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Gerichtlich-Psychiatrisches Kuriosum. (Ein Beitrag zur ,,Freiheitsberaubung" Geisteskranker.) Von E. Meyer-KSnigsberg Pr. (Eingegangen am 13. November 1924.) Im Juh 1922 bat reich eine Frau X. um Aufnahme ihres Mannes in die Nerven- klinik. Derselbe (Hotelbesitzer) trinke vor allem seit 1--2 Jahren unmM3ig, sei oft im Geschi~ft betrunken, skandaliere, werde gewMtti~tig, verschwende unsinnig. Er leide hin und wieder an epileptischen AnfMlen. Vor 3 Jahren habe sie sich schon wegen ~hnlieher VerhMtnisse yon ihrem Manne scheiden lassen wollen, habe die Klage aber auf seine Bitte zurtickgezogen. Da die Frau erkl~rte, frei- wilhg werde ihr Mann die Klinik nie aufsuehen, wies ieh sie an den Gerichtsarzt Herrn Professor Nippe. Daraufhin wurde X. am 7. VIII. 1922 yon der Polizei mit der schriftliehen Erkl~rung: ,,Laut gerichtsi~rztlichem Beschlul3" in die Klinik gebracht, wozu naehfolgende Zengnisse yon Professor Nippe eingingen: 1. ,,Der Hotelbesitzer X. ist heute yon mir untersucht wordem gegen ihn ist der Antrag auf Entmiindigung gestellt wegen Trunksucht. Die Untersuchung dureh mich hat ergeben, dab er nieht nur ein sehwerer Trinker ist, sondern auch als Epileptiker geisteskrank ist. Infolge seiner GeistesstSrung, die sich in un- begriindetem Eifersuehtswahn, schweren Erregungszusti~nden ~uftert, ist er sich selbst und anderen gefghrlieh und er bedarf daher der sofortigen Aufnahme in die Universit~its-Nervenklinik. Einer erneuten Untersuehung dureh mieh vorher bedarf es nieht. Ich bitte vielmehr das zustgndige Polizeirevier. Herrn X. sofort der Universitgts-Nerven- klinik zuzufiihren. Mit der vorgesehriebenen dienstlichen Versieherung... Institut ftir Gerichtliche Medizin der Albertus-Universitiit"... 2. ,,Montag, den 7. VIII. d. J. habe ieh den Hotelbesitzer X. in seinem Hause untersucht. Er war nachmittags nm 5 Uhr in stark angetrunkenem Zustande, gab auch zu, einige Glas Bier und einige Schn~tpse getrunken zu haben. Er bet aueh kSrperlieh eine l~eihe Zeichen schwerer ehronischer Trunksucht, Zittern der H~nde, Lidflattern, Zittern der herausgestreckten Zunge. Die Herztgtigkeit war stark beschleunigt, es bestand Rachen- und Magenkatarrh. Druck auf die Mus- keln der Arme wurde als sehr schmerzhaft empfunden. Es bestand also auch Poly- neuritis alcoholica. Er erwies sich seinem Trunke gegenfiber vSlhg uneinsichtig, beschuldigte seine Frau, vonder er kurz vorher noeh erzi~hlt hatte, dal3 sie sieh ihm verweigere und iiberhaupt durehaus kalt sei, ehebreeherischer Handlungen. Als ich die Unterredung ~bbrach und mit seiner Frau im Gesch~ftsraum des Hotels ]Ziicksprache hielt, stiirzte er mehrere grol3e Schni~pse ganz schnell hinunter und fuhr dann selbst kutsehierend wie ein Rasender mit einem Hotelwagen die Stral3en weg. Nach diesem Befunde und nach Kenntnis der Vorgesehichte muBte ich zu der Annahme kommen, dab X. ein ganz schwerer Alkohohst ist, der sich und an- deren gef~hrlieh werden kann, zudem die durch die Trunkenheit hervorgerufene Obererregbarkeit dureh eine vorhandene Epilepsie sicher]ich gesteigert wird. Ieh

Gerichtlich-Psychiatrisches Kuriosum

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Gerichtlich-Psychiatrisches Kuriosum. (Ein Beitrag zur ,,Freiheitsberaubung" Geisteskranker.)

Von

E. Meyer-KSnigsberg Pr. (Eingegangen am 13. November 1924.)

I m J u h 1922 ba t reich eine F rau X. um Aufnahme ihres Mannes in die Nerven- klinik. Derselbe (Hotelbesitzer) t r inke vor allem seit 1--2 J a h r e n unmM3ig, sei oft im Geschi~ft betrunken, skandaliere, werde gewMtti~tig, verschwende unsinnig. Er leide hin und wieder an epileptischen AnfMlen. Vor 3 J ah ren habe sie sich schon wegen ~hnlieher VerhMtnisse yon ihrem Manne scheiden lassen wollen, habe die Klage aber auf seine Bi t te zurtickgezogen. Da die Frau erkl~rte, frei- wilhg werde ihr Mann die Klinik nie aufsuehen, wies ieh sie an den Gerichtsarzt Her rn Professor Nippe. Daraufhin wurde X. am 7. VIII . 1922 yon der Polizei mi t der schriftliehen Erkl~rung: , ,Laut gerichtsi~rztlichem Beschlul3" in die Klinik gebracht , wozu naehfolgende Zengnisse yon Professor Nippe eingingen:

1. ,,Der Hotelbesitzer X. ist heute yon mir untersucht wordem gegen ihn is t der Antrag auf Entmiindigung gestellt wegen Trunksucht . Die Untersuchung dureh mich ha t ergeben, dab er n ieht nur ein sehwerer Trinker ist, sondern auch als Epileptiker geisteskrank ist. Infolge seiner GeistesstSrung, die sich in un- begri indetem Eifersuehtswahn, schweren Erregungszusti~nden ~uftert, ist er sich selbst und anderen gefghrlieh und er bedarf daher der sofortigen Aufnahme in die Universit~its-Nervenklinik.

Einer erneuten Untersuehung dureh mieh vorher bedarf es nieht. Ich bi t te vielmehr das zustgndige Polizeirevier. Herrn X. sofort der Universitgts-Nerven- klinik zuzufiihren.

Mit der vorgesehriebenen dienstl ichen V e r s i e h e r u n g . . . Ins t i tu t ftir Gerichtliche Medizin der A lbe r tus -Un ive r s i t i i t " . . .

2. ,,Montag, den 7. VII I . d. J . habe ieh den Hotelbesitzer X. in seinem Hause untersucht . Er war nachmi t tags nm 5 Uhr in s tark angetrunkenem Zustande, gab auch zu, einige Glas Bier und einige Schn~tpse getrunken zu haben. Er be t aueh kSrperlieh eine l~eihe Zeichen schwerer ehronischer Trunksucht , Zi t tern der H~nde, Lidflattern, Zi t tern der herausgestreckten Zunge. Die Herztgtigkeit war s tark beschleunigt, es bes tand Rachen- und Magenkatarrh. Druck auf die Mus- keln der Arme wurde als sehr schmerzhaft empfunden. Es bes tand also auch Poly- neuritis alcoholica. E r erwies sich seinem Trunke gegenfiber vSlhg uneinsichtig, beschuldigte seine Frau, v o n d e r er kurz vorher noeh erzi~hlt hat te , dal3 sie sieh ihm verweigere und i iberhaupt durehaus kal t sei, ehebreeherischer Handlungen. Als ich die Unter redung ~bbrach und mit seiner Frau im Gesch~ftsraum des Hotels ]Ziicksprache hielt, stiirzte er mehrere grol3e Schni~pse ganz schnell h inunter und fuhr dann selbst kutsehierend wie ein Rasender mit einem Hotelwagen die Stral3en weg. Nach diesem Befunde und nach Kenntnis der Vorgesehichte muBte ich zu der Annahme kommen, dab X. ein ganz schwerer Alkohohst ist, der sich und an- deren gef~hrlieh werden kann, zudem die durch die Trunkenhei t hervorgerufene Obererregbarkeit dureh eine vorhandene Epilepsie sicher]ich gesteigert wird. Ieh

E. Meyer-KSnigsberg Pr.: Gerichtlich-Psychiatrisehes Kuricsum. 359

habe deshalb seine ~berff ihrung in die Universit/~ts-Nervenklinik fiir notwendig erachtet.

Der G e r i e h t s a r z t " . . . X. zeigte bei der Aufnahme gedunsenes und ger0tetes Gesieht und roch nach

Alkohol. Ebenso waren die sichtbaren Schleimh~ute s tark gerStet, es bes tand Zi t tern der Augenlider, der Zunge, die s tark belegt war, der H/~nde, Druckemp- findliehkeit der groBen Nerven und Muskeln an den Beinen. An der Zunge be- fanden sieh alte BiBnarben. X. gab zu. dab er 5fters s tark tr inke, das bringe das Geseh/~ft so mit sich. Auch sei seine Frau schuld daran mit ihrer Nervositi~t und gesehlechthchen Kiihle. Gewaltt/~tigkeiten u. dgl. bes t r i t t er. Im Sommer d . J . sei err yon seinem Hausarzt in ein Sanator ium gesehiekt, get runken habe er dort aueh. An Kr~mpfen leide er in grSBeren Abst/ inden seit dem 16. Lebensjahre. Die Priifung des Ged/~ehtnisses ergab erhebhehe Herabsetzung der Merkf~higkeit.

Bald t r a t bei X. eine gewisse Einsicht ffir die Folgen des Alkoholmil~brauches und das Verh/~ltnis zu seiner Frau ein. Er erholte sieh kSrperhch sehr, war tage- weise fiir sein Hotel beurlaubt. Dabei t r ank X. wieder und es t r a t bei der Rfiek- kehr in die Klinik ein ausgesprochen epileptiseher Anfall ein. Zeitweise war X. dann wieder sehr einsiehtslos. Am 31. X. 1923 wurde er mi t Zust immung der Polizei beur laubt ; soll nach Feststellung in der Folgezeit wieder viel tr inken.

Das ist die klinische Beobachtung in kurzen Ziigen. Inzwischen ereignete sieh folgendes:

Die Verwandten yon X. hielten seine Verbringung und Festhal tung in der Klinik fiir ungerecht und nahmen einen Anwalt. Dieser wandte sieh an mich. Ich erkl/~rte ihm, dab unsere Beobaehtung die Zeugnisse von Herrn Professor 37ippe, die ich ihm vorlas, durch~us bestatige, dab bei X. Gemeingefahrhchkeit und Besehr/~nkung der Geschi~ftsf/~higkeit vorliege, dab ich ihn daher pfliehtgemi~lt nieht entlassen kSnne. Wenn X. bisher yon der Polizei n ieht fiir gemeingefi~hrlich erkli~rt sei, so beruhe das darauf, dal~ ieh das m6glichst lange im Interesse des Kranken vermeiden wolle. Er, als Anwalt, handele gegen dies Interesse seines Mandanten, wenn er die Saehe an die Staatsanwaltsehaf t bringe, denn dann werde X. unzweifelhaft fiir gemeingef/~hrlich erkl/~rt, seine Ent lassung dadurch sehr er- schwert, auch werde er spi~ter auf der Liste der polizeilich gemeldeten Geistes- k ranken stehen. Der Anwalt sehien kein Versti~ndnis hierfiir zu haben. Er wandte sich viehnehr an die Regier~ng (12. VIII . 1922), die ihn belehrte, dab sie keine Befugnisse zum Eingreifen der Klinik gegeniiber habe. deren Direktor vielmehr nach bester wissensehaftlicher ~berzeugung und bestem Gewissen handeln mfisse, unter eigener strafreehtlieher Verantwortl iehkeit und alleiniger Aufsicht dutch den Kura to r der Universit/~t. Im fibrigen sei der S t andpunk t der Regierung der, dab die Festhal tung eines unbesehr~nkt gesch/~ftsf/s Mannes gegen seinen Willen sieh nu t dann rechtfertige, wenn seine Gemeingef~hrlichkeit festgestellt und der PolizeibehSrde zur Kenntnis gebracht sei, so dab diese die zwangsweise Un~erbringung anordne oder die Festhal tung b i l l i g e ~ n t e r dem 16. VIII . 1922 sehrieb weiter die Staatsanwaltscha]t, die Reehtsanw~lte h/~tten gegen mieh Straf- anzeige wegen Freihei tsberaubung erstattet . Sie erblickten diese in der Zuriick- hal tung des X. wider seinen Willen in der Nervenkhnik. Sie ersuche um gefl. tun- liehst umgehende AuBerung, auf Grund weleher Unter]age bzw. gesetzliehen Be- s t immung ich zur zwangsweisen Festhal tung des X. glaube berechtigt zu sein.

I n meiner Antwort bemerkte ieh, dab X. am 7. VII I . 1922 mi t den Zeugnissen yon Professor Nippe, die ich in Absehrift beilegte, mi t Hilfe der Polizei auf Veran- lassung seiner Ehefrau aufgenommen sei. Die Untersuchung wie die weitere Be- obaehtung h~t ten das Urteil yon Professor N. durchaus best/~tigt. Es unterliege keinem Zweifel, dab X. ein sehwerer Trinket (die Untersuehung habe eine Reihe

360 E. Meyer:

kSrperlicher Zeichen dafiir ergeben) und zugleich Epileptiker sei, der auch eine ge- wisse Urteils- und Willenssehw/~ehe zeige, somit auch nur beschr~nkt gesch~fts- f/s sei und infolge der Trunksucht f/ir die Umgebung gef/~hrlich erseheine. Her- vorzuheben sei noeh, dab F rau X., wie der Ehemann best/~tige, vor 3 J ah ren An- trag auf Eheseheidung stellen wollte. Nach Angabe der F rau habe der Ehenmnn sie damals mit dem Revolver bedroht.

, ,Nach allem habe ieh die Ent lassung yon X. im Interesse des Kranken wie der Familie ablehnen miissen, da er als gemeingef/~hrlich anzusehen ist und, auBer- dem in seiner Geseh/~ftsf/~higkeit beschr/~nkt, der Klinik- bzw. Anstaltspflege bedarf ."

Die F rau habe den Antrag auf Entmfindigung wegen Trunksucht gestelltl). i m /ibrigen wolle sie, da ihr Mann ihr je tzt Entha l t samkei t versproehen habe, in nicht zu langer Zeit seine Ent lassung versuehen.

In denselben Tagen ha t der Anwalt beim Landgericht folgenden Beschltt[3 erwirkt. 1. I n Sachen des Hotelbesitzers X., zurzeit in der Universit/~ts-Nervenklinik,

Antragsteller, ver t re ten dutch die Rechtsanw/~l te . . . gegen den Direktor der Uni- versit/~ts-Nervenklinik Geheimrat M., Antragsgegner, wird auf Antrag im Wege der einstweiligen Ver/iigung ohne vorgt~ngige m~ndliche Verhandlung gem/~B w167 941, 91 ZPO., 823 BGB. angeordnet: Der Antragsgegner wird verurteilt , den Antrag- steller aus der Nervenkl inik sofort aus der Nervenklinik zu entlassen und die Kosten dieses Verfahrens zu tragen.

Der Wert des Gegenstandes zu 1. wird auf 50000.- - M. festgesetzt. K6nigsberg Pr., den 17. VIII . 1922.

Landgerieht. '~ Unter der beglaubigten Absehrift des Besehlusses fund sieh die Bemerkung

des Anwalts an den Gerichtsvollzieher vom 18. VII I . 1922, dab unbedingt sofortige Zustellung und Vollstreckung erbeten wiirde, die Ent lassung mfisse noch heute erfolgen. Was sieh daraus ergab, sehildert am einfachsten mein Schreiben an den Landgerichtspr/~sidenten vom 22. VII I . 1922:

,,Euer Hochwohlgeboren erlaube ich mir, nachfolgende Angelegenheit zur Kenntn is zu bringen:

Am 7. VIII . 1922 wurde der Hotelbesitzer X. mi t den in Absehrift beihegenden Zeugnissen von Herrn Professor Nippe mit Hilfe der Polizei auf Veranlassung seiner Ehefrau in die Universi t~ts-Nervenklinik aufgenommen. Seine Anw/~lte be- tr ieben auf Veranlassung des Kranken wie dessen Verwandten seine Entlassung. Dieselbe wurde miindlich yon mir abgelehnt (den Anw~lten wurden dabei die Zeugnisse yon Professor N. bekanntgegeben) mit der gleichen Begrfindung, wie ieh sie unter dem 17. VII I . an den Herrn Oberstaatsanwalt sandte, bei dem die An- w/~lte sich besehwert ha t t en (Abschrift liegt bei).

Am 19. VIII . 1922 fr/ih ersehien ein Gerichtsvollzieher in der Klinik, der sehr eilig erkl/~rte, er miisse Herrn X. herausholen, er habe keine Zeit zu warten, er habe hier eine Zustellung des Geriehts an den Direktor der Klinik, da sei nichts bei zu nmchen, er m/isse den Kranken sofort mitnehmen. Er zeigte dann bei- liegenden BesehluB und iiberreichte ihn mir und verlangte, obwohl ich ihm er- kl/s dab der Kranke ihm nieht mitgegeben werde, hineingelassen zn werden, und forderte schheBlich die Erkl/~rung, dab der Direktor dagegen Gewalt anwende. Er ging dann ab, um polizeihche Hilfe zu holen. Inzwisehen 1/~uteten die Rechts- anw/~lte an und fragten, ob X. dem Gerichtsvollzieher mitgegeben sei. Worauf ieh ihnen erkl/~rte, dab das nieht gesehehen sei und dab ich gegen dieses unerh6rte Verfahren jede m6gliche Beschwerde einlegen wfirde. Naeh telephoniseher Be-

1) Wurde sparer zurfiekgezogen.

Gerichtlich-Psychiatrisehes Kuriosum. 361

sprechung mit Herrn Professor Nippe wandte sich dieser an das Pohzeipr/~sidium, um polizeiliches Eingreifen zu verhindern. Inzwischen erschien der Gerichtsvoll- zieher mit einem Polizeibeamten. Ersterer erkl/~rte, n ieht warren zu wollen, ob- wohl ihm gesagt wurde, dub dig Polizei gleieh dem Pohzeibeamten Weisung erteilen wiirde, sondern dr/~ngte in unverst/~ndigster Weise fortw/~hrend auf Eingreifen des Polizisten, obwohl er zugeben muftte, dub ihm ein soleher Full noch nie vorge- kommen sei. Mittlerweile wurde der Pohzist yon dem Polizeirat L. beschieden, nichts zu unternehmen, da X. von Herrn Professor N. je tz t ffir polizeilich gemein- gef/~hrlieh erkl/~rt sei.

Mir ist bewuBt, dub Euer Hochwohlge%oren riehterliehe Entscheidungen zu beans tanden nicht in der Lage sind. Ich helte eber doch den vorliegenden Be- schtul3, der meines Wissens noeh hie bisher ergengen ist, ftir prinzipiell so ein- sehneidend und bedenklieh, daft ieh die Aufmerksamkeit darauf hinlGnken muB.

Was den vorliegenden Fall angeht, so herren Professor N. und ieh versueht, ihn als reinen Krankheits/all zu behandeln und nicht zu einem polizeilichen zu machen. J e t z t muBte letzteres geschehen und dadurch werden die grz thehen MaB- nahmen durch polizefliche Riieksioht gehindert - - darauf ha t te ieh fibrigens mfind- lich dig Anwglte schon hingewiesen - - .

Alles des gilt aber auch allgemein. Man denke sieh (Fglle, die alltgglieh sind): Ein Krenker mit progressiver Parelyse (Gehirnerweichung) werde auf Ver- anlessung seines Hausarztes der Klinik zugefiihrt, wobei, wig nebenher erwghnt sei, es euch im Interesse des Kranken mit l~iicksicht auf die Voreingenommenhei t des Publ ikums liegt, dub hier neben ausgesproehen psyehisch Kranken leicht Iqer- v6se und Nervenkranke aller Art behandel t werden. Verwandte des Kranken wollen sich yon der Krankhei t nicht iiberzeugen lessen, nGhmen einen Anwalt , der eine gleiche Verfiigung wie die oben mitgeteilte veranlal~t. Effekt: Die Not- wendigkeit der nachtri~glichen polizeiliehen Einweisung des Kranken mi t sehr wehrscheinhch schwerer Seh~tdigung in matevieller, eber euch in allgemein ethiseher Beziehung fiir Kranke und Angeh6rige. Und des alles, ohne einen Arzt, einen Gut- aehter irgendwie zu h6ren! Jede i~rztliche Behandlung, jede Riicksicht euf Kranke und Angeh6rige wird untergrabem wenn Kranke gewissermel]en wie ein MSbel- stiiek gepfgndet werden k6nnen, eine Mal~nehme, die, wie ich noch einmal hervor- heben mul3, bisher meinen immerhin nieht kleinen Erfehrungen nech noch hie und nirgend zu treffen versueht is t ."

Vom 26. VII I . 1922 ist ein Schreiben vom Oberstaatsanwalt det ier t : Eilt! Euer HochwohlgGboren ersuche ieh um tunl iehst sehleunige verantwort-

liehe Xul~erung zu der in Abschrift mitgeteil ten Anzeige unter Angabe der Perso- nalien. In Fr~ge kommen die w167 113, 114 des Strafgesetzbuches."

I n der Anlage fend sieh in Abschrift die Anzeige der Ar~wgdte ~'om 21. VII I . 1922, in der es hell ' t :

, , In der Strafseehe gegen M. haben wir am 17. VIII . 1922 bei dem Landgericht hier unter den ~ k k = g e n ~ e n . . . gegen ~ ~ r v e n - ml e ennra Dr. M. folgende einstweilige Verfiigung erwirkt:

Der Antregsgegner wird verurteil t , den Antregsteller sofort aus der Nerven- klinik zu entlassen und die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Von uns beeuftragt , versuchte bGreits am 18. August vergeblieh der Geriehts- vollzieher diesen Beschlul~ zu vollstrecken. Der Sehuldner weigerte sieh und er- klgrte, er gebe den X. auf keinen Fall heraus. Beweis: Zeugnis des Geriehtsvoll- ziehers.

Am 19. August 1922 versuehte der Gerichtsvollzieher nochmals, nachdem er auf w 758 Abs. 3 ZPO. yon uns hingewiesen war, den Zwengsvollstreckungsauftrag durchzufiihren. Wie des abschriftlieh enliegende Protokoll des GeriGhtsvollziehers

362 E. Meyer:

ergibt (die Urschrift ist yon uns heute dem Vollstreekungsgericht eingereicht wor- den), hat sieh Schuldner durch Bedrohung mit Gewalt widersetzt.

Der Tatbestand des w 113 StGB. erseheint uns erffillt. Wit beantragen das Erforderliehe zu veranlassen.

Die Rechtsanwi~lte"... Als Antwort sandte ich unter dem 31. VIII. 1922 das in Absehrift oben ange-

ffihrte Schreiben an den Landgeriehtspr/~sidenten mit dem Bemerken, das das- selbe den genauen Sachverhalt enthalte, wobei ich hinzufiigte, dab die Entlassung von polizeilich fiir gemeingef~thrlich Erkrankten yon hier stets vonder Zustim- mung der Polizei abhi~ngig sei. DaB der Geriehtsvollzieher bereits am 18. VIII. 1922 hier gewesen sei, sei mir nicht bekannt. Im fibrigen bemerkte ieh, dab ich alle meine MaBnahmen als .,Direktor der Universitgts-Nervenklinik" ge- troffen h~tte.

Am 9. X. 1922 gelangte endlieh (der Grund der Verz6gerung ist nieht klar- gestellt) die polizeiliche Gemeingef/~hrlichkeitserkl/irung in unsere Hi~nde. Am 2.XI. 1922 wurde X. mit Zustimmung der Polizei beurlaubt.

5 Monate sparer (2. III. 1923) erhielt ich vom Amtsgerieht eine Ladung zur Vernehmung fiber eine gegen reich eingegangene Anzeige. Da nur die Angelegen- heit X. meiner Vermutung nach in Frage kommen konnte, bat ieh yon meiner Vernehmung Abstand zu nehmen, da ich alles, was dieses Saehe betreffe, seiner- zeit dem Oberstaatsanwalt wie dem Landgerichtspr~tsidenten mitgeteilt h/~tte. Aueh wies ieh darauf hin, dab alle MaBnahmen in Sachen X. yon mir in meiner amtlichen Eigenschaft als Direktor der Psychiatrisehen und Nervenklinik der Uni, versiti~t getroffen seien. Trotzdem bestand das Gerieht auf meine Vernehmung. Ein sehr kompetenter iuristiseher Berater. dem ich die ganze Angelegenheit vor- trug, hielt die Vernehmung ffir wenig angezeigt, und es sehien ihm fiberhaupt so gut wie ausgescblossen zu sein, dab eine Strafverfolgung wirklieh eintreten werde. Andererseits riet er mir, um die Saehe zu erledigen, der Staatsanwaltsehaft in di- rekter Bespreehung die Sache klarzulegen, worum ieh mich dann in li~ngerer Rtiek- spraehe bemfihte, unterstiitzt in bester Weise yon Herrn Kollegen Nippe. Nach fiber einem Vierteljahr erhielt ieh von dem Oberstaatsanwalt (7. VII. 1923) fol- gendes Schreiben:

.,Das wegen Freiheitsberaubung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt ein- geleitete Ermitthmgsverfahren ist ei~gestellt. Ich bemerke, dal~ nach diesseitiger Ansieht eine Freiheitsberaubung vorliegt und die Einstelhmg nur aus subjektiven Griinden erfolgt.

Bedarf unsere aktenmgl~ige Dars te l lung noch eines Kommenta r s?

An und frir sieh sicherlich nicht . {/ber den iirztlich nicht begreifbaren

Versuch ,,im Wege der einstweil igen Verf i igung" die Ent lassung des

K r a n k e n aus der Kl in ik zu erreichen, ein Versuch, der hier wohl zum

ers tenmal gemach t ist, mSchte ich kein W o r t mehr verl ieren, v ie lmehr

das wei tere Ur te i l Ju r i s t en iiberlassen. Nur fiber die Frage der , ,Frei-

he i t sbe raubung" seien mir noch ein paar Bemerkungen gestat te t . W a r u m

ich die polizeiliche Gemeingefghrl ichkei tserklgrung yon X. n icht aus

freien Stricken yon vornhere in oder bei den erstcn Besehwerden habe

vornehmen lassen, ergibt sieh aus dem mi tge te i l t en Material ohne

weiteres: I m Interesse des Kranken . Aber, wird man einwendem ein

Reichsirrengesetz wfirde hier die Liicken geschlossen haben. Wir wollen

e inmal annehmen, ein Gesctz, wie es E. Schullze bzw. E. Schultze und

Gerichtlieh-Psychiutrisches Kuriosum. 363

KahP) wiinschen, k~me zustande und wiirde wirklieh die Sehwierig- keiten in einem solehen Fall beiseite ri~umen, so wird selbst das beste Gesetz meiner [~berzeugung naeh so viel Bindungen in sich tragen, dalt der Kranke hinter den Gesetzesparagraphen nur zu leieht zuriiektritt, wie ieh das seinerzeit in der Diskussion zum Referat Schullze-Kahl an- deutete. Im Interesse der Kranken halte ich es ffir uns fiir das Riehtige, auI den bequemen gesetzliehen Sehutz zu verzichten und frei den Weg zu gehen, den uns pflichtgem~ges Handeln als Arzt f/ihrt, wenn ihm auch zuweilen wie bier viele, milde gesagt, Unannehmliehkeiten be- schwerlich machen. Ich glaube, diesen Standpunkt um so mehr ver- treten zu k6nnen, weil in jetzt 20 Jahren, in denen etwa 25000 Kranke durch meine Klinik gegangen sind, es nur dreimM, den oben erwahnten Fall eingesehlossen, zur behSrdlichen Untersuehung fiber angebliche Freiheitsberaubung gekommen ist, die immer mit Einstellung des Ver- fahrens endete.

In einer l~ichtung schien mir freilieh der Fall X. einen recht wenig erfreulichen Einbliek zu gew~hren, n~mlich hinsichtlieh des Einflusses, den die Bemiihungen um das Verst~ndnis ffir das Wesen der Geistes- krankheiten in gerichtlicher Beziehung, die wir als geriehtliche Psych- iatrie zusammenfassen, gehabt haben. Fast w~re Jch versueht, wenn ieh all der Bestrebungen gedenke, die in dieser Richtung yon meiner Klinik und den Vertretern der geriehtlichen Medizin bier wie an allen Universit~ten ausgegangen sind2), und des Gerichts ,,einstweilige Ver- fiigung", den v611igen Mangel an Verst~ndnis und Verstehenwollen, ja das direkt Feindselige bei den Anw~lten und die unzureichende Einsicht bei der Staatsanwaltsehaft seheS), auszurufen: ,E in groger Aufwand, schm~hlieh! ist vertan." Aber wie diirfte ieh das in dieser Festgabe f fir unseren verehrten Kollegen Schullze, einen der eifrigsten und aner- kanntesten FSrderer der geriehtliehen Psychiatric.

So will ich hoffen, dab der Fall X. eben nut ein Einzelfall, ein Kurio- sum, sein und bleiben m6ge.

1) Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie u. psych.-gerichtl. Med. 67. 1921/22. 2) Friiher tIerrn Kollege P~tppe, ]etzt Herrn Kollege Nippe, dessen vorbildlich

kollegiale Mitarbeit und weitgehendstes Verst~ndnis in diesem Falle wie auch sonst ich mit besonderem Danke hervorheben mOchte.

3) So fiel bei der ]~esprechung das Wort: ,,Die Frau wollte ihren Mann wohl einmal eine zeitlang los sein!"