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70 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005 GENETIK z Der Kontext macht’s! Von H. Frederik Nijhout A nfang des letzten Jahrhun- derts, in den frühen Tagen der Genetik, glaubten Wis- senschaftler, jedes Gen be- stimme ein einzelnes Merkmal wie Blü- tenfarbe oder Samenform. Ihre Überzeu- gung stützte sich auf die damals wiederentdeckten Erkenntnisse von Gre- gor Mendel (1822 – 1884). Für seine Untersuchungen Mitte des 19. Jahrhun- derts wählte der Augustinermönch mit Gespür und Geschick Merkmale aus, de- ren Variation praktisch ausschließlich auf Unterschieden in jeweils einzelnen »Erb- faktoren« beruhte. Dadurch konnte er grundlegende Vererbungsmuster über- haupt erst erkennen. Die meisten Merkmale werden aller- dings in komplizierterer Weise vererbt, als es Mendel beschrieb. Differieren zwei Individuen in einem Merkmal, so liegt dies fast immer an Unterschieden in mehreren ihrer Gene. Die isolierten Ef- fekte einer einzelnen Erbanlage sind ge- wöhnlich nur in ausgetüftelten Kreu- zungsexperimenten mit sorgfältig kon- trollierten Zuchtlinien zu beobachten – oder aber dann, wenn ein Gen ganz ausfällt, ohne dass Einflüsse von anderen merkmalsrelevanten Genen dies über- tünchen. Tragen viele Erbanlagen zum End- ergebnis bei, kann es schon schwierig s den Anteil jeder einzelnen zu ermit- teln. Kommen dann auch noch indivi- duelle Variationen in etlichen der betei- ligten Gene hinzu, so kann das Verer- bungsmuster eines Merkmals sogar außerordentlich komplex werden. Tat- sächlich umschreiben Fachleute mit dem Begriff »komplexes Merkmal« eines, des- sen Vererbung nicht den Mendel’schen Regeln gehorcht. W lässt sich die Vererbung eines sol- chen Merkmals verstehen? Ein Weg führt über die biochemischen Mechanismen, mit denen die beteiligten Gene seine Ausprägung beeinflussen. Dabei geht es aber nicht um Formeln an sich. Vielmehr möchte ich hier vor allem zeigen, wie die Interaktionen zwischen vielen Genen, die ein Merkmal hervorbringen, und ihr Er- gebnis auf einfache grafische Weise ver- anschaulicht werden können. Diese Visu- alisierung ermöglicht einen intuitiven Zugang zu komplexen Erbgängen. Mehr noch: Sie erleichtert es zu verstehen, wes- halb die Diagnose eines Gendefekts nicht immer die Vorhersage des individuellen Erkrankungsrisikos erlaubt. Doch was fand Mendel? Als er rein- erbige weißblütige Erbsenpflanzen mit reinerbigen violettblütigen kreuzte, ent- standen immer Nachkommen mit vio- letter Blütenpracht. Kreuzte er Individu- en dieser mischerbigen Generation dann untereinander, so blühte interessanter- w ein Viertel der Abkömmlinge weiß, der Rest violett (siehe linke obere Grafik Wie ein einzelnes Gen sich ausprägt, hängt nicht zuletzt vom übrigen Genom ab. Dies betrifft die Vererbung von Blütenfarben ebenso wie etwa die Disposition für Krebs. IN KÜRZE r Die meisten Merkmale werden von vielen Genen und von der Umwelt beein- flusst. Ob und wie sich eine Genvariante, die zu einer Krankheit disponiert, auswirkt, hängt daher von vielen Faktoren ab. r Den Indizien zufolge addieren sich die Einflüsse nicht einfach. Die Beziehun- gen zwischen der Ausprägung eines Merkmals und verschiedenen Genvarianten sind nicht linear. r In Form einer so genannten phänotypischen Landschaft lässt sich sichtbar ma- chen, warum beispielsweise eine bestimmte Mutation das eine Individuum be- einträchtigt, das andere aber nicht.

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70 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005

GENETIK zDer Kontext macht’s!

Von H. Frederik Nijhout

Anfang des letzten Jahrhun-derts, in den frühen Tagen der Genetik, glaubten Wis-senschaftler, jedes Gen be-

stimme ein einzelnes Merkmal wie Blü-tenfarbe oder Samenform. Ihre Überzeu-gung stützte sich auf die damals wiederentdeckten Erkenntnisse von Gre-gor Mendel (1822 – 1884). Für seine Untersuchungen Mitte des 19. Jahrhun-derts wählte der Augustinermönch mit Gespür und Geschick Merkmale aus, de-ren Variation praktisch ausschließlich auf Unterschieden in jeweils einzelnen »Erb-faktoren« beruhte. Dadurch konnte er grundlegende Vererbungsmuster über-haupt erst erkennen.

Die meisten Merkmale werden aller-dings in komplizierterer Weise vererbt, als es Mendel beschrieb. Diff erieren zwei Individuen in einem Merkmal, so liegt dies fast immer an Unterschieden in mehreren ihrer Gene. Die isolierten Ef-fekte einer einzelnen Erbanlage sind ge-wöhnlich nur in ausgetüftelten Kreu-zungsexperimenten mit sorgfältig kon-trollierten Zuchtlinien zu beobachten – oder aber dann, wenn ein Gen ganz ausfällt, ohne dass Einfl üsse von anderen

merkmalsrelevanten Genen dies über-tünchen.

Tragen viele Erbanlagen zum End-ergebnis bei, kann es schon schwierig s den Anteil jeder einzelnen zu ermit-teln. Kommen dann auch noch indivi-duelle Variationen in etlichen der betei-ligten Gene hinzu, so kann das Verer-bungsmuster eines Merkmals sogar außerordentlich komplex werden. Tat-sächlich umschreiben Fachleute mit dem Begriff »komplexes Merkmal« eines, des-sen Vererbung nicht den Mendel’schen Regeln gehorcht.

W lässt sich die Vererbung eines sol-chen Merkmals verstehen? Ein Weg führt über die biochemischen Mechanismen, mit denen die beteiligten Gene seine Ausprägung beeinfl ussen. Dabei geht es aber nicht um Formeln an sich. Vielmehr möchte ich hier vor allem zeigen, wie die Interaktionen zwischen vielen Genen, die ein Merkmal hervorbringen, und ihr Er-gebnis auf einfache grafi sche Weise ver-anschaulicht werden können. Diese Visu-alisierung ermöglicht einen intuitiven Zugang zu komplexen Erbgängen. Mehr noch: Sie erleichtert es zu verstehen, wes-halb die Diagnose eines Gendefekts nicht immer die Vorhersage des individuellen Erkrankungsrisikos erlaubt.

Doch was fand Mendel? Als er rein-erbige weißblütige Erbsenpfl anzen mit reinerbigen violettblütigen kreuzte, ent-standen immer Nachkommen mit vio-letter Blütenpracht. Kreuzte er Individu-en dieser mischerbigen Generation dann untereinander, so blühte interessanter-w ein Viertel der Abkömmlinge weiß, der Rest violett (siehe linke obere Grafi k

Wie ein einzelnes Gen sich ausprägt, hängt nicht zuletzt vom übrigen Genom ab. Dies betrifft die Vererbung von Blütenfarben ebenso wie etwa die Disposition für Krebs.

IN KÜRZEr Die meisten Merkmale werden von vielen Genen und von der Umwelt beein-fl usst. Ob und wie sich eine Genvariante, die zu einer Krankheit disponiert, auswirkt, hängt daher von vielen Faktoren ab.r Den Indizien zufolge addieren sich die Einfl üsse nicht einfach. Die Beziehun-gen zwischen der Ausprägung eines Merkmals und verschiedenen Genvarianten sind nicht linear.r In Form einer so genannten phänotypischen Landschaft lässt sich sichtbar ma-chen, warum beispielsweise eine bestimmte Mutation das eine Individuum be-einträchtigt, das andere aber nicht.

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005 71

S. 72). Die moderne Erklärung lautet: Ein mischerbiges Individuum hat von beiden Elternteilen eine jeweils andere Version eines Gens erhalten und gibt dann zufallsgemäß irgendeine der beiden wieder an einen Nachkommen weiter. In diesem Fall ist die Version – das so ge-nannte Allel – für die violette Farbe do-minant über die Version für den weißen Eindruck. Kommen die beiden in einem Individuum zusammen, so ist seine Blü-tenfarbe daher immer violett. Weil jedes Allel des Genpaares mit gleicher Wahr-scheinlichkeit vererbt wird, können zwei mischerbige »violette« Pfl anzen auch »weiße« Nachkommen haben. Fachleute bezeichnen die jeweilige Genkonstellati-on eines Individuums als Genotyp, das resultierende Erscheinungsbild als Phä-notyp.

Sämtliche Merkmale, die Mendel untersuchte, sind Beispiel für so genann-te diskontinuierliche, alternative Phäno-typen – weiße oder violette Blüten, glat-t oder runzlige Erbsensamen, lange oder

kurze Triebe. In allen diesen Fällen exis-tierten zwei verschiedene Spielarten für ein Gen, wobei die eine die andere voll-ständig dominierte. Dies gilt jedoch nicht immer – selbst bei Merkmalen, die scheinbar nur von einem einzigen Gen bestimmt werden.

Fließende Variation Davon zeugt zum Beispiel die Blüten-farbe bei Löwenmäulchen (siehe Grafi k S. 72, rechts). Den Erbgang beschrieb erstmals der Mediziner und Botaniker Erwin Baur, rund 25 Jahre bevor er 1927 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züch-tungsforschung in Müncheberg gründe-te. Die Blütenfarbe hängt wieder von ei-nem einzigen Gen ab. Zwei häufi ge Alle-le sind hier »rot« und »elfenbeinfarben«. Doch beim Löwenmäulchen ist keines der beiden dominant: Kreuzt man ein el-fenbeinfarbiges und ein tiefrot blühen-des, so tragen die Nachkommen blassro-te Blüten. Diese Kombination ergibt also eine intermediäre Farbe; man spricht

auch von unvollständiger Dominanz. Die Blütenfarbe des Löwenmäulchens ist ein »kontinuierlicher« Phänotyp, denn potenziell kann zwischen den reinrassi-gen Extremen elfenbeinfarben und rot ein ganzes Spektrum von Rotschattie-rungen auftreten.

Tatsächlich wird ein Merkmal in ei-ner Population oft in fl ießend variieren-der Form ausgeprägt (siehe Foto unten). Von Umwelteinfl üssen einmal abgese- r

CHIP CLARK

uManche Merkmale variieren sehr stark, was diese Gehäuse aus einer

Population der Baumschnecke Polymita picta eindrucksvoll illustrieren. Sie kommt nur am östlichen Ende der Insel Kuba vor. Die Variation ihres Gehäusemusters ent-steht durch Wechselwirkungen vieler ver-schiedener Gene. Wie sich Veränderun-gen eines einzelnen Gens auswirken, hängt aber vom Gesamtgenotyp des ein-zelnen Tiers ab.

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72 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005

hen, beruht dies manchmal auf der Vari-ation eines einzelnen Gens, weitaus häu-fi ger jedoch auf dem Einfl uss vieler Gene. Selbst die Blütenfarben sind letzt-lich das Ergebnis mehrerer interagieren-der genetischer Faktoren, denn an der Farbstoff synthese wirkt eine Vielzahl von Erbanlagen mit.

Einige der Gene tragen die verschlüs-selte Bauanweisung für Enzyme, die farb-lose Vorläufersubstanzen wie Aminosäu-ren und Zuckerarten in verschiedenfarbi-ge Pigmente verwandeln helfen. Der Stoff wechselweg vom Ausgangs- zum Endprodukt kann mehr als ein Dutzend Schritte umfassen, jeweils katalysiert von einem anderen Enzym. Das ist aber noch nicht alles. Andere Gene kodieren für Ei-weißstoff e, welche die Produktion und Aktivität dieser Enzyme regulieren. Sie bestimmen somit Zeit und Ort der Pig-mentproduktion. Weitere Proteine steu-ern die Stabilität und Lokalisation der Farbstoff e in der Zelle. Alle Gene für sol-che Regulatormoleküle werden ihrerseits von anderen Proteinen, den Transkripti-onsfaktoren, reguliert, die wiederum auf eigenen Genen verschlüsselt sind. Solche s endlosen Regulationskaskaden und Interaktionsnetzwerke mögen auf den ersten Blick seltsam anmuten, sind je-doch die Regel – selbst bei den einfachs-ten Merkmalen.

Wie kann es dann aber so aussehen, als kontrolliere ein einziges Gen die Aus-prägung eines Merkmals? Relativ leicht passiert dies, wenn das von ihm kodierte Enzym den Schritt eines Stoff wechselwe-ges katalysiert, der die Geschwindigkeit nach oben begrenzt. Eine einfache me-chanische Analogie hierfür wäre eine Se-rie von Trichtern mit verschieden wei-

tem Hals, durch die nacheinander Was-ser fl ießt. Es ist wie beim Verkehrsstrom: Der schmalste Engpass bestimmt dann die Durchfl ussrate des Ganzen (siehe Grafi k unten).

Man stelle sich nun vor, jeder Trich-ter symbolisiere die Aktivität eines be-stimmten Enzyms in einem Stoff wech-selweg wie der Pigmentsynthese. Das Wasser stehe für die Ausgangs-, Zwi-schen- beziehungsweise Endprodukte. Hohe Aktivität – sei es durch große Mengen an Enzym, hohe katalytische Effi zienz der einzelnen Moleküle oder zielgenauen Einsatz in der Zelle – ent-spricht dann weiten Trichtern, geringe Aktivität hingegen engen. Der engste da-von soll das Enzym sein, das von Baurs »rot/elfenbeinfarbig-Gen« kodiert wird.

Somit hängt von seiner Leistung ab, wie schnell neuer Farbstoff am Ende ent-steht.

Die Aktivität der anderen Enzyme darf in diesem einfachen Kaskadenmo-dell ruhig schwanken – solange sie nicht unter das kritische Niveau sinkt, sieht es für den Beobachter so aus, als kontrollie-re nur dieses eine Gen die Variationen der Blütenfarbe.

Passiert das aber doch, wird der zu-vor determinierende »rot/elfenbeinfar-big-Schritt« nicht mehr allein die Blü-tenfarbe bestimmen. Wenn etwa im Ex-tremfall ein anderes Gen wegen eines Defekts ein inaktives Enzym liefert und so den Stoff wechselweg völlig blockiert, spielt es für die Blütenfarbe keine Rolle mehr, welche Allele des rot/elfenbeinfar-big-Gens das Individuum trägt. Fachleu-te nennen dieses Phänomen, bei dem ein Gen beziehungsweise Genpaar den beo-bachteten Eff ekt eines ganz anderen stört oder verdeckt, Epistase. Sogar in diesem vermeintlich simplen Beispiel können also die Auswirkungen einer Erbanlage auf ein Merkmal durchaus von anderen Genen desselben Stoff wechselweges ver-fälscht werden.

Mit einem ähnlichen mechanischen Modell lässt sich auch die Ausprägung der beiden alternativen Blütenfarben bei

ww VV

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VVVw Vwww

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RRRe ReeeAM

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lAn der Herstellung eines Blüten-farbstoffs sind in Wirklichkeit meh-

rere Gene mit ihren Enzymen beteiligt. Nur eines bestimmt aber die Geschwin-digkeit der Synthese, symbolisiert hier anhand von Wasser, das eine Serie von Trichtern durchläuft. Da das Wasser nicht schneller unten ankommen kann, als es durch den engsten Trichter strömt, be-stimmt dieser die Flussrate des Gesamt-systems.A

ME

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lDie violette Blütenfarbe der Erbse wird dominant vererbt (links). Die

»violette« Version des Farbgens (V) be-stimmt den Effekt, selbst bei mischerbi-gen Individuen. Weiß blühen nur Pfl an-zen, die von beiden Elternteilen ein »weißes« Allel (w) erhalten haben. Inter-mediäre, blassrote Blüten treten dagegen beim Löwenmäulchen auf, wenn rein-erbig rote mit rein erbig elfenbeinfarbigen Pfl anzen gekreuzt werden (rechts).

intermediärer Erbgang beim Löwenmäulchen

Enzym 2

Enzym 3

Enzym 1

ges

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dominanter Erbgang bei der Erbse

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005 73

Mendels Erbsen veranschaulichen. Es bedarf lediglich eines Sensors, der die Überschreitung eines Schwellenwertes registriert; das kann eine Art Balkenwaa-ge sein (siehe rechte Grafi k im Kasten oben). Solange der Fluss durch das Sys-tem nicht ausreicht, den Waagebalken zu kippen und damit den Knopf zu drü-cken, bildet sich der eine Phänotyp (hier weiß) heraus; ansonsten tritt der andere (violett) auf, wie hoch auch immer die Schwelle überschritten wird.

Die Beziehungen zwischen Gen und Merkmal werden häufi g anhand von Mutationen untersucht, natürlich vor-kommenden oder künstlich erzeugten. Die meisten Mutationen vermindern die Aktivität des erzeugten Proteins, und die

Folgen können Hinweise auf die norma-le Funktion bei der Ausprägung des Merkmals geben.

Augenfl eck statt BeinIm Lauf der Jahre mussten die Biologen allerdings erkennen, dass die Auswirkun-gen einer Mutation stark vom Kontext abhängen, in dem das betroff ene Gen exprimiert wird, also sein Produkt er-zeugt. Ein Beispiel fi ndet sich bei der Embryonalentwicklung von Raupen und später bei ihrer Metamorphose zum Fal-ter. So beobachtete ein Team um Sean Carroll von der Universität von Wiscon-sin in Madison, dass die lokal begrenzte Expression eines Gens namens distalless die Entstehung eines Raupenbeins be-

wirkt. Später, während der Flügelent-wicklung des Schmetterlings, induziert dasselbe Gen aber einen farbigen Augen-fl eck. Fällt es aus, äußert sich dies somit je nach Zeitpunkt in anderer Weise.

Kontexteff ekte können sehr deutlich auch bei so genannten Knockout-Mäu-sen beobachtet werden. Wie die Bezeich-nung andeutet, wird hier ein interessie-rendes Gen gezielt ausgeschaltet. Zum Beispiel verursacht der Knockout des Re-tinoblastom-Gens bei einer bestimmten Mäuselinie schwere Missbildungen und führt zum Absterben von Embryonen. Bei einem anderen Mäusestamm hinge-gen bleibt die gleiche Mutation wir-kungslos: Die Embryonen wachsen zu fortpfl anzungsfähigen Tieren heran, wie

Hydraulische Modelle für BlütenfarbenSelbst wenn ein Enzym den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der Pigmentsynthese katalysiert und je nach Genkom-bination sukzessive stärker oder schwächer agiert, kann sich

ein Merkmal nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip ausprägen. Erforderlich ist nur ein Mechanismus, der ab einem bestimm-ten Schwellenwert einen Schalter betätigt.

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K Der Eindruck, beim Löwenmäulchen bestimme das Gen mit seinen zwei Varianten »rot« oder »elfenbeinfarbig« die Blütenfarbe, täuscht. Er entsteht nur, weil das Gen für ein geschwindig-keitsbestimmendes Enzym im Syntheseweg des roten Pig-ments kodiert (beige unterlegt). Gleichgültig wie die genetisch bedingte Gesamtaktivität der anderen Enzyme variiert – solan-ge sie nicht die des kritischen Enzyms unterschreitet, entschei-det nur Letzteres über die Farbintensität. Die Weite des Trich-ters entspricht hier der Gesamtaktivität beider ererbter Versionen des Blütenfarbgens.

Ein abgewandeltes Modell erklärt die Dominanz der »violetten« über die »weiße« Genversion bei Erbsen. Ein Sensor mit vor-gegebenem Schwellenwert – symbolisiert durch einen Waage-balken – setzt den unterschiedlichen Durchfl uss in eine Alles-oder-nichts-Reaktion um. Wird der Schwellenwert erreicht, kippt der Balken, betätigt den »Violett-Schalter« und gibt die Pigmentsynthese frei. Solange mischerbige Pfl anzen über ge-nügend Gesamtaktivität des kritischen Enzyms 3 (mittelweiter Trichter) verfügen, um die Waage kippen zu lassen, sind sie farb intensiv wie reinerbige Pfl anzen mit hoher Enzymaktivität.

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violett violettweißblassrot blassrotelfenbeinfarbig rot

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Enzym 2

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Violett-Schalter AUS AN

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Enzym 1

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74 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005

Michael Rudnicki und seine Kollegen an der McMaster-Universität im kanadi-schen Hamilton feststellten.

Auch in der Genetik von Krebser-krankungen spielen Kontexteff ekte eine wesentliche Rolle. Mutieren Gene, die das normale Wachstum und die geordne-te Teilung von Zellen steuern, so kann dies die Regulation aus dem Gleich-gewicht bringen und Zellen zu unkont-rolliertem Wachstum anregen. Ob ein entgleistes Gen tatsächlich Krebs verur-sacht, hängt jedoch oft vom genetischen Hintergrund seines Trägers ab sowie von äußeren Einfl üssen, etwa Schadstof-fen durch Rauchen. Bekommen Mäuse ein Krebsgen in ihr Erbgut eingeschleust, so induziert es normalerweise nur in we-nigen Geweben Tumoren, selbst wenn es i vielen anderen exprimiert wird. Offen-bar herrschen nur in bestimmten Zellty-pen Bedingungen, unter denen sich die Mutation schädlich auswirken kann.

Gewöhnlich werden solche unter-schiedlichen Auswirkungen »Kofakto-ren« zugeschrieben, die individuell und gewebeabhängig variieren, deren Identi-tät aber nur in wenigen Fällen genauer bekannt ist. Die einfachste Hypothese zur Erklärung lautet: Jeder Faktor für sich wirkt nur minimal, erst die Summe vieler kleiner Eff ekte hat einen deutlich erkennbaren Einfl uss.

Entspräche diese Hypothese der ad-ditiven Wirkungen den Tatsachen, so könnte man einen Katalog aller beteilig-ten Gene aufstellen und jedem ihrer

Allele einen Zahlenwert zuordnen, der seinem eigenständigen Eff ekt auf das Merkmal entspricht. Die Auswirkungen verschiedener Allelkombinationen wären d durch einfache Addition zu berech-nen. Zur Summe der genetischen Eff ek-te könnte man dann weitere Zahlen-werte für verschiedene Umweltfaktoren addieren und erhielte präzise den resul-tierenden Phänotyp. Im Falle einer dro-henden Tumorerkrankung etwa ließe sich nach der additiven Hypothese be-rechnen, ob eine bestimmte Person er-kranken wird oder nicht – vorausgesetzt alle Kofaktoren wären bekannt.

Keine simple Addition Das sind sie aber nicht. Daher lässt sich nur die Wahrscheinlichkeit einer Erkran-kung abschätzen. Sie ergibt sich aus der statistischen Betrachtung großer Bevöl-kerungsgruppen, in denen ein Teil der Individuen erkrankt ist. Je nachdem wie stark die Erkrankungsraten mit einem bestimmten Faktor – etwa den Rauchge-wohnheiten – korrelieren, wird das von ihm ausgehende Risiko eingestuft. Die errechneten Wahrscheinlichkeiten sind jedoch keine wirklichen Vorhersagen, sondern bloß statistische Beschreibungen der speziell untersuchten Gruppe. Die einzige sichere Vorhersage ist also, dass in anderen, aber genau gleich zusam-mengesetzten Gruppen annähernd die gleichen Korrelationen und Wahrschein-lichkeiten herauskämen. Selbst wenn man den Einfl uss aller beteiligten Fakto-

ren messen könnte, wäre wohl mit dem additiven Modell nicht viel gewonnen. Denn nach allem, was wir inzwischen über die Zusammenhänge von Genotyp und Phänotyp wissen, muss es falsch sein. Wie erwähnt, üben Gene ihren Einfl uss über komplexe Systeme intera-gierender Proteine aus, sodass jeder Mit-spieler nur sehr indirekt zum Endergeb-nis beiträgt.

Ein Beispiel ist das regulatorische Netzwerk, das die frühe Embryonalent-w der Taufliege (siehe Grafi k oben). Die beteiligten Gene regulieren die Expression anderer Gene, die häufi g selbst wieder regulatori-sche Funktionen haben. In solch kom-plexen Netzwerken mit divergierenden und konvergierenden Regelketten, mit positiver und negativer Rückkopplung ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine variierende Komponente rein additive Folgen hat, wenn sie mit anderen variie-renden interagiert.

Das vielleicht wichtigste Argument gegen rein additive genetische Eff ekte lautet jedoch, dass keine lineare Bezie-hung zwischen genetischer und Merk-malsvariation besteht, weil eben die Wir-kung kontextabhängig ist. Entsprechend schwer lässt sich vorhersagen, was pas-s wenn mehrere Gene gleichzeitig va-riieren. Nichtlinearität eines Systems be-deutet schlicht, dass sich bei der grafi -schen Darstellung der Abhängigkeit k Gerade ergibt. Illustrieren lässt sich dies leicht anhand der dominanten und

r

Hemmung bei hoher Konzentration

Aktivierung bei niedriger Konzentration

Hemmung

Aktivierung

caudal bicoid nanos

giant tailless hunchback Krüppel knirps

hairyrunteven-skipped

engrailed winglessSegmentpolaritätsgene

Paarregelgene

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mütterliche Gene

fushi tarazu

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lEin Musterbeispiel für ein komple-xes genetisches Netzwerk bietet

die frühe Embryonalentwicklung der Tau-fl iege Drosophila. Mehrere Organisati-onsebenen mit positiver, negativer und variabler Rückkopplung kennzeichnen das System. In einem derart komplexen Netzwerk ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die Variation einer Komponente additiv auswirkt. Die Gene sind mit ihrem Eigennamen angegeben.

Genname:

OK

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005 75

r

rezessiven Allele bei Mendels Erbsen-pfl anzen. In dem dafür vorgestellten me-chanischen Modell verhindert der »Alles-oder-nichts-Schalter«, dass sich die Blü-tenfärbung (der Output) kontinuierlich mit der Zahl der »violetten« Allele (dem Input) intensiviert. Zwei violette bewir-ken dadurch nicht mehr als nur eines. Wen wundert es, dass Dominanz ge-wöhnlich aus nichtlinearen Prozessen (wie solchen mit Schwellen) resultiert, bei biochemischen wie embryonalen Abläufen.

Ein inzwischen bekanntes Beispiel aus der Biochemie publizierten 1981 Henrik Kacser und James Burns von der schottischen Universität Edinburgh. Sie berechneten für eine Serie enzymatisch katalysierter Schritte die Beziehung zwi-s der Aktivität eines der Enzyme und der Gesamtreaktionsgeschwindigkeit, der Durchfl ussrate. Bei einem System mit nur einem Enzym verändert sich die Rate einfach linear mit dessen Aktivität. So-bald jedoch mehr als ein Enzym mit-wirkt, wird die Rate eine nichtlineare Funktion der Aktivität eines jeden Betei-ligten. Und diese Nichtlinearität verstärkt sich, je länger die Reaktionskette wird (siehe Grafi k unten).

Betrachten wir das Ganze für eines der Enzyme darin genauer. Von seinem

Gen sollen zwei Spielarten, sprich Alle-le, existieren, die für zwei unterschied-lich aktive Varianten des Enzyms kodie-ren. Reinerbige Individuen tragen zwei gleiche Exemplare eines Allels und ver-t damit entweder die obere oder die untere Bandbreite möglicher Enzymak-tivität. Bei mischerbigen Individuen – solchen mit einem ungleichen Paar – liegt dagegen die Gesamtaktivität des Enzyms genau auf halbem Wege zwi-schen der Ober- und Untergrenze. Da jedoch der Durchfl uss durch das viel-schrittige System nicht mehr linear von der Enzym aktivität abhängt, erreicht er beim misch erbigen Individuum ähnli-che Bereiche wie bei der einen reinerbi-gen Konstellation. Dadurch sieht es so aus, als sei dieses eine Allel dominant über das andere.

Wohlgemerkt: Der Dominanzeff ekt ist hier keine Eigenschaft des Allels selbst, denn solange man auf der Ebene des einzelnen Enzyms bleibt, wirken sich die Allele rein additiv aus. Er entsteht nur im Kontext der ganzen Reaktions-kette, in die das Enzym eingebunden ist. Dominanz ist somit eine Eigenschaft des Gesamtsystems.

Bei ihren Berechnungen nahmen Kacser und Burns zur Vereinfachung an, die Aktivität aller anderen beteiligten Enzyme wäre konstant. In echten biolo-gischen Systemen ist dies jedoch äußerst unwahrscheinlich. Über Tausende von Generationen haben sich für die meis-ten, wenn nicht alle Enzyme eines Stoff -wechselweges verschiedene Varianten e Um wieder klein anzufangen: Was geschieht, wenn das auf zwei der Enzyme einer Reaktionskette zutriff t?

Mit nun zwei unabhängigen veränderli-chen Faktoren lässt sich das Verhalten des Systems nicht mehr anhand einer Kurve in einer Ebene grafi sch darstellen. Das gelingt nur mit einer dreidimensio-nal geformten Fläche, der phänotypi-schen Landschaft (siehe Kasten S. 76). Jeder Punkt auf dieser Landschaft reprä-sentiert den kombinierten Eff ekt zweier unabhängiger Variablen, hier zunächst der Variation zweier verschiedener Gene. Die abhängige Variable – der Phänotyp oder das ausgeprägte Merkmal – ist da-bei der Flussrate durch das Gesamtsys-tem äquivalent.

Angenommen, eine Population besä-ße zu Anfang keinerlei genetische Varia-bilität: Jedes Gen existierte nur jeweils in einer einzigen Form, und alle Individuen wären somit reinerbig für jedes Gen. Dann kann jedes Gen nur einen einzigen genetischen Wert an seiner horizontalen Achse im Diagramm annehmen, und alle Individuen besetzten einen einzigen ge-meinsamen Ort auf der phänotypischen Landschaft. Tritt nun eine Mutation in einem der beiden gewählten Gene auf, wie wird sich das auf den Phänotyp aus-wirken? Das Ergebnis hängt einerseits da-von ab, wie stark die Mutation das Gen-produkt verändert und wo im Gelände die Population versammelt ist.

Gefahr am Steilhang Beseitigt die Mutation zum Beispiel eine Art Bremse im Gen, steigt die Aktivität des entsprechenden Enzyms beträchtlich gegenüber ihrem Ausgangswert. Diese Mutation verschiebt daher den geneti-schen Wert um einen entsprechenden Betrag an der Achse, die das betroff ene

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tive

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0,00,8 1,00,60,40,2

neun-schrittig

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drei-schrittig

nur Enzym 1

EM

MA

SK

UR

NIC

K

oDie Durchfl ussrate einer enzymati-schen Kettenreaktion wächst nicht-

linear mit der genetisch bedingten Durch-schnittsaktivität eines Enzyms, selbst wenn die der anderen beteiligten Enzyme konstant bleibt. Die Nichtlinearität ist umso ausgeprägter, je mehr Schritte hin-zukommen. Erbt ein Individuum ein eher mäßig aktives Enzym, ist der Gesamt-durchfl uss einer neunstufi gen Stoffwech-selreaktion fast so hoch, als wäre die effi -zienteste Form vorhanden.

relative Aktivität von Enzym 1

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76 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005

r Gen repräsentiert – und damit verschiebt sie auch das betroff ene Individuum auf einer Profi llinie parallel dazu (a und b im Kasten rechts). Weist die Landschaft in diesem Bereich einen Steilhang auf, so verändert sich der Phänotyp viel deutli-cher als bei sanfter Steigung. Die Wir-kung einer Mutation auf ein Merkmal hängt also – wie übrigens auch dessen Dominanz – davon ab, wo auf der phä-notypischen Landschaft sich sein Aus-gangspunkt befand. Anders gesagt: Die Größe des Eff ekts ist keine Eigenschaft der Mutation an sich, sondern wieder eine Funktion des Ganzen.

Anhand der phänotypischen Land-schaft wird zugleich verständlich, wes-halb Mutationen sich bei anderem gene-tischen Hintergrund so grundverschie-den auswirken können. Dieser bestimmt nämlich, wo im Gelände ein Individu-um oder eine Population lokalisiert ist.

Mehrdimensionale Landschaften Man betrachte dazu zwei Individuen X und Y, die denselben Phänotyp aufwei-sen, daher auf derselben Höhenlinie sit-zen, obwohl sich ihre Allele für Gen A und Gen B unterscheiden. Durch den Positionsunterschied haben Mutationen in Gen A für beide Träger ganz unter-schiedliche Konsequenzen: Der Phäno-typ von Y ändert sich deutlich, der von X hingegen kaum. Genau umgekehrt verhält es sich für Mutationen des Gens B (siehe Grafi k a und b im Kasten).

In einer Population, in der alle Indi-viduen den Genotyp von X aufweisen, könnten sich daher mit der Zeit viele Mutationen in A anhäufen, die wegen ihrer bestenfalls geringen Auswirkungen auf das Merkmal keinen Selektionsnach-teil brächten. Evolutionsbiologen pfl e-gen solche Mutationen als neutral zu be-zeichnen. Mutationen in B hätten dage-gen deutliche, womöglich nachteilige Auswirkungen und würden selektionsbe-dingt dann aus der Population ver-schwinden. Evolutionär heißt das hier: Das eine Gen kann ziemlich schadlos zahlreiche Varianten entwickeln, das an-dere hingegen kaum – und dies obwohl beide Gene für Enzyme desselben Stoff -wechselweges kodieren und gleichartige Auswirkungen auf das Merkmal hätten, könnte man sie isoliert untersuchen.

Dasselbe lässt sich für eine Populati-on von Individuen mit dem Genotyp Y durchspielen. Hier wären Mutationen in Gen B neutral, in Gen A problematisch.

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Gen

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Die phänotypische Landschaft

Zwei Personen X und Y können sich äußerlich in einem Merkmal (einem Phänotyp) gleichen, während sie sich in der Aktivität ihrer relevanten Enzyme von Gen A und Gen B stark unterscheiden (a). Sie sitzen dann zwar auf derselben Höhenlinie der so genannten phänotypischen Landschaft, aber an verschiedenen Orten. Eine Muta-tion in Gen A, welche die Aktivität des entsprechenden Enzyms erhöht, wird sich da-her »geländebedingt« sehr unterschiedlich auswirken: Der Phänotyp von Y ändert sich dramatisch, der von X hingegen bleibt praktisch unverändert, weil sich sein Ge-notyp nur längs einer Höhenlinie verschiebt (b).

A B

IS C

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ER

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N S

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Anhand einer dreidimensional gebogenen Fläche lässt sich veranschaulichen, wie stark zwei Gene oder ein Gen und ein Umweltfaktor ein Merkmal beeinfl ussen.

Die Schwere einer Mutation – von neu-tral bis gravierend – ist also wiederum keine Eigenschaft des mutierten Allels selbst, sondern davon abhängig, welche A anderer Gene bei dem Individuum oder der Population vorliegen.

Prinzipiell kann man in die Darstel-lung der phänotypischen Landschaft nicht bloß zwei, sondern alle geneti-schen Variablen einbeziehen, die ein Merkmal beeinfl ussen. Voraussetzung: die Mechanismen, die das Merkmal her-vorbringen, müssen bekannt und in Gleichungen umzuformen sein, die letztlich die Gestalt der phänotypischen Landschaft bestimmen. In der Praxis ist diese Aufgabe überaus schwer lösbar, derzeit im Großen und Ganzen sogar nur bei biochemischen Systemen, da es e präzisen mathematischen Beschrei-bung der Reaktionsgeschwindigkeiten und der Faktoren, von denen sie abhän-gen, bedarf. In den letzten zehn Jahren ist aber das Verständnis entwicklungs-biologischer Prozesse so gewachsen, dass inzwischen genaue mathematische Mo-delle, beispielsweise der frühen Embryo-

nalentwickung der Taufl iege Drosophila melanogaster, formuliert werden.

Angesichts der rasant fortschreiten-d Erkenntnisse dürften bald auch zahl-reiche andere biologische Systeme und Merkmale so weit verstanden sein, dass sie sich mathematisch erfassen lassen. Da sie in der Realität dem Einfl uss vieler, unabhängig variierender Gene unterlie-gen, können sie nur in Form multidi-mensionaler phänotypischer Landschaf-ten dargestellt werden, mit einer Achse für jede der vielen unabhängigen Variab-len. Im Computer ist die Handhabung mul tidimensionaler Oberfl ächen und ih-rer Biegungen nicht besonders schwierig – es ist jedoch unmöglich, ihre Gestalt zeichnerisch darzustellen. Zur Veran-schaulichung betrachten wir daher ge-wöhnlich nur zwei unabhängige Variab-len gleichzeitig, immer im Hinterkopf, dass diese in einem größeren, multidi-mensionalen Rahmen stehen.

Wenn jedes Individuum als Punkt auf der Phänotypfl äche dargestellt wird, repräsentiert eine Population mit vielen Mitgliedern eine Punktwolke. Ihre Aus-

Individuen

Page 8: GENETIK z Der Kontext macht’s!amscimag.sigmaxi.org/4Lane/ForeignPDF/2003-09NijhoutGerman.pdfPopulation der Baumschnecke Polymita picta eindrucksvoll illustrieren. Sie kommt nur am

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q APRIL 2005 77

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Temperatur

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H. Frederik Nijhout, Professor für Biologie an der Duke-Univer-sität in Durham (North Carolina), promovierte 1974 an der Har-vard-Universität in Cambridge (Massachusetts). Er untersucht

unter anderem, wie Hormone das Wachstum und die Metamorphose von Insekten kontrollieren, so-wie die Mechanismen, die eine Umschaltung zwi-schen alternativen Entwicklungsprogrammen er-möglichen.

© American Scientist (www.americanscientist.org)

On the association between genes and complex traits. Von H. F. Nijhout in: Journal of investiga tive Dermatology, Bd. 8, S. 162, 2003

The nature of robustness in development. Von H. F. Nijhout in: BioEssays, Bd. 24, S. 553, 2002

Weblinks zu diesem Thema fi nden Sie bei www.spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.

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dehnung in den unterschiedlichen Di-mensionen entspricht der Bandbreite an Allelen, die speziell diese Gruppe für je-des am Merkmal beteiligte Gen aufweist. Anhand der phänotypischen Landschaft könnte man dann beispielsweise verfol-gen, wie sich die gesamte Populations-wolke mit der Zeit verschiebt, wenn neue Mutationen auftreten und die na-türliche Auslese greift.

Einbezogene Umwelt Bei einmal erreichtem phänotypischem Optimum breitet sich die Punktwolke entlang der Höhenlinien kaum mehr aus, da die Nachkommen zweier Individuen von weit entfernten Punkten der Höhen-linie wegen der Nichtlinearität des Sys-tems nicht mehr auf gleicher Höhe lan-den – sie verlassen den Optimalbereich (siehe oben, Grafi k c). Damit sind Selek-tionsnachteile zu erwarten. Wir können deshalb vorhersagen, dass Populationen mit der Zeit relativ kompakte Punktwol-ken auf der phänotypischen Landschaft bilden – zumindest solange nicht weitere hinzukommende Variablen die Gestalt

der Landschaft verändern oder neuen evolutionären Druck erzeugen.

Eine quantitative mathematische Be-schreibung eines Phänotyps hat zudem den Vorteil, dass sich sämtliche Faktoren einbeziehen lassen, die seine Entwicklung und Eigenschaften beeinfl ussen. Man braucht sich nicht auf Gene oder die ent-sprechenden Enzyme zu beschränken, sondern kann auch nichtgenetische Para-meter berücksichtigen. Beispiele sind Temperatur, Nährstoff zufuhr oder Hor-mone, die der Körper auf externe Stimuli hin ausschüttet. Diese umweltabhängi-gen Faktoren können die Geschwindig-keit bestimmter enzymatischer Reaktio-nen verändern oder neue Interaktionen induzieren. Solche Eff ekte sind mathe-matisch ebenso erfassbar und darstellbar wie die eines Gens.

Zum Beispiel beschleunigt ein Tem-peraturanstieg um 10 Grad Celsius man-che biochemische Reaktion um das Dop-pelte, während er andere be hindert. Dies kann völlig unerwartete Konsequenzen für die Funktion eines komplexen bioche-mischen Synthesewegs haben. Mit ei ner

Die phänotypische Landschaft erklärt auch, weshalb sich die genetisch variieren-den Individuen einer Population gewöhnlich auf einen engen Optimalbereich zusam-mendrängen (c). Wenn sich zwei Individuen X und Y von entgegengesetzten Extre-men des Bereichs miteinander paaren, werden ihre Nachkommen auf eine andere phänotypische Höhenlinie gelangen, die unter Umständen eine schlechtere Anpas-sung an die gewöhnlich herrschenden Umgebungsbedingungen bedeutet. Sie wer-den dann eher wieder eliminiert.

Anhand einer phänotypischen Landschaft lassen sich auch die Konsequenzen veran-schaulichen, wenn ein variierendes Gen mit einem variierenden Umweltfaktor wie der Temperatur interagiert (d). Beispielsweise könnte eine höhere Temperatur die Blüten-farbe intensivieren, was sich aber nur dann deutlich bemerkbar machen würde, wenn das Produkt von Pfl anzengen A träge arbeitet oder in zu geringer Menge entsteht.

mathematischen Modellierung solcher Prozesse lassen sich die Auswir kun gen der Temperatur auf die Reaktionsgeschwin-digkeiten berechnen (siehe Grafi k d im Kasten). Die Gestalt der phänotypischen Landschaft wird in diesem Fall sowohl von genetischen als auch von umweltbe-dingten Variablen bestimmt. So ist leicht abzulesen, wie Umwelteff ekte die Emp-fi ndlichkeit des Systems gegenüber Muta-tionen verschiedener Gene beeinfl ussen.

In einer solchen phänotypischen Landschaft repräsentiert ein Profi l paral-lel zur Umweltachse die – beispielsweise temperaturabhängige – »Reaktionsnorm« eines individuellen Genotyps. Ein Profi l parallel zu einer genetischen Achse spie-gelt hingegen den Eff ekt von Mutationen auf ein Merkmal unter der gegebenen Umweltbedingung wider. Solange diese Landschaft nicht eben und linear ist, was sie vermutlich niemals sein kann, werden die Umwelteff ekte somit ebenso kon-textabhängig sein wie die genetischen.

Obwohl die auf Papier darstellbare Zahl der Dimensionen beschränkt ist, ermöglichen Grafi ken wie diese doch ein intuitives Verständnis der Interaktionen zwischen Genen und anderen Faktoren. Die in Wirklichkeit multidimensionalen Systeme sind zumindest rein mathema-tisch darstellbar. Irgendwann, mit der Entwicklung geeigneter computerge-stützter Visualisierungsmethoden, wird es uns vielleicht sogar möglich sein, in multidimensionalen Räumen frei um-herzuwandern und dadurch sicherlich noch tiefere Einblicke in diese komple-xen Phänomene zu gewinnen. l