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29 Swiss Bull. angew. Geol. Vol. 21/2, 2016 S. 29-34 Gefährdungsbilder im Untertagbau Marco Ramoni 1 Zusammenfassung Das Denken in Gefährdungsbildern gehört zur schweizerischen Art der Projektierung und der Ausführung von unterirdischen Bauwerken. Der vorliegende Beitrag diskutiert einige Aspekte des Denkens in Gefährdungsbildern im Untertagbau und des diesbezüglichen unabdingbaren Zusam- menspiels zwischen Ingenieurgeologe und Bauin- genieur. 1 Dr. sc. dipl. Bau-Ing. ETH/SIA, Basler & Hofmann AG, Ess- lingen 1 Einleitung Die Projektierung und die Ausführung von sicher und wirtschaftlich realisierbaren un- terirdischen Bauwerken bedingen das Den- ken in Gefährdungsbildern als wesentlicher Bestandteil einer material-, bauwerks- und verfahrensübergreifenden Projektierungs- systematik, welche eine auf der metho- dischen Ebene einheitliche Bearbeitung von Projektierungsaufgaben des Untertagbaus erlaubt [1]. Der vorliegende Beitrag diskutiert – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige Aspek- te des Denkens in Gefährdungsbildern im Untertagbau. Der Schwerpunkt liegt auf dem diesbezüglich unabdingbaren Zusammen- spiel zwischen Ingenieurgeologe und Bauin- genieur. 2 Gefährdungsbilder Ein Gefährdungsbild ist die «Beschreibung einer möglichen kritischen Situation oder eines unerwünschten Ereignisses für ein Bauwerk und / oder seine Umgebung in der Bau- und Nutzungsphase» [2] [3]. Die Norm SIA 197 [2] unterscheidet zwi- schen Gefährdungen, die mit dem Gebirgs- verhalten und der Ausführung verbunden sind; Gefährdungen, die durch eine unge- nügende Zuverlässigkeit der Infrastruktur während der Bewirtschaftung entstehen; und Gefährdungen, die durch Ereignisse bedingt sind [1]. Im Untertagbau ist das Gebirge gleichzeitig Bestandteil des Tragwerks, Träger des Berg-

Gefährdungsbilder im Untertagbau Marco Ramoni 1 · 29 Swiss Bull. angew. Geol. Vol. 21/2, 2016 S. 29-34 Gefährdungsbilder im Untertagbau Marco Ramoni1 Zusammenfassung Das Denken

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Swiss Bull. angew. Geol. Vol. 21/2, 2016 S. 29-34

Gefährdungsbilder im Untertagbau Marco Ramoni1

ZusammenfassungDas Denken in Gefährdungsbildern gehört zurschweizerischen Art der Projektierung und derAusführung von unterirdischen Bauwerken. Dervorliegende Beitrag diskutiert einige Aspekte desDenkens in Gefährdungsbildern im Untertagbauund des diesbezüglichen unabdingbaren Zusam -men spiels zwischen Ingenieurgeologe und Bauin-genieur.

1 Dr. sc. dipl. Bau-Ing. ETH/SIA, Basler & Hofmann AG, Ess-lingen

1 Einleitung

Die Projektierung und die Ausführung vonsicher und wirtschaftlich realisierbaren un-terirdischen Bauwerken bedingen das Den-ken in Gefährdungsbildern als wesentlicherBestandteil einer material-, bauwerks- undverfahrensübergreifenden Projektierungs-systematik, welche eine auf der metho-dischen Ebene einheitliche Bearbeitung vonProjektierungsaufgaben des Untertagbauserlaubt [1].

Der vorliegende Beitrag diskutiert – ohneAnspruch auf Vollständigkeit – einige Aspek-te des Denkens in Gefährdungsbildern imUntertagbau. Der Schwerpunkt liegt auf demdiesbezüglich unabdingbaren Zusammen-spiel zwischen Ingenieurgeologe und Bauin-genieur.

2 Gefährdungsbilder

Ein Gefährdungsbild ist die «Beschreibungeiner möglichen kritischen Situation odereines unerwünschten Ereignisses für einBauwerk und / oder seine Umgebung in derBau- und Nutzungsphase» [2] [3].

Die Norm SIA 197 [2] unterscheidet zwi-schen Gefährdungen, die mit dem Gebirgs-verhalten und der Ausführung verbundensind; Gefährdungen, die durch eine unge-nügende Zuverlässigkeit der Infrastrukturwährend der Bewirtschaftung entstehen;und Gefährdungen, die durch Ereignissebedingt sind [1].

Im Untertagbau ist das Gebirge gleichzeitigBestandteil des Tragwerks, Träger des Berg-

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oder Grundwassers und auszubrechendesMaterial. Daraus ergeben sich die grundsätz-lichen Gefährdungsbilder, die bei der Aus-führung von unterirdischen Bauwerken zuberücksichtigen sind: Instabilitäten (Fig. 1,Abb. links, z.B. Niederbruch), unzulässigeVerformungen (Fig. 1, Abb. Mitte, z.B. zugrosse Konvergenzen des Hohlraums), unzu-lässiger Wasseranfall (Fig. 1, Abb. rechts,z.B. zu hohe Arbeitserschwernisse), Schwie-rigkeiten mit dem Abbau des Gebirges (z.B.zu hoher Verschleiss) und unzulässigeArbeitsverhältnisse (z.B. Vorhandensein vonAsbest).Die unerwünschten Ereignisse können nurdas unterirdische Bauwerk (z.B. Instabilitätder Ortsbrust), aber auch seine Umgebung(z.B. Tagbruch) interessieren. Die «Reichwei-te» eines unerwünschten Ereignisses beein-flusst massgebend die entsprechende Risi-koakzeptanz: Beispielsweise sind die akzep-tierbaren Verformungen eines Hohlraums inder Regel deutlich grösser als die zulässigenSetzungen an der Oberfläche.

Vor dem Ausbruch eines unterirdischenBauwerks ist das Gebirge im Gleichgewicht(Fig. 2, Abb. 2a). Die Ausbrucharbeiten – dieeigentliche Einwirkung im Untertagbau –stören dieses Gleichgewicht (Fig. 2, Abb.2b). Falls aufgrund der Gebirgseigenschaf-ten (Festigkeit, Steifigkeit und Durchlässig-keit) ein neues Gleichgewicht nicht möglich

ist, ereignen sich unerwünschte Ereignisse(Fig. 2, Abb. 2c). Um diese zu vermeiden,sind geeignete konstruktive Massnahmenrechtzeitig einzubauen (Fig. 2, Abb. 2d).

3 Projektierung

3.1 Vorgehen

Die Projektierung eines unterirdischen Bau-werks erfolgt in mehreren, ineinander über-greifenden Schritten [2]: Entwurf, Trag-werksanalyse und Bemessung. Während dieTragwerksanalyse und die Bemessung vomBauingenieur durchgeführt werden, respek-tive durchzuführen sind, ist in der erstenPhase des Entwurfs eine enge Zusammenar-beit zwischen Bauingenieur und Ingenieur-geologe gefragt.

Der Entwurf im Untertagbau beginnt mitdem Erkennen und Beurteilen der möglichenGefährdungen für jeden Streckenabschnittund jede Bauphase bis zum Endzustand (Fig. 3). Grundlage dafür stellt das Erfassendes Gebirges dar. Sind die Grundlagen nichtausreichend, ist das Erfassen des Gebirgeszu ergänzen, respektive zu vertiefen. Wirdeine bestimmte Gefährdung als relevantbeurteilt, sind geeignete tragwerkserhalten-den Massnahmen (stützende, baugrundver-bessernde oder geometrische Massnahmen)

Fig. 1: Unerwünschte Ereignisse [4] [5] [6].

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Fig. 2: Einwirkung und Auswirkung im Untertagbau.

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zu wählen und deren Wirksamkeit zu beur-teilen. Jede Massnahme kann zusätzlichespezifische Gefährdungen bedingen, dieebenfalls erkannt, beurteilt und denen gege-benenfalls mit geeigneten Massnahmen ent-gegengewirkt werden muss. Diese iterativeProzedur aus Erkennen, Beurteilen und Ent-schärfen von Gefährdungen wird solangewiederholt, bis ein Massnahmenpaket vor-liegt, das alle relevanten Gefährdungenabdeckt sowie genügend zuverlässig undrobust ist. Das Vortriebs- und Sicherungs-konzept entsteht schlussendlich aus demVergleich (Bauzeit, Wirtschaftlichkeit, aus-führungstechnische Aspekte) von gleich-wertigen Alternativen [1].

Die Norm SIA 199 [3] hält fest, dass «dieBeurteilung [des Gebirges] in enger Zu -sammenarbeit zwischen den beteiligtenFachleuten erfolgt». Somit kann das Erken-nen und Beurteilen von Gefährdungen – dieErarbeitung von Gefährdungsbildern – als«Schnittstelle» zwischen dem Ingenieurge-ologen und dem Bauingenieur bezeichnetwerden (Fig. 3). Die klare Zuordnung von

Aufgaben und Verantwortlichkeiten spieltdabei eine grosse Rolle. Ein offener fach-licher «Dialog» zwischen Ingenieurgeologeund Bauingenieur stellt eine unabdingbareBedingung für den Projekterfolg dar.

3.2 Erfassen des Gebirges

Die PDie Norm SIA 199 [3] weist darauf hin,dass das Erfassen des Gebirges («Beschrei-bung und Darstellung der geologischen,hydrogeologischen und geotechnischen Ver-hältnisse») – die Kernaufgabe des Ingenieur-geologen – die Grundlage für den Entwurf imUntertagbau darstellt. Aus diesem Grundsoll eine phasengerechte Gebirgserkundungund -untersuchung frühzeitig in der Projek-tierung stattfinden. Die Mitwirkung des Bau-ingenieurs empfiehlt sich für die Formulie-rung der durch die Erkundung und Versuchezu beantwortenden Fragen.

Wie in der Norm SIA 197 [2] festgehalten,«legt die Norm SIA 199 [3] die wesentlichenBegriffe fest und beschreibt die Unterlagen,die für eine zweckdienliche Dokumentation

Fig. 3: Vorgehen bei der Projektierung von unterirdischen Bauwerken und Rollenzuteilung.

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Fig. 4: Genauigkeit dergeologischen Prognose.

notwendig sind.» Die Erfahrungen im Berufs -alltag bestätigen, dass eine einheitliche Dar-stellung des Erfassens des Gebirges nachder Norm SIA 199 [3] eine klare und einfacheKommunikation zwischen den Projektbetei-ligten begünstigt.

Eine klare Unterscheidung zwischen Eigen-schaften des Gesteins und der Trennflächen– wie ebenfalls von der Norm SIA 199 [3] vor-gesehen – ist von grosser Bedeutung für dieBeurteilung der Gefährdungen, da je nachGefährdungsbild das Gestein (z.B. unzulässi-ge Sohlhebung aufgrund der Quellfähigkeitdes Gesteins) oder die Trennflächen (z.B.Niederbruch aufgrund ungünstiger Raum-stellung, Abstand und Erstreckung derTrennflächen) massgebend sein können.

Die Norm SIA 199 [3] verlangt zudem eineklare Unterscheidung zwischen Fakten undInterpretation: «Es ist klar zu unterscheidenzwischen Beschreibung und Beurteilung desGebirges. (…) Die Herkunft sämtlicher Datenist nachvollziehbar zu dokumentieren. Es istdabei klar zu unterscheiden, ob es sich beiden Angaben um Feld- oder Laboruntersu-chungen, um Literaturangaben oder Anga-ben aus vorhandenen geologischen Unterla-gen, um Erfahrungswerte von vergleichba-ren Untersuchungen oder um Schatzungenoder Vermutungen handelt.» Diese Unter-scheidung ist sehr wichtig für die Projektie-rung, da nur unter Berücksichtigung der Prognoseunsicherheit robuste Lösungengewählt werden können. Diesbezüglich istauch zu vermerken, dass die Anwendungvon Klassifikationssystemen aufgrund von

Indexwerten für die Beschreibung odersogar die Beurteilung des Gebirges (z.B. GSI,Q, RMR) nicht geeignet ist, da solche Klassi-fikationssysteme eine nicht-existente Pro-gnosesicherheit vortäuschen [1]. Sie findendaher keine Berücksichtigung in den SIA-Normen.

Die Prognoseunsicherheit stellt ein wichti-ger Projektierungsparameter dar. Aus die-sem Grund ist «in den Berichten auf erkann-te Lücken in den zur Verfügung stehendenInformationen und auf eine allfällige Unvoll-ständigkeit der Daten hinzuweisen» [3]. InFig. 4 ist die ganze Bandbreite der Geologieder Schweiz mit einem schwarzen Balkenvisualisiert. Innerhalb dieser Bandbreiteprognostiziert der Ingenieurgeologe die fürein bestimmtes Projekt zu erwartende Geo-logie (grüne Fläche) und die dazugehörigeUnsicherheit der Prognose (orange Flä-chen). In diesem Zusammenhang soll derDialog zwischen Ingenieurgeologe und Bau-ingenieur vermeiden, dass infolge Kommuni-kationsproblemen Sicherheitszuschläge (ro -te Flächen) unbegründet oder kumuliert ein-gebaut werden, welche die Geologie dermas-sen verschlechtern und von der Realitätentfernen, dass sogar die technische oderdie finanzielle Machbarkeit eines Projektesin Frage gestellt werden.

4 Ausführung

Das Wissen über den Aufbau, die Beschaf-fenheit, die Eigenschaften und das Verhal-ten des Gebirges wird oft nur während der

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Vortriebsarbeiten vervollständigt. Somit istdie Weiterführung der Projektierung wäh-rend der Ausführung erforderlich, um dasBauwerk an die effektiv angetroffenen geolo-gischen und hydrogeologischen Verhält-nisse anzupassen. Dies ist insbesonderewichtig, falls in der Projektierungsphase kei-ne technische Lösung gefunden werdenkonnte, die unempfindlich auf innerhalb dererwarteten Bandbreite sich änderndenGebirgsbedingungen reagiert und somittrotz wechselhafter Geologie und Hydrogeo-logie sicher und wirtschaftlich ist.

Aus dem obigen Grund soll der offene fachli-che Dialog zwischen Ingenieurgeologe undBauingenieur auch während der Ausführungweitergeführt werden. Einerseits gilt daseffektiv angetroffene Gebirge zu erfassen(gegebenenfalls sind Vorauserkundungenwährend des Vortriebs erforderlich [7]) undzu beurteilen, ob die in der Projektierunggetroffenen Annahmen zutreffend sind. Aufdieser Basis werden aus dem projektiertenMassnahmenkatalog die einzubauendenMassnahmen gewählt. Andrerseits geht esdarum, im Rahmen des Risiko- und Ereignis-managements unter klarer Zuordnung vonAufgaben und Verantwortlichkeiten mitallen anderen Projektbeteiligten (Bauherr,Unternehmer, Behörde) zusammenzuarbei-ten, um im Ereignisfall möglichst schnell undrichtig zu reagieren.

5 Schlussbemerkungen

Das Denken in Gefährdungsbildern gehörtzur schweizerischen Untertagbau-Kulturund ist systematisch im schweizerischenNormenwerk für die Projektierung und dieAusführung von unterirdischen Bauwerkenverankert. Diese Denkweise hat sich im Lau-fe der Jahre ausserordentlich bewährt undwurde bereits von anderen Ländern über-nommen [1]. Es ist zudem nicht zu bezwei-feln, dass auch dank dieser systematischenDenkweise die Sicherheit auf den Untertag-

baustellen in der Schweiz deutlich erhöhtwerden konnte, so dass immer wenigegebirgsbedingte Unfälle zu verzeichnen sind.

Die Zusammenarbeit – der offene fachliche«Dialog» – zwischen Ingenieurgeologe undBauingenieur spielt dabei eine zentrale Rol-le, zumal die Gefährdungsbilder die «Schnitt-stelle» in der Planungsarbeit beider Berufs-gattungen darstellen.

Literatur

[1] Anagnostou, G. & Ehrbar H. 2013: Das Bauenunter Tage in der Schweiz und die Tunnelnor-men. Tunnelling Switzerland, 10–41, vdf Hoch -schulverlag AG Zürich.

[2] Schweizer Norm SN 505 197 / SIA 197, 2004:Projektierung Tunnel – Grundlagen.

[3] Schweizer Norm SN 531 199 / SIA 199, 2015:Erfassen des Gebirges im Untertagbau.

[4] Amberg, F. 2007: Risiken beim Bau von Kaver-nen – Beispiele von Beles und Ponte de Pedra.ETH-Kolloquium "Bergmännisches Auffahrenvon grossen Querschnitten", Zürich, 13.12.2007.

[5] Kovári, K., Amberg, F., & Ehrbar, H. 2001: Mai -trise du rocher poussant dans le tunnel de basedu Gotthard. Tunnels et ouvrages souterrains2001 (164), 55–60.

[6] Holter, K. G. 2008: Vorinjektionen für Wasser-abdichtung und Gebirgsverfestigung im Tun-nelbau – Neue Erfahrungen mit Mikroze-menten und kolloidalem Silika. ETH-Kolloqui-um «Bauhilfsmassnahmen im Tunnelbau»,Zürich, 11.12.2008.

[7] Schweizer Norm SN 531 198 / SIA 198, 2004:Untertagbau – Ausführung.

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