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Das Jahr 1775, in dem Johann Wolfgang von Goethe sein berühmtes „Mailied“ verfasste, hatte für den Poeten zwei Gesichter. Denn während sein Liebesleben ein Tief hatte, da er die im Vorjahr eingegangene Verlobung zu der Offenbacher Bankierstochter Lili Schönemann löste, hätte es mit seiner Karrierelaufbahn nicht steiler bergauf gehen können. Goethe war vom Herzog Karl August in die „Musenstadt“ Weimar eingeladen worden, in der die bedeutendsten Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens von Herzogin Anna Amalia vereint worden waren. Hier bot sich dem Dichter ein Begegnungsfeld des aufgeklärten Adels mit dem gebildeten Bürgertum, das in Deutschland einmalig war. Und dieser Reichtum an Genialität spiegelt sich natürlich auch in seinen Werken aus dieser Zeit. Das „Mailied“ oder „Maifest“, wie es auch oft genannt wird, besteht aus neun kurzen Strophen zu je vier Versen. Zu Anfang, in Strophe eins bis drei, lässt Goethe das lyrische Ich beschreiben, wie es die Natur um sich herum empfindet. Alle damit verbundenen Gefühle sind ausschließlich positiv behaftet, die Sonne „glänzt“, die Flur „lacht“ und die Natur selbst „leuchtet“. In Strophe vier und fünf erfährt man dann, warum er alles so wunderschön, so „rosig“ sieht. Denn die „golden schöne“ Liebe „segnet“ die „volle Welt“. Doch erst in Strophe sechs lernen wir den Grund dafür kennen, warum sein Herz so entflammt ist. Denn es geht um ein Mädchen, das ihn genau so liebt wie er sie. In Strophe 7 versucht das lyrische Ich, die Mächtigkeit seiner Gefühle über einen Vergleich mit Elementen aus der Natur auszudrücken. Strophe acht und neun dienen noch einmal zur Untermalung seiner überwältigenden Liebe und wünschen dem Mädchen in eben dieser Liebe zu ihm ewig glücklich zu sein. In fast jeder Strophe gibt es zwei Verse, die sich reimen, jeweils der zweite und vierte. Dies ist bei acht der neun Strophen der Fall. Zudem gibt es kein eindeutiges Metrum, was zu den immer wieder wechselnden Blickrichtungen des Ichs passt, und außerdem keinen Gleichmut aufkommen lässt, der diese Euphorie der Liebe zerstören könnte. Und genau diese, bald schon Ekstase, die das Lyrische Ich erlebt, unterstreicht Goethe durch zahlreiche Stilmittel, die das absolute Hochgefühl noch verstärken. In Strophe eins bis drei dienen epochentypischen Exclamationes zur Untermauerung der Herrlichkeit der Natur, so zum Bespiel „O Erd, o Sonne!“. Zahlreiche Vergleiche zeigen den vom Ich gemachten Bezug der Liebe zur Natur, wie beispielsweise „so golden schön wie Morgenwolken“ sei die Liebe selbst, oder seine Liebe zum Mädchen so, „wie eine Lerche Gesang und

Gedichtinterpretation Mailied

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Page 1: Gedichtinterpretation Mailied

Das Jahr 1775, in dem Johann Wolfgang von Goethe sein berühmtes „Mailied“ verfasste, hatte für den Poeten zwei Gesichter. Denn während sein Liebesleben ein Tief hatte, da er die im Vorjahr eingegangene Verlobung zu der Offenbacher Bankierstochter Lili Schönemann löste, hätte es mit seiner Karrierelaufbahn nicht steiler bergauf gehen können. Goethe war vom Herzog Karl August in die „Musenstadt“ Weimar eingeladen worden, in der die bedeutendsten Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens von Herzogin Anna Amalia vereint worden waren. Hier bot sich dem Dichter ein Begegnungsfeld des aufgeklärten Adels mit dem gebildeten Bürgertum, das in Deutschland einmalig war. Und dieser Reichtum an Genialität spiegelt sich natürlich auch in seinen Werken aus dieser Zeit.

Das „Mailied“ oder „Maifest“, wie es auch oft genannt wird, besteht aus neun kurzen Strophen zu je vier Versen. Zu Anfang, in Strophe eins bis drei, lässt Goethe das lyrische Ich beschreiben, wie es die Natur um sich herum empfindet. Alle damit verbundenen Gefühle sind ausschließlich positiv behaftet, die Sonne „glänzt“, die Flur „lacht“ und die Natur selbst „leuchtet“. In Strophe vier und fünf erfährt man dann, warum er alles so wunderschön, so „rosig“ sieht. Denn die „golden schöne“ Liebe „segnet“ die „volle Welt“. Doch erst in Strophe sechs lernen wir den Grund dafür kennen, warum sein Herz so entflammt ist. Denn es geht um ein Mädchen, das ihn genau so liebt wie er sie. In Strophe 7 versucht das lyrische Ich, die Mächtigkeit seiner Gefühle über einen Vergleich mit Elementen aus der Natur auszudrücken. Strophe acht und neun dienen noch einmal zur Untermalung seiner überwältigenden Liebe und wünschen dem Mädchen in eben dieser Liebe zu ihm ewig glücklich zu sein.

In fast jeder Strophe gibt es zwei Verse, die sich reimen, jeweils der zweite und vierte. Dies ist bei acht der neun Strophen der Fall. Zudem gibt es kein eindeutiges Metrum, was zu den immer wieder wechselnden Blickrichtungen des Ichs passt, und außerdem keinen Gleichmut aufkommen lässt, der diese Euphorie der Liebe zerstören könnte. Und genau diese, bald schon Ekstase, die das Lyrische Ich erlebt, unterstreicht Goethe durch zahlreiche Stilmittel, die das absolute Hochgefühl noch verstärken. In Strophe eins bis drei dienen epochentypischen Exclamationes zur Untermauerung der Herrlichkeit der Natur, so zum Bespiel „O Erd, o Sonne!“. Zahlreiche Vergleiche zeigen den vom Ich gemachten Bezug der Liebe zur Natur, wie beispielsweise „so golden schön wie Morgenwolken“ sei die Liebe selbst, oder seine Liebe zum Mädchen so, „wie eine Lerche Gesang und Luft“ oder „Morgenblumen den Himmelsduft lieben“. Die Ellipse in Vers 35/36, die Auslassung des Prädikats „lieben“, zeigt die schnellen Gedankensprünge des Ichs, alles ist voll von Liebe, alles der Natur lässt sich mit der Liebe vergleichen. Weiteren Bezug zwischen Liebe und Natur stellt der viel verwendete Parallelismus her. Zu finden ist er zum Beispiel in Vers fünf und sechs „Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur!“ sowie 15 und 16 „O Erd, o Sonne! O Glück, o Lust!“. Das Ich ist so ergriffen, dass bekannte Worte nicht mehr ausreichen, um das Wahrgenommene zu beschrieben. Der Neologismus in Vers 25 „Blütendampfe“ scheint mir eine Metapher für einen allzu berauschenden Duft zu sein. Während zu Anfang die Natur beschrieben wird, so verschiebt sich die Aufmerksamkeit immer weiter zur Liebe hin, bis schließlich in Vers 27 erstmals vom Mädchen, dem Auslöser seiner Gefühle, die Rede ist. An diesen Bezügen sieht man mit aller Deutlichkeit, dass das Ich die Natur mit Augen der Liebe betrachtet. Die Natur ist nicht einfach nur da und existiert, nein sie wird geradezu lebendig in den Gedanken des Ichs. Unterstützend wirkt dabei die Personifikation „Wie lacht die Flur!“, die eine fröhliche, bunte Atmosphäre mit pulsierendem Leben schafft.

Man erkennt in diesem Gedicht sehr deutlich, dass es der Epoche des Sturm und Drang zuzuordnen ist. Der Naturidealismus, die Vergötterung der Natur könnte nicht offensichtlicher zum Vorschein

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gebracht werden. Das sieht man nicht nur an den verherrlichenden Begriffen, die Naturgegenständen zugesprochen werden, wie die „lachende“ Flur oder die „glänzende“ Sonne, sondern auch daran, dass einzig die 2. Strophe, die nur die Natur beschreibt, keinen Reim enthält. Ein weiterer Punkt, den man der Kunst- und Lebensauffassung des Sturm und Drang zuordnen kann, ist der Primat von Gefühl, von Herz, Trieb und Leidenschaft. In jeder Strophe, bis auf die zweite, wird entweder direkt von der Liebe selbst gesprochen, oder es ist zumindest eine Andeutung auf sie zu finden. Außerdem sieht man daran, dass es in dem Gedicht ein lyrisches Ich gibt, dass es sich um epochentypische Erlebnisdichtung handelt. Die Furchtlosigkeit, mit der er seine Liebe preisgibt, ist zudem Ausdruck des jugendlichen Geistes, von dem die Epoche geprägt ist. Mit großer Impulsivität, mit großem Eifer und ohne Scheu und Angst vor Verletzung, ohne „Rücksicht auf Verluste“, werden Emotionen geradezu in die Welt hinausgeschrien.

Abschließend lässt sich also sagen, dass das Gedicht „Mailied“ ein kurzer Auszug aus explodierender leidenschaftlicher Liebe ist. Perfekt kombinierte Stilmittel ergänzen sich mit dem Inhalt zu einem Gebilde wahrer Dichtkunst des Sturm und Drang. Größte Aufmerksamkeit wird neben dem naturverherrlichenden Aspekt, auf die Liebe gelegt, was auch nur angemessen ist, da sie die Hauptaussage des Gedichts ist. Das Lyrische Ich liebt das Mädchen, das Mädchen das Ich, was durch Vergleiche mit und Bezüge auf die Natur untermalt wird. Daher kann man sagen, dass auch der Titel gut zum Gedicht passt, da der Leser mit dem Mai genau die positiven Empfindungen verbindet, die das lyrische Ich, durch seine „rosafarbene Brille“ sehend, der Natur zuspricht.