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Gero Hoch Geschichte und Entwicklung der Deutschen Marinen Anmerkungen zur Rolle der Marine in der deutschen Militärgeschichte 3. Aufl. 2007

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Gero Hoch

Geschichte und Entwicklung der Deutschen Marinen

Anmerkungen zur Rolle der Marine in der deutschen Militärgeschichte

3. Aufl. 2007

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Geschichte und Entwicklung der Deutschen Marinen

Anmerkungen zur Rolle der Marine

in der deutschen Militärgeschichte

Inhalt: 1. Vorbemerkungen 2. Die erste und zweite Bundesmarine 3. Die Entwicklung der Kaiserlichen Marine 4. Die deutsche Marinerüstung und die Kriegsschuldfrage 5. Die Kaiserliche Marine im Krieg 6. Von der Kaiserlichen zur Reichs- und Kriegsmarine 7. Von der dritten Bundesmarine zur Deutschen Marine 8. Anmerkungen zur Bedeutung des Seeverkehrs 9. Das heutige Konzept der Marine 10. Abschließende Bewertung - Lehren aus der Geschichte © G. Hoch, 3. Aufl., Siegen 2007

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1. Vorbemerkungen

Deutsche Militärgeschichte ist aus den uns allen bekannten Gründen ein heikles Thema. Die Geschichte der Marine nimmt in diesem Rahmen in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Die Marine erweist sich einerseits recht unerwartet als älteste Teilstreitkraft Deutschlands. Sie gilt andererseits als die Kriegsursache für Englands Eintritt in den Krieg 1914 bis 1918. Dieser wurde damit zum Weltkrieg und er gilt als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die in mehr oder minder direkter Linie zu Hitler, Stalin und Auschwitz führte. Für uns heutiges Geschichtsverständnis und für die Traditionspflege in den Streitkräften des wiedervereinigten Deutschlands sind in Bezug auf die Marine neben dem interessanten aber minder wichtigen Aspekt des Alters der Marine drei Kernfragen von Interesse, die sich verkürzt wie folgt umreißen lassen: 1. Ist die Marinerüstung des Deutschen Reiches vor 1914 ursächlich für den 1.

Weltkrieg? 2. Wurde die Marine in den beiden Weltkriegen angemessen geführt? 3. Ist die Marinegeschichte geeignet für die Traditionspflege der Bundeswehr? Alle drei Fragen lassen sich relativ klar mit „Nein“ beantworten, was im Folgenden zu begründen ist. Die Geschichte der deutschen Marine ist jung und wechselvoll wie die Geschichte Deutschlands als staatliche Einheit. Zwar gibt es Seefahrt in Deutschland schon zu Zeiten Karls des Großen, an dessen Hof ein Admiral erwähnt wird und auch zu Wikingerzeiten, z.B. um das Jahr 1.000 in Heitabu, dem heutigen Schleswig. Auch im Mittelalter wird deutsche Seefahrt in mehr oder minder christlicher Form durch die Hanse gepflegt (ca. 1400). Reine Kriegsschiffe baut bei uns erstmals der Große Kurfürst in Preußen (1684). Seine Nachfolger setzen das jedoch nicht fort. Eine deutsche Marine gibt es erst mit der Entstehung eines Nationalstaates im 19. Jahrhundert und damit viel später als in England, Frankreich und Russland. 2. Die erste und zweite Bundesmarine Nach den Befreiungskriegen gegen das Frankreich Napoleons entsteht in Deutschland eine starke Einigungsbewegung. Sie führt noch nicht zu einem Nationalstaat. Die Frustration darüber hat unter anderem die Revolution von 1848 zur Folge. Diese bringt am 18. Mai 1848 eine Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche hervor, die sofort mit einer maritimen Bedrohung durch Dänemark konfrontiert wird, das Schleswig besetzt hält und mit einer neuen Verfassung faktisch annektiert. Dänemark blockierte deutsche Seehäfen wie Swinemünde, beschlagnahmte am 19. April 1848 alle deutschen Schiffe in seinen Häfen und brachte in der Folgezeit viele preußische Schiffe auf. Zwei Tage später marschierten die Truppen. Eine der ersten Maßnahmen der Nationalversammlung in Frankfurt ist die Aufstellung einer Marine. Deutsche Marinegeschichte beginnt somit am 14. Juni 1848 mit der kurzen Episode der schwarz-rot-goldenen „Marine des Deutschen Bundes“ (1848-1852), die im Krieg gegen Dänemark 1849 von den Engländern, die zu dieser Zeit noch Helgoland besetzt hielten, als „Piraten“ behandelt wurde. Der Befehlshaber der ersten Bundesmarine, Kapitän zur See Brommy, hatte zuvor unter anderem in den USA gedient. Diese Marine bestand aus 5 Fregatten und 7 Korvetten, teils

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konvertierte Handelsschiffe, teils in England unter Tarnnamen gebaute Dampfer, wie die Korvette „Großherzog von Oldenburg“. Die nunmehr über 150-jährige Tradition unserer Marine als gesamtdeutsche Streitmacht ist deutlich älter als die des Heeres oder gar der Luftwaffe. Dass die Marinetradition auf Beschlüssen des ersten demokratischen Parlamentes Deutschlands in der Frankfurter Paulskirche beruht, erscheint ebenso bemerkenswert wie die Begeisterung für Marinefragen in der deutschen Einheitsbewegung und im später entstandenen Nationalstaat. Der ersten gesamtdeutschen Marine ist, wie der gesamtdeutschen Bewegung insgesamt, kein langes Leben beschieden. Nachdem sie immerhin am 4. Juni 1849 unter Brommy gegen die dänische Fregatte „Valkyrien“ vor Helgoland zum Einsatz kam wird sie nach Ende des Krieges schon 1852 wieder aufgelöst, die Schiffe werden versteigert, das Flaggschiff „Hansa“, eine Radfregatte, fährt künftig als Postdampfer im Atlantikdienst. Interessanterweise kam es bereits 1850 im Kriege gegen Dänemark zu einer militärtechnischen Randerscheinung, die später eine zentrale Rolle in der deutschen Seekriegsgeschichte spielen sollte. Der bayerische Artillerie-Unteroffizier Wilhelm Bauer experimentierte mit einem ersten U-Boot, das Sprengladungen an dänischen Schiffen anbringen sollte. Leider hat der „Brandtaucher“, eine damals revolutionäre Innovation, die Verantwortlichen nicht überzeugt und daher die Kieler Bucht nicht verlassen. Er ist allerdings bis heute erhalten und kann im Militärhistorischen Museum Dresden besichtigt werden. Eines der wenigen erhaltenen U-Boote des 2. Weltkrieges wurde übrigens, bei der Bundesmarine als Erprobungsträger eingesetzt, auf Wilhelm Bauers Namen getauft. Das Boot vom Typ XXI ist bis heute erhalten und kann im Schifffahrtsmuseum Bremerhaven besichtigt werden. Nahezu zeitgleich zur ersten deutschen Marine wird von einer Kommission unter Prinz Adalbert von Preußen eine preußische Marine gegründet (ein Vorläufer bestand um 1680 unter dem Großen Kurfürsten). Der Prinz wird auch Oberbefehlshaber. Am 23. Mai 1848 wird der Bau von 18 Kanonen-Schaluppen angeordnet. Zugleich werden zusätzlich zur vorhandenen Segelkorvette „Amazone“ zwei Postdampfer mit Geschützen bestückt und in die Marine Preußens übernommen: Die „Königin Elisabeth“ und die „Preußischer Adler“. Kommodore Schröder als Seebefehlshaber besteht am 27. Juni 1849 auf „Preußischer Adler“ ein Gefecht mit einer dänischen Kriegsbrigg und der Fregatte „Galathea“. Ein Bootsmann kommt ums Leben. Die preußische Marine übernimmt später einige Schiffe der Marine von 1848 und geht 1867 in der Marine des norddeutschen Bundes auf, der zweiten Bundesmarine. Fortan sind die deutschen Küsten nie wieder ohne seegehenden militärischen Schutz. Eine einheitliche Marine in Deutschland geht der staatlichen Einheit voran. 1864 wird mit der „Arminius“ ein erstes gepanzertes Schiff in Dienst gestellt (1.600 t, 4 Kanonen, 130 Mann Besatzung). Ungewohnter weise zeigt es sich bald ganz ohne Masten und Segel. Der Kriegshafen ist seit 1865 Kiel. Tirpitz tritt in diesem Jahr in die preußische Marine ein (1897 wird der Admiral Staatssekretär des Reichsmarineamtes). 1869 wird als weiterer Kriegshafen Wilhelmshaven durch Wilhelm I. eingeweiht. Zugleich wird als erstes größeres Panzerschiff „Kronprinz Wilhelm“ in Dienst gestellt, das bis 1891 mit bescheidenen 5.800 t und 108 m Länge größtes deutsches Kriegsschiff blieb.

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3. Die Entwicklung der Kaiserlichen Marine Die norddeutsche Bundesmarine, die im Krieg gegen Frankreich durch ihre bloße Existenz eine französische Landung in der deutschen Bucht verhindert, wird mit der Reichsgründung 1871 zur „Reichsmarine“ und dann zur „Kaiserlichen Marine“. Die rasch wachsende Kaiserliche Marine spielt, wie ihr Mentor Wilhelm II., eine tragische Rolle in der Deutschen Geschichte. Als „Lieblingskind“ des Kaisers hochgerüstet und in seinem Geiste erzogen, gilt die deutsche Flotte 1914 als einer der Kriegsgründe. Die Entwicklung von einer drittklassigen zu einer erstklassigen Seemacht vollzog sich in nur wenig mehr als zehn Jahren und sie ist vor allem einem Mann mit großem Organisationstalent, Überzeugungs- und Durchsetzungskraft zu verdanken: Alfred Tirpitz. Er entwickelte die Marine in enger Kooperation mit der Rüstungsindustrie und unter Einsatz einer überaus erfolgreichen Werbekampagne zu einer nach Quantität und Technik schlagkräftigen Waffe, die sogar der ersten Seemacht der Welt die Stirn bieten konnte. Sein Konzept war das einer „Risikoflotte“. Die deutsche Marine sollte so stark sein, dass sie für jeden Angreifer ein Risiko darstellte. Der große Aufschwung begann mit einem Flottengesetz in 1898, das neben einem Flottenflaggschiff zwei Geschwader zu acht Linienschiffen und sechs große Kreuzer vorsah, zuzüglich Materialreserve von zwei Linienschiffen und drei großen Kreuzern (28 Schiffe). Bereits in 1900 wurde ein zweites Gesetz durchgebracht, in dem auf vier Geschwader zu acht Linienschiffen zuzüglich acht große Kreuzer erhöht wurde. Zugleich wurde die Materialreserve um zwei Linienschiffe erhöht (48 Schiffe). Die Novelle von 1912 brachte unter anderem ein weiteres Geschwader zu acht Linienschiffen (53 Schiffe). Dies sind jeweils die Zahlen der Heimatflotte. Hinzu kamen eine Auslandsflotte von ursprünglich drei, später acht großen und zehn kleinen Kreuzern! Die Marinerüstung wurde trotz ihrer ungeheuren Dimension von einem breiten Konsens in der Bevölkerung getragen, den ein Flottenverein nach Kräften unterstützte. Tirpitz schaffte es, die Entwicklung auch technisch auf hohem Niveau zu vollziehen. Die Schiffe wurden, trotz der sich rasch vollziehenden Entwicklung vom Linienschiff mit 28 cm Kaliber zum „all-big-gun-battleship“ mit 38 cm Kaliber, durchdacht, vor allem standfest und solide konstruiert, so dass sie kalibermäßig überlegenen englischen Einheiten voll gewachsen waren. England entging diese Entwicklung natürlich nicht. Lord Fisher, der energische Gegenspieler von Tirpitz sorgte dafür, dass England von den Schlachtschiffen neuer Konstruktion stets mehr Schiffe baute. Die Kräfteverhältnisse 1914 zeigen die kaiserliche Marine als zweitstärkste der Welt. 4. Die deutsche Marinerüstung und die Kriegs-schuldfrage Die Marinerüstung des Reiches gilt vielen Historikern als ausschlaggebender Grund für den raschen Kriegseintritt Englands und damit für die Ausweitung des kontinentalen Konfliktes zum Weltkrieg. Diese Sicht kann allerdings durch geschichtliche Fakten nach heutigem Stand der Forschung nicht mehr aufrechterhalten werden und zwar aus zwei Gründen.

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Zum einen war das Verhältnis Englands zum Reich bereits lange vor dem ersten Flottengesetz aus macht- und wirtschaftspolitischen Gründen äußerst schlecht. Zum anderen konnte die deutsche Flotte aus ihrer geographisch nachteiligen Lage und aus unterlegener Position England niemals ernsthaft in Gefahr bringen, was jenseits des Kanals auch durchaus so gesehen wurde. Die deutsche Marine war schließlich nicht als weltweit agierende, gegen die Versorgungslinien des Empire gerichtete Flotte konzipiert, die als Messer am Halse Englands hätte begriffen werden können, sondern sie war eine Heimatflotte mit kurzer Reichweite. Englands Politik gegenüber dem Kontinent sah seit vielen Jahrhunderten vor, die jeweils stärkste Macht als Gegner zu betrachten und zu bekämpfen. Seit dem Sieg des Reiches über Frankreich in 1871 war Deutschland im Rahmen dieser englischen Gleichgewichtspolitik der Feind Nr. 1 für das Empire. Dies wurde sehr verstärkt durch den weltweiten wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands und durch die weltweit agierende deutsche Handelsflotte, die sich noch dynamischer entwickelte, als die kaiserliche Marine. Inzwischen ist durch zahlreiche Quellen eindeutig belegt, daß sich offene Feindschaft entwickelte. So erschienen seit 1895 nahezu regelmäßig Artikel wie der vom 24.8. in der Londoner Saturday Review, der in einem „Germaniam esse delendam“ gipfelt (Quelle: Uhle-Wettler, S. 109). Die Abneigung gegen alles Deutsche nahm geradezu hysterische Züge an. So wurde 1904 der versehentliche Angriff der durch die Nordsee nach Ostasien marschierenden russischen Ostseeflotte auf englische Fischtrawler den Deutschen zugeschrieben und löste einen Proteststurm aus. Längst schon war in antideutschen Kampagnen üblich, Deutsche als „Hunnen“ zu titulieren, was sich bis heute in der englischen Presse widerspiegelt und dem Vernehmen nach auch in die Umgangssprache selbst der königlichen Familie Einzug gehalten hat. Auch das Verhältnis zu den USA wurde durch diese Haltung mitgeprägt. In diesem Klima war eine deutsche Marinerüstung mit dem Ziel, notfalls auch der stärksten Seemacht der Welt entgegentreten zu können, durchaus angemessen. Natürlich hat dies nicht gerade zur Entspannung beigetragen, die Marinerüstung ist aber ganz sicher nicht von erstrangiger Bedeutung gewesen, zumal England durch den Technologiesprung zum Schlachtschiff mit Einheitskaliber im Jahre 1906 das Wettrüsten erst richtig in Gang brachte. Deutschlands Gesamtpotential als Handelsnation und als europäische Vormacht war der wahre Kriegsgrund für England. 1914 begann dann der unselige und vermeidbare Konflikt, ausgelöst ohne Not durch Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich, die beide allen Grund hatten, ihn zu vermeiden. 5. Die kaiserliche Marine im Weltkrieg Im Weltkrieg 1914-1918 spielt die kaiserliche Marine trotz erheblicher Kampfkraft kaum eine Rolle. Gleich zu Beginn sinkt ihr Ostasiengeschwader unter Graf Spee im Dezember 1914 bei den Falklands. Spee hatte sich aus unhaltbarer Lage vor der chinesischen Küste in die Weiten des Pazifik zurückgezogen und wollte über Südamerika in die Heimat. Nach einem überraschend klaren Sieg gegen das englische Südamerikageschwader bei Coronel vor der Chilenischen Küste läuft Spee aufgrund eines Führungsfehlers gegen den Rat seiner Kommandanten ohne Aufklärung einem überlegenen Flottenverband in Port Stanley (Falklands) in die Arme, der alle deutschen Schiffe bis auf die Dresden versenkt, die entkommen kann. Tirpitz Gegenspieler Fisher hatte zwei hochmoderne Schlachtkreuzer eigens gegen

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Spee von der Home-Fleet entsandt. Es steht heute außer Frage, dass Spee, statt die Kräfte konzentriert gegen feindliche Seestreitkräfte zu wenden, den Feind viel wirksamer mit disloziertem Handelskrieg geschädigt hätte. Im übrigen hätte er Aufklärung betreiben müssen. Die englische Marine konzentriert aus Furcht vor der kaiserlichen Marine alle Kräfte in der Heimatflotte. Diese ist so bemüht, die deutsche Bucht abzusperren, dass 1915 die Zahl einsatzfähiger englischer Schiffe bei der Home-Fleet gleich ist wie bei der Hochseeflotte. Das wird auf deutscher Seite nicht genutzt und ändert sich auch bald. 1916, in der Seeschlacht vor dem Skagerrak, führt die kaiserliche Marine 22 Linienschiffe und 5 Schlachtkreuzer gegen einen nach Zahl und Stärke überlegenen Gegner ins Gefecht. Technisch sind die deutschen Schiffe allerdings besser. Im direkten Kampf Schiff gegen Schiff wird dies durch die englischen Verluste in der Schlacht eindrucksvoll bewiesen. Admiral Beatty´s Wort ist verbürgt und unvergessen: „Was ist heute bloß mit unseren Scheiß-Schiffen los“ (“bloody-ships“) hat er gesagt, nachdem zwei Schlachtkreuzer und später ein dritter vor seinen Augen verloren gingen. Beide großen Flotten geraten in heillose Verwirrung und trennen sich bei unklarem Lagebild unentschieden und mit erheblichen Verlusten . In der Nacht entkommt Admiral Scheer in den gesicherten Teil der deutschen Bucht. Das kann bei unterlegenen Kräften und geringeren Verlusten durchaus als Erfolg gewertet werden; England begreift es zu recht als Niederlage. Beide Seiten gehen solche Risiken nicht mehr ein. Die Flotte liegt gegen den Rat ihres Schöpfers Tirpitz nutzlos in Wilhelmshaven. Die weitgehend zwecklos gebundenen personellen und materiellen Ressourcen fehlen an anderer Stelle. Das letzte Flaggschiff „Baden“, ein 32.000 t Schlachtschiff, ist somit ein Symbol gleichermaßen für technisches Können und politische Unvernunft. Erfolgreich wirkt die junge U-Boot-Waffe der kaiserlichen Marine, die nach der Skagerrakschlacht die Hauptlast des Krieges zur See trägt, dies allerdings mit enormen Verlusten erkauft. Von 373 U-Booten gehen 178 verloren, 5.132 Marinesoldaten fallen dabei. Ursache dafür sind nicht zuletzt Führungsfehler: Die Weisungen für das Verhalten der U-Bootkommandanten am Feind sind widersprüchlich und werden häufig geändert. Der U-Bootkrieg wird zunächst nach Prisenordnung geführt. Feindschiffe sind zu stoppen, zu durchsuchen und erst nach Räumung zu versenken. Der uneingeschränkte U-Bootkrieg wird 1915 erklärt und dann wieder zurückgenommen. Erst 1917 wir er praktiziert. Führungsfehler sind auch an anderer Stelle zu beklagen: Die untätigen Schlachtschiffe werden im Hafen zu Brutstätten für Meutereien, nicht zuletzt wegen der üppigen Verpflegung für Offiziere bei hungernder Mannschaft. Erste Unruhen werden, gerade auch durch Scheer, den „Sieger“ am Skagerrak, unnachsichtig und uneinsichtig mit Todesurteilen geahndet. Das sollte sich bitter rächen. Die Matrosen verweigern einen letzten Einsatz der Schiffe in 1918 und werfen die Geschützverschlüsse über Bord. Das Kriegsende wird damit für die Marine zu einem albtraumartigen Fiasko. Dieser Schock wirkt bis in die heutige Marine nach, vor allem aber bestimmt er die Haltung der Marineführung im 2. Weltkrieg.

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6. Von der Kaiserlichen zur Reichs- und Kriegs-marine Nach den Waffenstillstandsbedingungen ist die Marine bis auf wenige alte Schiffe aus der Vorkriegszeit an die Alliierten auszuliefern. Unter deutscher Besatzung wird die Flotte nach Scapa Flow überführt. Die kaiserliche Marine geht dort am 21.06.1919, abgeschnitten von Nachrichten aus der Heimat, ruhmlos durch Selbstversenkung unter. Einen ähnlichen Umfang erreicht die Seerüstung in Deutschland nie wieder. Die Reichsmarine der Weimarer Republik (1918 Nachfolger der kaiserlichen Marine) ist durch die Versailler Verträge nach Zahl und Stärke ein Zwerg. Ausgerüstet mit Uralt-Linienschiffen bringt die gebeutelte Republik erst 1932 Ersatzbauten (mit Tonnagebegrenzung) für ihre Marine zuwege. Diese Westentaschenschlachtschiffe waren eine technische Innovation nach Antrieb, Größe und Kaliber. Mit Hitlers Machtergreifung kam es zu einer bedeutenden Aufrüstung auch zur See. Ein Flottenabkommen mit einer Tonnagebeschränkung auf vergleichsweise bescheidene 35% der Royal Navy ermöglichte das. Diese Beschränkung der Marinerüstung brachte aber keine grundsätzliche Änderung der englischen Kontinentalpolitik, was die These von der Unmaßgeblichkeit der Marinerüstung vor 1914 für den 1. Weltkrieg erhärtet. Der rasch einsetzende Flottenaufwuchs unter Hitler wurde bis zum 2. Weltkrieg nicht annähernd fertig. Die Kriegsmarine war auch nicht zeit- und lagegerecht ausgerüstet. Hitler hatte die Kriegsbereitschaft der Marine erst für 1944 gefordert. Der später verfolgte Z-Plan hätte gar erst 1947 vollendet werden können. Bei Kriegsbeginn war Deutschlands Marine daher ein Torso. Die vielversprechende Flugzeugträgerentwicklung wurde abgebrochen. Der 1939 fast fertige Träger „Graf Zeppelin“ vermoderte an der Pier und ist später als Wrack in russische Hände gefallen. So kam, was kommen musste: Das brandneue Schlachtschiff „Bismarck“ wird mit einem Begleitkreuzer ohne jede Flugzeugdeckung und ohne weitere Koordination mit anderen Einheiten allein in den Atlantik geschickt. Dort kann es zwar das englische Schlachtschiff „Hood“ versenken, wird aber danach von englischen Trägerflugzeugen lahm geschossen und endet nach sinnlosem Kampf gegen eine erdrückende Übermacht durch Selbstversenkung. Das Schwesterschiff „Tirpitz“ wird später in Norwegen aus der Luft versenkt, ohne jemals einen Schuss auf gegnerische Schiffe abgefeuert zu haben. Die Bedeutung einer Marineluftwaffe wurde einerseits nicht voll erkannt. Andererseits funktionierte die Zusammenarbeit mit der Luftwaffe nicht. Es gab den erforderlichen Verbund der Waffen nicht mit der Luftwaffe und auch innerhalb der Marine war er die Ausnahme. Die aus der Reichsmarine hervorgegangene Kriegsmarine (1935) spielte somit, auf Hitlers Krieg weder materiell noch konzeptionell angemessen vorbereitet, im 2. Weltkrieg keine größere Rolle, wenn man von den Anfangserfolgen der Handelsstörer, dem improvisierten Norwegenunternehmen und dem bis 1943 hochwirksamen U-Bootkrieg absieht. Die U-Boote waren die einzige erfolgversprechende Waffe der Kriegsmarine im Kampf mit England. Bis 1943 (!) brachte die Marine aber kaum mehr als 20 Boote gleichzeitig an die Front. Dies war Folge der Ausrichtung der Marineführung auf Dickschiffe einerseits und der Inanspruchnahme der Werftkapazitäten für diese und für die lange betriebene Vorbereitung der Invasion Englands. Die Marineführung hat erst 1941 die Bedeutung der U-Bootwaffe erkannt. Die Änderung der Prioritäten

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wirkte sich quantitativ erst aus, als die alliierte Technik ihre Abwehr voll aktiviert hatte. Zudem wurden die U-Boot-Kräfte nicht konzentriert gegen England eingesetzt, sondern u.a. auch im Mittelmeer (Rommel) und im Nordmeer (Russland). Damit kommt die aussichtsreichste Waffe der Marine, falsch bewertet und schlecht geführt, nicht zu der ihr möglichen Wirkung. Symbolische Bedeutung kommt dem Verlust des Panzerschiffes „Admiral Graf Spee“ ganz zu Beginn des Krieges durch Selbstversenkung in der La-Plata-Mündung zu. Das als Handelsstörer im Südatlantik zunächst erfolgreich eingesetzte Schiff nimmt ein Gefecht mit drei englischen Kreuzern an. Ohne Beachtung seiner überlegenen Artillerie sucht der Kommandant den Nahkampf, im dem sein Schiff Beschädigungen erleidet. Mit seiner überlegenen Artilleriereichweite mit einem Vorteil von 7,3 km hätte er den Gegner auf Distanz halten müssen. Ganz generell war der Kampf mit Kriegsschiffen zu vermeiden. Nach kurzer Reparatur in Montevideo entschließt er sich zur Selbstversenkung, weil seine Munitionsvorräte zu 75% erschöpft sind, die Seefähigkeit beeinträchtigt ist und er der englischen Propaganda Glauben schenkt, die einen überlegenen Flottenverband vor dem La-Plata meldet. Das nach dem Seehelden Graf Spee benannte Schiff, der 1914 nach siegreichem Kampf mit dem englischen Südamerikageschwader tragisch infolge Führungsfehler fällt, endet 1939 somit ebenfalls nach siegreichem Kampf gegen das Südamerikageschwader u.a. durch den gleichen Führungsfehler. Eine einmalige Duplizität der Ereignisse. Der Kommandant nimmt sich das Leben. Die Marine verliert ihre wenigen großen Einheiten bis auf den Schweren Kreuzer „Prinz Eugen“, der als glückhaftes Schiff den Krieg unbeschadet übersteht. „Scharnhorst“ sinkt im Gefecht mit überlegenem, mit Radar ausgerüstetem Gegner in einer Polarnacht am Nordkap. Die Radarentwicklung war in Deutschland u.a. auf Befehl Görings vernachlässigt worden – eine verhängnisvolle Fehlentscheidung, wie sich auch bei der U-Bootwaffe zeigte. „Blücher“ wird, als Truppentransporter missbraucht, mit vielen kleineren Schiffen Opfer des Norwegenunternehmens. „Gneisenau“ wird nach Beschädigungen stillgelegt. Die Artillerie des Schlachtschiffes findet im Küstenschutz Verwendung. Die übrigen enden durch Luftangriffe und Selbstversenkung zu Kriegsende. Die beiden besonders hervorzuhebenden Erfolge der Kriegsmarine, nämlich der teilweise sehr wirksame U-Boot-Krieg und das Norwegenunternehmen sind, wie zahlreiche spektakuläre Einzelaktionen, mit enormen Opfern erkauft. Das Trauma der kampflos untergegangenen kaiserlichen Marine nährt die Bereitschaft dazu: Die Marine konnte nach einem geflügelten Wort nur zeigen, dass sie anständig zu sterben versteht. Von 1.170 U-Booten der Kriegsmarine gingen 684 mit 26.650 Seeleuten verloren (Personalverluste 65%). Technisch geraten die U-Boote spätestens 1943 nach Einführung des Radars auf Flugzeugen bei fast lückenloser Überwachung des Atlantik aus der Luft so in den Rückstand, dass angesichts der Verluste ihr rücksichtsloser Einsatz durch den fanatischen U-Boot-Befehlshaber Dönitz aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar ist. Aus heutiger Sicht wenig verständlich sind auch unrühmliche Todesurteile von Marinerichtern gegen Regimegegner und Kriegsmüde bis nach der Kapitulation 1945. Angesichts solcher historischer Lasten erscheint wenig tröstlich, dass die Teilstreitkraft Marine mit den in jüngster Zeit häufiger diskutierten Kriegsgräueln anderer Art kaum in Verbindung gebracht werden kann. Große Verdienste erwarb sie allerdings im Frühjahr 1945 durch eine letzte große Anstrengung: Sehr viele Deutsche konnten im Osten vor dem Zugriff der roten Armee über die Ostsee

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gerettet werden. Alles, was noch fahren konnte, wurde im Frühjahr 1945 für diese Rettungsaktion eingesetzt. 7. Von der dritten Bundesmarine zur Deutschen Marine Nach dem zweiten Weltkrieg erfolgt eine Zäsur. Deutsche Kriegsschiffe wirken für mehr als zehn Jahre nur unter alliierter Flagge unter anderem an der Beseitigung der Kriegsfolgen mit. Erst ab 1956 wird wieder eine Marine aufgestellt, die erneut unter der Fahne schwarz-rot-gold segelt und als Teil der Bundeswehr „Bundesmarine“ heißt (die dritte der deutschen Geschichte). Sehr bescheiden ausgestattet dient sie vorwiegend der Küstenverteidigung des Frontstaates Bundesrepublik Deutschland und der Nato am „Eisernen Vorhang“. Der Schiffspark besteht zunächst aus Weltkriegsveteranen der Siegermächte und der Kriegsmarine. Erste Eigenbauten sind ab 1957 Geleitboote, die später Fregatten genannt werden, sowie Schnellboote und ab 1959 auch Zerstörer. Im Rahmen der Nato kooperiert die 3. Bundesmarine eng mit anderen Bündnispartnern, zur Verteidigung der Ostseezugänge besonders eng mit Dänemark und Norwegen. Seit der deutschen Wiedervereinigung 1989 firmiert sie als „Deutsche Marine“ und wechselt vom kontinuierlichen Wachstum zur respektablen Randmeermarine unter dem Eindruck geänderter politischer Rahmenbedingungen in eine noch nicht abgeschlossene Entwicklung, die auch eine deutliche Verschlankung beinhaltet. Die aktuelle Konzeption deutscher Seestreitkräfte hat die maritime Interessenlage unseres Landes zu berücksichtigen. 8. Anmerkungen zur Bedeutung des Seeverkehrs Deutschland verfügt nicht nur über eine bedeutende maritime Wirtschaft (dieser Sektor setzt im Jahr über 6,5 Mrd. Euro um) sondern ist auch in starkem Maße auf den Handel über See angewiesen. Der nationale Außenhandel wird zu 50% über See abgewickelt (die Importe zu 2/3, die Exporte zu 1/3). Pro Tag stehen durchschnittlich 1.000 Schiffe mit über 7 Mio. t Einfuhrgütern für Deutschland in See. Die deutsche Handelflotte umfasst knapp 3.000 Schiffe (herausragende Bedeutung kommt der Containerschifffahrt zu). In europäischen Häfen werden täglich 650.000 t Ladung für Deutschland von 150 Schiffen gelöscht. Der Erzbedarf wird zu 100%, der Erdölbedarf zu 95% aus Einfuhren gedeckt, wobei 66% des Rohöls aus außereuropäischen Ländern stammen. Daraus ergibt sich ein Bedarf an Sicherungsfunktionen für nationale Seestreitkräfte, der über den reinen Küstenschutz als Basisaufgabe hinausgeht und den Schutz des Seeverkehrs zumindest ab den Eingängen zur Nordsee im Westen (englischer Kanal) und im Norden (ab dem nördlichen Nordatlantik) abdeckt und auch die Fähigkeit erfordert, im Rahmen bestehender Bündnisse einen Beitrag zur Aufrechterhaltung des Prinzips „Freiheit der Meere“ zu leisten. Da globalen Herausforderungen immer weniger mit nationalen Maßnahmen begegnet werden kann, ist zur Gewährleistung globaler maritimer Sicherheit, interessanterweise vor allem aus den USA, ein internationaler Kooperationsverbund vorgeschlagen worden (vgl. Dean 2007, S. 15-17). Die deutschen nationalen Seeinteressen erfordern aus den genannten Gründen eine Marine, deren Leistungsfähigkeit ausreicht, auch im Verbund der großen Hochseemarinen mitzuwirken und mit diesen zu kooperieren.

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9. Derzeitiges Konzept der Marine Es liegt nicht nur im nationalen Interesse, die kontinuierliche Nutzung der See für die auf Handel über See angewiesene deutsche Volkswirtschaft sicherzustellen, sondern es ist ebenso erforderlich, Bedrohungen von See zu bewältigen. Während der erstgenannte Aspekt eindeutig in die Zuständigkeit der Marine fällt, kann der zweitgenannte Aspekt teilweise als Aufgabe von Polizei und Küstenwache identifiziert werden. Allerdings sind auch außerhalb eines militärischen Konfliktes „klassischer Art“ Bedrohungen von See denkbar, die, wie im Falle militärisch bewaffneter Terroristen, Polizei und Küstenwache überfordern. Während solche Bedrohungen in Form von Piraterie und Terrorismus ebenso an Bedeutung gewonnen haben, wie internationale Friedenssicherungsmissionen sind militärische Angriffe zumindest als regionale Bedrohung des Heimatlandes weniger wahrscheinlich geworden. Die Änderung der militärstrategischen Lage in Europa, die geforderte Fähigkeit zur internationalen Krisenbewältigung und „unkonventionelle Bedrohungsszenarien“ haben eine Neuausrichtung der Marine notwendig gemacht, die als weder technisch noch konzeptionell abgeschlossen betrachtet werden muss. Dafür können viele Gründe angeführt werden von einem teilweise veralteten, für andere Zwecke entwickelten „Fuhrpark“ bis zur einstweilen als nicht gelöst geltenden Frage einer effizienten und effektiven „Arbeitsteilung“ zwischen Bund und Ländern in Polizei, Küstenwache und Marine (zur Analyse des Problems und zur Notwendigkeit der Überwindung institutioneller Barrieren vgl.: Herma, 2007, S. 24-27; Krause, 2007, S. 8). Die Aufgaben der Marine haben sich im Schwerpunkt von Verteidigung der Ostseezugänge mit kleinen, kampfkräftigen und beweglichen Einheiten gewandelt zur Konfliktverhütung, zur Krisenreaktion und zur Bekämpfung des Terrorismus, was eher große, zu ausdauernden Einsätzen fähige Einheiten erfordert. Die Marine hat auf die geänderten Anforderungen folgerichtig mit einer Stärkung ihrer hochseefähigen Komponenten zu Lasten einer (drastischen) Verminderung der Küstenverteidigungskräfte reagiert. Die Marine sieht sich heute als Beitrag Deutschlands zur Seemacht Europa. Die Ausrichtung auf die europäischen Randmeere steht nach wie vor im „Lastenheft“, allerdings nunmehr für uns erweitert um das Mittelmeer. Wie der Einsatz der Marine bei der Evakuierung von Bodentruppen aus Somalia und die aktuellen, lange andauernden Einsätze am Horn von Afrika zeigen, ist dies jedoch für die internationale Krisenreaktionsfähigkeit nicht ausreichend. In stärkerem Maße als früher ist künftig sowohl die Fähigkeit gefragt, im Verbund der Teilstreitkräfte mit Heer und Luftwaffe sowie international kooperieren zu können, als auch die Verfolgung politischer Ziele mit militärischen Mitteln zu ermöglichen. Die heutige Marine ist bei Anwendung von im Heer üblichen Maßstäben einer verstärkten Division vergleichbar. Sie besteht aus zwei Einsatzflottillen (Kiel und Wilhelmshaven) mit acht Geschwadern (5 Kampf-, 2 Minensuch- und 1 Trossgeschwader) und einer (kleinen) eigenen Luftkomponente (2 Fliegergeschwader), die, soweit sie aus Hubschraubern besteht, teilweise bordgestützt ist. Die Marine kostet den Steuerzahler gut 2,5 Mrd. Euro pro Jahr. Der derzeitige Personalbestand der Marine beträgt etwa 24.000 Soldaten (davon ist etwa die Hälfte unmittelbar der Flotte zurechenbar, ca. 20% sind Wehrpflichtige). Die Krisenreaktionskräfte betragen etwas über 4.000 Männer und Frauen.

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Von der Reduktion der deutschen Verteidigungsanstrengungen als Folge der geänderten Bedrohungslage in Zentraleuropa ist die Deutsche Marine als traditionsreichste Teilstreitkraft unserer Bundeswehr somit stark betroffen, jedoch etwas weniger stark als die Bundeswehr insgesamt. Zwar sank der Personal-, Schiffs- und Flugzeugbestand ganz erheblich. Aus den genannten Gründen wirkte sich die Kürzung jedoch „nur“ zu Lasten der küstennahen Landesverteidigung aus, von deren einstiger Schlagkraft nicht viel geblieben ist. Besonders drastisch reduziert wurde der Bestand an Schnellbooten (von 40 auf derzeit noch 10 S-Boote und 5 Korvetten), an U-Booten (von 30 auf 8-10 U-Boote) sowie an Marinejagdbombern (das komplette Geschwader wurde aufgelöst, der Bestand an die Luftwaffe abgegeben). Der Marine stehen künftig nur noch etwa 45 Kampfschiffe sowie einige Fernaufklärer (P-3 C Orion) und Hubschrauber zur Verfügung (zuzüglich etwa 30 Minensucher und Versorger). Die wichtigsten Beschaffungsvorhaben, speziell optimiert für das erweitere Aufgabenspektrum, sind vier größere Fregatten, weitere (hochseefähige) U-Boote und Korvetten, sowie Einsatzgruppenversorger und Tanker. In Planung sind weiterhin eine neue Hubschraubergeneration sowie unbemannte Flugzeuge (Drohnen). Das heutige Konzept der Marine ermöglicht (jeweils in begrenztem Umfang) begleitende Out-of-Area-Operationen (Seetransport, Luftabwehr, U-Boot-Bekämpfung, Minenbekämpfung), verbundene Seekriegsführung zusammen mit anderen Bündnispartnern (Sicherung von Seeverbindungen und Küstenschutz) sowie Seeraumüberwachung und Such- und Rettungsdienst. Die politisch begründeten Einsätze der jüngsten Zeit haben ergeben, dass die Marine zwar über große Entfernungen operieren können muss, aber das Einsatzspektrum in den Krisenregionen sich dann doch eher küstennah darstellt und auf Randmeere konzentriert. Genau auf diesen Teil ist die Deutsche Marine seit langem ausgerichtet. Es liegt nahe, Ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet unter veränderten Bedingungen nutzbar zu machen. Dementsprechend ist der Anteil der Marine an den derzeitigen deutschen militärischen Friedenssicherungsbeiträgen deutlich größer als ihr Anteil am Gesamtumfang der Streitkräfte. Obwohl die Bedeutung der Teilstreitkraft Marine im Zeichen der Globalisierung offensichtlich gewachsen ist, darf nicht vergessen werden, dass die Hauptlast der Landesverteidigung der Kontinentalmacht Deutschland das Heer zu tragen hat. Dies gilt analog für die politisch erforderliche und geforderte Fähigkeit zur Krisenreaktion. 10. Abschließende Bewertung - Lehren aus der Geschichte Die Geschichte der deutschen Marine birgt Widersprüchliches. Obwohl sie auf demokratischer Tradition fußt, hat die Seerüstung der kaiserlichen Marine nach Geist und Umfang und in Konkurrenz zu England dazu beigetragen, dass in Europa 1914 die „Schalen des Zorns“ übergelaufen sind. Das große Verhängnis der europäischen Völker des 20. Jahrhunderts, der erste Weltkrieg, ist entgegen vielen historischen Betrachtungen allerdings nicht unmittelbare Folge deutscher Marinerüstung. Das Verhältnis zu England war schon zerrüttet, bevor Tirpitz die Flotte schuf. Die führende Kontinentalmacht stand als Gegner längst fest. Leider lieferte dieser

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Gegner, das Reich, einen Kriegsgrund und stellte sich damit, wohl auch in Fehleinschätzung der Lage, selbst ein Bein. Der Einsatz der Marine in beiden Kriegen ist gekennzeichnet von heroischen Einzelleistungen einerseits und Führungs- und Konzeptionsfehlern andererseits. Die Hochseeflotte wird unter Scheer nach dem Achtungserfolg am Skagerrak so schlecht geführt, dass es zur Meuterei kommt. Die Marineführung unter Dönitz ist überdies in die Reihe fanatischer Gefolgsleute des Nazi-Regimes einzureihen, ohne allerdings das Kriegsvölkerrecht gebrochen zu haben oder in den Völkermord verstrickt zu sein. Grundsätzlich sind daher weder die kaiserliche Marine noch die Kriegsmarine als Vorbilder für die heutige deutsche Marine geeignet. Mancher Versuch einer historischen Würdigung in jüngster Zeit erscheint allerdings schon deswegen unangemessen, weil die Entscheidung der Kommandeure von 1914 und 1940 nicht allein mit den Maßstäben des 21. Jahrhunderts gemessen werden dürfen (die Problematik wird am Beitrag Afflerbach „Untergang mit wehender Fahne“ deutlich). Insofern bietet die Marinegeschichte noch viel Raum für Forschungsvorhaben interessierter Historiker. Mindestens fünf Deutsche Marinen mit acht Bezeichnungen sind der heutigen Deutschen Marine vorangegangen, wobei die NVA-Volksmarine noch nicht mitgezählt ist. Für Dimension und Geist der heutigen Marine, die inzwischen auf eine eigene, fünfzigjährige Geschichte zurückblicken kann, ist die wechselvolle Entwicklung ihrer Vorgänger besondere Verpflichtung. Nach allen Anzeichen der jüngeren Entwicklung kann unterstellt werden, dass diese Lektion gelernt wurde. Die Seeinteressen Deutschlands wurden in der Deutschen Geschichte äußerst selten durch eine angemessen dimensionierte Marine wahrgenommen. Nach 150 Jahren deutscher Marinegeschichte kann festgestellt werden, dass diese Gefahr heute weniger denn je besteht. Allerdings gilt für die Marine, wie für die Bundeswehr insgesamt, dass der Umbau zu angemessener Krisenreaktionsfähigkeit nicht abgeschlossen ist, weder materiell noch konzeptionell. Dass die Begründer der Marine des demokratischen Deutschland in der Frankfurter Paulskirche saßen, ist einer der wenigen unumstritten positiven Anknüpfungspunkte deutscher Militärgeschichte. Quellen 1. Afflerbach, Holger, Untergang mit wehender Flagge, in: FAZ v. 26.01.2002, S. 8 2. Auerbach, Horst, Preußens Weg zur See, Berlin 1995 3. Bidlingmaier, Gerhard, Seegeltung in der deutschen Geschichte, Darmstadt 1967 4. Hans-Rudolf Boehmer, 1848 - Gedanken zur Gründung einer ersten deutschen

Marine, in: Marine Forum, Heft 1/2 1998, S. 2-4 5. BMVG (Bundesregierung), Weißbuch 1994 zur Sicherheit der Bundesrepublik

Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, Bonn 1994 6. Brüdert, Erhard, 1917: Am Scheideweg des 1. Weltkrieges, in: DAMALS, Hefte 8

und 9/1987, S. 669 ff. 7. Bürgel, Rolf, Admiral Graf Spee, in: DAMALS, Heft 7/1980, S. 555-578 8. Castello/Hughes, Skagerrak 1916, München 1981

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9. Dean, Sidney, E., Eine Marine aus tausend Schiffen, in: Marine Forum, Heft 7/8 2007, S. 15-17; Kooperative Strategie für das 21. Jahrhundert, in: Marine Forum Heft 12 2007, S. 9-11

10. Duppler, Jörg, Germania auf dem Meere, Hamburg 1998 11. Dröge, K.-E., Unsere Marine auf Kurs 2005, Marine Forum, Heft 3 1995, S. 22-26 12. Ferguson, Niall, Der falsche Krieg - Der erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert,

Stuttgart 1999 13. Friese, Matthias (Hrsg.), Auf, unter und über Wasser - 150 Jahre Marine in

Deutschland, Asendorf 1997 14. Hendrik Killi, Die Schnellboote der Bundesmarine, Hamburg 1997 15. Herma, Michael, Deutsche Küstenwache – Verfassungsrecht über Bord, in:

Marine Forum Heft 11/2007, S. 24-27 16. Hildebrand/Röhr/Steinmetz, Die deutschen Kriegsschiffe, 3. Aufl., Herford 1993 17. Israel, Ulrich, Graf Zeppelin, Einziger deutscher Flugzeugträger, Herford 1994 18. Koop, Gerhard/Breyer, Siegfried, Die Schiffe, Fahrzeuge und Flugzeuge der

deutschen Marine von 1956 bis heute, Bonn 1996 19. Krause, Joachim, Risiken und Herausforderungen deutscher und westlicher

Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Was bedeutet das für die deutsche Marine?, in: Marine Forum, Heft 7/8 2007, S. 4-8

20. Lüssow, Hans, Der Beitrag Deutschlands zur Seemacht Europa, Europäische Sicherheit, Heft 9/1998, S. 8-12

21. Mirow; Jürgen, 31. Mai 1916: Skagerrak, in: DAMALS, Heft 3/1974, S. 225-244 22. Niehaus, Werner, Die Radarschlacht, die Geschichte des Hochfrequenzkrieges,

Stuttg. 1977 23. Robin F. Keil, Jürgen Rhades (Editors), The German Navy - today and tomorow,

special issue 5/96 of Naval Forces, Bonn 1996 24. Roesch, Heinz, Einsatz der Kriegsmarine, die Fehler der deutschen

Seekriegsleitung im II. Weltkrieg, in: DAMALS, Heft 9/1997, S. 805-832 25. Schulze-Wegener, Guntram, Deutschland zur See, Hamburg 1998 26. Steltzer, Hans Georg, Die Deutsche Flotte, Ein historischer Überblick von 1640-

1918, Darmstadt 1989 27. Uhle-Wettler, Franz, Alfred Tirpitz in seiner Zeit, Hamburg/Berlin/Bonn 1998 28. von Dambrowski, Klaus, Unsere Marine im Einsatz, in: Marine Forum, Heft 7/8

2007, S. 9-14 29. Weyers Flottentaschenbuch 1997/98, Warships of the World, Bonn 1998 (Hrsg.

W. Globke) 30. Witthöft, Hans Jürgen, Maritime Streiflichter, in: Witthöft (Hrsg.), Köhlers

Flottenkalender 1998, S. 5-47; Flottenkalender 2000, S. 5-35; Flottenkalender 2007/08, S. 8-47 (Marine S. 35-47)

Verfasser: Prof. Dr. Gero Hoch, Andreas Schlüter Str. 4, 57076 Siegen, Tel. 0271-7734885 Es handelt sich um einen Vortrag, entstanden 1998 anlässlich des 150. Geburtstages der Deutschen Marine, der bei unveränderter Kernaussage in seinen Gegenwartsbezügen aktualisiert wurde.

© G. Hoch, 3. Aufl., Siegen 2007

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