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Geschichte der Kindheit Mit e. Vorw. v. Hartmut von Hentig Bearbeitet von Philippe Ariès, Wolf Lepenies, Caroline Neubaur, Karin Kersten 1. Auflage 1998. Taschenbuch. 592 S. Paperback ISBN 978 3 423 30138 1 Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm Weitere Fachgebiete > Geschichte > Kultur- und Ideengeschichte > Sozialgeschichte, Gender Studies schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Geschichte der Kindheit

Mit e. Vorw. v. Hartmut von Hentig

Bearbeitet vonPhilippe Ariès, Wolf Lepenies, Caroline Neubaur, Karin Kersten

1. Auflage 1998. Taschenbuch. 592 S. PaperbackISBN 978 3 423 30138 1

Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm

Weitere Fachgebiete > Geschichte > Kultur- und Ideengeschichte > Sozialgeschichte,Gender Studies

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

Was wir Kindheit nennen, hat es nicht immer gegeben. Die Abgrenzungzwischen Kindern und Erwachsenen hat das Mittelalter nicht gekannt:Kinder lebten, sobald sie sich allein fortbewegen und verständlich ma-chen konnten, mit den Erwachsenen, waren kleine Erwachsene. Was wir»Familie« nennen — die Gemeinschaft von Eltern und Kindern —,entwickelte sich in Europa erst im i S. und i6. Jahrhundert allmählichaus den größeren Sippen- und Stammesverbänden; sie wird dann zueiner moralischen Institution. Diese und andere grundlegenden und oftüberraschenden Erkenntnisse gewinnt Ariès aus seinem Studium dersozialen, rechtlichen und kulturellen Entwicklung der Familie und derErziehung. Er findet sein Material nicht in den Theorien und Pro-grammschriften und den Äußerungen der Maßgebenden, sondernhauptsächlich in den vielfältigen, oft stillen Zeugnissen des Alltagsle-bens aller Volksschichten.»Das Großartige an Ariès' Buch ist die Fülle des historischen Materialsund der häufig neuen Beobachtungen. Daß das Buch für jeden Interes-sierten spannend zu lesen ist und nicht in eine Aufzählung von Faktenzerfällt, liegt daran, daß Ariès weder eine Ideen- noch eine Institutio-nen- oder Sittengeschichte schreibt, sondern eine Geschichte der Be-deutungen, Gefühle, Einstellungen, die sich in bildlichen Darstellungenund Texten und in den Einzelheiten des Lebens von Kindern undErwachsenen bekunden.« Frankfurter Rundschau

Philippe Ariès (1914-1986) gehört zur französischen Historikerschuleder »Annales«, die Methoden der Soziologie und der Geschichte zu ver-binden trachtet und sich um die Erforschung der »civilisations« undder »mentalités« bemüht. Wichtigste Werke: >Les traditions socialesdans les pays de France< (1943); >Le temps de l'histoire< (1954); indeutscher Übersetzung erschienen u. a. >Studien zur Geschichte desTodes im Abendland< (1976; dtv 4369), >Geschichte des Todes< (1982;dtv 4407) sowie >Bilder zur Geschichte des Todes< (1984)•

Philippe Ariès

Geschichte der Kindheit

Mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig

Deutscher Taschenbuch Verlag

Aus dem Französischen von Caroline Neubaur und Karin Kersten.

Die Originalausgabe erschien 1960 im Verlag Plon, Paris, unter demTitel >L'enfant et la vie familiale sous l'ancien régime<, die deutsche

Erstausgabe 1975 in der Reihe Hanser Anthropologie, herausgegebenvon Wolf Lepenies und Henning Ritter.

Auflage September 1978

16. Auflage Juni 2007

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

www.dtv.deDas Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.© 1 975 Carl Hanser Verlag, München

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: »Das St. Niklasfest« von Jan Steen (AKG, Berlin)

Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 978-3-423-30138 -1

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe 7

Einleitung 45

Erster Teil Die Einstellung zur Kindheit

i. Die Lebensalter 692. Die Entdeckung der Kindheit 923. Die Kleidung des Kindes 11 2

4. Kleiner Beitrag zur Geschichte der Spiele 126

5. Von der Schamlosigkeit zur Unschuld 175Schlußbemerkung Die beiden Einstellungen zur Kindheit 209

Zweiter Teil Das Schulleben

I. Junge und alte Schüler im Mittelalter 221

2. Eine neue Institution: Das Kolleg 2 443. Die Anfänge der Schulklassen 2694. Die Altersklassen 2855. Die Fortschritte der Disziplin 3496. Vom Externat zum Internat 3 8 47. Die >Petites tcoles< 404B. Die Härte des Schullebens 440Schlußbemerkung Die Schule und die Dauer der Kindheit 457

Dritter Teil Die Familie

I. Familienbilder 4692. Von der mittelalterlichen zur modernen Familie 502Schlußbemerkung Familie und Sozialität 5 56

Schlußbetrachtung 5 59Anmerkungen 565

Vorwort

Warum ein Vorwort zu diesem Buch? Hat es das nötig? Hat der Leseres nötig? Welcher? Mit welchem Recht fügt hier einer dem Buch etwas

hinzu, das es selbst nicht sagt? Wie kommt er dazu, anderen ihre Fragenund womöglich ein Urteil vorwegzunehmen?

Die Antwort hierauf ist nicht nur im Fall dieses Vorwortes nichtleicht, und wenn die Antwort, die ich gebe, nicht jedermann befriedigt,so wird man dem Vorwort selbst doch hoffentlich anmerken, daß ich

mir die Frage gestellt habe.Das Buch von Philippe Aris braucht ein »Vorwort zur deutschen

Ausgabe«, weil diese fünfzehn Jahre nach der französischen, dreizehnJahre nach der amerikanischen Veröffentlichung erscheint; weil es sichnicht um »Neue Materialien zur Geschichte des bekannten Phänomens Xim Ancien Régime« handelt (die man, wenn sie nach den Regeln derKunst zusammengetragen und dargestellt sind, auch nach 15 — oder 5o —Jahren kommentarlos zur Kenntnis nehmen könnte); weil das Buch viel-mehr eine ausdrückliche und eindrückliche Theorie über seinen Gegen-stand enthält und eine weniger ausdrückliche über seine Methode undsein anthropologisches Grundmodell; weil die Folgen, die die letzteregehabt hat, die erstere zu überholen und auf sie zurückzuwirken begin-nen; und vor allem, weil der Gegenstand wie ein »gelehrter« aussiehtund ein Vorwort vielleicht helfen kann zu zeigen, wie nah die Botschaftdieses Buches — es hat eine! — all denen gehen muß, die an der pädago-gischen Verwirrung unserer Zeit leiden.

Das Buch wird in Deutschland im Jahre 1975 unter sehr anderenVoraussetzungen ankommen, als es in Frankreich Ende der Fünfziger

Jahre geschrieben worden ist und in den USA seit 1962 eifrig diskutiertwird. Diese Differenz sichtbar zu machen und, wo dies sinnvoll erscheint,abzutragen, will das Vorwort helfen. Es will zugleich — anhand derdarin zur Erscheinung kommenden Entwicklung — nach der Möglichkeitund dem Sinn einer »historischen Wendung der Gesellschaftswissen-schaften« (insbesondere der Pädagogik) fragen. Diese — so bezeichnet in

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Analogie :zu der von Heinrich Roth ausgerufenen »realistischen Wen-dung der pädagogischen Forschung« (i) — kann man einstweilen nur ver-muten und nicht ( auch nicht mit dem Blick auf den üblichen amerikani-schen Vorlauf) konstatieren. (2) Aber weil die deutsche Übersetzung undWirkungsmöglichkeit dieses Buches mit einem gesellschaftspolitischenKlimaumschlag — mit einer Mischung aus Resignation und Heimwehnach der Guten Alten Zeit — und einem spürbaren Überdruß an denabstrakten Ergebnissen der empirisch-systematischen Forschung zusam-

menfällt, schulden die deutschen Herausgeber dem Buch in diesemAugenblick beides: Anspruch und Schutz. Der Anspruch kann, wenn

man der Einordnung und Bewertung des Lesers nicht vorgreifen will,

nur in Fragen bestehen; Schutz gewährt man dem Buch am besten durch

den Hinweis auf seine Ungeschütztheit.

Man wird nicht verhindern können, daß aus der bewußten Wendungvon Ariés (und anderen) bei uns und jetzt ein Stück unbewußterTendenz-Wende wird. Aber wo dies geschieht, sollte man es sich dochbewußt machen können. Auch dieser Möglichkeit und nicht nur demoben begründeten »Anspruch« dienen die folgenden Fragen:

1. Was könnte unser Interesse an den Thesen von Ariés sein?

2. Was könnte die Wiederentdeckung der Geschichte für die zurSystematik drängenden Handlungswissenschaften bedeuten? Was fürAlternativen gibt es oder könnte es geben? Was könnte man gegen daseingeschlagene Verfahren einwenden? Welche Erkenntnisprobleme gebendie Ergebnisse auf?

3. Was könnte der tatsächliche Nutzen dieses Buches sein? WelcheBilanz ist zu ziehen?

1 Heinrich Roth: »Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung«,in: Neue Sammlung 2. Jg., Heft 6, 1962, S. 4 8 5.

2 Die Amerikaner haben inmitten der überwältigenden Flut empirischer For-schung nie aufgehört, große — der Orientierung und Kritik dienende — histo-rische Untersuchungen vorzulegen, wie die Standardwerke von John S. Bru-bacher (A History of the Problems of Education, 1947), Edgar W. Knight (Fi f ty

Years of American Education 19oo-195o, 1952), Lawrence A. Cremin (The

Transformation of the School, 1962), Ruth Miller Elson (Guardians of Tradi-

tion, 1964), Michael B. Katz (The Irony of Early School Reform, 1969), Joel

Spring (Education and the Rise of the Corporate State, 1971). Der Grund für

die außerordentliche Wirkung von Ari és' Buch in den USA, also das, was wieeine »Wendung« aussehen könnte und seinen Ausdruck in einer Vierteljahres-schrift The History of Childhood Quarterly findet, lag in seiner Theorie vonder Geschichtlichkeit bisher naiv für gegeben gehaltener Phänomene.

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Es liegt in der Natur dieser Art von Fragen, daß es auf sie nur»plausible« oder hypothetische oder persönliche und nicht objektive

Antworten gibt.

Zu Frage r:Nach dem spontanen »Interesse« an diesem Buch

Aries hat seinem Buch den Titel gegeben: L'en f ant et la vie familialesous l'ancien régime (Das Kind und das Familienleben unter demAncien Regime — worunter das absolutistische Herrschaftssystem inFrankreich vom i6. Jahrhundert bis zur Revolution von 1789 verstan-

den wird). Die amerikanische Fassung heißt: Centuries of Childhood,A Social History of Family Li f e (Kindheit im Wandel der Jahrhunderte,Eine Sozialgeschichte des Familienlebens). Während ich dieses Vorwortschreibe, weiß ich noch nicht, für welchen Titel sich die deutschen

Herausgeber entschieden haben — und das ist mir ein heilsamer Anlaß,selber einen zu formulieren und dadurch meine Auslegung der Ariès'schen

Absichten zu geben. Ich würde das Buch »Die Geschichtlichkeit der Fa-

milie« nennen, oder: »Die notwendige Erfindung von Kindheit und

Jugendalter nach dem Zerfall der offenen mittelalterlichen Gesellschaft«.In anderen Worten: Als forschender und handelnder Pädagoge inter-

essiere ich mich für die Behauptung, daß ein scheinbar so fundamentalerTatbestand wie die »Kindheit« oder das » Jugendalter« nicht nur mehroder weniger anders ablaufen können, als wir das gewohnt sind, son-dern selbst Schöpfungen unserer Anschauungen und Umstände sind. Ichinteressiere mich im gleichen Maß für die behauptete Entwicklung dieserAnschauungen und Umstände, für ihre Bewertung und für die in ihrerBegründung mitgelieferte Gewißheit ihrer Unumkehrbarkeit. Ich inter-essiere mich für eine Chance der Befreiung von Bewußtseinsfesseln, Ge-wohnheiten, Institutionen — und ich interessiere mich für die realistischenGrenzen solcher Hoffnungen. Für beides suche ich in dem von Ariéseingebrachten und durch eine Theorie geordneten Material eine Bereiche-rung meiner Anschauung, eine Veränderung meiner Fragen, eine Klä-rung meiner Begriffe und Normen.

Ariés' Thesen — über das Buch, die behandelten Jahrhunderte undPhänomene verteilt — sind grob vereinfacht diese:. »Kindheit« hat es nicht immer gegeben — nämlich jener von uns wahr-

Die Herausgeber haben den Titel Geschichte der Kindheit gewählt — inAnlehnung an Michel Foucaults Histoire de la folie.

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genommene und wahrgemachte prinzipielle Abstand zwischen Er-wachsenen und Kindern.Im Mittelalter beispielsweise gab es diese Abgrenzung nicht. Sobaldein Kind sich allein fortbewegen und verständlich machen konnte,lebte es mit. den Erwachsenen in einem informellen natürlichen »Lehr-lingsverhältnis«, ob dies nun Weltkenntnis oder Religion, Spracheoder Sitte, Sexualität oder ein Handwerk betraf. Kinder trugen diegleichen Kleider, spielten die gleichen Spiele, verrichteten die gleichenArbeiten, sahen und hörten die gleichen Dinge wie die Erwachsenenund hatten keine von ihnen getrennten Lebensbereiche.Erst im 15 und 16. Jahrhundert entsteht allmählich unsere (Kern-)Familie aus der systematischen Auflösung des Stammes- oder Ge-schlechtsverbandes durch den sich konsolidierenden Zentralstaat.Im 17. Jahrhundert wird durch die Moralisten, Pädagogen und Kir-chenmänner (beider Konfessionen) das Interesse an der Erziehung neugeweckt: Das Kind ist nicht amoralisch, für sittliche Unterscheidungenunempfänglich, »roh« (und muß sich auswachsen): ein Gegenstandzum Hätscheln und Spaßhaben, sondern unschuldig, verderblich, desSchutzes und der Erziehung bedürftig: ein Gegenstand der ernstenVerantwortung.Die Familie bekommt dadurch eine neue Aufgabe: sie wird aus einerInstitution zur Vererbung von Gut, Stand und Namen zu einer mora-lischen Anstalt. In dieser Funktion wird sie auch von der Kirche zu-nehmend anerkannt und gefördert.Aus der sittlichen Aufgabe der Familie erwachsen als letztes die Ge-fühlsbande — freilich nur in den Schichten, die sich den Luxus desSentiments leisten können. Die bürgerliche Familie ist nun um dasKind zentriert. Sie kümmert sich in erster Linie um die Fortsetzungihrer selbst ;, um die Sicherung der Interessen einer absichtlich klein-gehaltenen Nachkommenschaft. (Seit dem 18. Jahrhundert hat sichdies nicht geändert; das Muster hat sich nur — langsam — auf die hierinje anders verfahrende Unter- und Oberschicht ausgedehnt. Nun setz-ten zugleich merkliche demographische Veränderungen ein: eine be-wußte Geburtenkontrolle in der mittleren Bevölkerungsschicht).Anders als die Humanisten, für die Bildung eine sich auf das ganzeLeben verteilende Selbstvollendung war, haben die Moralisten undPädagogen des 16. und 17. Jahrhundert — unter ihnen vor allem dieJesuiten — die Kindheit als die eigentliche Zeit der Formung desMenschen erkannt und diese Zeit durch systematische Disziplinierungdes Willens und Schulung des Geistes zu nutzen gesucht.

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• Schule und Elternhaus wirken zusammen bei der Entfernung desKindes aus der Erwachsenengesellschaft.

• Beide wirken auch — obwohl die Schule zunächst kein Monopol einergesellschaftlichen Klasse oder bestimmter Berufsgruppen oder einesGeschlechtes ist — klassenbildend. Zwar bleibt der Streit: für oderwider eine Erziehung zu Hause; aber weder das Zuhause noch dasKolleg (die Schule) sind »gesellschaftlich« im Sinne des mittelalter-

lichen (und heute noch mittelmeerischen) Lebens.

• Die Entstehung der modernen demokratischen und industriellen Mas-sengesellschaft macht die Familie vollends zum Ort der Identifikation.

Was sie an Erziehung, Bildung und Ausbildung nicht leisten kann,

wird der Schule übertragen.• Die Darstellung und Wahrnehmung der Entwicklung unserer gesell-

schaftlichen Einrichtungen, zumal der Familienerziehung und derSchulbildung als Fortschritt zu mehr Freiheit und sozialer Offenheitist falsch. Die Geschichte der von Aris untersuchten vier Jahrhundertezeigt im Gegenteil eine Zunahme von Unfreiheit, sozialer Abschlie-

ßung und Repression durch die Erwachsenen.Die Offenheit, Promiskuität und Sozialität des Mittelalters sind nicht,wie erhofft und behauptet, durch die Selbstbestimmung der Aufklä-rung, sondern durch die Herrschaft der Kleinfamilie und das Lern-ghetto der Schule ersetzt worden.

Unser praktisches und theoretisches Interesse an diesen Thesen scheintmir unmittelbar evident — und über sie hinaus erst recht an der Fülleder bunten Details, der »Bilderbögen«, auf denen wir ebenso viele auf-regende Beziehungen und Parallelen zu unseren Problemen wiederfindenwie herausfordernde, ja schockierende Unterschiede.

Wer allenthalben hört, daß die Familie im Zerfall begriffen sei undsolche Funktionsverluste erlitten habe, daß die Schule notwendig anihre Stelle treten, sich erweitern und damit schließlich selbst zur »Be-wahranstalt« werden müsse; wer gleichzeitig von anderen hört, die

bürgerliche Kleinfamilie »reproduziere« ein für die Gesellschaft bedenk-liches Fehlverhalten: falsche Rollenmuster, enge Sicherheitsbedürfnisse,a-politische und a-soziale Grundeinstellungen und Gewohnheiten und

müsse durch Wohngemeinschaften, Kommunen, Arbeits- und Erziehungs-kollektive ersetzt werden; wer hört, die Familie werde durch die robust

expandierende staatliche Pflichtschule (mit deutlicher Anti-Familien-Ideologie) verdrängt und müsse durch ein anderes Schulrecht geschütztund gestützt werden; wer dann auch noch hört, wie die Schule in den

Funktionen scheitert (und scheitern muß), in denen sie die Familie er-setzen oder kompensieren soll, und daß Elternsein ein unersetzbarer undwo nötig neu zu schaffender Beruf sei — der wird, durch dies alles ver-wirrt, begierig nach den Zeugnissen greifen von Zeiten, die lebenstüchtig,liebesfähig, schöpferisch und christlich zugleich waren und mit den Wor-ten von Ariés »keinen Begriff von der Familie« hatten.

Wer die Klagen über die Monopolisierung oder Zerstörung derOffentlichk:eit in unserer auf Öffentlichkeit so angewiesenen Gesellschaftkennt und versteht — der wird aufmerksam studieren, wie ein Leben aus-gesehen hat, das nicht durch die Privatheit der Familie fragmentarisiertwar, ein Leben, in dem es die Familie als »Realität« natürlich auch gab,aber nicht als beherrschende Norm, als alles »tyrannisierende« Idee.

Wer an den Klassenschranken in unserer Gesellschaft leidet und — umsie zu beseitigen — sei es Gesamtschulen einrichten, sei es die Schule über-haupt abschaffen möchte — der muß fasziniert sein von den im doppeltenSinn klassenlosen Schulen des Mittelalters und des i S. und s6. Jahr-hunderts, von den paradoxen Gründen ihrer Wandlung und dem, wasder Gesellschaft auch dann noch übrig blieb, als sie zu Standesschulengeworden waren: Die alte »Sozialität« hat im 17. und 18. Jahrhundertweder in den oberen Schichten noch in den Unterschichten ganz auf-gehört — ira »Großen Haus« einerseits, in dem sich Herren und Diener,Gast und Klient, Arm und Reich, Klein und Groß mischten, in denen eswenig Mobiliar und viel Geselligkeit gab, und in den Dorfkneipen, inden Gassen und Quartieren der Armen andererseits. In beiden warKommunikation aller mit allen die Hauptbeschäftigung. Ariés schreibt:»Die alte Gesellschaft versammelte ein Maximum von Lebensformenauf einem Minimum von Raum und nahm das bizarre Nebeneinandervon unendlich verschiedenen Klassen hin, wenn sie es nicht geradezuerzwang. I)ie neue Gesellschaft wies jeder Lebensform einen getrenntenBereich an« und sorgte dafür, daß sie sich darin und an sich selbst hielt.

Wer wiederum seine Hoffnungen auf Integration und Kommunikationsetzt — den wird Ariés' Urteil beschäftigen, daß die verschiedenen Klassensich umso deutlicher voneinander unterscheiden, je enger sie zusammen-lebten. »Der Diener verließ seinen Herrn nicht, dessen Freund und Kom-plize er war, weil zwischen beiden eine Verbundenheit bestand, für dieuns heute, sobald wir die Kameradie der Jugend hinter uns haben, derSinn fehlt; der Hochmut des Herrn entsprach zu der Zeit der Unver-schämtheit des Dieners und stellte, im Guten wie im Schlechten, eineHierarchie wieder her, die durch die exzessive Vertraulichkeit eines un-ablässigen Zusammenseins ständig in Frage gestellt wurde.«

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Wer sich darüber Sorgen macht, daß seine Kinder ihm durch Schule,durch andere Familien, durch den Einfluß Dritter — der Lehrer, der peer-group, der jeweils älteren — »entfremdet« werden, der wird bei Arismit Erstaunen den Bericht eines Italieners aus dem späten 15. Jahr-hundert lesen: darüber, wie die Engländer aller Klassen damals ihreKinder außer Hauses sandten, um bei anderen »zu lernen und zu dienen«(was sich schwer voneinander unterscheiden ließ), und er wird aus-gezeichnete pädagogische Gründe dafür bekommen.

Wer dies für Ausbeutung hält — der wird durch die vielen Briefe,Tagebücher, Manuale, Bilder vielleicht dazu verführt sich vorzustellen,wie anders man ein solches Geschick empfinden kann (nach den Dar-legungen von Mohammed Rassem hat sich damals geradezu ein »beson-ders Pathos des Dienstes« entwickelt (3) und einsehen, wie weit es vonOliver Twist und natürlich erst recht von Tom Brown entfernt ist.

Wer vor allem die Schranken zwischen Beruf und privatem und poli-tischem Leben entweder sorgfältig errichtet (um »sich« zu schützen) odereinzureißen sich bemüht (um den einen Teil vor der Überwältigungdurch die anderen zu bewahren) — der wird nicht nur aufmerksam jeneZeiten mustern, in denen es keine Trennung von Wohnung, Arbeitsplatzund »Freizeitbereich« gab, sondern vor allem jenes totale »Lernen amLeben« prüfen (das zunächst notwendig unter der Aufsicht und imDienste anderer stattfindet, die schon da sind und über die Erfahrungenund Mittel verfügen) und das apprentissage général mit der Abstraktionvergleichen, die unsere Schule bedeutet. (4)

Wer den Verlust der Verantwortungsbereitsdhaft in unserer Gesell-schaft beklagt und nicht flugs die Demokratie und die Verbände dafür

3 M. Rassem: »Entdeckung und Formierung der Jugend in der Neuzeit« in:Jugend in der Gesellschaft. Ein Symposion, München 1975 (dtv), S. 103.

4 Die Schule wird nicht nur selbst immer abstrakter, sondern das Lernen,das außerhalb von ihr geschieht, auch. »Abstrakt« heißt hier nicht einfach »un-anschaulich« und ist darum auch durch audiovisuelle Mittel und sogenannteProjektarbeit nicht aufzuheben. Abstrakt heißt »seiner Beziehung zu mir einer-seits und zur Sache andererseits beraubt«, so daß auch zwischen mir und ihrkeine Beziehung entsteht. Eines der abstraktesten Mittel ist paradoxerweise dasFernsehen: an Millionen gerichtet, von Vermittlern (nicht vom Betroffenen, vomAkteur, vom Macher) vorgeführt, nach Programm und terminiert. Der Reporter-Interviewer fragt nicht, weil er eine Antwort braucht, sondern weil er fragenmuß — das ist sein job. Und obwohl es ununterbrochen »action« gibt und fastununterbrochen geredet wird, kann der Zuschauer nur stillhalten. Die Folgendieses versteckten Curriculums« des Fernsehens sind unabsehbar.

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»verantwortlich« macht — der wird die Schilderungen einer Welt zitie-ren, in der die Tätigkeiten, Einrichtungen und Beziehungen so unmittel-bar waren, daß man an ihnen immer auch lernte, warum und nicht nurwie man sie tut oder gebraucht. So konnte Befriedigung direkt mit demAnsehen, das man genoß, einhergehen (und mußte nicht durch Reichtum»vermittelt« werden); so war es nicht genug, ein guter Handwerker zusein, wenn man nicht auch ein guter Nachbar war; so war das Mittel,sich angenehm und seine Sache verständlich zu machen, nicht mehr undnicht weniger als das Gespräch, eine Fertigkeit, die jedermann lernen

konnte, wenn er sie nur ausübte; so war Sicherheit in der Freundschaft,

einer damals viel behandelten politischen und sozialen Tugend, in dergegenseitige Hilfe und das gemeinsame Aushalten der Folgen von alleinzu einer Schule der Verantwortung gediehen. Und dies: das Bemühenum Ansehen, die Tauglichkeit der Arbeit, die Fähigkeit, Nachbar zusein, Gespräch und Freundschaft, war der Kanon der pädagogischenZiele der »alten Gesellschaft«, wie Ariés sie zu nennen beliebt.

Wer sich über die »exzessive« Freizügigkeit sorgt, in der unsere Kin-der aufwachsen, wer sich fragt, was wir ihnen antun, wenn wir sie —wie früh und in welcher Form? — mit Sexualität befassen; wie »abhän-gig« oder »unabhängig« sie von ihren Eltern aufwachsen können; wiemoralisch, neugierig, grausam, aggressiv, gesellig, tolerant, gläubig,korrumpierbar, lebensfähig etc. sie von sich aus »sind« (wenn man siez. B. zeitig aus der Familie entließe); wieviel Arbeit ihnen zugemutetwerden kann und wieviel Konflikt, wieviel »Realität« und wievielSchutz sie brauchen; wie früh sie ins Bett müssen und wie spät sie nochdas Schreiben und Lesen lernen können — der wird im Ariés aufregendeModelle finden (die unsentimentale, ökonomisch und juristisch bestimmteGroßfamilie, die vagabundierenden Kinderhorden, ein unbefangen ex-poniertes, ja bewußt gesellschaftlich gehaltenes Sexualleben) und jeden-falls entdecken, daß alle jene Fragen immer schon erörtert und jeweils

ganz und gar anders beantwortet worden sind, als wir dies tun — ohnedaß ganze Jahrhunderte krank, deformiert, neurotisch geworden sind.

Wer sich fragt, welchen Maßstab es für die Kennzeichnung eines er-

wachsenen Verhaltens als »autoritär« gibt — ein Kind für eine Lügebestrafen oder ihm einreden, daß es ja gar nicht lügen wollte? es aneiner Arbeit, wenngleich wegen seiner Schwäche und Unerfahrenheit, indienender Funktion beteiligen oder es vor ein Lernprogramm setzen?es auf die Bezugsperson fixieren oder es in einer »Wahrnehmungs- oderErkennungskrippe« — cognition crib — unterbringen mit Wechselrahmenfür Sicht- und Tastmuster: » ... und weil Gesichter das sind, was Kinder

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zuerst wahrnehmen, gibt es im ersten set sechs auswechselbare weiche

Plastikgesichter ...« (S) — wer sich fragt, wieviel Liebe, Hätschelei, Ge-duld, Aufmerksamkeit wir Kindern »schulden«; wer zweifelt an derRichtigkeit, Wirksamkeit und Menschenfreundlichkeit unserer lücken-losen Sozialisationsbemühungen; wer die Rolle und die Motive derLehrer als »Sozialisationsagenten« beargwöhnt; wer für eine Mischungder Altersgruppen zumindest der Kinder und Jugendlichen eintritt —

der wird bei Aris eine Fülle von neuem Material finden, das ihn

bestätigt oder anregt oder stutzig macht.Das sind, zugegeben, zufällige Interessen, die noch ganz der Zurich-

tung entbehren, die sie zu wissenschaftlichen Fragen an ein wissenschaft-liches Buch machen. Aber auch solche werden nicht ausbleiben, häufig im

Dienst eines praktischen politischen Problems:Von der Streitfrage her, wie der gegenwärtige Geburtenrückgang zu

bewerten und wie auf ihn zu reagieren sei, wird es interessant sein, dieerste, gleichsam willentlich durch die Geburtendisziplin einer ganzen,entscheidenden Bevölkerungsschicht herbeigeführte demographische Ver-änderung in Europa zu verfolgen: Welche Faktoren müssen zusammen-kommen, um eine Abneigung, Kinder in die Welt zu setzen, zu erzeu-gen? Welche psychischen und sozialen — und eben nicht nur demographi-schen — Folgen hat sie? Wann und wie verliert sie sich wieder?

Von der Reform des Paragraphen 218 her wird es interessant sein,die Behandlung von erwünschten und von unerwünschten Kindern einstund jetzt genauer zu verfolgen und womöglich zu vergleichen. Damals»kamen« Kinder für die Mehrzahl der Menschen, ohne daß die Frage,ob erwünscht oder nicht, viel daran hätte ändern können; Kinder warennicht in erster Linie gewollt oder ungewollt, sondern unvermeidbar —und es mußten zunächst viele sein in einer Zeit, in der nur jedes zweiteKind das B. Lebensjahr erreichte; dies jedenfalls war den Menschen indieser Form bewußt (6); von den Kindern, die bei der Geburt oderunmittelbar darauf starben, nicht zu reden. Lawrence Stone schreibtin seiner großen Rezension von Aris in der New York Review of Booksvom 14. i 1. 74: »Wo die Kindersterblichkeit so hoch war, wäre einetiefere Bindung zu jedem seiner Kinder einzugehen ein Anlaß zu schie-

rem Wahnsinn gewesen.« (5. 3o). Die Motive der einzelnen Menschen

für die Entscheidung, keine Kinder zu haben, sind sehr verschieden;

5 Zitiert nach Ur-ie Bronfenbrenner: »The Origins of Alienation«, in: Scien-tific American, August 1974, S. 54

6 Vgl. J. J. Rousseau: Emile, Paderborn 1958 (Schöningh), S. 24.

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sie reichen von wirtschaftlichen Erwägungen (Rezession) über Kultur-pessimismus oder Bequemlichkeit bis zu den Folgen organisierter Welt-anschauung (Women's Lib, Zero Population Growth, NON = NationalOrganisation for Non-parenthood); aber eine Gesellschaft ist auch einGanzes, und die Summe der Folgen hat gemeinsame Rückwirkungen füralle, schafft neue Zustände und neue Motive, die man statistisch ver-folgen und historisch aufklären kann.

Von der Frage her, welches Elternrecht welchem Kinderrecht gegen-

überstehen solle, z. B. in der Frage der Adoption oder des Fürsorgerechts(wie werden Recht und Einfluß der »biologischen« und der »psychologi-schen« Mutter, der Grusche und der Gouverneursfrau, des Fürsorgeheimsund des Elternhauses, der Tagesmutter und der berufstätigen Mutterverteilt und gegeneinander abgegrenzt?), ist es ineressant, sich nicht nurbei den kulturell entfernten Völkern der Südsee oder den ideologischentfernten sozialistischen Ländern umzusehen, sondern in der eigenenTradition Rückschau zu halten, in der all dies nebeneinander möglichwar: Eltern geben ihre Kinder an Zieheltern (fosterage); Eltern ver-heiraten ihre Kinder mit 13; Eltern betrachten die Arbeitskraft ihrerKinder wie einen Besitz; Eltern lassen sich im Alter von ihren Kindernversorgen -- aber niemand kann verhindern, daß ein Thomas Platter im16. und ein Jean Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert ihr Zuhause

verlassen, niemand denkt daran, sie zurückzubringen, niemand hat dasRecht oder die Pflicht dazu. Eine gesetzliche Regelung hierzu gab esnicht — nicht nur weil sie nicht einlösbar gewesen wäre, sondern weilman sie als unnötig empfunden hätte. Auch unser Kinder- und Eltern-recht könnte sich mehr an den praktischen Voraussetzungen und Folgenorientieren und sich durch die eigene Geschichte gedeckt fühlen. Und

noch etwas anderes: Wo Erziehung durch nicht leibliche Eltern (vonverschiedenen Altern, meistens vom siebenten Lebensjahr an) die Regel

ist — was wird dort aus den Problemen der Psychoanalyse?Es werden auch die alten allgemeinen kulturphilosophischen Fragen

an diesem Buch wieder aufleben: Gibt es im Bereich der gesellschaft-

lichen »Grundstrukturen« so etwas wie eine lineare »Entwicklung«? Gibt

es dabei einen Fortschritt wie Lloyd deMause, ein amerikanischer Fami-

lienforscher, behauptet, oder im Gegenteil einen durch humanitäre Ab-sichten und Gebaren verschleierten faktischen Rückschritt — eine Ab-nahme von Selbstbestimmung, Lebenssicherheit und -zuversicht, wie

Aries behauptet?Oder gilt auch hier, daß die Summe des Glücks oder des Leids zu

allen Zeiten gleich ist?

z 6

Die Antwort auf solche Fragen wird entscheidend sein für den Ge-brauch oder Mißbrauch, den man mit dem Buch von Ariés treibt.

Man mag auch fragen: Welchen Sinn eine Geschichte habe, in der sichalles — in Variationen freilich — zu wiederholen scheint. Der Ariés istvoll von »Plagiaten«, die die Geschichte an sich selbst begeht: Studen-tenunruhen mit Geiselnahme, walk-in und Professorenverhöhnung;Klagen darüber wie schwierig es ist, die Geschlechter der Jugendlichenauszumachen; Warnungen vor einem akademischen Proletariat; Sym-ptome dessen, was man vor 20 Jahren Akzeleration genannt hat undwas, als ältere Zeiten über alte Zeiten berichteten, einfach (kollektive)»Frühreife« hieß?

Aber so modern auf einmal das Mittelalter und das Ancien Régimewerden — wer Ariés so liest, wird mehr Probleme und Fragen mitnehmenals Lösungen und Antworten. Das Interesse wird fraglos genährt — aberdie Unruhe auch. Die meisten Erkenntnisse, die das Buch vermittelt,werden von dem Bewußtsein begleitet, daß die Umstände, unter denenetwas einmal möglich und plausibel war, nicht mehr sind und sich auchnicht wiederherstellen lassen. Es dämmert dem Leser, wie sehr wirdurch unsere Verhältnisse eingefangen sind — sosehr, daß wir sie eherrechtfertigen als preisgeben, auch wenn wir an ihnen leiden.

Es könnte sein, daß wir schon darum gern in die überlegene Abwehrdes Buches und seiner Thesen einstimmen: Dies sei doch schiere Roman-tik — Nostalgie nun auch in der Wissenschaft, Ausflucht vor den Erkennt-nissen und Schwierigkeiten der Gegenwart, die sich freilich nicht mithistorischen Erinnerungen beiseite und ins Unrecht schieben lassen. Wirkönnten meinen: Wer uns einen linearen Fortschritt oder Rückschritteinreden wolle, verdiene von vornherein kein Gehör, ganz gleich, wiekenntnisreich, originell und kraftvoll gedacht sein Buch ist.

Es könnte also sehr wohl sein, daß das Interesse an dem Buch undseinem Gegenstand seine Wirkung und seine Funktion zerstört. DasAufsehen widerstreitet seinem Ansehen.

Wie steht es damit — wie mit seiner Methode und seinem überraschend-sten Effekt: seiner Rehabilitierung der Geschichte an einem von denempirisch-analytischen Humanwissenschaften monopolisierten Gegen-stand?

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Zu Frage 2:

Nach der wiederentdeckten »Geschichte , undder Methode dieses Buches

Das Buch von Ariès ist, wie gesagt, vor i S Jahren in Frankreich erschie-nen. Keine zwei Jahre später gab es in der Neuen Welt eine englischeÜbersetzung. Von der Kritik als bahnbrechend gefeiert, wurde die eng-lische Fassung mehrfach aufgelegt. »Der Ariès« zählt heute zur Pflicht-lektüre amerikanischer Pädagogikstudenten. Seinen Durchbruch hat erfreilich erst erzielt, als die pädagogischen Bilderstürmer — Goodman,

Friedenberg, Illich, Reimer — zeigten, wozu man Geschichte (und dieseinsbesondere!) gebrauchen kann. Seitdem haben sich auch bedeutendeWissenschafller von der methodologischen Gegenpartei gründlich mit

Ariès auseinandergesetzt (7) und auch die Historiker befassen sich kri-

tisch mit ihm. (8) Eine Gruppe von Forschern, die sich »Psychohistori-ker« nennen, hat schließlich vor einem Jahr begonnen, eine Vierteljah-resschrift zu dem Thema The History of Childhood herauszugeben (9)und bekundet damit ihren Glauben, ja ihre Entschlossenheit, daraus eine

dauerhafte Beschäftigung zu machen.In der Alten Welt dagegen, von deren Geschichte Ariès' Buch handelt,

hat man es kaum zur Kenntnis genommen. In Deutschland wurde, vorebenfalls 15 Jahren, die zitierte »realistische«, sprich empirische Wen-dung gegen eine stark historische und matt philosophische Pädagogik(sie nannte sich selbst »geisteswissenschaftlich«) verkündet. Die Ironiedes Schicksals will es, daß unmittelbar davor im Nachbarland Hollandein Buch erschienen war, das die Thesen des Ariès an Kühnheit und Prä-zision übertraf (nicht dessen Reichtum der Beobachtungen und des histo-rischen Materials) und den zwar gut begründeten, aber für die Nicht-humanisten schwerverständlichen Titel »Metabletica« (to) trug — eine

7 Z. B. David Hunt: Parents and Children in History, The Psychology ofFamily Li f e in Early France, New York/London 1974 (Basic Books).

S Z. B. Lawrence Stone in der schon erwähnten großen Sammelrezension:»Thc Massacre of the Innocents« in der New York Review of Books.

9 Lloyd deMausc (Hrsg.): The History of Childhood Quarterly, New York.974 (Psychohistory Press).

so Jan Hendrik van den Berg: Metabletica, über die Wandlungen des Men-schen, Grundlinien einer historischen Psychologie, Göttingen 596o (Vandenhoeck& Ruprecht). Dem Humanisten bleibt, wenn nicht unerfindlich, so doch ärger-lich, daß das richtig gebildete und verwendete Wort falsch — nämlich mit c —geschrieben wird.

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Lehre von den Veränderungen, nämlich des Menschen. Es stiftete jene

»historische Psychologie« (die in Amerika psychohistory heißt) und dienicht mit einer Historie der Psychologie verwechselt werden darf. IhrePointe ist die Geschichtlichkeit des scheinbar Ungeschichtlichen: sie teiltdie entscheidende Voraussetzung der klassischen Psychologie nicht, näm-lich daß das, was wir mit welchem Erkenntniswerkzeug auch immer alsdas Wesen des Menschen ausmachen, sich gleich bleibe. Genau gesprochenbricht sie mit der Gleichung »wahrhaft erkennbar = bleibend«, soweites den sich selber erkennenden Menschen betrifft. Dieses Buch erschien

in Deutschland gleichfalls im Jahre 196o. Es wurde von Kennern gelesenund geschätzt, hat aber weder ihr Bewußtsein, noch das der Öffentlich-keit spürbar beeinflußt. Das hatte seinen Grund — und deshalb steht diesalles hier: In Deutschland war man in der Tat vollauf damit beschäftigt,die Empirie und die Analyse in ihren klassischen Formen wieder auf-zunehmen und das unter dem Nationalsozialismus Versäumte nachzu-arbeiten. Die Geschichte und ihre spekulative Deutung waren über-gewichtig geworden und erfaßten vor allem die veränderten und sichverändernden gegenwärtigen Phänomene nicht mehr. Man tat damalsden Schritt, den Amerika früher getan hatte und der dem Schritt vonAris und van den Berg voraufgehen muß, damit dieser einen Sinn hat.

Der Erforschung der Vergangenheit hat — mit neuen Fragen und alterGründlichkeit — zwar nicht aufgehört, aber man scheint sie nicht zubrauchen. Die »synchrone« Analyse, das Aufzeigen von herrschendenSystemen und Strukturen, das Experiment, die statistische Erhebungund Korrelation — Methoden, mit denen die Erscheinungen genauer faß-bar, eindeutiger vergleichbar, vielseitiger miteinander verknüpfbar wer-den, erbringen soviel und beschäftigen uns so sehr, daß wir für dasAlte, die Herkunft, das immer nur Erschließbare, die »diachrone« Erklä-rung keine Zeit, keine Verwendung und fast kein Interesse mehr haben.Und hat uns die Historie nicht gerade dies dauernd gelehrt: daß dieProbleme ohnehin anders, nur scheinbar ähnlich und nie gleich sind, undhat sie nicht damit selbst ihre Funktion und Bedeutung aufgehoben?

Wer nun behauptet — wie ich dies tue — das hier vorgelegte Buch

werde Aufsehen erregen, neue Perspektiven eröffnen und bei der Bewäl-

tigung unserer praktischen Probleme behilflich sein können, sagt aufdiesem Hintergrund etwas Zweideutiges:

erstens, daß sich Überdruß an der unhistorischen, ja antihistorischenDeutung, der Strukturanalyse, den positivistisch-empirischen Methodeneingestellt hat (die dem Buch vorausgesagten Wirkungen wären dem-nach eher Folgen als Ursache eines solchen Umschwungs);

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zweitens, daß wir uns tatsächlich von der Geschichte schon so weitlosgesagt haben, sie uns schon so weit entglitten ist, daß wir sie wieder-entdecken müssen. Denn woher das Aufsehen, wenn die klassischen histo-rischen UnIersuchungen noch in unserer Reichweite lägen? Wer, d. h.

zunächst welcher Student, greift noch nach dem »Großen Paulsen« (II)

K. von Raumers umfassender Geschichte der Pädagogik (12) oder garzu den zahlreichen schweren Bänden der Monumenta Germaniae Paeda-gogica? Werner Jaegers Paideia (13), Henri I. Marrou's Geschichte derErziehung im klassischen Altertum (i4), Eugenio Garins Geschichte undDokumente der Abendländischen Pädagogik (15); »der Reble« (16) mitseinen zwei Dokumentationsbänden, J. Dolchs Lehrplan des Abend-landes (17) und das seit fünf Jahren vorliegende Monumentalwerk vonTh. Ballauff und Klaus Schaller (i8) werden allenfalls noch zur Exa-mensvorbereitung nach Vereinbarung gelesen, nicht mehr von allen oder

r r Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschenSchulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, inz Bänden, Leipzig 1919, 3. Aufl. (Veit & Comp.; unveränderter photomechani-scher Nachdruck, Berlin 196o, Walter de Gruyter).

12 K. von Raumer: Geschichte der Pädagogik, 4. Bd., Leipzig 1842 (5. Aufl.18 77)•

13 Werner Jaeger: Paideia, 3 Bd., Berlin 1934-47 (de Gruyter).14 Henri Iriinée Marrou: Geschichte der Erziehung im Klassischen Altertum,

Freiburg/Miinchen 1957 (Karl Alber).15 Eugenio Garin: Geschichte und Dokumente der Abendländischen Pädago-

gik, 2 Bände, Reinbek 1964 (rde).16 Albert Reble: Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 1955, 2. Aufl. (Ernst

Klett).Albert Reble (Hrsg.): Geschichte der Pädagogik, Dokumentationsbände I undII, Stuttgart 1971 (Ernst Klett).

17 Josef Dolch: Lehrplan des Abendlandes, Zweieinhalb Jahrtausende seinerGeschichte, Ratingen 1965 (Aloys Henn).

18 Theodor Ballauff und Klaus Schaller: Pädagogik, eine Geschichte derBildung und Erziehung, Band I: Von der Antike bis zum Humanismus, Band II:Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Band III: 19./2o. Jahrhundert, Freiburg

1 9 6 9, 1 97 0 , 1 973. Es handelt sich um eine Geschichte der Bildungsideen nachPersonen und Sachgebieten (z. B. »Frauenbildung« oder »Gehorsam« oder»Körpererziehung«) geordnet. Erwähnt werden sollten die ähnlichen, geistes-geschichtlich organisierten Geschichten der Pädagogik — mit z. T. hohen Auf-lagen — von Fritz Blättner: Geschichte der Pädagogik, Heidelberg 1968, 33.Auflage (Quelle & Meyer); Theo Dietrich: Geschichte der Pädagogik in Bei-spielen, 18.-20. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 197o (Klinkhardt); HermannWeimer: Geschichte der Pädagogik, Berlin 1967, 17. Auflage (Walter de

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