kreise des Finanzkapitals – beim wahren Namen, so hielt die politische Führung der BRD, welche den angeblich „verordneten Antifaschismus“ im Osten heftig attackierte, an der Hitlerschen Wortschöpfung Nationalsozialismus fest. Dabei kommt den antikommunistischen Ideologen die phonetische Nähe von Nationalsozialismusund Sozialismus sehr zupaß, um ihre Lüge von den „zwei deutschen Diktaturen“ – eineVariante der berüchtigten Totalitarismus-Doktrin – weltweit zu verbreiten.Dort, wo man Hitlers Mörderbande sowohl umgangssprachlich als auch in offiziellen Verlautbarungen weiterhin als Nationalsozialisten verharmlost, leitet man Wasser auf die Mühlen neuer Faschisten. Sie sammeln sich inner- wie außerhalb der Institutionen, auch wenn es angesichts des heutigen Kräfteverhältnisses in Deutschland vorerst wohl keiner SA und SSbedarf.Vor diesem Hintergrund ist es beunruhigend, dass selbst als Antifaschisten ausgewiesene Politiker der BRD, darunter auch solche aus den Reihen der Linkspartei, das Wort Faschismus nicht mehr in den Mund zu nehmen wagen. Der Bereitschaft zur Anpassung an den terminologischen „Mainstream“ muß ein Ende gesetzt, der angebliche Nationalsozialismus als Faschismus klar benannt werden.

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Aus „Mitteilungen“ der Kommunistischen Plattform in der Partei „DIE LINKE, Heft 12 / 2010, Seite 28-30

Ellen Brombacher, Berlin

Niemals ist auch nur annähernd solcher Haß auf Nazideutschland erzeugt worden wie auf die DDREingangsstatement im Arbeitskreis „Woher wir kommen“ im Rahmen des Hannoveraner Programmkonvents vom 7. November 2010

Im Zusammenhang mit dem Historikerbericht über die Beteiligung des Auswärtigen Amtes an den Naziverbrechen hieß es in einem in der Welt vom 2. November 2010 abgedruckten Brief einer Münchener Leserin: „Wieviel näher läge uns die Aufarbeitung der Ungeheuerlichkeiten des Unrechtsstaates DDR.“ Wir wissen nicht, wer die Leserin ist. Vielleicht war sie ein strammes BDM-Mädel. Vielleicht war Opa bei der SS. Vielleicht gehört sie aber auch nur zu den vielen, die weder über die Nazizeit etwas wissen noch über die DDR, und die doch davon überzeugt sind, über die DDR genauestens Bescheid zu wissen, weil der Zeitgeist zu ihrer persönlichen Meinung geworden ist. Ganz anders liest sich in der Ausgabe 41/2010 des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL ein Bericht von Wiebke Hollersen. Einen Tag vor dem Ende der DDR schrieben Schüler einer zehnten Klasse in der 2. Oberschule Berlin Prenzlauer Berg Briefe an sich selbst, die sie unlängst bei einem Klassentreffen öffneten und lasen. Die Deutschlehrerin hatte ihre Schüler am 2. Oktober 1990 gebeten, aufzuschreiben, was sie an diesem Tag denken und empfinden. Sie würde die Briefe in einem verschlossenen Umschlag aufbewahren und in fünf Jahren könnten sie gelesen werden. Die Lehrerin stellte nur eine Bedingung: Wer schreibt, solle ehrlich schreiben. Nicht nach fünf, sondern erst nach zwanzig Jahren war es dann soweit. Wiebke Hollersen, eine der damaligen Schülerinnen, heute für den SPIEGEL tätig, hat nun eine Art Reportage darüber verfaßt, was die seinerzeit Fünfzehn-, Sechzehnjährigen aufschrieben, was inzwischen aus ihnen geworden ist und wie sie sich sahen und heute sehen. Ich will über diesen sechsseitigen Bericht, den jeder nachlesen kann, nur einen Satz sagen: Er bedient keines der heute gültigen Klischees. Die Schüler müssen in einem anderen Land gelebt haben.

Zwei Extreme? Hier die Münchenerin, für die die DDR offenkundig schlimmer war als das Hitlerregime. Da die Schüler, die – nach heutiger Lesart – 1990 beinahe ausnahmslos die DDR verharmlosten? Ihre Briefe, um bei Freud oder den Mitscherlichs anzuknüpfen, zeugen von der Fähigkeit zu trauern – gelernt in der DDR.

Ich denke, wir haben es hier nicht mit Extremen zu tun. Der Zeitgeist ist kein Extrem, er spiegelt die veröffentlichte, die herrschende Meinung. Niemals ist in der Bundesrepublik Deutschland ein auch nur annähernd solcher Haß auf Nazideutschland erzeugt worden wie auf die DDR. Wer sich dem widersetzt, gilt mindestens als politikunfähig. Die normale Erinnerung an den Versuch, auf deutschem Boden ohne Kapitalherrschaft auszukommen – die Erinnerung also sowohl an das Bewahrenswerte aus dieser Zeit als auch an die nichtsozialistischen Tendenzen in der DDR – ist kein Extrem. Eine sachliche Bewertung der DDR wird zum Extrem hochstilisiert, damit die Unrechtstaatsthese ihre scheinbare Berechtigung erlangt. Wie verhält sich der vorliegende Programmentwurf zu dieser Problematik?

Mit dem Geschichtsteil im Programmentwurf kann ich irgendwie leben. Das „irgendwie“ ist eine Umschreibung dafür, daß mir an mehreren Stellen die dialektische Betrachtung fehlt und daß es auch Aussagen gibt, die für einen wahrscheinlich nicht kleinen Teil der Mitglieder aus dem Osten eine ziemliche Zumutung sind. Ich möchte etwas zu dem Mangel an dialektischer

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Betrachtung sagen. Den Mainstream-Umgang mit der DDR charakterisiert ein ehernes Prinzip, das ich so beschreiben möchte: Die DDR existierte im luftleeren Raum. Es gab keine Startbedingungen (z.B. daß die DDR der wirtschaftlich wesentlich ärmere Teil Deutschlands war, daß sie alle Reparationsleistungen aufbringen mußte, daß sie keine Marshallplanhilfe erhielt etc.). Es gab keine Sachzwänge, und vor allem – die DDR hatte keine Gegner. Eigentlich hatten alle, vor allem die im Osten enteigneten Industriellen und Großgrundbesitzer, die DDR lieb und konnten lediglich kein Verständnis dafür aufbringen, daß von ihr nur schlechte oder zumindest dumme Sachen ausgingen.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Ich will die DDR nicht schöner reden als sie war, und es gab zweifelsfrei genügend Unschönes. Wir waren nie so gut, wie wir uns sahen und machten, und wir waren nie so schlecht, wie wir heute gemacht werden. Ich möchte wiederholen: Die Hauptmethode der totalen Denunziation der DDR ist die Abstrahierung von den konkret-historischen Bedingungen, unter denen der sozialistische Versuch auf deutschem Boden stattfand. Es gibt zwei Maßstäbe, mit denen gemessen wird:

- der ahistorische, rein moralisierende für den gewesenen Sozialismus- und der sachzwangfixierte für den Kapitalismus.

Zu diesen doppelten Standards findet sich im Programmentwurf nichts. Allerdings findet sich Positives über die DDR und das ist bereits viel, gilt dies doch in der veröffentlichten Meinung schon als Blasphemie. Zugleich führt der Entwurf im Kontext mit der DDR Dummes, Schlechtes und Unverzeihliches auf und erweckt den Eindruck, allein daran sei der Sozialismus kaputtgegangen.

Man muß sich fragen, wieso dann der Kapitalismus noch existiert? Oder die katholische Kirche – oder gar die Mafia. An Mangel an Moral scheint so schnell nichts kaputtzugehen. Kaputt gehen die Schwächeren – auch wenn sie einen löblichen Anspruch haben. Und wir sind – vor allem ökonomisch – immer die Schwächeren geblieben.

Unverzeihlich war, daß wir uns das nie eingestanden haben. Statt dessen wurden Probleme gedeckelt, über Lösungswege wurde weniger und weniger gestritten, und so manche von denen, die diesen Mangel an Analyse und Streit kritisierten, wurden von uns zu Gegnern gemacht. Letztlich erstarrten wir so und haben zunehmend fehlende Gesellschafts- und auch Politikkonzepte durch Sicherheitskonzepte ersetzt. Und so etwas kann nicht funktionieren. Das gilt übrigens nicht nur für die DDR. Ich hoffe, verständlich gemacht zu haben, daß ich die DDR weder unkritisch sehe noch etwas von Nostalgie halte. Ich will nur eins: daß wir dem Versuch, in einem Teil Deutschlands ohne die verheerende Macht des Kapitals auszukommen, historische Gerechtigkeit widerfahren lassen. In diese Richtung werden auch Änderungsanträge gehen.

Und noch eine Bemerkung zum Geschichtsteil: Umgang mit der Geschichte ist zugleich ein Umgang mit ungezählten Mitgliedern der Partei. Zählen könnte man allerdings diejenigen, die uns verließen, weil sie Geschichtsklitterungen auch innerhalb der Partei nicht mehr ertrugen. Nun könnte man unterstellen, die seien alle nur unbelehrbar und nicht bereit, kritisch mit der Geschichte und der eigenen Biografie umzugehen. Aber – so einfach ist das wirklich nicht. Es stimmt ja, was im Programmentwurf steht: „Viele Ostdeutsche setzten sich nach 1945 für den Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung und für ein friedliebendes, antifaschistisches Deutschland ein ... Zu den Erfahrungen der Menschen im Osten Deutschlands zählen die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frauen, die weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales Sicherungssystem, ein hohes Maß an sozialer Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Kultur.“ Schon diese wenigen Sätze wirken in der heutigen Gesellschaft wie Gotteslästerung und werden durch die veröffentlichte Meinung auch so behandelt.Deren Maßstab darf der unsrige nicht sein. Es geht – nicht nur, aber nicht zuletzt – auch

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darum, daß unsere älteren Genossinnen und Genossen ihren ganz persönlichen Anteil am sozialistischen Versuch auf deutschem Boden haben. Es wäre ausgesprochen gut, diesen Sachverhalt nicht zu ignorieren.

Eine abschließende Bemerkung zum Geschichtsteil des Programmentwurfs: Es gibt einen Punkt, den ich für unerträglich halte: Die dreimalige Verwendung des Begriffs Nationalsozialismus bzw. nationalsozialistisch. Das war die von den Hitlerfaschisten – und ich gebrauche diesen Begriff hier bewußt, wenngleich ich für das Programm darauf nicht bestehen würde – das war also die von den Nazis gewählte Selbstbenennung, um den Menschen, vor allem den Arbeitern vorzumachen, man wolle Sozialismus, allerdings den nationalen, auf keinen Fall einen internationalistischen. Der Begriff Nationalsozialismus ist durch und durch verlogen, und Sozialisten sollten ihn niemals verwenden. Wenn der Begriff „deutscher Faschismus“ partout nicht verwandt werden soll – was mir unverständlich wäre, kennte ich nicht die Wurzeln der Ablehnung des Faschismus-Begriffs – so kann problemlos vom „Aufstieg der Nazis“, von „Nazi-Barbarei“ und letztlich von „deutschen Nazis“ gesprochen werden. Der Begriff „Nazi“ ist hinlänglich abwertend und assoziiert ausschließlich Negatives.

Eine Auswahl weiterer Literatur zum Thema„Braunbuch“ der DDR von 1965, „Legal & Opportun“, Lutz Lehmann, Voltaire Verlag 1966,„Furchtbare Juristen“, Ingo Müller, Kindler Verlag München 1987, „Zweierlei Maß“, Conrad Taler, PapyRossa Verlag 2002,„Naziverbrechen und deutsche Strafjustiz“, Günther Wieland, Edition Organon 2004,„Unrechtsstaat DDR? Rechtsstaat BRD?“, Erich Buchholz, Verlag edition ost 2006,„Hammer, Zirkel, Hakenkreuz“, Detlef Joseph, Verlag edition ost 2006,„Angriff und Abwehr“, Klaus Eichner, Gotthold Schramm, Verlag edition ost 2007,„Anti-Leide, Busse, Nehmer, Skiba, GRH e.V. 2007, „Fritz Bauer“, Irmtrud Wojak, Verlag C.H. Beck 2009,„Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich“, Wolfgang Wippermann, Rotbuch Verlag 2009.

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I m p r e s s u m

Herausgeber: Vorstand der Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung (GRH ) e.V.,Mitglied des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden (OKV).Vorsitzender: Rechtsanwalt Hans Bauer; Geschäftsführer: Dieter StiebertGeschäftsstelle des Vorstandes: Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Tel./ Fax : 030/2978 4225

Internet: www.grh-ev.org & www.grenztruppen-der-ddr.org & www.sport-ddr-roeder.deE-Mail: [email protected]

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Spenden zur materiellen Unterstützung von Opfern der politischen Strafjustiz und zur Finan-zierung weiterer humanitärer Tätigkeit der GRH e.V. werden erbeten auf das

Konto der Berliner Volksbank Nr. 578 890 00 09, BLZ 100 900 00.

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