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Gentrification in den Altstädten des Königreichs Marokko anton escher und sandra petermann Foto 1 Gentrification als Thema in der marokkanischen Presse: „Ryad – le nouveau must“ marokko algerien spanien Gibraltar (UK) mali kanarische inseln (SP) madeira mauretanien „Leben wie ein Pascha in der Medina“ … mit diesem Slogan und ähnlichen Werbetex- ten preisen in jüngerer Vergangenheit auslän- dische und marokkanische Immobilienfirmen im Internet den Hauskauf in den Altstädten von Marrakesch, Fès, Essaouira, Asilah, Tanger und Meknes an. Dies erstaunt, da laut wissenschaft- licher Literatur die Bausubstanz der Wohnhäu- ser in den Altstädten des Maghreb verfällt und dieser Prozess nicht aufgehalten werden kann. Vielfältige Planungsvorschläge zur Rettung der islamisch-orientalischen Altstädte konnten bis- lang nur rudimentär umgesetzt werden. Auch die Aufnahme zahlreicher Altstädte in das Pro- gramm des Weltkulturerbes der UNESCO konnte daran nichts ändern. In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts lässt sich nun ein tiefgreifender Erneuerungs- prozess der Bausubstanz in mehreren Altstäd- ten des Königreichs Marokko [Abb. 1] feststel- len, der weltweit als Gentrification bekannt ist, bislang aber kaum in Drittweltländern zu beob- achten war. Unter Gentrification versteht man den baulichen und sozialen Aufwertungspro- zess abgesunkener, innenstadtnaher Wohnge- biete durch die Verdrängung einer statusniedri- gen durch eine statushohe Bevölkerungsschicht. Herausragendes Beispiel für diesen Prozess ist die Medina der Stadt Marrakesch [Foto 1].

Gentrification in den Altstädten des Königreichs Marokko · Ab Mitte der 1950er Jahre zog die Altstadt nach und nach Ausländer in ihren Bann. Zunächst kamen vereinzelt Aussteiger

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Gentrification in den Altstädten des Königreichs Marokko

anton escher und sandra petermann

Foto 1 Gentrification als Thema in der marokkanischen

Presse: „Ryad – le nouveau must“

marokko

algerien

spanien

Gibraltar (UK)

mali

kanarische

inseln (SP)

madeira

mauretanien

„Leben wie ein Pascha in der Medina“… mit diesem Slogan und ähnlichen Werbetex-ten preisen in jüngerer Vergangenheit auslän-dische und marokkanische Immobilienfirmenim Internet den Hauskauf in den Altstädten vonMarrakesch, Fès, Essaouira, Asilah, Tanger undMeknes an. Dies erstaunt, da laut wissenschaft-licher Literatur die Bausubstanz der Wohnhäu-ser in den Altstädten des Maghreb verfällt unddieser Prozess nicht aufgehalten werden kann.Vielfältige Planungsvorschläge zur Rettung derislamisch-orientalischen Altstädte konnten bis-lang nur rudimentär umgesetzt werden. Auchdie Aufnahme zahlreicher Altstädte in das Pro-gramm des Weltkulturerbes der UNESCO konntedaran nichts ändern.

In den letzten Jahren des 20. Jahrhundertslässt sich nun ein tiefgreifender Erneuerungs-prozess der Bausubstanz in mehreren Altstäd-ten des Königreichs Marokko [Abb. 1] feststel-len, der weltweit als Gentrification bekannt ist,bislang aber kaum in Drittweltländern zu beob-achten war. Unter Gentrification versteht manden baulichen und sozialen Aufwertungspro-zess abgesunkener, innenstadtnaher Wohnge-biete durch die Verdrängung einer statusniedri-gen durch eine statushohe Bevölkerungsschicht.Herausragendes Beispiel für diesen Prozess istdie Medina der Stadt Marrakesch [Foto 1].

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Kapitel 1.14 Arabische Stadt

„Touristische Entdeckung“ und „europäischeEroberung“ der Medina von MarrakeschAls Geburtsstunde der Entdeckung und Er-oberung der Medina von Marrakesch kann diefranzösische Protektoratszeit (1912 –1956) an-gesehen werden. Aufgrund der französischenProtektoratspolitik unter dem Generalresiden-ten Marschall Lyautey (1912 –1924), welche eineräumliche und soziale Trennung der Altstädtevon den durch die Franzosen errichteten Neu-städten zum Ziel hatte, wurden die marokka-nischen Altstädte konserviert. In jener Zeit ent-deckten zudem europäische Künstler, allenvoran Jacques Majorelle, in Marokko aufgrundder Faszination des Fremden, der leuchtendenFarben, der sonderbaren Gerüche, der intensi-ven Sonne und der exotischen Menschen ihren„Orient“.

Nach der Unabhängigkeit veränderte sichdie Situation in den Altstädten. Die marokka-nische Ober- und Mittelschicht wanderte in die Wohnungen der Neustädte ab, die von derfranzösischen Kolonialbevölkerung verlassenwurden. Die Medina wurde nunmehr zu einemWohnquartier mittlerer und unterer Einkom-mensschichten, die vom Land zuzogen. Die Bau-substanz verfiel zunehmend. Abb. 1 Die großen Städte des Königreichs Marokko

Sidi Ifni

algerien

marokko

Atlantischer Ozean

Agadir

kanarische inseln

Ouarzazate

MarrakeschEssaouira

Safi Beni Mellal

Rabat

Casablanca

FèsMeknès

Tétouan

Oujda

Tanger

Asilah

N

0 100 km

Ab Mitte der 1950er Jahre zog die Altstadt nachund nach Ausländer in ihren Bann. Zunächstkamen vereinzelt Aussteiger der Beat-Genera-tion, welche über Tanger den Weg in den Südennahmen, gefolgt von mit Blumen bekränztenHippies und dem internationalen Jetset. VieleFremde wurden von der ausländischen Gay-Community in Marrakesch angezogen. Sie ließen sich zunächst in den Palmengärten und in verkehrstechnisch leicht zugänglichen Alt-stadtvierteln nieder. Doch die Zahl der Aus-länder blieb überschaubar und erst Ende der1990er Jahre boomte der Hauskauf.

Im Sommer 1999 lebten rund 150 ausländischeHausbesitzer in der Medina. Maßgeblich ver-antwortlich für diesen Aufschwung ist die Aus-strahlung einer Sendung im französischen Fern-sehen, welche die Möglichkeit des Hauskaufs inden Altstädten von Marrakesch und Essaouirasowie die finanziellen und rechtlichen Rahmen-bedingungen des Immobilienerwerbs in Marok-ko thematisierte. Verstärkt wurde diese Dyna-mik durch einen jungen belgischen Architekten,der zahlreiche alte Häuser in der Medina fürseine Dissertation vermessen hat und sie seit-dem über eine marokkanisch-belgische Immo-bilienfirma auf dem Markt weltweit anbietet.Weiterhin trugen Printmedien, Spielfilme unddas Internet dazu bei, das orientalische und mär-chenhafte Image der Stadt Marrakesch und dieAttraktivität des Kaufs eines städtischen Wohn-hauses in der Medina mit Garten im Innenhof(Riad) zu verbreiten.

Zwischen Sommer 1999 und Ende 2000stieg die Zahl der ausländischen Hauseigen-tümer in der Medina auf rund 500, im März2003 konnten über 900 ausländische Immobi-lienbesitzer in der Medina gezählt werden. Dabeiist zu beachten, dass viele ausländische Eigen-tümer über mehrere Häuser – bis hin zu ganzenSackgassenabschnitten – in der Medina ver-fügen. Es hat sich ein weltweiter Markt entwik-kelt, auf welchem Immobilienfirmen Häuserder Medina in allen gewünschten Renovierungs-zuständen anbieten [Foto 2]. Dieses breite Immo-bilienangebot wird inzwischen nicht nur vonKünstlern, Homosexuellen, Jetsettern und Exo-ten nachgefragt, sondern auch „mittelständischeJedermanns“ entscheiden sich zunehmend fürdiesen „Wohnsitz im Paradies“. Somit lebenheute Jetsets, Künstler, Touristen, Berufstätige,bikulturelle Ehepaare und Rentner in der Alt-stadt von Marrakesch.

Foto 2 Touristen in der Medina von Marrakesch

vor einem Schaukasten mit Immobilienangeboten

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Kapitel 1.14 Arabische Stadt

Ausländischer Immobilienbesitz in der Medina Die Standortwahl und Kaufentscheidung füreinen Riad treffen die meisten Ausländer pri-mär nach der Qualität seiner Bausubstanz undsekundär nach seiner Lage in der Medina. Den-noch lässt sich eine räumliche Konzentrationder Ausländer feststellen [Abb. 2, Seite 159].Zu Beginn des rasanten Zuzugs von Ausländernlagen ihre bevorzugten Wohngebiete in denVierteln um den zentralen Platz Jemaa el-Fnaund in leicht zugänglichen Quartieren mitguter Bausubstanz. Besonders attraktiv für Aus-länder sind die Viertel Mouassine und Ksour[Abb. 3] unweit des Platzes.

R

R

R

Hotel

Ausländisches Immobilieneigentum

Restaurant

Gästehaus (Maison d’Hôtes)

Traditionelle Institutionen

Moschee

Zaouïa (religiöse Einrichtung)

Hammam (öffentliches Bad)

R

0 20 m Kartierung: A. Escher, S. Petermann 2003Kartographie: K. Schmidt-Hellerau, bearb. I. Meyer

Abb. 3 Ausländischer Grundbesitz im Altstadtviertel

Ksour in der Medina von Marrakesch

N

N

Anzahl ausländischer Eigentümer im Stadtviertel

1998

2000

2003

Wohnbebauung

Öffentliche Nutzung (Verwaltung, Schulen, Sûq, u.a.)

26

30

11

Abb. 2 Ausländer mit Immobilienbesitz in der Medina von

Marrakesch nach Wohnvierteln im Jahr 1998, 2000 und 2003

Foto 3 Verfallendes Haus in der Medina von Marrakesch

Als unattraktiv wurden dagegen die Wohn-viertel im Osten der Altstadt eingestuft. Geruchs-belästigung durch das nahe gelegene Gerber-viertel, slumähnliche Siedlungsstruktur, untereländliche Sozialschichten und vermeintlicheSicherheitsprobleme wirken auf die potentiellenKäufer bis heute abschreckend. Dagegen hatdas anfangs gemiedene jüdische Altstadtviertel,die Mellah, inzwischen an Attraktivität gewon-nen. Dies ist auf die steigenden Immobilien-preise und abnehmende Attraktivität der nochnicht renovierten Häuser in den bevorzugtenVierteln zurückzuführen.

Hauskauf und RenovierungJedes Haus in der Medina steht – sofern der gebotene Kaufpreis hoch genug ist – zum Ver-kauf. Denn, so formuliert ein Ausländer, „dieMarokkaner verkaufen, um in die Vororte, also an den Stadtrand von Marrakesch zu ziehen.Da haben sie sehr große Häuser, sehr große Vil-len, denn dort ist es für sie modern. Man steigtalso in der gesellschaftlichen Rangordnung auf,wenn man die Medina verlässt.“ Neben diesemPositivanreiz für einen Wegzug aus der Me-dina, können sich auch einige Marokkaner dienotwendigen und kostspieligen Renovierungs-arbeiten für die baufälligen Altstadthäuser[Foto 3] nicht leisten.

Bab el-Khemis

Bab er-Rharaza

Bab Doukkala

Bab Nkob

Bab SidiRharib

Bab Jdid

Bab er-Rob

Bab Ahmar

Bab Rhemat

Bab Aïlen

Bab Debbarh

Koutoubia

Platz Jemaa el-Fna

Sûq

11

26

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1

3

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1

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1

1

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4

910

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2

2

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7

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1

7

5

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10

6

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4

13

54

64

3

21

32

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10

30

23

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20

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42

84

2

8

15

2

11

2756

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6

6

29

6

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2

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3

4

3

34

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1

1

13 1

41 1

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17

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4 5

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6

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5

Quellen: Belkeziz 1998, eigene Erhebungen 2000; Entwurf: B. Clos, S. Petermann 2000Kartographie: K. Schmidt-Hellerau, bearb. I. Meyer

N

Bab Ksiba

0 500 m

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Um den Ansprüchen der neuen Bewohner gerecht zu werden, müssen zahlreiche Sanie-rungsmaßnahmen durchgeführt werden. Zu-nächst wird die Bausubstanz instand gesetzt[Foto 4, 5]; viele Häuser werden so vor dem end-gültigen Verfall gerettet – oder wie ein Auslän-der es selbstsicher formuliert – „schöner“ ge-macht als zuvor: „Dieser Riad war in einem sehr,sehr schlechten Zustand als wir ihn kauften. So-mit ist es gut für Marokko, wenn Leute hierherkommen, um in Marrakesch zu investieren. DieRiads werden erneuert und im Vergleich zu frü-her verschönert.“

Allgemein legen die Ausländer gesteiger-ten Wert auf die Nutzung der Dachterrasse alsGarten, Erholungsraum oder für das täglicheSonnenbad am hauseigenen Swimmingpoolund bauen sie dementsprechend aus [Foto 6].Neben den Investitionen in die Bausubstanzwird auch die Infrastruktur des Hauses – alsodie Wasserversorgung und Abwasserentsor-gung, die Installationen für Elektrizität sowiedie Sanitäranlagen – modernisiert und aufeinen europäischen Standard gebracht.

Foto 4, unten Sanierungsarbeiten in der Medina von

Marrakesch

Foto 5, oben links Restaurierter Innenraum eines

Wohnhauses in der Altstadt von Marrakesch

Foto 6, oben rechts Restaurierte und umgenutzte

Dachterrasse eines Riad mit Swimmingpool

Gentrification in den Altstädten des König-reichs. Eine Chance für deren Rettung?Der Gentrification-Prozess bewirkt nicht nurden dargestellten Bevölkerungsaustausch unddie Aufwertung der Wohnbebauung, sondernhat indirekt weitreichende Effekte auf die öko-nomische, kulturelle, soziale und baulicheStruktur der Altstadt.

Die ökonomischen Auswirkungen sind am deutlichsten auf dem Arbeitsmarkt zu spü-ren. Da die Ausländer häufig in ihren sanier-ten Immobilien Gästehäuser und Restaurants betreiben, entsteht hier eine große Zahl vonArbeitsplätzen im Servicebereich. Doch auch beiprivater Nutzung der Häuser finden viele Ein-heimische eine Anstellung als Dienstpersonal.Zahlreiche Handwerksbranchen werden imZuge der Sanierung und Möblierung der Häu-ser wiederbelebt sowie althergebrachte Hand-werkstechniken aufgrund der ausländischenNachfrage konserviert.

In kultureller Hinsicht entstanden durchden ausländischen Immobilienbesitz, durch diein diesem Zusammenhang immer wieder be-kundete Wertschätzung des marokkanischenKulturgutes und auf Initiative einiger europäi-scher und marokkanischer Protagonisten multi-kulturelle Förderkreise der Altstadt. In diesemKontext sind auch die von einem spanischenSchriftsteller vorangetriebene Aufnahme desJemaa el-Fna in die Liste des Oralen Weltkultur-erbes sowie die Entstehung von Museen, Gale-rien und Kultureinrichtungen innerhalb der Alt-stadt zu betrachten. Für viele Marokkaner wan-delt sich zunehmend das schlechte Image derAltstadt aus postkolonialer Zeit zu einem positi-veren Bild.

Resultierend aus den ökonomischen undkulturellen Effekten ändert sich auch zuneh-mend die Sozialstruktur der Altstadt. Wie schonin vorkolonialer Zeit ist die Altstadt heute wie-der ein heterogener Wohnstandort für status-niedrige und statushohe – wenn auch über-wiegend ausländische – Bevölkerungsgruppen.Zudem ist auch schon heute innerhalb der ma-rokkanischen Oberschicht die Tendenz zu ent-decken, sich einen Zweitwohnsitz in der Medinazu leisten.

Die dargestellten ökonomischen, kulturellenund sozialen Veränderungen haben auch Aus-wirkungen auf die bauliche Infrastruktur. Fastflächendeckend wurden die Straßen und Gas-sen der Altstadt in den Jahren 2002 und 2003gepflastert oder asphaltiert sowie die Kanali-sation erneuert. Zudem erfolgt eine Begrün-ung der Altstadt, um das dortige Mikroklimaund Wohnumfeld zu verbessern. Folglich kön-nen der Zuzug von Ausländern und die hier-durch induzierten Veränderungen als zukunfts-weisende Chance für eine Revitalisierung unddie Rettung der Altstadt betrachtet werden.

Foto 7 Blick durch das Hafentor

auf die Altstadt von Essaouira

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Auch wenn die Entwicklung in der Altstadt vonMarrakesch als Gentrification bezeichnet wer-den kann, bestehen Unterschiede zwischen dembislang in der Literatur beschriebenen und demin Marrakesch auftretenden Prozess. Statt Woh-nungen werden hier Innenhofhäuser renoviert,die Spekulationstätigkeit ist bislang geringer als in den westlichen Industrieländern, und eineVerdrängung der statusniedrigen Bevölkerungist durch deren weit verbreitete Bereitschaftzum Wegzug aus der Altstadt nur eingeschränkt

festzustellen. Außerdem ist die absolute Zahl derden Aufwertungsprozess vorantreibenden Aus-länder verhältnismäßig gering gegenüber dergroßen Anzahl der ursprünglichen Bevölkerung.

Zu beachten ist, dass innerhalb des König-reichs Unterschiede im Aufwertungsprozess derAltstädte bestehen. Ähnlich gravierend wie inMarrakesch existiert er auch in der Medina vonEssaouira [Foto 7, Abb. 4]. In weniger starkemUmfang sind ebenso die Altstädte von Asilah,Tanger, Fès und Chefchaouen betroffen.

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Abb. 4 Ausländischer Immobilienbesitz

in der Altstadt von Essaouira

N

Kartierung: S. Bauer, S. Knieper 2003Kartographie: K. Schmidt-Hellerau 2003, bearb. I. Meyer

Bab

Doukala

Bab Sebba

Bab Marrakesch