24

George Saunders "Zehnter Dezember" - Luchterhand Literaturverlag

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Folder zu George Saunders Kurzgeschichtensammlung "Zehnter Dezember" (Tenth of Dec). Das Buch erscheint im Februar 2014 im Luchterhand Literaturverlag. Link zum Buch: http://www.randomhouse.de/Buch/Zehnter-Dezember-Stories/George-Saunders/e441654.rhd

Citation preview

2

george saunders das interview

Warum Kurzgeschichten?

„In real life time is going fast“.

http://bit.ly/16fqzaM

George Saunders bei Philip Colbert

3

george saunders das buch

„Es ist kein Zufall, dass George Saunders

seine Titelgeschichte genau an diesem

Tag spielen lässt und dass er die ganze Story-

Sammlung nach ihm benennt.

Warum ausgerechnet der 10. Dezember?

Es ist noch nicht die Wintersonnenwende,

die Tage werden kürzer, aber die Welt ist noch

nicht so finster, wie sie sein könnte,

da ist trotz allem immer noch ein leichter

Schimmer von Licht.“

Gregory Cowles, „Rays of Hope“, The New York Times Book Review, 03.02.2013

4

Platz 2 der New York Times

Bestsellerliste!

George Saunders

wurde 1958 in Amarillo, Texas, geboren und kam erst auf Umwegen zur Literatur. Er studierte Geophysik, arbeitete auf den Ölfeldern in Sumatra und schlug sich nach seiner

Rückkehr als Türsteher, Dachdecker und Schlachthausgehilfe durch, bevor er in Syracuse Literatur studierte.

Inzwischen hat er mehrere Bände mit Kurzgeschichten, einen Essayband und ein Kinderbuch veröffentlicht, lehrt Creative Writing an der Syracuse University und wurde u.a. 2006 mit

dem MacArthur „Genius Grant“ und dem Guggenheim Fellowship, 2009 mit dem Academy Award der American

Academy of Arts and Letters ausgezeichnet und erhielt 2013 den PEN/Malamud Award. George Saunders gilt als einer der besten Shortstory-Autoren der Gegenwart. Er lebt mit seiner

Frau und zwei Töchtern in Oneonta, New York.

george saunders der bestseller

5

„George Saunders hat das beste Buch

geschrieben, das Sie dieses Jahr

lesen werden.“

Von Joel Lovell

In einem kleinen Sushi-Restaurant in Syracuse war George Saunders durchaus be-reit zuzugeben, dass in der einen Wirklichkeit er und ich zwei Typen waren, die über Literatur redeten, Avocadosalat aßen und Alanis Morissette aus dem Laut-

sprecher über unseren Köpfen hörten. Doch in einer anderen Wirklichkeit waren wir zwei wandelnde Leichen. Wir hatten es schon seit einer Weile mit dem Tod. Ein enger Freund von mir war vor kurzem gestorben, und ich versuchte meinen immer noch nicht ganz überwundenen Zustand zu beschreiben – nicht ganz von dieser Welt, aber jeden Tag ein bisschen weniger weit weg. Ich wusste, diese Rückkehr zum Alltag war gut, bedauerte sie aber auch, weil sie eine Art wache Bewusstheit dämpfte, die nicht so oft geschärft wird. Es fiel mir nicht leicht, das auszudrücken, aber Saunders blieb dran, beugte sich vor, ermutigte mich. Er trägt einen buschigen blonden, ergrauenden Schnauzer samt Goatee, und manchmal, wenn er konzentriert zuhört, kann er ein biss-chen streng wirken, so als wäre er gerade im Amerikanischen Bürgerkrieg aus einem Zelt getreten. Aber dann fängt er an zu sprechen, und die Augenbrauen gehen hoch, und plötzlich besteht er nur noch aus Chicagoer Vokalen und zwinkernden Magier-Augen, und wenn man nicht wüsste, dass er ziemlich universell als Genie betrachtet wird, könnte man ihn als den superfreundlichen Moderator einer Heimwerkershow im Tagesfernsehen abtun.

»Es wäre wahnsinnig interessant, wenn wir so bleiben könnten«, sagte Saunders und meinte: wenn wir unser Leben mit der Offenheit führen könnten, die manchmal durch die Nähe des Todes entsteht. Er beschrieb, wie er vor etwas über zehn Jahren in einem Flugzeug von Chicago nach Syracuse saß. »Wir fliegen dahin, ich gönne mir

george saunders der autor

george saunders bestseller

© 1

981

hopk

ins/

htt

p://n

eosc

enes

.net

George Saunders beim Studium der Geophysik.

7

ein sündiges Vergnügen – die Lektüre der Vanity Fair –, ich bin auf dem Heimweg. Und plötzlich ertönt ein irres Geräusch, so als hätte gerade ein Lieferwagen das Flugzeug seitlich gerammt. Ich dachte, oha, da guck ich gar nicht erst hin. Wenn ich nicht von der Zeitschrift hochschaue, passiert es auch nicht. Und dann passierte es noch mal.«

Alle schreien, das Flugzeug gibt entsetzliche Metall-in-Not-Geräusche von sich. Schwarzer Rauch – »so schwarz wie in einem Batman-Film« – kommt aus den Frisch-luftdüsen über den Passagieren. Sie fliegen zurück zum O’Hare Airport, »dann sehe ich das Straßenraster von Chicago, und es kommt uns total schnell entgegen«. Das Licht flackert, der Pilot meldet sich zu Wort und gibt, mit Panik in der Stimme, die Anwei-sung, angeschnallt zu bleiben. »Und neben mir sitzt ein kleiner 14-jähriger Junge. Er dreht sich zu mir und fragt: ›Soll das gerade so passieren, Sir?‹

Und ich weiß noch, wie ich denke, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein. Nur diese eine Silbe, immer wieder. Und ich denke auch, du könntest dir jetzt tatsächlich in die Hose machen. Und am stärksten war der Eindruck von diesem einen Sitz da.« Er zeigte auf einen imaginären Sitz vor ihm. »Ich dachte, o ja, dieser Körper. Jetzt hab ich ihn schon so lange, und das wird ihn erledigen. Das da.« Früher hatte er angenommen, wenn er je dem Tod ins Auge sehen müsste, würde er das »mit Aplomb angehen«, er würde sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren und in der verbleibenden Zeit seinen Frieden machen. »Aber ich wusste nicht mal mehr, wie ich hieß«, sagte er. »Ich war so was von nicht im Hier und Jetzt. Ich war nichts als das Wort nein.«

Irgendwann schaffte er es, sich dem Kind auf dem Nebensitz zuzuwenden und zu sagen, dass alles gut gehen würde, »obwohl ich das gar nicht dachte. Auf der anderen Seite des Ganges saß eine Frau. Schließlich – es war, als wäre ich aus der Tiefkühlung aufgewacht – schaffte ich es, eine Hand auszustrecken und ihre zu ergreifen.« Und so blieben sie die nächsten paar Minuten sitzen, in Erwartung des Todes.

Am Ende stürzten sie nicht über den Straßen von Chicago ab oder plumpsten in den eiskalten See, sondern schafften es sicher bis zur Landebahn, wo die ganze Notfall-ausrüstung wartete, aber nicht gebraucht wurde. Wie sich herausstellte, ein Detail, das direkt aus einer George-Saunders-Geschichte stammen könnte, wären sie alle beinahe gestorben, weil das Flugzeug in einen Gänseschwarm geflogen war.

»In den drei oder vier Tagen danach«, sagte er, »konnte die Welt nicht schöner sein. Zurückgekommen zu sein, ja? Und ich dachte, wenn man doch immer so herumlaufen, sich wirklich bewusst sein könnte, dass es tatsächlich zu Ende gehen wird. Das würd’s bringen.«

Dieses Bedürfnis – jenes Bewusstsein wirklich zu haben, die ganze Zeit so offen wie möglich zu sein für Schönheit und Grausamkeit und dumme menschliche Fehlbarkeit und unerwartete Anmut – könnte man das George-Saunders-Experiment nennen. Es ist das Klischee aller Klischees, einen Schriftsteller als »den Schriftsteller für unsere Zeit« zu bezeichnen. Aber wenn wir »unsere Zeit« definieren als den historischen Moment, da das Land, in dem wir leben, Bomben auf Menschen abwirft, von deren Leben wir nur die abstraktesten, undifferenziertesten Vorstellungen haben, genau wie sie die

george saunders der autor

Ich war so was von nicht im Hier und Jetzt.

Ich war nichts als das Wort nein.

© 1

981

hopk

ins/

htt

p://n

eosc

enes

.net

verzerrtesten Vorstellungen von unserem; oder als die Zeit, in der mancher unter uns sich verzweifelt nach einem Job sehnt, damit er ein paar Sachen kaufen kann, die seine Kinder glücklich machen und ihm einen kleinen Upgrade in Sachen Selbstwertgefühl und Wertschätzung der Familie einbringen würden; oder schlicht als die Zeit, da im-mer mal wieder ein Teil der Bevölkerung aus schwer benennbaren Gründen in eine irre Panik verfällt, beim Anblick der schlafenden Kinder von Gefühlswogen überrollt wird oder einfach nur glücklich ist, weil er sich tollkühn jemandem offenbart hat und die Reaktion freundlich war – wenn wir »unsere Zeit« so definieren, dann ist George Saunders der Schriftsteller für unsere Zeit.

Diese Woche erscheint George Saunders‘ vierter Erzählband Tenth of December (dt. »Zehnter Dezember«) bei Random House. Der Autor ist 54 Jahre alt und ver-öffentlichte seinen Erstling 1996, im Alter von 37: CivilWarLand in Bad Decline

(dt. »BürgerKriegsLand fast am Ende« bzw. »Bounty-Land«). Seither veröffentlichte er zwei weitere Erzählbände, Pastoralia (dt. »Pastoralien«) und In Persuasion Nation (dt. »I Can Speak!™«), eine Novelle, The Brief and Frightening Reign of Phil, ein Kin-derbuch, The Very Persistent Gappers of Frip (dt. »Die furchtbar hartnäckigen Gapper von Frip«), sowie eine Sammlung Sachreportagen, Essays und kurzer humoristischer Stücke namens The Braindead Megaphone.

Als CivilWarLand erschien, war viel davon die Rede, mit Saunders erstürme eine neue, wilde, satirische Stimme mit einem Schlag die Bühne, obwohl er die Geschichten nacheinander über acht Jahre veröffentlicht hatte, während er seinen Lebensunterhalt mit einem Brotberuf verdiente (technische Berichte für eine Firma namens Radian Cor-poration in Rochester). Seine Erzählungen spielen in einem Amerika, das nur hauch-fein futuristisch ist, oder, vielleicht treffender, in einem gegenwärtigen Amerika, wo aufgrund der kapitalistischen Sachzwänge die Dinge ein bisschen schräg geworden sind. Diese frühen Geschichten sind oft in ramponierten Themenparks oder seelenver-dörrenden vorstädtischen Bürosilos angesiedelt, sie selbst aber platzen vor Lebendig-keit; manchmal sind sie sehr makaber, vor allem aber sind sie irrsinnig komisch. Die Figuren sprechen eine seltsame neue Sprache – eine Art überhöhtes Bürokratenchine-sisch oder eine passiv aufgenommene Umgangssprache, die um Selbstverbesserungs-klischees herumgebastelt ist (»Ich wurde stinksauer und musste zweimal in dieser

george saunders der autor

Ich weiß noch, wie David Foster Wallace

in das Büro des Harper’s Magazine kam

und sagte, George Saunders sei der

aufregendste Schriftsteller Amerikas.

10

9

Nacht in einen Schrank gehen und meine Hassabfuhr-Atmung durchführen«) –, was ihnen etwas Allegorisches verleiht, obwohl da zugleich auch etwas Anderes, schwerer Greifbares mitschwingt. Das Buch kam etwa zur selben Zeit heraus wie David Foster Wallaces Infinite Jest (dt. »Unendlicher Spaß«), und damals hatte man den Eindruck, diese beiden Autoren (plus ein paar andere) seien fleißig dabei, neue Rahmenbedin-gungen für die zeitgenössische amerikanische Literatur abzustecken.

Ich weiß noch, wie Wallace in das Büro des Harper’s Magazine kam, wo ich damals arbeitete, kurz vor oder nach der Buchpremiere von Infinite Jest (die wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit bekam als jede andere Buchpremiere in der überschaubaren Vergangenheit, dank all der Beschreibungen, wie Wallace sich in einem Zimmer im ersten Stock vor den Hunderten von Menschen versteckte, die sein Genie feiern und ihm nah sein wollten). Schwer zu sagen, ob Wallace wirklich so entsetzt aussah oder ob ich diesen Gesichtsausdruck im Rückblick auf ihn projiziere, aber ich weiß noch genau, wie er mit seinen offenstehenden hohen Sneakers im Flur stand und sagte, George Saunders sei der aufregendste Schriftsteller Amerikas.

Seit damals hat es viele solcher Sätze über Saunders gegeben. Für die Menschen, die genau im Auge behalten, wie es um die amerikanische Literatur steht, ist er eine Art Superheld. Seine Geschichten erscheinen regelmäßig im New Yorker, er taucht in allen möglichen Anthologien auf und hat eine Reihe Preise gewonnen, darunter 2006 ein »Genie-Stipendium« der MacArthur-Stiftung, die ihn wie folgt beschrieb: »Ein hochgra-dig einfallsreicher Autor, der kontinuierlich eine ganze Generation junger Schriftsteller beeinflusst und einen Sinn für Humor, ein Pathos und einen literarischen Stil in die zeitgenössische amerikanische Literatur hineinbringt, die unverwechselbar sind.« Als letzten Herbst CivilWarLand als E-Book neu herauskam, schrieb Joshua Ferris in seiner Einführung: »Warum ist es so schwierig, über ihn zu reden? Ein Grund mag in der von den meisten Autoren geteilten Ansicht liegen, Saunders sei irgendwie ein bisschen mehr als nur ein Schriftsteller … Er schreibt wie eine Art Heiliger. Er scheint mit einem besseren Wesen in Verbindung zu stehen.«

Schon wahr: Wenn einer ein »Autoren-Autor« ist, dann Saunders. »Es gibt wirklich keinen anderen wie ihn«, schrieb Lorrie Moore. »Er ist ein Original – und das weiß auch jeder.« Tobias Wolff, der Saunders unterrichtete, als dieser Mitte der 80er in Syracuse an dem Graduiertenprogramm Literarisches Schreiben teilnahm, sagte: »In den letzten

zwanzig Jahren war er einer der Glanzpunkte unserer Literatur« und fügte das wohl eleganteste Kompliment hinzu, das ich je gehört habe: »Er ist ein so großzügiger Geist, dass es einem peinlich wäre, sich in seiner Nähe kleingeistig zu benehmen.« Und Ma-ry Karr, eine Kollegin aus Syracuse, wo Saunders seit Mitte der 90er zum Lehrkörper gehört (zufällig eine praktizierende Katholikin mit einer wunderschönen Singstimme und außerdem eine spektakulär kreative verbale Dreckschleuder), sagte zu mir: »Ich halte ihn für den besten lebenden Kurzgeschichtenautor englischer Sprache.«

george saunders der autor

Für die Menschen, die genau im Auge behalten,

wie es um die amerikanische Literatur steht,

ist er eine Art Superheld.

10

Neben all dem formalen Erfindungsreichtum und der satirischen Energie gibt es in Saunders‘ Literatur noch einen wichtigen Faktor, der aber selten gewürdigt wird, näm-lich die starken Gefühle, die sie auslöst. Ich bin seit Jahren ein großer Fan seiner Texte und habe in den letzten Monaten viele Stunden mit ihm verbracht, um zu begreifen, wie er das hinkriegt, was er hinkriegt, aber ich hatte echte Mühe, meine emotionale Reaktion auf seine Geschichten treffend zu formulieren. Ein Punkt ist, dass man sie liest und sich erkannt fühlt, falls das einen Sinn ergibt. Oder, was womöglich noch wu-schiger klingt, man hat das Gefühl, er würde die Menschheit in einer Weise verstehen wie sonst kaum jemand, und das tröstet einen. Auch wenn dieser Trost oft in sehr selt-samer Verpackung daherkommt, wie in der Geschichte, wo eine früher keusche Tante von den Toten zurückkehrt, um ihren Neffen, der in einem Restaurant mit männlichen Strippern arbeitet (so was wie Hooters, bloß mit Typen und versauter), zu ermutigen, dass er mal den Reißverschluss aufmacht und der Kundschaft seine Ausstattung zeigt, damit er Extra-Trinkgeld kassieren und seiner Familie auf diese Weise eine tragische Zukunft ersparen kann, die sie vorausgesehen hat.

Junot Díaz beschrieb den Saunders-Effekt folgendermaßen: »Keiner hat einen bes-seren Blick für die absurden und entwürdigenden Parameter unserer aktuellen Kultur des Kapitals. Die kühle Strenge seiner Texte wird andererseits aber durch ein enormes Mitgefühl ausbalanciert. Nicht jeder nimmt wahr, wie weitreichend seine moralische Vision ist, denn kaum ein Autor setzt so harte und tiefe Schnitte wie Saunders.«

Und Tenth of December ist berührender, emotional zugänglicher als alles Vorherge-hende von ihm. »Ich möchte wachsen«, sagte Saunders. »Sagen wir, es gibt da draußen zehn Leser, von denen ich zwei auf keinen Fall erreichen kann, weil es sie nie inter-

essieren wird. Nehmen wir weiter an, drei der anderen habe ich schon in der Tasche, vielleicht vier. Wenn es etwas an meinen Texten gibt, das Nummer fünf, sechs und sieben abtörnt, dann wüsste ich gern, was es ist. Ich kann nichts dran ändern, wer ich bin und was ich tue, aber vielleicht lassen sich die guten, engagierten Leser, die sich von meinen ersten paar Büchern nicht angesprochen fühlten, doch noch irgendwie erreichen. Ich würde gern einen Korb bauen, der groß genug ist, um auch ihnen Platz zu bieten.«

In seinem neuen Buch gibt es unverkennbar Saunders’sche Geschichten: eine zum Beispiel, die größtenteils in einem Pseudo-Ritterton erzählt wird, und eine andere, die satirischste des ganzen Buches, in Form eines Memos von »Todd Birnie, Abteilungs-leiter« bez. »Leistungsdaten März«. (Welche Abteilung Todd da leitet, wird nie explizit gesagt, aber im Lauf der Geschichte wird deutlich, dass die Euphemismen, aus denen sein Memo besteht, etwas Schauriges beschönigen.) Einige der neuen Geschichten stecken allerdings ein Territorium ab, auf das sich Saunders zuvor noch kaum gewagt hatte, jedenfalls nicht so tief. Die Titelgeschichte etwa handelt von zwei sich über-schneidenden Lebensgeschichten an einem Wintertag – ein Junge, dessen äußerliche

george saunders der autor

Er versteht die Menschheit in

einer Weise wie sonst kaum jemand,

und das tröstet einen.

Beschreibung alles über seinen sozialen Status sagt (»der blasse Junge mit dem un-vorteilhaften Prinz-Eisenherz-Pony und dem täppischen Gehabe«), und ein an Krebs sterbender Mann, der beschlossen hat, sich umzubringen, indem er in den Park geht, sich auszieht und erfriert, um seiner Familie das unweigerlich kommende Leiden und Wüten, all das Erniedrigende zu ersparen.

»Wenn der Tod im Spiel ist, wird es meist interessant«, sagt Saunders – jede Ge-schichte, die sich um den Tod dreht, ist aufgeladen. »Aber ich glaube, ich will mir auch selber plausibel machen, dass es eines Tages passieren wird, mir passieren wird. Das interessiert mich. Wen das nicht interessiert, der hat einen an der Waffel. Darin liegt doch unser Daseinsgrund: das herauszufinden. Mir graust bei der Vorstellung, sich so durchzuwurschteln und eines Tages zu sagen: ›Oh, ich hab ja Bauchspeicheldrüsen-krebs.‹ Das ist entsetzlich. Schon der Gedanke ist entsetzlich. Ich finde, man sollte

george saunders der autor

Wenn der Tod im Spiel ist, wird es

meist interessant.

Wen das nicht interessiert,

der hat einen an der Waffel.

© D

amon

Win

ter/

NY

T/R

edux

/laif

12

andauernd darüber nachdenken. Als literarischer Schriftsteller musst du es schaffen, dieses Nachdenken so zu gestalten, dass es zum Wesentlichen vordringt. Schließlich soll es von Belang sein, wenn du dieses Mittel einsetzt.«

Gelegentlich macht sich Saunders in seinen Geschichten die Momente nach dem Tod, in denen das Leben der Figuren manchmal plötzlich neu gefasst und geradezu erlöst wird, dramaturgisch zunutze. »In dramaturgischer Hinsicht halte ich nicht mehr viel von den humanistischen Wahrheiten«, sagte er. »Ich meine, sie stellen eine Untergrup-pe dessen dar, was wahr ist, gekauft. Aber sie reichen nicht aus. Auf meinem Totenbett würden sie mir nicht besonders helfen. Betrachten wir es mal anders. Wir leben. Wir sind nette Leute. Wir kommen einigermaßen klar. Aber wir wissen, dass wir in x Jahren nicht mehr leben werden und dass zwischen jetzt und dann irgendetwas Unangeneh-mes, etwas zumindest potenziell Unangenehmes und Angsteinflößendes passieren wird. Beim Versuch, das zu begreifen, reichen die humanistischen Wahrheiten meiner Ansicht nach nicht mehr aus. Weil es völlig verrückt wäre, wenn sie ausreichten. Es wäre total schräg, wenn wir gerade so viel wüssten, wie wir wissen müssen, um alle Fragen des Universums zu beantworten. Wäre das nicht abgefahren? Dabei ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass wir weite Teile der Wirklichkeit unmöglich wahrnehmen können, obwohl sie schon jetzt auf uns zusteuern und einwirken. Die Denkweise ›Tja, wir können es nicht sehen, also brauchen wir es auch nicht zu sehen‹ kommt mir echt komisch vor.«

Seit sechzehn Jahren lehrt Saunders im Graduiertenprogramm Literarisches Schrei-ben der Uni Syracuse. Ich habe mich ein paar Tage lang in seine Kurse gesetzt und zugehört, in einen kleinen Workshop mit fünf Studenten und einen »Formen«-Kurs,

der sich, als ich da war, gerade mit dem Thema Lektorat beschäftigte, genauer gesagt, mit einer Handvoll Raymond-Carver-Geschichten und der strapazierten Beziehung zwischen Carver und seinem Lektor Gordon Lish. Die Studenten machten einen richtig klugen Eindruck auf mich, und Saunders engagierte sich unmissverständlich für sie. »Mit Studenten dieses Kalibers muss man absolut aufrichtig umgehen«, sagte er zu mir. »Man überprüft dabei ständig seine eigene Vorgehensweise, damit man da auch keinen Quatsch einbringt.« Vor ein paar Jahren verteidigte Saunders in einem Interview mit Ben Marcus für The Believer das Creative-Writing-Studium: »Die Chancen, dass jemand die eigenen Gewohnheiten, die übliche Trägheit und Beschränktheit durchbricht und etwas schreibt, das den Weg nach draußen schafft und eine Wirkung entfaltet, sind gering.« Aber, fügte er hinzu, es sei ein Fehler, diese Studiengänge nur unter »strikt karrieristischer« Perspektive zu sehen: »Selbst für die Tausende junger Menschen, die nichts herausbringen werden, ist es ein edler Vorgang – der Versuch, etwas aus-

george saunders der autor 10

George Saunders schreibt in einer Hütte auf

der anderen Seite der Einfahrt zu seinem Haus:

Ein Schreibtisch, ein Sofa und ein Tisch,

auf dem sich Bücher stapeln.

zudrücken, sich an den handwerklichen Problemen, den Weltanschauungsproblemen und den Ego-Problemen abzuarbeiten. All das ist charakterbildend, und nicht alles, was wir tun, muss konkrete, karriererelevante Ergebnisse zeitigen, Gott bewahre. Ich habe immer wieder erlebt, wie der nicht locker lassende Versuch, etwas auszudrücken, denjenigen weiterkommen lässt und besser macht.«

Nach seinen Lehrveranstaltungen machte Saunders für mich eine rasche literarische Stadtführung durch Syracuse – Toni Morrisons ehemaliges Viertel; Tobias Wolffs Haus (wo Saunders, seine Frau Paula und seine Töchter wohnten, nachdem Wolff einen Ruf nach Stanford angenommen hatte); das kleine Haus, wo sich ein nüchterner Raymond Carver mit der Dichterin Tess Gallagher durchs Leben schlug. Wir fuhren zum Ende eines Blocks, wo mir Saunders ein heruntergekommenes Haus mit einer Souterrain-

wohnung zeigte, die ein paar kleine, dunkle Fenster hatte und einen ramponierten Beton-Patio. Ein düsterer Ort. »Da hat Dave Infinite Jest geschrieben«, sagte er. »Da müsste eine Gedenktafel hin.«

Er und Paula leben jetzt am Rand von Oneonta, New York, zwei Stunden südöstlich von Syracuse. Ihr Haus steht auf 60 Hektar Land, oben auf einem Hügel am Ende einer steinigen Auffahrt. Ein wunderschöner Ort. Es gibt einen Teich mit Kois, und da sie praktizierende Nyingma-Buddhisten sind, hie und da Buddha-Statuen und farbige Gebetsfahnen in den Bäumen.

Saunders schreibt in einer Hütte auf der anderen Seite der Einfahrt, und an einem Morgen saßen wir ein paar Stunden lang dort, während seine beiden blonden Labra-dore draußen vor der Tür herumschnüffelten. Ein Schreibtisch, ein Sofa und ein Tisch, auf dem sich die Bücher für die Recherche seines nächsten Projekts stapeln. Auf den Regalen stehen Fotos von ihm und Paula und den Mädchen, eins davon ist großartig, aus seinen Jazz-Fusion-Tagen, als er mit einer weißblonden schulterlangen Johnny-Winter-Mähne auf dem Fender-Telecaster spielte. »Im Lauf unseres Lebens sind wir viele Menschen«, sagte er, als er das Foto herunternahm.

Wir sprachen eine Zeitlang von seiner Beziehung zu Wallace. So sehr es scheint, dass ihre Literatur ähnlichen Themen nachgeht, sie waren, meinte Saunders, »wie zwei Trupps Bergleute, die sich in denselben Berg hineingruben, aber von verschiedenen Richtungen aus«. Er erzählte, wie er in den frühen Tagen nach New York fuhr und »drei oder vier total intensive Nachmittage und Abende« mit Wallace und Franzen und Ben Marcus verbrachte, einzeln natürlich, und mit jedem darüber sprach, was »sie sich am meisten für ihre Literatur erhofften«. Saunders fügte hinzu: »Und was lag auf dem Tisch? Emotionale Literatur. Wie machen wir das? Wie kommen wir da hin? Lässt sich da noch etwas entdecken? Es ging um die möglicherweise gegensätzlichen Sehnsüchte,

10

13

Im Lauf unseres Lebens

sind wir viele Menschen.

georg saunders lovell

George Saunders auf einer Party in Colorado.

© 1

981

hopk

ins/

htt

p://n

eosc

enes

.net

15

1) moralisch gewichtige Geschichten zu schreiben, ohne sie zu bloßen handwerklichen Übungen oder Hirnspielchen werden zu lassen, aber 2) kitschig oder sentimental oder reaktionär durften sie auch nicht sein.

Die Jungs hatten von der Ausbildung her viel mehr drauf als ich«, sagte er. »Sie standen in einer starken, leidenschaftlichen Verbindung zum Postmodernismus, als der noch ofenwarm war.« Für ihn dagegen ging es weniger darum, über die postmoder-nen Väter hinauszukommen, die die gängige amerikanische Sensibilität für Literatur gestaltet hatten, sondern »die emotionalen Bedingungen meines realen Arbeitslebens abzubilden« – wie er also seine Stimme finden könnte, geprägt von den »leichten Arschtritten« (so nannte er es selbst), die er in seinem Erwachsenenleben erlitten oder beobachtet hatte und die ihn »politisiert und in der Wolle gefärbt« hatten.

In seiner Kindheit führte sein Vater eine Pizzeria in Amarillo, Texas, nachdem er in Chicago eine kleine Kette namens Chicken Unlimited gemanagt hatte. Später, als Saun-ders an der Bergbauschule Colorado Ingenieurgeophysik studierte, brannte das Res-taurant ab. Da es eine Unstimmigkeit beim Versicherungsschutz gab, verlor die Familie das Restaurant. Kurz darauf zog sie von Amarillo nach New Mexico, wo sein Vater eine CO²-Rückgewinnungsstation für Bohrinseln aufbaute. »Ich weiß noch, draußen waren

es minus dreißig, die Rohre in unserem Mobile Home froren ein«, sagte Saunders, »und mein Dad stand da draußen in einer dünnen Windjacke mit einem Schweißbrenner und versuchte, sie aufzutauen.«

Nach seinem Abschluss an der Bergbauschule arbeitete Saunders für eine Ölerschlie-ßungsfirma im Dschungel von Sumatra. »Ich war ausgebildet in seismischer Erkun-dung«, sagte er. »Wir bohrten tiefe Löcher, legten unten Dynamit rein und sprengten das Ganze per Fernzündung. So bekamen wir ein Querschnittsbild vom Untergrund, das uns sagte, wo wir bohren sollten.« Sie arbeiteten immer vier Wochen, hatten zwei Wochen frei und wurden dafür mit Helikoptern in die nächstgelegene Stadt in 40 Flug-minuten Entfernung gebracht, von dort flogen sie nach Singapur.

»Davor war ich eher so ein Ayn-Rand-Typ gewesen«, sagte er, »Sozialdarwinismus und so. Aber dann kommst du nach Asien und siehst Menschen, die wirklich arm sind und wirklich leiden und nicht wegen ihres Gejammers da gelandet sind.« Auf einem dieser Singapur-Trips blieb er eines Nachts auf dem Rückweg in sein Hotel an einer Tiefbaustelle stehen und »sah lauter Schatten in dem Loch herumhuschen. Und dann wurde mir klar, dass das alles alte Frauen bei ihrer Nachtschicht waren. Oh, dachte ich, das hat Ayn Rand nicht auf ihrer Rechnung.«

In den Urlaubswochen stockte er immer seinen Lektürevorrat auf. »Da verstand ich keinen Spaß«, schrieb er in einem Essay namens Mr. Vonnegut in Sumatra, der in dem Band The Braindead Megaphone erschien. »Wenn nämlich die Bücher schneller alle waren als die vier Wochen im Dschungel, musste ich entweder immer wieder dasselbe eine Exemplar des Playboy von 1979 lesen und/oder mir im Fernseher der Arbeiterba-racke stundenlang Wayang-Theater angucken.«

Auf einer dieser Reisen stieß Saunders auf Vonneguts Slaughterhouse Five (dt.

george saunders der autor

Dann kommst du nach Asien und siehst Men-

schen, die wirklich arm sind und wirklich leiden.

© 1

981

hopk

ins/

htt

p://n

eosc

enes

.net

16

»Schlachthof 5«), obwohl er bis zu dieser Phase seines Lebens »praktisch nichts gele-sen« hatte und nicht so recht wusste, was er mit diesem Buch anfangen sollte, denn es passte nicht zu seiner damaligen Überzeugung, »große Literatur muss schwere Literatur sein«.

Irgendwann wurde er krank, weil er in einem Fluss voller Affenscheiße schwimm-men gegangen war, und kehrte nach Hause zurück. Die nächsten zwei Jahre, sagte er, verbrachte er mit dem Versuch, »so ekstatisch wie Kerouac zu sein und ›Amerika zu verstehen‹«. In Chicago lebte eine Frau, auf die er schon seit langem ein Auge geworfen, die er aber immer für unerreichbar gehalten hatte, doch jetzt, nach seinen Asienreisen

und der Rückkehr und kurz davor, das Leben eines Schriftstellers zu beginnen, »was immer ich mir darunter vorstellte, unreif und arrogant, wie ich war, fuhr ich zu ihr und sagte: ›Bleib bei mir.‹« Sie zogen nach L.A., »dieses Mädchen, dem ich die Welt zeigen sollte, und ich, und dann fand ich erst mal keine Arbeit«, sagte Saunders. »Wir waren ganz unten.« Bald kehrten sie Los Angeles den Rücken und flüchteten zurück nach Chicago, wo Saunders bei seiner Tante im Keller wohnte und sich einen Job als Dachdecker besorgte. Vor Jahren schrieb er für den New Yorker einen bemerkenswer-ten Essay über diese Zeit und das Ende dieser Beziehung, Chicago Christmas, 1984. »Endlich kapierte ich Geld«, schrieb er. »Geld beugt der Schmach vor.«

1985 wurde Saunders für das Graduiertenprogramm Literarisches Schreiben an der Uni Syracuse angenommen, er hatte sich mit der Geschichte A Lack of Order in the Floating Object Room beworben. »Die war wild und komisch«, sagte er. »Aber ich stand nicht dazu. Sie war modern, und ich wollte im Jahr 1932 leben. Ich wollte Hemingway sein.« In seinem Begleitwort zur Neuausgabe von CivilWarLand schreibt er: »Wenn ich Hemingway leid war, machte ich eine Carver-Imitation, dann einen Isaac Babel. Manchmal machte ich einen Babel, als ob Babel in Texas gelebt hätte. Manchmal mach-te ich einen Carver, als ob Carver (wie ich) auf den Ölfeldern von Sumatra gearbeitet hätte. Manchmal machte ich einen Hemingway, als ob Hemingway in Syracuse gelebt hätte, was sich für mich wie Carver anhörte.«

Kurz nach seiner Ankunft in Syracuse lernte er Paula kennen, die wie er Literarisches Schreiben studierte. Nach drei Wochen waren sie verlobt, und sieben Monate später wurde Paula auf ihrer Hochzeitsreise schwanger. »Wir verwandelten uns in gefühlt einer Woche von zwei Carver-Jüngern und Beatniks in Ozzie & Harriet«, sagte er. »Also, Ozzie & Harriet, aber pleite.« 1989, als ihre Tochter Caitlin ein Jahr alt war, zogen sie nach Rochester, damit Saunders als technischer Redakteur bei der Radian Corporation arbeiten konnte. Ein Jahr später kam ihre zweite Tochter Alena auf die Welt. Bei beiden Töchtern setzten die Wehen schon nach fünf Monaten ein, so dass Paula strikt das Bett hüten musste. Irgendwann ging das Auto kaputt, und Saunders musste mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, immer am Erie-Kanal entlang, in einem Kaltwetter-Mond-anzug, den er aus »einer Laborbrille, einem Regenponcho und hohen Gummistiefeln« zusammengestoppelt hatte, »auf denen kleine Astronauten drauf waren, glaube ich«.

10george saunders der autor

Endlich kapierte ich Geld,

Geld beugt der Schmach vor.

17

10 Falls der genaue Moment, wann George Saunders zu George Saunders wurde, sich

feststellen lässt, muss er ungefähr in dieser Zeit liegen. »Diese Erfahrung in L. A. war ein Schreckensbild für mich«, sagte er. »Ich konnte mir nicht vorstellen, mit Paula und den Mädchen jemals an diesen Punkt zu kommen. Deshalb nahm ich den Job bei Ra-dian an, und das war sehr befreiend. Wenn ich für sie sorgen kann, dann kann ich in meiner Schreibzeit so wild sein, wie ich Lust habe. Nachdem ich diesen Abgrund vor mir gespürt hatte, war meine Devise: Okay, Kapitalismus, ich habe dir in dein gieriges Maul geschaut, und ich will keinen Ärger mit dir.«

Die letzten Jahre hatte er an einem, wie er sagte, »katastrophalen Roman« gearbei-tet – La Boda de Eduardo –, erkannte aber mit der Wucht einer Offenbarung, dass die Bemühungen, seine Lebenserfahrung auf einen Hemingway-Carver-Rahmen zu pfrop-fen, einfach töricht waren. Seine Lebenserfahrung war bislang noch nicht angemessen in der Literatur vertreten. Es war nicht das existenziell Tödliche Kafkas, sondern etwas anderes, das »nicht den endlosen Kreislauf bedeutungsloser Handlungen einfing, son-dern den endlosen Kreislauf bedeutungsvoller Handlungen«.

»Ich sah, auf welch eigenartige Weise Amerika sich an einen ranpirscht, wenn man nichts hat«, sagte er zu mir. »Niemals grob. Nur so, ja, du musst 14 Stunden am Tag arbeiten. Und ja, du musst mit dem Bus nach Hause fahren. Du hast jetzt zwei Kinder,

und du wirst in dieser Wabe da arbeiten, sonst droht dir die Schande. Plötzlich war das Universum mit moralischer Bedeutung aufgeladen, und ich konnte die Grenzen meiner eigenen Möglichkeiten intensiv spüren. Wir hatten kein Geld, und mir war klar, dass ich, um an Geld zu kommen, noch soundso viele Jahre länger würde arbeiten müssen. Es lag alles klar vor mir, und plötzlich war Absurdität keine intellektuelle Ab-straktion mehr, sondern tatsächlicher Realismus. Man konnte sehen, wie Wohlstand weiteren Wohlstand und Bequemlichkeit produzierte – und dass der kumulative Effekt von ausbleibendem Wohlstand das Abbröckeln jeglichen Anstands war.«

Die Lehre aus alldem entsprach einem Gefühl, das schon viel früher in Sumatra in ihm entstanden war, als er Vonnegut las, aber nicht ganz begriff. »Allmählich verstand ich die Kunst als eine Art Black Box, die der Leser betritt«, schrieb Saunders in seinem Essay über Vonnegut. »Er betritt sie mit einem Gemütszustand und verlässt sie mit einem anderen. Punkte kann der Schriftsteller nicht dadurch machen, dass der Inhalt der Box irgendwelche linearen Ähnlichkeiten zum ›wahren Leben‹ aufweist – er kann da reinstecken, was er will. Wichtig ist nur, dass zwischen Betreten und Verlassen etwas Unleugbares und Nichtbanales mit dem Leser geschieht … Die eigentliche Aus-sage von Slaughterhouse Five lief darauf hinaus, dass unsere tiefsten Erfahrungen die künstlerische Abkopplung vom Tatsächlichen womöglich erfordern. Die Black Box ist

Ich wollte im Jahr 1932 leben.

Ich wollte Hemingway sein.

18

dazu da, uns zu verändern. Wenn die Veränderung durch den Gebrauch erfundenen, absurden Materials größer ausfällt, nur zu.«

In dem neuen Buch gibt es eine Geschichte namens The Semplica Girl Diaries, an der er über zwölf Jahre geschrieben hat. Ein Mann erzählt sie in einer Reihe von Tage-bucheinträgen, der gerade vierzig geworden ist und mehr schlecht als recht gegen die Schande ankämpft, nicht besser für seine Familie sorgen zu können. (Einen Eintrag fand ich, der ich tief in Finanzneurosen und Klassenangst verstrickt bin, von so schla-gender Wahrhaftigkeit, dass ich Schmerzen in der Brust bekam: »Stand da und schaute traurig zum Haus. Dachte: Warum traurig? Sei nicht traurig. Wenn traurig, machst du alle traurig … Muss unbedingt besserer Vater werden! Gütiger. Sofort anfangen. Bald sind sie erwachsen, wie traurig, wenn einzige Erinnerung an dich gereizter gestresster Typ in schrottigem Auto ist.«) Die Semplica Girls des Titels sind Frauen aus verschie-denen Ländern der Dritten Welt (Moldau, Somalia, Laos usw.), die sich für Amerika beworben haben, um die Rasenflächen der Reichen zu dekorieren, indem sie in wal-lenden weißen Gewändern an einer Mikroleitung, die durch ihre Hirne verläuft, über dem Boden schweben. Durch sie – indem er sie erwirbt – hofft der Erzähler, den Status seiner Familie zu verbessern und seinen Kindern Freude zu bringen.

Diese Geschichte gehört zu der Handvoll, die ihren Ursprung in einem Traum des Autors hatten. »Ich trat an ein Fenster, das es in unserem Haus gar nicht gibt, und schaute in den Garten, und da sah ich eine Reihe Frauen, die ich in der Traumlogik als Frauen aus der Dritten Welt erkannte und denen ein Kabel durch den Kopf führte«, sagte er. »Statt entsetzt zu sein, war meine Reaktion: Super, wir haben es geschafft. Fast als hätte man ein neues Auto oder die Kinder auf einer tollen Schule oder so was, dieses Gefühl, ich habe einen weiten Weg hinter mir, jetzt kann ich meiner Familie diese Dinge schenken. Und in dem Gefühl schwang auch so etwas wie leichter gewordene Scham mit.«

Semplica Girls illustriert perfekt das Zusammentreffen von Saunders, dem handwerk-lich experimentellen Tausendsassa, und Saunders, dem Burschen, dessen Herz größer ist als sein Körper. Das ist höchstklassige Science-Fiction. Die Nicht-Wirklichkeit ist absolut überzeugend und fesselnd bis ins Detail ausgeschrieben, aber die Geschichte handelt auch von häuslichen Sehnsüchten und Unterdrückung und Ungerechtigkeit und den komplizierten Welleneffekten des globalen Kapitalismus. In einem Interview auf der Website des New Yorker mit seiner dortigen Redakteurin Deborah Treisman erläuterte Saunders die Herausforderung dieser Geschichte: »Anfangs sind Bedeutung und Hintergründe einer Geschichte ziemlich offensichtlich, aber beim Schreiben wird mir klar, dass ich ihre Bedeutung / ihre Hintergründe zu gut kenne, das heißt, den Lesern wird es ähnlich gehen, die Sache muss also höher geschraubt werden … Auf solche thematischen Herausforderungen kann ich sowieso nur im Verlauf der konkreten Textarbeit Zeile für Zeile eingehen. Im Versuch herauszufinden, was als Nächstes passiert und in welcher Sprache. In diesem Fall hatte ich damit angefangen, den Kerl irgendwie in Unterhosen ans Fenster zu kriegen, mit genau dem beschriebe-nen Gefühl.«

In einer anderen Geschichte, Escape from Spiderhead, wird der Erzähler in einer Art Forschungsgefängnis festgehalten, wo er und die anderen Insassen als menschliche Versuchskaninchen bei der Erprobung neuer Medikamente dienen. Die pharmazeuti-schen Namen sind Saunders pur: Verbaluce, für Denk- und Redegewandtheit; Vivisteif, für genau das, was Sie gerade denken; und Dunkelfloxx. »Versuchen Sie sich mal daran zu erinnern, wie es Ihnen richtig schlecht ging, so schlecht wie noch nie. Dieses Gefühl hoch zehn kommt nicht mal in die Nähe von dem, was Dunkelfloxx mit Ihnen macht.«

george saunders der autor

george saunders der autor

Bei der Geschichte geht es auch um Suizid und um den Kampf, den eigenen Gedan-ken zu entkommen. Ich sagte zu Saunders, sie würde mich an David Foster Wallace erinnern, und er sagte, bewusst schreibe er zwar nicht über Wallace, aber er habe beim Schreiben dieser und anderer Geschichten aus dem Buch viel an ihn gedacht. »Tenth of December hat dieselben Obertöne«, sagte er. »Aber wenn es einem auffällt« – er meinte, wenn man gerade einen Kommentar zum Suizid abgeben will –, »rennt man schnell weg und konzentriert sich einfach darauf, so intensiv wie möglich in die Geschichte und die Figur zu schlüpfen.«

»Ich habe ihn so bewundert«, sagte er über Wallace. »Sein Talent, die Sache auf den Punkt zu bringen, war einfach unglaublich. Und ich dachte, stimmt, wir haben viel gemeinsam. Wir sind ähnliche, nervöse Burschen. Und dann, als er starb, sagte ich mir, Moment, so bist du nicht. Du leidest nicht an einer chronischen, tödlichen Depression. Ich bin ab und zu traurig, aber nicht depressiv. Zudem habe ich eine rühr-selige, natürliche Begeisterungsfähigkeit. Ich bin gern am Leben, das ist manchmal ein bisschen cheerleadermäßig, und wenn ich mit Dave zusammen war, fühlte ich mich immer so. Als er starb, erkannte ich, wie unverhandelbar seine Art von Depression war. Das führte dazu, dass ich meine natürlichen Veranlagungen etwas ehrlicher betrach-tete. Wenn man eine Neigung zum Negativen hat und die verleugnet, verdoppelt man sie. Wenn man diese Neigung hat und sie sich anschaut« – was der Schreibprozess zum Teil ermöglicht –, »dann besteht die Möglichkeit, sie umzuwandeln.«

Als wir uns das letzte Mal trafen, wartete Saunders zusammen mit mir in der Käl-te, bis der Bus nach New York kam. Wir redeten über Beständigkeit, darüber, wie man Menschen bei ihrer Entfaltung helfen kann, einfach indem man sich mit dem Urteilen zurückhält, indem man sich für ihre Möglichkeiten öffnet, wie Saunders es ausdrückte, so wie man sich auch für die Möglichkeiten einer Geschichte öffnet. Wir verabschiedeten uns, und ich stieg ein. Es war inzwischen dunkel, man konnte die anderen Passagiere nicht richtig erkennen. Ich hatte The Braindead Megaphone dabei,

19

George Saunders auf Afrikareise, zu Besuch bei Nelson Mandela.

© P

riva

tarc

hiv

des

Aut

ors

20

machte mein kleines Licht an und las erneut eine Geschichte, die er vor einigen Jahren für GQ geschrieben hatte, über eine Reise nach Dubai. »In allem«, schrieb er, »sind wir Opfer der Fehleinschätzungen aus der Ferne … Die Universalgesetze der Menschheit – Bedürfnisse, Liebe zu den geliebten Menschen, Angst, Hunger, periodische Begeis-terung, die Güte, die bei Abwesenheit von Angst/Hunger/Schmerz ganz natürlich emporsteigt – sind konstant, vorhersehbar … Wie machtvoll dieses Wissen: dass man seine eigenen Sehnsüchte auf Fremde übertragen kann.«

Auch auf die Gefahr hin, am Ende eines Artikels, der mit ziemlich großer Begeis-terung begann, übertrieben zu wirken, würde ich sagen, das ist genau die Wirkung Saunders’scher Literatur auf die Leser. Sie »macht die Ränder weicher«, wie er es in einem unserer Gespräche nannte. »Zwischen Ihnen und mir, zwischen mir und mir, zwischen Leser und Autor.« Sie macht einen klüger, besser und disziplinierter in der Offenheit gegenüber den Erfahrungen anderer Menschen. Der Typ im Bus, der darüber redet, dass seine Freundin seine Musik nicht mag, und warum kann sie ihm nicht ein bisschen Spielraum lassen, wo er gerade so lange gesessen hat? Das Paar im Unterge-

schoss vom Busbahnhof Port Authority, wo die Frau ihrem Mann hilft, in sein blaues Grobi-Kostüm zu steigen, bevor er auf die 42nd Street hinaustritt. Die Frau, neulich morgens, die in der U-Bahn die Bettler anschrie, Weihnachten wäre gerade mal einen Tag vorbei, warum sie uns nicht in Frieden lassen könnten? »Friede auf Erden«, brüllte sie. »Ist das so viel verlangt? Raus aus dem Zug.« Sie hörte nicht auf damit, und einige der anderen Passagiere schalteten sich ein. »Ich habe recht!«, schrie sie. »Ich habe recht.« Und dann wurde ihr Gesicht unendlich traurig.

Dieses Weiche ist schwer durchzuhalten. Es strengt an. Die Dubai-Geschichte endet mit einer Weisheit, die Saunders sich selbst verkündet: »Hab keine Angst vor Verwir-rung. Versuch die ganze Zeit verwirrt zu bleiben. Alles ist möglich. Bleib offen, immer, so offen, dass es wehtut, und dann öffne dich noch ein bisschen mehr, bis zum Tag deines Todes, endlose Welt, Amen.«

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.Aus der New York Times, 6.1.2013 © 2013 The New York Times. All rights reserved. Used by permission and protected by the Copyright Laws of the United States. The printing, copying, redistribution, or retransmission of this Content without express written permission is prohibited.

george saunders der autor

Versuch die ganze Zeit verwirrt zu bleiben.

Alles ist möglich. Bleib offen, immer, so offen,

dass es wehtut, und dann öffne dich noch

ein bisschen mehr, bis zum Tag deines Todes,

endlose Welt.

george saunders auszeichnungen/stipendien

* Frühere Preisträger: John Updike, Saul Bellow, Joyce Carol Oates, Alice Munro, T.C. Boyle,

Nathan Englander, Richard Ford, James Salter

2006: MacArthur Fellowship

2006: Guggenheim Fellowship

2013: PEN/Malamud-Prize (*)

Vielfach ausgezeichnet.

21

22

george saunders backlist

Bisher erschienen.

CivilWarLand in Bad Decline (1996) (dt.: BürgerKriegsLand fast am Ende, DVA 1997/ Bounty-Land, Berlin Taschenbuch 2002)»Eine verblüffend souveräne Stimme – stilsicher, authentisch und komisch –, die uns genau die Geschichten erzählt, die wir in diesen Zeiten brauchen.« Thomas Pynchon Pastoralia (2000) (dt.: Pastoralien, Berlin Verlag 2002)»Saunders kann auf brutale Weise komisch sein, und je besser seine Geschichten sind, desto melancholischer, düsterer und hintergründiger sind sie zugleich.« The New York Times

The Very Persistant Gappers of Frip (Kinderbuch, 2000) (dt.: Die furchtbar hartnäckigen Gapper von Frip, Berlin Verlag 2004)»Bereichert um Gapper-Wissen, erheitert und beglückt vom skurrilen Humor dieser Geschichte um ein tapferes und findiges kleines Mädchen, stellen wir am Ende das Bändchen zu den Lieblingsbüchern.« DIE ZEIT

In Persuation Nation (2006) (dt.: I Can Speak!™, Liebeskind 2012)»George Saunders ist Amerikas aufregendster Short-Story-Schreiber. I CAN SPEAK ist das surreale Porträt unserer Corporate World.« DIE WELT

Tenth of December (2013) (dt.: Zehnter Dezember, Luchterhand 2014)»Kennen Sie George Saunders? Nein? Er gilt als bester Satiriker der USA, die Medien feiern ihn, die Intellektuellen bewundern ihn. Mit grotesken, bösen und lustigen Geschichten steigt er tief hinab in die Abgründe von Konsumkultur und Wettbewerbswahn.« SPIEGEL ONLINE

23

george saunders bei luchterhand

George Saunders preisgekrönt

Nominiert für den National Book Award.

Auch als e-Book erhältlich.

George Saunders · Zehnter DezemberOriginaltitel: Tenth of December. Stories

Deutsch von Frank HeibertStories · 272 Seiten · geb. mit SU · 13,5 x 21,5 cm

ca. € 19,99 [D]/€ 20,60 [A]/CHF 28,50* (*empf. VK)ISBN 978-3-630-87427-2

Auslieferung ab 17. 02. 2014Erscheint in 15 Ländern

© in

terT

OPI

CS

/eye

vine

/Tim

Kno

x ©

Ges

taltu

ng: A

MM

A K

omm

unik

atio

nsde

sign

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Karsten Rösel·Tel. (0 89) 41 36-37 52·Fax (0 89) 41 36-37 23·E-Mail: [email protected] Buchhandel: Natalie Krieger·Tel. (0 89) 41 36-38 52·Fax (0 89) 41 36-6 38 52·E-Mail: [email protected]

„Die Kunst ist eine Art Black Box, die der Leser

betritt. Er betritt sie mit einem Gemütszustand

und verlässt sie mit einem anderen.

Punkte kann der Schriftsteller nicht dadurch

machen, dass der Inhalt der Box irgendwelche

linearen Ähnlichkeiten zum ‚wahren Leben‘

aufweist – er kann da reinstecken, was er will.

Wichtig ist nur, dass zwischen Betreten

und Verlassen etwas Unleugbares und Nicht-

banales mit dem Leser geschieht.

Die Black Box ist dazu da, uns zu verändern.“

George Saunders