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630 Bautechnik 87 (2010), Heft 10 Berichte Die Turbinenhalle der AEG in der Huttenstraße in Berlin 1909 war der Beginn einer Entwicklung, bei der die Architekten die Führung bei der Planung und dem Entwurf von anspruchsvollen Industriebauten übernommen haben. Ähnliches ist seit langem auch im Brückenbau zu beobachten. Waren es am Anfang eher Fußgängerbrücken und Brücken mit kleineren Spannweiten, so spielen Architekten spätestens seit der Fertigstellung der Eras- musbrücke in Rotterdam (Architekt Ben van Beckel) eine unüber- sehbare Rolle auch bei Straßenbrücken und Brücken mit großen Spannweiten. Der letzte Höhepunkt dieser Entwicklung wurde im Dezember 2004 mit dem Viaduct de Millau erreicht. Der Britische Architekt Norman Foster wird als der Entwerfer der Brücke gefei- ert, während deren Ingenieur Michel Virlogeux außer den Fach- kreisen kaum jemandem bekannt ist. About the History of Bridge Design. The AEG-Turbine Hall in Huttenstraße in Berlin 1909 marked the beginning of a develop- ment, during which architects took over the leadership in the process of planning and designing ambitious industrial buildings in steel-construction. A similar development was under way since quite a time in the field of bridge-building: Whilst in the beginning they only were engaged in pedestrian bridges and those of small span, not later than with the completion of the Erasmus bridge in Rotterdam (architect: Ben van Berkel) architects played an enor- mous role also in the planning process of wide span bridges. The latest peak of this progress development has been reached in December 2004 with the Viaduct de Millau: While it´s British architect Norman Foster was being celebrated as the designer of the bridge, it´s structural engineer Michel Virlogeux remained – apart from expert circles – rather unknown to the public. 1 Einleitung Seit Jahrzehnten werden die meist monotonen und plum- pen Straßen- und Bahnbrücken zu Recht kritisiert. Bei den Standardlösungen, die in kurzer Zeit für möglichst wenig Geld gebaut werden, bleibt wenig Spielraum für die Gestaltung. Diese werden teilweise von Architekten oft peinlich dekoriert. Jedoch ist seit etwa den 80er Jahren eine neue Entwicklung zu beobachten. Die Brücken von Santiago Calatrava, angefangen 1985 mit der unsymmetrischen Bogenbrücke in Barcelona (Bild 1), markieren den Beginn eines Booms der „Archi- tektenbrücken“ (obwohl er nicht nur Architekt sondern auch Bauingenieur ist). Seitdem können wir häufiger sorg- fältig gestaltete Brücken bewundern. Insbesondere Fuß- gängerbrücken werden heute oft auch von Architekten entworfen. Bei denen kann man sich konstruktiv und wirtschaftlich durchaus einige Experimente leisten, weil deren Spannweiten und Lasten relativ klein sind. 1995 überschritt der Architekt Ben van Berkel mit ei- ner Straßenbrücke in Rotterdam eine neue Grenze. Seine Erasmusbrücke (Bild 2) und die Almillo Brücke von Cala- trava in Sevilla, beide Schrägseilbrücken, sind trotz ernst zu nehmender Kritik seitens der Bauingenieure von un- übersehbarer skulpturaler Ausdruckskraft. Diese lösten bei der entsprechenden Fachpresse eine große Begeisterung aus. Der im Dezember 2004 eröffnete Viadukt bei Millau (Bild 3), der allzu schnell und allzu gerne dem britischen Architekten Norman Foster zugeschrieben wurde, ist ein neuer Höhepunkt in dieser Entwicklung. Seitdem haben auch Bücher und Bildbände über Brücken Hochkonjunktur. Erfreulicherweise erlebt man immer wieder, dass im Bereiche des Ingenieurbaus alte Bauwerke als ästhetisch und formal gelungene, beispielhafte Bauten angesehen wer- den. Nun ist die heutige Beurteilung der historischen Kon- struktionen oft romantisch verklärt. So bewundert man ältere genietete Fachwerke als „filigrane Konstruktionen“ und behauptet, dass die früheren Ingenieure bessere Ge- Zur Geschichte der Gestaltung von Brückenbauten Cengiz Dicleli Dieser Beitrag ist Prof. Dr.-Ing. E. h. mult. Stefan Polónyi zu seinem 80. Geburtstag gewidmet.* Bild 1. Bogenbrücke in Barcelona, Architekt und Ingenieur: Santiago Calatrava, 1985 Fig. 1. Arched Bridge in Barcelona, Architect and Engineer: Santiago Calatrava, 1985 * Der Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags, der vom Verfasser am 22. September 2010 beim Europäischen Stahlbau Kongress in Istanbul gehalten wurde.

Geschichte der gestaltung von ingenieurbauten

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Die Turbinenhalle der AEG in der Huttenstraße in Berlin 1909 war der Beginn einer Entwicklung, bei der die Architekten die Führung bei der Planung und dem Entwurf von anspruchsvollen Industriebauten übernommen haben. Ähnliches ist seit langem auch im Brückenbau zu beobachten. Waren es am Anfang eher Fußgängerbrücken und Brücken mit kleineren Spannweiten, so spielen Architekten spätestens seit der Fertigstellung der Erasmusbrücke in Rotterdam (Architekt Ben van Beckel) eine unübersehbare Rolle auch bei Straßenbrücken und Brücken mit großen Spannweiten. Der letzte Höhepunkt dieser Entwicklung wurde im Dezember 2004 mit dem Viaduct de Millau erreicht. Der Britische Architekt Norman Foster wird als der Entwerfer der Brücke gefeiert, während deren Ingenieur Michel Virlogeux außer den Fachkreisen kaum jemandem bekannt ist.

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630 Bautechnik 87 (2010), Heft 10

Berichte

Die Turbinenhalle der AEG in der Huttenstraße in Berlin 1909 war der Beginn einer Entwicklung, bei der die Architekten dieFührung bei der Planung und dem Entwurf von anspruchsvollenIndustriebauten übernommen haben. Ähnliches ist seit langemauch im Brückenbau zu beobachten. Waren es am Anfang eherFußgängerbrücken und Brücken mit kleineren Spannweiten, sospielen Architekten spätestens seit der Fertigstellung der Eras-musbrücke in Rotterdam (Architekt Ben van Beckel) eine unüber-sehbare Rolle auch bei Straßenbrücken und Brücken mit großenSpannweiten. Der letzte Höhepunkt dieser Entwicklung wurde imDezember 2004 mit dem Viaduct de Millau erreicht. Der BritischeArchitekt Norman Foster wird als der Entwerfer der Brücke gefei-ert, während deren Ingenieur Michel Virlogeux außer den Fach-kreisen kaum jemandem bekannt ist.

About the History of Bridge Design. The AEG-Turbine Hall in Hutten straße in Berlin 1909 marked the beginning of a develop-ment, during which architects took over the leadership in theprocess of planning and designing ambitious industrial buildingsin steel-construction. A similar development was under way sincequite a time in the field of bridge-building: Whilst in the beginningthey only were engaged in pedestrian bridges and those of smallspan, not later than with the completion of the Erasmus bridge inRotterdam (architect: Ben van Berkel) architects played an enor-mous role also in the planning process of wide span bridges. The latest peak of this progress development has been reachedin December 2004 with the Viaduct de Millau: While it´s Britisharchitect Norman Foster was being celebrated as the designerof the bridge, it´s structural engineer Michel Virlogeux remained– apart from expert circles – rather unknown to the public.

1 Einleitung

Seit Jahrzehnten werden die meist monotonen und plum-pen Straßen- und Bahnbrücken zu Recht kritisiert. Beiden Standardlösungen, die in kurzer Zeit für möglichstwenig Geld gebaut werden, bleibt wenig Spielraum für dieGestaltung. Diese werden teilweise von Architekten oftpeinlich dekoriert. Jedoch ist seit etwa den 80er Jahreneine neue Entwicklung zu beobachten.

Die Brücken von Santiago Calatrava, angefangen1985 mit der unsymmetrischen Bogenbrücke in Barcelona

(Bild 1), markieren den Beginn eines Booms der „Archi-tektenbrücken“ (obwohl er nicht nur Architekt sondernauch Bauingenieur ist). Seitdem können wir häufiger sorg-fältig gestaltete Brücken bewundern. Insbesondere Fuß -gänger brücken werden heute oft auch von Architektenentworfen. Bei denen kann man sich konstruktiv undwirtschaftlich durchaus einige Experimente leisten, weilderen Spannweiten und Lasten relativ klein sind.

1995 überschritt der Architekt Ben van Berkel mit ei-ner Straßenbrücke in Rotterdam eine neue Grenze. SeineErasmusbrücke (Bild 2) und die Almillo Brücke von Cala-trava in Sevilla, beide Schrägseilbrücken, sind trotz ernstzu nehmender Kritik seitens der Bauingenieure von un -übersehbarer skulpturaler Ausdruckskraft. Diese lösten beider entsprechenden Fachpresse eine große Begeisterungaus. Der im Dezember 2004 eröffnete Viadukt bei Millau(Bild 3), der allzu schnell und allzu gerne dem britischenArchitekten Norman Foster zugeschrieben wurde, ist einneuer Höhepunkt in dieser Entwicklung. Seitdem habenauch Bücher und Bildbände über Brücken Hochkonjunktur.

Erfreulicherweise erlebt man immer wieder, dass imBereiche des Ingenieurbaus alte Bauwerke als ästhetischund formal gelungene, beispielhafte Bauten angesehen wer-den. Nun ist die heutige Beurteilung der historischen Kon-struktionen oft romantisch verklärt. So bewundert manältere genietete Fachwerke als „filigrane Konstruktionen“und behauptet, dass die früheren Ingenieure bessere Ge-

Zur Geschichte der Gestaltung von BrückenbautenCengiz Dicleli

Dieser Beitrag ist Prof. Dr.-Ing. E. h. mult. Stefan Polónyi zu seinem 80. Geburtstag gewidmet.*

Bild 1. Bogenbrücke in Barcelona, Architekt und Ingenieur:Santiago Calatrava, 1985Fig. 1. Arched Bridge in Barcelona, Architect and Engineer:Santiago Calatrava, 1985

* Der Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassungdes Vortrags, der vom Verfasser am 22. September 2010 beimEuropäischen Stahlbau Kongress in Istanbul gehalten wurde.

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stalter waren. Wir wissen, dass im 19. Jahrhundert die Quer- schnitte von Tragelementen mühsam zusammengenietetwerden mussten, die heute als „leicht“, „feingliedrig“, „diffe-renziert“ oder „transparent“ bezeichnet werden. Man ver-fügte damals nur über wenige Profilsorten. Die ers ten nor-mierten I-Profile standen erst ab 1881 zur Verfügung. InDeutschland konnten vollwandige Biegeträger für Eisen-bahnbrücken erst ab den Dreißigerjahren des 20. Jahrhun-derts geschweißt werden. Es lässt sich nachweisen, dassdie Gestalt der meisten historischen Konstruktionen aufstatisch-konstruktive Überlegungen zurückzuführen ist.D. h. es ist falsch, in jeder alten Fachwerkkonstruktion einebestimmte Gestaltungsabsicht des Erbauers zu vermuten.Vielmehr gab es in der Geschichte des Ingenieurbaus Pha-sen bewusster und sorgfältiger Gestaltung, aber auch sol-che des ungestümen und rücksichtslosen Bauens. Zeitwei-lig wurde ganz heftig um Gestaltungsfragen diskutiert,dann wieder mehr vor sich hin gebaut.

2 Gestaltung von Brücken im 19. Jahrhundert2.1 Georg Mehrtens, der Brückenbauer (1843–1917)

Die ausführlichsten und verlässlichsten Angaben bezüg-lich der Brückengestaltung im 19. Jahrhundert stammenvon Georg Mehrtens. Er ist Bauingenieur und Professor ander Technischen Hochschule in Dresden und Verfasser ei-nes mehrbändigen Werkes mit dem Titel „Vorlesungen überIngenieurwissenschaften“. Anlässlich der Pariser Weltaus-stellung im Jahre 1900 wird Mehrtens gemeinsam von allendamaligen deutschen Brückenbaufirmen beauftragt, eineDenkschrift unter dem Titel „Der deutsche Brückenbau imXIX. Jahrhundert“ heraus zu bringen. Dieses Werk enthältauch einen Abschnitt mit dem Titel „Über den Konstrukti-onsentwurf“, in dem er auf „Ästhetische Fragen des Eisen-brückenbaus“ eingeht. Ab 1908 erscheint sein Buch überden Eisenbrückenbau [1]. Dieses Werk stellt die denkbarvollständige Darstellung des Stahl- und des Brückenbausbis Anfang des 20. Jahrhunderts dar. Mehrtens schreibt:„Die Gesamtkonstruktion einer Brücke wird praktisch erstbrauchbar, wenn es der Konstrukteur bildlich gesprochenmit Fleisch und Blut umhüllt und ihm lebendigen Odemeingehaucht hat, damit das Ganze in Formen erscheint, dieeinerseits der Örtlichkeit und dem Zwecke des Bauwerkswohl angepasst sind und die andererseits eine angemes-sene Dauer und ausreichende Sicherheit der Konstruktiongewährleisten„. Er setzt sich auch sehr frühzeitig für eineenge Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur ein:„Diese Voraussetzung des fruchtbringenden Austauscheskünstlerischer und konstruktiver Gedanken kann jedochnur dann zutreffen, wenn beide Faktoren von vornhereinbei der Bearbeitung von Aufgaben zusammenwirken; ichglaube dies hervorheben zu müssen, weil es auch neuer-dings noch vorkommt, dass der Ingenieur die Hauptkons -truktionsteile endgültig im Entwurf festlegt und dann ersteinen Architekten heranzieht, um ihnen den nötig erach-teten künstlerischen Mantel umzuhängen.“

Mehrtens folgen auf dem Gebiete der Gestaltung vonIngenieurbauten 1928 Friedrich Hartmann, ein Bauinge-nieur und Professor aus Wien mit seinem Buch „Ästhetikim Brückenbau“ [2] und erst 1982 Fritz Leonhardt mit„Brücken – Ästhetik und Gestaltung“ [3]

2.2 Gestaltung von Brückenbauten bis etwa 1860: „Zeitalter der Pioniere“

Mehrtens nennt die Zeit vor 1860 „das Zeitalter der Pio-niere“. Betrachtet man z. B. die Bilder der beiden ältestenweitgespannten Eisenbahnbrücken Europas Britannia -brücke über die Menaistraße (1842–1846) (Bild 4) und dieEisenbahnbrücke über die Weichsel bei Dirschau (1842–1857) (Bild 5), stellt man fest, dass sie mit großer Sorgfaltentworfen und erbaut worden sind. Der Entwurf der stäh -lernen Kastenbrücke stammt – in Anlehnung an die Kon -s truktion der Britanniabrücke – vom Regierungsrat CarlLentze. Die gemauerten Portale wurden 1859 nachträg-lich von Friedrich August Stüler erbaut. Mehrtens schreibtdazu: „Deren würdige monumentale Gesamterscheinungist ein Beweis dafür, wie sehr man sich damals der hohenBedeutung dieser Neuschöpfungen bewusst war. Man hatdabei sogar die Mitwirkung von Architekten als selbstver-ständlich angesehen. Allein im Drängen und Hasten der

Bild 2. Erasmus Brücke in Rotterdam, Architect Ben vanBerkel, 1995Fig. 2. Erasmus Bridge in Rotterdam by Ben van Berkel, 1995

Bild 3. Viadukt de Millau in Frankreich, Ingenieur MichelVirlogeux, 2004Fig. 3. Viaduct de Millau in France, Engineer: Michel Virlo-geux, 2004

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späteren heißen Eisenbahnbauzeit, oft auch aus Mangelan Geldmitteln oder aus anderen Gründen, ist der anfäng-lich vorhandene gute Wille, auch dem Architekten seinenTeil an den Ingenieursbauten zu gönnen, häufig erlahmtoder unterdrückt worden.“ [4]

Die folgenden Beispiele aus dieser Zeit zeigen, dass da-mals die Form nicht der Konstruktion folgte, sondern die„Architektur“ losgelöst von der Konstruktion additiv an dieBrücken angebracht wurde, um diese auszuschmücken:1856 wurde der Sitterviadukt bei Brüggen in der Schweiz(Bild 6) auf der Linie Winterthur – St. Gallen, fertig gestellt.Ihm folgen 1857 die Isarbrücke bei Grosshesselohe und1859 die Eisenbahnbrücke über den Rhein in Köln (Bild 7).

2.3 1860–1880: „Die heiße Eisenbahnbauzeit“

Die Zeitspanne von etwa 1860–1880 bezeichnet Mehrtensals „die heiße Eisenbahnbauzeit“, in der man die Gestal-tung der Brücken nicht besonders berücksichtigt hat. DieIngenieure entwerfen die Brückentragwerke hauptsächlichunter dem Aspekt, die inneren Kräfte zu optimieren. Manwählt Fachwerksformen, weil die Gurtkräfte annäherndkonstant oder die Stabkräfte für die Ausfachung minimalwaren. Manchmal wird ein Stabsystem nur deswegen ge-wählt, weil es statisch bestimmt und damit leichter bere-chenbar ist. Die „schönheitliche Gestaltung“ spielt in die-ser Zeit keine nennenswerte Rolle. Der sogenannte Gerber-oder Gelenkträger ist eines der bekanntesten Beispiele, beidem man aus Durchlaufträgern durch Einführung vonGelenken statisch bestimmte Systeme erzeugen kann. DieForth-Brücke (Bild 8) in Schottland ist wohl die bekanntesteBrücke, die in dieser Zeit mit diesem System gebaut wird.

Bild 4. Britannia Brücke über die Menai Straße 1846Fig. 4. Britannia Bridge across the Menai Strait 1846

Bild 5. Eisenbahnbrücke in Dirschau, Polen 1857Fig. 5. Railway bridge in Dirschau (Tczew), Poland 1857

Bild 6. Sitterviadukt in der Schweiz 1856Fig. 6. Sitter Viaduct, in Switzerland 1856

Bild 7. Eisenbahnbrücke über den Rhein in Kehl, 1861Fig. 7. Railway bridge across the Rhine at Cologne, 1859

Bild 8. Forth- Brücke in Schottland 1890Fig. 8. Forth-Bridge in Scotland 1890

Dicleli
Notiz
Kehl 1861
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Fritz Leonhardt vermerkt über diese Zeit folgendes:„Während die parallelgurtigen Gitterträger durch ihreSchönheit noch heute beeindrucken, entstanden in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielerlei auf Schreibtisch-theorien beruhende Formen, die ästhetisch empfindsameMenschen als ungestaltete Technik ablehnen mussten.“ [5].Einer der Ingenieure, die nach statischen Gesichtspunktenimmer neue Konstruktionssysteme entwerfen, ist JohannWilhelm Schwedler (1823–1894). Er gilt bekanntlich alseiner der Großmeister des deutschen Stahlbaus. Unter an-derem entwickelt er den nach ihm benannten Fachwerk-träger (Bild 9), dessen Obergurt derart gekrümmt ist, dassin den Diagonalstäben bei keiner Laststellung Druckspan-nungen entstehen können. Weil ein solcher Obergurt inder Praxis kaum akzeptiert wird, ersetzt er ihn bei denmittleren Feldern durch einen geraden Stab und nimmt inKauf, dass diese Felder dann mit Wechselstäben versehenwerden müssen. In entsprechenden Veröffentlichungenüber Brücken findet man um diese Zeit kaum einschlägigeStellungnahmen und Hinweise über deren Gestaltung.

2.4 1880-1900: Neue Maßnahmen zur Gestaltung vonBrückenbauten

Die bewusste Gestaltung von Brückenbauten durch dieBauingenieure beginnt, wie auch Mehrtens mehrmals be-tont, erst infolge der heftigen Kritik seitens der Architek-ten und der Kunsthistoriker. Die Durchführung von öf-fentlichen Wettbewerben fördert diese Entwicklung ganzentscheidend. Zu einer besseren Gestaltung der Brücken-bauten schlägt man verschiedene Wege ein.

2.4.1 Beeinflussung der Großform durch Systemwahl

Eine der Möglichkeiten, die Großform von Brücken zu be-einflussen, ist die Wahl von Tragsystemen, die aufgrund ih-rer Umrisse eine bestimmte Fernwirkung erzielen können.Ab etwa 1890 ist in Deutschland ein Aufschwung der Bo-gen konstruktionen im Brückenbau zu beobachten. DerBogen kann dem bislang in allen Variationen ausgeführtenFachwerkbalken von der Großform und von der Gesamt -erscheinung her eine echte Alternative bieten. Um 1885siegen Bogenkonstruktionen in verschiedenen Wettbewer-ben und bleiben fast 20 Jahre lang das beherrschendeBrückensystem. Ob bei dieser Entwicklung das im Ver-gleich zum Biegebalken günstigere Tragverhalten des Bo-

gens für die Ingenieure nicht bedeutsamer ist als die Ge-staltungsmöglichkeiten des Bogens, mag dahingestellt sein.Jedenfalls ist es nunmehr möglich, auch größere Spann-weiten wirtschaftlich zu überbrücken. So wird z. B. 1899der Rhein für eine Straßenbrücke bei Bonn mit einemZwei-Gelenk-Fachwerkbogen mit einer Spannweite von187,2 m überspannt.

2.4.2 Gestaltung der einzelnen Tragelemente

Die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit der In-genieure mit Architekten wird allmählich erkannt. So kanndie Konstruktion und die architektonische Gestaltung ge-meinsam behandelt werden. Man fängt an, die Konstruk-tion selbst zu gestalten. Dabei probiert man verschiedeneMöglichkeiten aus.– Die Ausschmückung der Konstruktion durch zusätzli-che Ornamente und Malereien. Beispielsweise werden diePortale der Isar-Brücke in München (1875) (Bild 10) unddie Fachwerkbogenbrücke bei Bonn (1899) reichlich mitOrnamenten versehen.– Die „architektonische“ Gestaltung der einzelnen Trag-elemente selbst und die Gestaltung der Konstruktion durchMehrfarbigkeit. Die Themsebrücken in London (Bild 11)sind interessante Beispiele für die Gestaltung der Kons -truktion durch mehrfarbigen Anstrich.

Bild 9. Schwedler TrägerFig. 9. Schwedler Beam

Bild 10. Portal der Isar Brücke in München 1875Fig. 10. Portal of the River Isar Bridge in Munich 1875

Bild 11. Southwark Brücke über die Themse in London mitmehrfarbigem AnstrichFig. 11. Southwark Bridge on the Thames in London

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3 Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts3.1 Die Ingenieure gestalten ihre Konstruktionen selber

Die Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten,wie z. B. die der Schweißverbindungen, ermöglicht neueKonstruktionen. Die Ingenieure entwickeln neue Tragsys -teme. Der Berliner Stahlbauer Karl Bernhard, Erbauer vonIndustrie- und Brückenbauten, u. a. auch der AEG Turbi-nenhalle in Berlin-Moabit 1909 (Bild 12), engagiert sichfür die Selbstständigkeit der Ingenieure in gestalterischenBelangen. Er vertritt die Meinung, dass die Bauingenieureimstande sein müssen, ihre Bauten selber nach eigenenästhetischen Regeln zu entwerfen und zu gestalten. Dafürfordert er eine geeignete Ausbildung der Ingenieure [6].

1920 definiert Mehrtens die Rolle des Architekten imIngenieurbau folgendermaßen: „Heute gilt es für den Ar-chitekten nicht mehr wie früher, nach einer ihm gegebenenGrundlage einen Eisenbau zu verschönern, denn das führtnur zu einem äußerlichen Aufputzen des Baues. Der Ar-chitekt muss vielmehr von vornherein mit dem Ingenieurzusammenarbeiten und diesen womöglich in dem folge-richtigen Durchdenken der gegebenen Grundbedingungendes Entwurfes noch zu übertreffen suchen.“ Wie man sieht,ist dies eine bereits sehr moderne Auffassung von einer Zu-sammenarbeit von Ingenieur und Architekt.

3.2 Friedrich Hartmann und die II. Tagung der InternationalenVereinigung für Brückenbau und Hochbau IVBH

Einer der größten Verfechter der Selbstständigkeit derBauingenieure in Sachen Gestaltung ist der Wiener Stahl-bauer Professor Friedrich Hartmann. Über die Gestaltungvon Brücken schreibt er ein Buch mit dem Titel „Ästhetikim Brückenbau, unter besonderer Berücksichtigung derEisenbrücken“ [2]. Dieses Thema ist auch ein fester Be-stand teil seiner Vorlesungen an der TH-Wien. Er ist einerder Mitbegründer der IVBH. Durch seine Initiative findet

die II. Tagung der Vereinigung 1928 in Wien statt. Bei die-ser Tagung versucht Hartmann, die Bauingenieure auf ihreMöglichkeiten und ihre Verantwortung bei der Gestaltungihrer Konstruktionen bewusst zu machen. So beschäftigensich die ersten beiden Vorträge mit der Gestaltung von In-genieurbauten. [7]

3.3 1920–1940 in Deutschland

Die theoretischen und der konstruktiven Möglichkeiten desIngenieurbaus, insbesondere die des Stahlbaus, wird in denersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts weiterent-wickelt. Vor allem der Autobahnbau bietet viele Möglich-keiten zur Erprobung neuer Brückensysteme. Bei den Auto -bahnbrücken entstehen bemerkenswerte neue Lösungen.

Nachdem jahrzehntelang die mangelnde Kooperati-onsbereitschaft zwischen den Ingenieuren und Architektenzu Recht kritisiert wurde, entstehen durch die Zusammen-arbeit von Architekten wie Paul Bonatz, und Ingenieurenwie Emil Mörsch sowie von den einschlägigen Bau firmenwie Wayss und Freytag, Jucho, Klönne und MAN gestalte-risch befriedigende Ingenieurbauten. Diese zeichnen sichauch durch eine sorgfältige Anpassung an die Landschaftund die bewusste Gestaltung aller wichtigen Detailpunkteaus.

Entsprechend den Entwicklungen in der Architekturder Zwanzigerjahre, die durch den Einsatz von großen, ru-higen Flächen bestimmt wird, fordern die Architekten auchim Brückenbau statt Fachwerke Brückenträger mit Flächen- wirkung. Gleichzeitig werden Schweißtechnik (Bild 13) unddie Herstellung von schweißfähigen Stahlsorten gefördert,so dass immer höhere Vollwandträger entstehen. Die Auto-bahnbrücke über den Rhein bei Frankenthal hat einen 6 mhohen Durchlaufträger mit einer maximalen Spannweitevon 160 m.

In den Dreißigerjahren kommt eine andere Entwick-lung zum Durchbruch. Die Stahlbrücken im inneren Stadt-bereich werden als Fremdkörper empfunden. Die Architek-ten meinen, dass die älteren Steinbogen besser ins Stadt-bild passen als die feingliedrigen Stahlkonstruktionen.Diese Vorstellungen führen in Deutschland dazu, dass imBrückenbau Mauerwerk und Stahlbeton (Bild 14) mitoder ohne Natursteinverkleidung die Stahlbrücken ver-drängen.

Bild 12. Turbinenhalle der AEG, Ingenieur: Karl Bernhard,Berlin 1909Fig. 12. AEG Turbine Hall, Engineer: Karl Bernhard, Berlin1909

Bild 13. Rahmenecke genietet und geschweißtFig. 13. Frame corner rivetted and welded

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4 Die heutige Situation oder „wer entwirft die Brücken?“

Das zwanzigste Jahrhundert bringt exzellente Brückenbauerhervor. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier ge-nannt: Die Schweizer Robert Maillard, Othmar Ammannund Christian Menn, die Italiener Riccardo Morandi undPier Luigi Nervi, sowie die Deutschen Ulrich Finsterwalder,Fritz Leonhard und Jörg Schlaich und nicht zu vergessenden Ingenieur und Architekt Santiago Calatrava. All die-sen Bauingenieuren ist es gemein, dass sie zwar gut mit Ar-chitekten zusammenarbeiten, aber imstande und willenssind, ihre Bauwerke im Wesentlichen selber zu entwerfen.Sie legen großen Wert auf Gestaltung, artikulieren es auchin Wort und Schrift. Dies führt z. T. dazu, dass sie – wiez. B. bei Maillard, Nervi und sogar beim Dywidag Ingeni-eur Ulrich Finsterwalder oft geschehen – von Journalistenund Bauhistorikern als Architekt bezeichnet werden.

Wie in der Einführung erwähnt, ist seit den achtzigerJahren zu beobachten, dass nicht nur bei Fußgängerbrückensondern auch bei weitgespannten Straßenbrücken Archi-tekten als Entwurfsverfasser genannt werden. So entstehenneben bemerkenswert schönen und interessanten Lösun-gen auch solche, wo Tragwerke wesensfremd und unsach-gemäß eingesetzt werden. Die besten Brücken entstehenjedoch durch die sinnvolle Zusammenarbeit von Ingenieurund Architekt, wobei jeder sich nach seiner jeweiligenKompetenz beteiligt. Bei weitgespannten Brücken bedeu-tet das, dass der Ingenieur die Federführung haben muss.So ist das folgende Angebot von Jörg Schlaich an die Ar-chitekten zu verstehen. „Die Architekten sollen wissen,dass wir Bauingenieure bei allen Bauten die Zusammenar-beit mit ihnen suchen, allerdings nur unter der Bedingung,dass die Rollenverteilung mit der fachlichen Kompetenzkorrespondiert.“ [8]

Bei einer solchen Zusammenarbeit kommt es auchvor, dass Brücken, die im Wesentlichen von Ingenieurenentworfen und gebaut werden, berühmten Architekten zu-geschrieben werden. Eines der prominentesten Beispieleist der Viadukt Millau, der den zur Zeit letzten Höhepunkteuro päischer Brückenbaukunst darstellt. Im Jahr 2004wurde die Eröffnung des Viadukts in Frankreich zu einem

nationalen Ereignis stilisiert. Trotzdem feierten selbstfranzösische Zeitungen wie „Libération“ und „Le Figaro“den britischen Architekten Norman Foster als denjenigen,dem der große „Wurf“ gelungen sei. Der Viaduct de Millau(Bild 15) wurde von einem Team um den Ingenieur MichelVirlogeux konzipiert, der seit 1989 an der Planung diesesgigantischen Bauwerks gearbeitet hatte. Das zeigt, dass einöffentliches Bedürfnis nach großen Namen existiert, wel-ches die Bauingenieure offenbar nicht befriedigen können.Daher ist anzunehmen, dass der Viadukt Millau ein Werkvon Sir Norman Foster bleiben wird.

Literatur

[1] Mehrtens, Georg: Der Deutsche Brückenbau im XIX. Jahr-hundert, Springer, Berlin: 1900.

[2] Hartmann, Friedrich: Ästhetik im Brückenbau, Franz Deu-ticke, Wien: 1928.

[3] Leonhardt, Fritz: Brücken-Ästhetik und Gestaltung, DVA,Stuttgart: 1982.

[4] Mehrtens, Georg: Vorlesungen über Ingenieurwissenschaf-ten, Zweiter Teil, Eisenbrückenbau, Verlag von Wilhelm Engel-mann, Leipzig: 1908.

[5] Leonhardt: ebd.[6] Bernhard, Karl: Eisenbaukunst, Der Bauingenieur (1920),

Heft 1, S. 19.[7] IVBH: Bericht über die II. Internationale Tagung für Brücken-

bau und Hochbau, Wien: 1929.[8] Schlaich, Jörg: Zur Gestaltung von Ingenieurbauten oder

Die Baukunst ist unteilbar, Bauingenieur (1986), Heft 61, S. 49.

Autor dieses Beitrages:Prof. Dipl.-Ing. Cengiz DicleliIAF Institut für Angewandte ForschungHTWG KonstanzHochschule für Technik, Wirtschaft und GestaltungBrauneggerstraße 55, 78465 [email protected]

Bild 14. Viadukt bei Limburg, BonatzFig. 14. Viaduct at Limburg, Bonatz

Bild 15. Viadukt de Millau in Frankreich, Ingenieur MichelVirlogeux, 2004Fig. 15. Viaduct de Millau in France, Engineer: Michel Vir-logeux, 2004