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samstag, 12. oktober 2019 magazin badische zeitung III Was wir schreiben, muss wahrsein Acht Romane aus Norwegen, die man im langen Herbst und im noch längeren Winter lesen könnte / Von Peter Urban-Halle A uf der diesjährigen Buchmesse ist Norwe- gen Ehrengast und stellt sich mit zahlrei- chen Übersetzungen vor. Hier sind acht der interessantesten Ti- tel der vergangenen Monate. TOMAS ESPEDAL Bergeners und Das Jahr „Bergeners“ ist ein Welt- und ein Heimatbuch, das eine dient der Horizonterweiterung, das andere dem Innehalten, dem Zu-sich- Kommen. Aber im Grunde han- delt dieses schöne, traurige und nachdenkliche Buch von der Lie- be, der verlorenen Liebe zu Janne. Und der verzweifelten Einsicht, „dass er allein bleiben musste, um mit ihr zusammenzubleiben“. Er trinkt und raucht, sitzt gern im Dunkeln, feiert seinen 50. Ge- burtstag allein und beschreibt Go- yas „Schwarze Bilder“. Freunde macht man sich in diesem Zu- stand (und diesem Alter) nicht mehr. Was dieses Buch mit seinem nächsten verbindet – und übri- gens auch mit Espedals Freund Karl Ove Knausgård, der doch so anders schreibt – , ist der pro- grammatische Satz: „Was wir schreiben, muss wahr sein, wir müssen das Wirkliche mit all unserem Ernst und all unserer Kraft beschreiben“. Und das Wirklichste von allem ist auch hier wieder die Liebe. „Das Jahr“, eine Art Langgedicht, geht von Petrarcas unerfüllter Liebe zu Laura aus, um wieder von Janne zu erzählen, die ihm in „Bergeners“ erklärt hatte: „Wenn wir nach Hause kommen, müssen wir uns trennen.“ (Tomas Espedal: Bergeners. 160 S., 20 Euro. Das Jahr. 198 S., 22 Euro Beide aus dem Norwegischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019.) MERETHE LINDSTROM Aus den Winterarchiven Für „Tage in der Geschichte der Stille“ er- hielt Merethe Lindstrøm, geboren 1963, den Nordischen Literaturpreis 2012 – sehr zu recht. Der Roman fängt an wie ein Krimi und entwickelt sich zu einem Psy- chodrama. Eva, die Lehrerin, und Simon, der Arzt, Eltern dreier Töchter, hatten ein erfülltes Leben, jetzt sind sie alt. Und Si- mon, 80, stellt allmählich das Sprechen ein. Ist es Demenz oder etwas anderes? Beide haben ihr jeweiliges Geheimnis, über das sie immer geschwiegen haben. Eva lässt ihr Leben Revue passieren, aber Simons Erinnerungen scheinen ganz an- dere zu sein. „Aus den Winterarchiven“ handelt von der verzweifelten Liebe der Ich-Erzähle- rin zu ihrem Mann, dem manisch-depres- siven Maler Mats. Indem sie ihn verste- hen will, versucht sie auch sich selbst zu verstehen. Das zu schreiben (und zu le- sen) ist oft schwierig, weil es für das im In- nern Verborgene keine exakte Sprache gibt. Plötzlich bekommt alles Bedeutung. Dementsprechend der Text: kaleidosko- pisch, mit teilweise ausufernden Sätzen, langsam, aber unbeirrt suchend. Eine Seelenerkundung. (Merethe Lindstrøm: Aus den Winterarchiven. Roman. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Verlag Matthes & Seitz Berlin 2019. 296 Seiten, 22 Euro). GEIR GULLIKSEN Geschichte einer Ehe Alles, was man sich in einer Beziehung wünscht, Vertrautheit, Ehrlichkeit, Inti- mität, führt hier letztendlich zum (Ehe-)Bruch. Jon, Autor und Hausmann, und seine Frau Timmy, Ärztin im Gesund- heitsamt, führen eine leidenschaftliche Musterehe. Bis sie einen anderen Mann kennenlernt. Aber können sie sich nicht alles sagen? Also fragt er sie nach ihren Wünschen aus, was der andere mit ihr machen soll. Aber im Grunde tut er das nur, um seine eigenen Phantasien zu be- friedigen. Er fordert den Seitensprung ge- radezu heraus und möchte am liebsten zugucken. Die Geschichte, dramatur- gisch stramm und quälerisch intensiv, wird im Rückblick erzählt, als alles zu spät ist, auch Jons Reue: „Hätte ich es nicht einfach unerwähnt lassen können, dachte ich später. Doch nein.“ Geir Gulliksen, geboren 1963, ist nicht irgendwer. Er ist Verleger und Karl Ove Knausgårds Lektor. Mit seinen Paarvorstellungen muss man nicht einverstanden sein. Trotzdem sind sie unwiderstehlich. Denn das ist Stoff für Debatten. (Geir Gulliksen: Geschichte einer Ehe. Roman. Deutsch von Ursel Allenstein. Luchterhand Verlag, Mün- chen 2019. 222 S., 22 Euro) KJELL ASKILDSEN Das Gesamtwerk Der alte weiße Mann ist in letzter Zeit ein bisschen in Misskredit geraten, Askild- sens Geschichten wären Öl ins Feuer aller Hasserinnen. Seine Helden sind meist Männer, unsympathische Zeitgenossen, sture Einzelgänger, schnell beleidigt, nie zufrieden. Mit so was wie Einsamkeit, Angst und Liebe können diese Leute nicht viel anfangen. Askildsens lakonischer, re- duzierter Stil hat Literaturgeschichte ge- macht: Wer, so sein Landsmann Jan Kjærstad, reiches Fabulieren ablehne und Metaphern- und Gefühlsarmut vorziehe, weise zweifellos das „Askildsen-Syn- drom“ auf. Zum 90. Geburtstag des Dichters liegt jetzt das Gesamtwerk vor: die vielen har- schen, traurigen, bestürzenden, aber eben überragenden Erzählungen, für die er berühmt ist, und sechs kurzen Roma- ne, in denen die Personen sagen können: „Träumen bekommt es nicht gut, ver- wirklicht zu werden“ – was die Figuren nicht daran hindert, es umgekehrt zu ma- chen: nämlich am helllichten Tage ein Phantasiebild vor Augen zu haben, das sie dann „mit in den Schlaf“ nehmen. (Kjell Askildsen: Das Gesamtwerk. 2 Bände mit Begleitbuch. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Luchterhand Verlag München 2019. 1112 S., 48 Euro; er- scheint am 28. Oktober. Lesung: Der Übersetzer stellt das Werk von Askildsen am 8. November im Rahmen des 33. Frei- burger Literaturgesprächs vor.) ROSKVA KORITZINSKY Ich habe die Welt noch nicht gesehen Roskva Koritzinsky, geboren 1989, ist das große Talent der jüngeren norwegischen Literatur. Im Gegensatz zum Titel scheint sie die Welt und das Leben und seine Ge- heimnisse ganz gut zu kennen. Sie ver- steht die kleinen Zeichen, wann etwas be- ginnt und wann etwas endet. Sie weiß, dass Schönheit viele Türen öffnet und eher einem kalten Wind gleicht, und Schönheit und Eitelkeit nicht dasselbe sind, obwohl die Eitlen gern für schön ge- halten werden. Sie weiß, dass man ehr- lich zueinander sein sollte, aber jeder sein Rätsel behalten soll, denn schon am An- fang kommt die Frage, die in all ihren Er- zählungen gestellt werden kann: „Wie viel gemeinsame Lust bleibt, nachdem man sein Leben dem andern völlig ent- hüllt hat?“ Es sind Texte, die eine überra- schende Wendung nehmen, aber plausi- bel enden, die nicht laut, aber deutlich formuliert sind, die das Einfache lieben, aber nicht die Plattitüde. Die eben „schön“, aber nicht eitel sind: ein kalter Wind, der uns nicht schmeichelt und wärmt, sondern uns aufweckt. (Roskva Koritzinsky: Ich habe die Welt noch nicht gesehen. Erzählungen. Deutsch von An- dreas Donat. Karl Rauch Verlag, Düssel- dorf 2019. 96 S., 18 Euro) GERT NYGÅRDSHAUG Mengele Zoo Dieser Roman, der an manchen Stellen an Victor Hugo oder Karl May erinnert und Schmökerqualitäten hat, wurde schon vor 30 Jahren geschrieben und jetzt ins Deutsche übersetzt. Nie hätte es sich der Autor Gert Nygårdshaug, geboren 1946, träumen lassen, dass sein Buch heute – in Zeiten der Bolsonaros und Trumps – aktu- eller sein könnte als damals. „Mengele Zoo“ (was nichts mit dem NS-Arzt zu tun hat, sondern ein Ausdruck der Amazonas- Bevölkerung ist, wenn alles schiefgeht) ist die Geschichte des Indiojungen Mino. Sein Vater ist Schmetterlingsjäger im bra- silianischen Regenwald, damit versorgt er die Familie. Doch die gnadenlose Ausbeu- tung der Natur wird immer schlimmer: Die Wälder werden gerodet, die Indianer hingemetzelt. Die Ermordung seiner El- tern lässt Mino zum Terroristen werden – und wir Leser stehen unwillkürlich auf seiner Seite. Denn kämpft er nicht für eine gute Sache? Auch diese Frage könnte in unserer Zeit noch einmal sehr aktuell werden. (Gert Nygårdshaug: Mengele Zoo. Roman. Deutsch von Babette Hoß- feld. Verlag Vida Verde, Stuttgart 2019. 445 S., 19,90 Euro) SVEIN JARVOLL Eine Australienreise Das Buch von Svein Jarvoll, geboren 1946, sieht aus wie eine Zeitschrift ohne Umschlagbild, ganz weiß, geheftet, zwei- spaltig gedruckt. Im ersten Teil, „Das gel- be Buch“, reist der Norweger Mark Stol- ler von Valencia über Irland und Italien bis nach Australien. Im kürzeren zweiten Teil „Lonaquemor“ sind wir schon in Aus- tralien, wo eine Emmi sich mit Freundin Alice aufmacht, um ihren Vater im Busch zu suchen. Bei Jarvoll wird exzessiv ge- sucht und gereist, und die Begeg- nung mit der fremden Welt führt auch zur Begegnung mit sich selbst. Sein Roman ist ein „durch- dachtes Chaos“ (ein Fast-Zitat), mit Einflüssen von Dante, Rabe- lais und Joyce, gespickt mit bei- nah amüsanten, einfach herrli- chen Passagen. Ihr Lieblingswort „Melancholie“ vergleicht Emmi mit dem Duft von Magnolienblü- ten in einem dunklen Zimmer, ehe man das Licht anmacht. Was für ein wunderbarer Vergleich! So schön, so dunkel, so sonderbar ist das ganze Buch. Man versteht es nur, wenn man entweder viel weiß oder ganz eigene Erklärun- gen für all die Rätsel findet. (Svein Jarvoll: Eine Australienreise. Ro- man. Deutsch von Matthias Fried- rich. Urs Engeler Editor, Schupf- art 2019. 116 S., 21 Euro.) JOHAN HARSTAD Max, Mischka und die Tet-Offensive Dieser dicke Roman ist wie ein Naturereignis: überwältigend. Jo- han Harstad, geboren 1979, er- zählt von der Liebe zwischen dem Ich-Erzähler Max und der Künst- lerin Mischa, die aussieht wie die faszinierende Shelley Duvall. Max ist Regisseur, er träumt von einem Theater, das einem hilft zu begrei- fen, was man tut und wer man ist. Es ist der Anfang einer fast endlosen Erin- nerung an die wichtigen Personen seines Lebens. Mit 13 musste Max aus Stavanger weg, weil der Vater in den USA Arbeit ge- funden hatte. Damit stellt sich die Frage: Wie lange kann man weg sein, bevor es zu spät ist, wieder nach Hause zu kommen? Die Frage gilt für alle, für Max und Mi- scha, aber auch für den Freund Mordecai, Onkel Owen, der in Vietnam war, und die Eltern, die sich irgendwann trennen. Kei- ner von ihnen erkennt, dass auch ein Mensch ein Zuhause sein kann. Ein Lie- bes-, Freundschafts-, Bildungs-, Künstler-, Kriegs- und Exilroman: Haben wir je ein Buch gelesen, das sich so viel vornimmt, ohne daran zu scheitern? (Johan Harstad: Max, Mischa und die Tet-Offensive. Ro- man. Deutsch von Ursel Allenstein. Rowohlt Verlag Hamburg 2019. 1244 S., 34 Euro.) Ein Land mit Naturschauspielen und anderen Dramen: Die berühmte norwegische Aurora Borealis 79199 Kirchzarten-Burg Höllentalstraße 96 Tel. 07661-9880921 Unsere Ladenöffnungszeiten: „In Ihrer Buchhandlung würde ich mich gern einmal ein- schließen lassen“, hören wir von unseren Kunden immer wieder. O.K., das können Sie haben: Sie kommen und wir gehen! Nach Feierabend schließen wir Sie in der Buchhandlung ein, natürlich nicht ohne Ihnen eine Flasche Prosecco und Knabbereien bereitgestellt zu haben. Ein Abend Zeit zu stöbern und zu schmökern, mit Freunden und anderen Buchliebhabern. Gegen 22 Uhr schließen wir auf und entlassen Sie, literaturbereichert, in die Nacht. „SPÄTLESE“ IN DER RAINHOF SCHEUNE Terminwünsche an [email protected] Di. – Sa 9:30 – 18:30 und So. 11:30 – 18:30 Uhr www.buchladen-rainhof.de FOTO: PRZEMEK SZATKOWSKI (STOCK.ADOBE.COM)

Layout 12.10.2019/ges-3/mag/mag3/A//ngendaemon2 b · 2019. 10. 15. · (Kjell Askildsen: Das Gesamtwerk. 2 Bände mit Begleitbuch. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Luchterhand

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Page 1: Layout 12.10.2019/ges-3/mag/mag3/A//ngendaemon2 b · 2019. 10. 15. · (Kjell Askildsen: Das Gesamtwerk. 2 Bände mit Begleitbuch. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Luchterhand

samstag, 12 . oktober 2019 magazin b a d i s c h e z e i t u n g I I I

Was wir schreiben, muss wahr seinAcht Romane aus Norwegen, die man im langen Herbst und im noch längeren Winter lesen könnte / Von Peter Urban-Halle

Auf der diesjährigenBuchmesse ist Norwe-gen Ehrengast undstellt sich mit zahlrei-

chen Übersetzungen vor. Hiersind acht der interessantesten Ti-tel der vergangenen Monate.

TOMAS ESPEDALBergeners und Das Jahr

„Bergeners“ ist ein Welt- und einHeimatbuch, das eine dient derHorizonterweiterung, das anderedem Innehalten, dem Zu-sich-Kommen. Aber im Grunde han-delt dieses schöne, traurige undnachdenkliche Buch von der Lie-be, der verlorenen Liebe zu Janne.Und der verzweifelten Einsicht,„dass er allein bleiben musste, ummit ihr zusammenzubleiben“. Ertrinkt und raucht, sitzt gern imDunkeln, feiert seinen 50. Ge-burtstag allein und beschreibt Go-yas „Schwarze Bilder“. Freundemacht man sich in diesem Zu-stand (und diesem Alter) nichtmehr.

Was dieses Buch mit seinemnächsten verbindet – und übri-gens auch mit Espedals FreundKarl Ove Knausgård, der doch soanders schreibt – , ist der pro-grammatische Satz: „Was wirschreiben, muss wahr sein, wirmüssen das Wirkliche mit allunserem Ernst und all unsererKraft beschreiben“. Und das Wirklichstevon allem ist auch hier wieder die Liebe.„Das Jahr“, eine Art Langgedicht, gehtvon Petrarcas unerfüllter Liebe zu Lauraaus, um wieder von Janne zu erzählen, dieihm in „Bergeners“ erklärt hatte: „Wennwir nach Hause kommen, müssen wir unstrennen.“ (Tomas Espedal: Bergeners.160 S., 20 Euro. Das Jahr. 198 S., 22 EuroBeide aus dem Norwegischen übersetztvon Hinrich Schmidt-Henkel. VerlagMatthes & Seitz, Berlin 2019.)

MERETHE LINDSTROMAus den Winterarchiven

Für „Tage in der Geschichte der Stille“ er-hielt Merethe Lindstrøm, geboren 1963,den Nordischen Literaturpreis 2012 –sehr zu recht. Der Roman fängt an wie einKrimi und entwickelt sich zu einem Psy-chodrama. Eva, die Lehrerin, und Simon,der Arzt, Eltern dreier Töchter, hatten einerfülltes Leben, jetzt sind sie alt. Und Si-mon, 80, stellt allmählich das Sprechenein. Ist es Demenz oder etwas anderes?Beide haben ihr jeweiliges Geheimnis,über das sie immer geschwiegen haben.Eva lässt ihr Leben Revue passieren, aberSimons Erinnerungen scheinen ganz an-dere zu sein.

„Aus den Winterarchiven“ handelt vonder verzweifelten Liebe der Ich-Erzähle-rin zu ihrem Mann, dem manisch-depres-siven Maler Mats. Indem sie ihn verste-hen will, versucht sie auch sich selbst zuverstehen. Das zu schreiben (und zu le-sen) ist oft schwierig, weil es für das im In-nern Verborgene keine exakte Sprachegibt. Plötzlich bekommt alles Bedeutung.Dementsprechend der Text: kaleidosko-pisch, mit teilweise ausufernden Sätzen,langsam, aber unbeirrt suchend. EineSeelenerkundung. (Merethe Lindstrøm:Aus den Winterarchiven. Roman. Ausdem Norwegischen von Elke Ranzinger.Verlag Matthes & Seitz Berlin 2019. 296Seiten, 22 Euro).

GEIR GULLIKSENGeschichte einer Ehe

Alles, was man sich in einer Beziehungwünscht, Vertrautheit, Ehrlichkeit, Inti-mität, führt hier letztendlich zum(Ehe-)Bruch. Jon, Autor und Hausmann,und seine Frau Timmy, Ärztin im Gesund-heitsamt, führen eine leidenschaftlicheMusterehe. Bis sie einen anderen Mannkennenlernt. Aber können sie sich nicht

alles sagen? Also fragt er sie nach ihrenWünschen aus, was der andere mit ihrmachen soll. Aber im Grunde tut er dasnur, um seine eigenen Phantasien zu be-friedigen. Er fordert den Seitensprung ge-radezu heraus und möchte am liebstenzugucken. Die Geschichte, dramatur-gisch stramm und quälerisch intensiv,wird im Rückblick erzählt, als alles zu spätist, auch Jons Reue: „Hätte ich es nichteinfach unerwähnt lassen können, dachteich später. Doch nein.“ Geir Gulliksen,geboren 1963, ist nicht irgendwer. Er istVerleger und Karl Ove Knausgårds Lektor.Mit seinen Paarvorstellungen muss mannicht einverstanden sein. Trotzdem sindsie unwiderstehlich. Denn das ist Stoff fürDebatten. (Geir Gulliksen: Geschichteeiner Ehe. Roman. Deutsch von UrselAllenstein. Luchterhand Verlag, Mün-chen 2019. 222 S., 22 Euro)

KJELL ASKILDSENDas Gesamtwerk

Der alte weiße Mann ist in letzter Zeit einbisschen in Misskredit geraten, Askild-sens Geschichten wären Öl ins Feuer allerHasserinnen. Seine Helden sind meistMänner, unsympathische Zeitgenossen,sture Einzelgänger, schnell beleidigt, niezufrieden. Mit so was wie Einsamkeit,Angst und Liebe können diese Leute nichtviel anfangen. Askildsens lakonischer, re-duzierter Stil hat Literaturgeschichte ge-macht: Wer, so sein Landsmann JanKjærstad, reiches Fabulieren ablehne undMetaphern- und Gefühlsarmut vorziehe,weise zweifellos das „Askildsen-Syn-drom“ auf.

Zum 90. Geburtstag des Dichters liegtjetzt das Gesamtwerk vor: die vielen har-schen, traurigen, bestürzenden, abereben überragenden Erzählungen, für dieer berühmt ist, und sechs kurzen Roma-ne, in denen die Personen sagen können:„Träumen bekommt es nicht gut, ver-wirklicht zu werden“ – was die Figurennicht daran hindert, es umgekehrt zu ma-chen: nämlich am helllichten Tage einPhantasiebild vor Augen zu haben, das siedann „mit in den Schlaf“ nehmen. (KjellAskildsen: Das Gesamtwerk. 2 Bände mitBegleitbuch. Deutsch von HinrichSchmidt-Henkel. Luchterhand VerlagMünchen 2019. 1112 S., 48 Euro; er-scheint am 28. Oktober. Lesung: DerÜbersetzer stellt das Werk von Askildsenam 8. November im Rahmen des 33. Frei-burger Literaturgesprächs vor.)

ROSKVA KORITZINSKYIch habe die Welt nochnicht gesehen

Roskva Koritzinsky, geboren 1989, ist dasgroße Talent der jüngeren norwegischenLiteratur. Im Gegensatz zum Titel scheintsie die Welt und das Leben und seine Ge-heimnisse ganz gut zu kennen. Sie ver-steht die kleinen Zeichen, wann etwas be-ginnt und wann etwas endet. Sie weiß,dass Schönheit viele Türen öffnet undeher einem kalten Wind gleicht, undSchönheit und Eitelkeit nicht dasselbesind, obwohl die Eitlen gern für schön ge-halten werden. Sie weiß, dass man ehr-lich zueinander sein sollte, aber jeder seinRätsel behalten soll, denn schon am An-fang kommt die Frage, die in all ihren Er-zählungen gestellt werden kann: „Wieviel gemeinsame Lust bleibt, nachdemman sein Leben dem andern völlig ent-hüllt hat?“ Es sind Texte, die eine überra-schende Wendung nehmen, aber plausi-bel enden, die nicht laut, aber deutlichformuliert sind, die das Einfache lieben,aber nicht die Plattitüde. Die eben„schön“, aber nicht eitel sind: ein kalterWind, der uns nicht schmeichelt undwärmt, sondern uns aufweckt. (RoskvaKoritzinsky: Ich habe die Welt noch nichtgesehen. Erzählungen. Deutsch von An-dreas Donat. Karl Rauch Verlag, Düssel-dorf 2019. 96 S., 18 Euro)

GERT NYGÅRDSHAUGMengele Zoo

Dieser Roman, der an manchen Stellen anVictor Hugo oder Karl May erinnert undSchmökerqualitäten hat, wurde schonvor 30 Jahren geschrieben und jetzt insDeutsche übersetzt. Nie hätte es sich derAutor Gert Nygårdshaug, geboren 1946,träumen lassen, dass sein Buch heute – inZeiten der Bolsonaros und Trumps – aktu-eller sein könnte als damals. „MengeleZoo“ (was nichts mit dem NS-Arzt zu tunhat, sondern ein Ausdruck der Amazonas-Bevölkerung ist, wenn alles schiefgeht) istdie Geschichte des Indiojungen Mino.Sein Vater ist Schmetterlingsjäger im bra-silianischen Regenwald, damit versorgt erdie Familie. Doch die gnadenlose Ausbeu-tung der Natur wird immer schlimmer:Die Wälder werden gerodet, die Indianerhingemetzelt. Die Ermordung seiner El-tern lässt Mino zum Terroristen werden –und wir Leser stehen unwillkürlich aufseiner Seite. Denn kämpft er nicht für

eine gute Sache? Auch diese Frage könntein unserer Zeit noch einmal sehr aktuellwerden. (Gert Nygårdshaug: MengeleZoo. Roman. Deutsch von Babette Hoß-feld. Verlag Vida Verde, Stuttgart 2019.445 S., 19,90 Euro)

SVEIN JARVOLLEine Australienreise

Das Buch von Svein Jarvoll, geboren1946, sieht aus wie eine Zeitschrift ohneUmschlagbild, ganz weiß, geheftet, zwei-spaltig gedruckt. Im ersten Teil, „Das gel-be Buch“, reist der Norweger Mark Stol-ler von Valencia über Irland und Italienbis nach Australien. Im kürzeren zweitenTeil „Lonaquemor“ sind wir schon in Aus-tralien, wo eine Emmi sich mit FreundinAlice aufmacht, um ihren Vater im Buschzu suchen. Bei Jarvoll wird exzessiv ge-

sucht und gereist, und die Begeg-nung mit der fremden Welt führtauch zur Begegnung mit sichselbst. Sein Roman ist ein „durch-dachtes Chaos“ (ein Fast-Zitat),mit Einflüssen von Dante, Rabe-lais und Joyce, gespickt mit bei-nah amüsanten, einfach herrli-chen Passagen. Ihr Lieblingswort„Melancholie“ vergleicht Emmimit dem Duft von Magnolienblü-ten in einem dunklen Zimmer,ehe man das Licht anmacht. Wasfür ein wunderbarer Vergleich! Soschön, so dunkel, so sonderbar istdas ganze Buch. Man versteht esnur, wenn man entweder vielweiß oder ganz eigene Erklärun-gen für all die Rätsel findet. (SveinJarvoll: Eine Australienreise. Ro-man. Deutsch von Matthias Fried-rich. Urs Engeler Editor, Schupf-art 2019. 116 S., 21 Euro.)

JOHAN HARSTADMax, Mischka unddie Tet-Offensive

Dieser dicke Roman ist wie einNaturereignis: überwältigend. Jo-han Harstad, geboren 1979, er-zählt von der Liebe zwischen demIch-Erzähler Max und der Künst-lerin Mischa, die aussieht wie diefaszinierende Shelley Duvall. Maxist Regisseur, er träumt von einemTheater, das einem hilft zu begrei-fen, was man tut und wer man ist.

Es ist der Anfang einer fast endlosen Erin-nerung an die wichtigen Personen seinesLebens. Mit 13 musste Max aus Stavangerweg, weil der Vater in den USA Arbeit ge-funden hatte. Damit stellt sich die Frage:Wie lange kann man weg sein, bevor es zuspät ist, wieder nach Hause zu kommen?Die Frage gilt für alle, für Max und Mi-scha, aber auch für den Freund Mordecai,Onkel Owen, der in Vietnam war, und dieEltern, die sich irgendwann trennen. Kei-ner von ihnen erkennt, dass auch einMensch ein Zuhause sein kann. Ein Lie-bes-, Freundschafts-, Bildungs-, Künstler-,Kriegs- und Exilroman: Haben wir je einBuch gelesen, das sich so viel vornimmt,ohne daran zu scheitern? (Johan Harstad:Max, Mischa und die Tet-Offensive. Ro-man. Deutsch von Ursel Allenstein.Rowohlt Verlag Hamburg 2019. 1244 S.,34 Euro.)

Ein Land mit Naturschauspielen und anderen Dramen: Die berühmte norwegische Aurora Borealis

79199 Kirchzarten-Burg Höllentalstraße 96Tel. 07661-9880921

Unsere Ladenöffnungszeiten:

„In Ihrer Buchhandlung würde ich mich gern einmal ein-schließen lassen“, hören wir von unseren Kunden immer wieder. O.K., das können Sie haben: Sie kommen und wir gehen! Nach Feierabend schließen wir Sie in der Buchhandlung ein, natürlich nicht ohne Ihnen eine Flasche Prosecco und Knabbereien bereitgestellt zu haben. Ein Abend Zeit zu stöbern und zu schmökern, mit Freunden und anderen Buchliebhabern. Gegen 22 Uhr schließen wir auf und entlassen Sie, literaturbereichert, in die Nacht.

„SPÄTLESE“

I N D E R R A I N H O F S C H E U N E

Terminwünsche an [email protected]

Di. – Sa 9:30 – 18:30 und So. 11:30 – 18:30 Uhr

www.buchladen-rainhof.de

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