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3 Standpunkt Über Verteilungsfragen darf gesprochen werden Lea Elsässer Mächtige Zentralbanken und Defizite in der Wirt- schaſtspolitik Leon Wansleben 6 Presseschau Forschung des MPIfG in den Medien 8 Schwerpunkt Kapitalismus braucht Wachstum – aber es gibt kein Patentrezept Lucio Baccaro 14 Interview Armin Schäfer: „Ich sehe eine Gefahr für die Demokratie“ 18 Nachrichten MPIfG gründet Partner- gruppe in Chile 22 Neuerscheinungen Bücher, Journal Articles, DPs 25, 36 Veranstaltungen Berichte und Vorschau 2020 34 Freunde und Ehemalige Was macht eigentlich … Brooke Harrington 2 Impressum Schwerpunkt Wirtschaft und Wachstum GESELLSCHAFTS FORSCHUNG 1 2020 Aktuelle Themen und Nachrichten

GESELLSchaft S 1 ForSchuNg 2020 - MPIfGmischem, sozialem und politischem Handeln. Das Institut schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Politik und leistet ei-nen Beitrag zur politischen

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3 Standpunkt Über Verteilungsfragen darf gesprochen werdenLea Elsässer

Mächtige Zentralbanken und Defizite in der Wirt­schaftspolitik Leon Wansleben

6 Presseschau Forschung des MPIfG in den Medien

8 SchwerpunktKapitalismus brauchtWachstum – aber es gibt kein Patentrezept Lucio Baccaro

14 InterviewArmin Schäfer: „Ich sehe eineGefahr für die Demokratie“

18 NachrichtenMPIfG gründet Partner­gruppe in Chile

22 NeuerscheinungenBücher, Journal Articles, DPs

25, 36 VeranstaltungenBerichte und Vorschau 2020

34 Freunde und EhemaligeWas macht eigentlich …Brooke Harrington

2 Impressum

SchwerpunktWirtschaft und Wachstum

GESELLSchaftSForSchuNg

12020

aktuelle themen und Nachrichten

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Mit dem Forschungsmagazin Gesellschaftsforschung informiert das MPIfG zweimal im Jahr mit anschaulichen Artikeln und Berichten über seine Forschungsprojekte und -ergebnisse, Pub-likationen und Veranstaltungen. Ein Schwerpunktthema liefert Hintergrundinformationen aus der Forschung zu Themen der aktuellen öffentlichen Diskussion. Sie erhalten das Magazin in einer PDF-Fassung per E-Mail oder als Printausgabe. Abonne-ment und weitere Ausgaben unter www.mpifg.de/forschungsmagazin

© Max-Planck-Institut für GesellschaftsforschungKöln, März 2020In Absprache mit der Redaktion frei zum Nachdruck.Abdruck nur mit Quellenangabe.

HerausgeberMax-Planck-Institut für GesellschaftsforschungPaulstr. 3 | 50676 KölnTel. +49 221 2767-0www.mpifg.de | [email protected]

RedaktionChristel Schommertz (verantw.), Anna Zimmermann

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der Autorin oder des Autors wieder und sind nicht als offizielle Stellungnahme des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsfor-schung zu verstehen.

BildnachweisTitel: Chuttersnap/Unsplash; MPIfG/Astrid Dünkelmann: 3, 5, 14, 18 (links), 20, 21 (beide), 25, 26, 27 (beide), 28 (beide), 29 (beide), 30 (beide), 31 (beide), 32 (alle), 33; Jan Knoff: 9; pic-ture alliance/imageBROKER: 10; picture alliance/Rainer Jen-sen/dpa: 11; picture alliance/dpa: 13; picture alliance/dpa: 15; picture alliance/dpa: 16; Dan Komoda/Institute for Advanced Study: 18 (rechts); Céline Bansard: 19 (links); Universität Duis-burg-Essen: 19 (rechts); Jacob Ehrbahn/Scanpix: 34; Dart-mouth College: 35; Sarah Pabst: 36.

Gestaltung | Satzpigur design, Potsdam | Jeanette Störtte, Berlin

Mehr Themen und Standpunkte aus der Forschung des MPIfGAuf seiner Website stellt das MPIfG weitere aktuelle For-schungsprojekte vor und liefert Hintergrundinformationen zu Themen, die zurzeit öffentlich diskutiert werden. Mit ihren „Standpunkten“ kommentieren Forscherinnen und Forscher des MPIfG Entwicklungen in Politik und Wirtschaft. Durch die „Forscherportraits“ lernen Sie die Wissenschaftlerinnern und Wissenschaftler, Kooperationspartner und Alumni des MPIfG näher kennen. In der Rubrik „Interviews“ sprechen sie über die Bedingungen ihrer Arbeit, neue Methoden und den Wandel der Forschungskommunikation. www.mpifg.de/forschung/forschung/themen_de.asp

Das MPIfGDas Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist eines der rund achtzig Institute der Max-Planck-Gesellschaft e.V., die von Bund und Ländern finanziert wird. Als eine Einrich-tung der Spitzenforschung in den Sozialwissenschaften betreibt es anwendungsoffene Grundlagenforschung mit dem Ziel einer empirisch fundierten Theorie der sozialen und politischen Grundlagen moderner Wirtschaftsordnungen. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen ökono-mischem, sozialem und politischem Handeln. Das Institut schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Politik und leistet ei-nen Beitrag zur politischen Diskussion über zentrale Fragen moderner Gesellschaften. Es ist bei der Auswahl und Verwirk-lichung seiner Forschungsvorhaben frei und unabhängig.

Folgen Sie uns auf Twitter @MPIfG_Cologne

Impressum

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20 Standpunkt

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Die deutsche Sozialdemokratie hat ein turbulentes Jahr hinter sich: historisch schlechte Wahlergebnisse bei Europa- und Landtagswahlen, der Rücktritt der Parteivorsitzenden und schließlich die langwierige Wahl einer neuen Parteispit-ze – erstmals bestimmt durch ein Mit-gliedervotum und mit einem Überra-schungssieg des linken Parteiflügels.

Als am Abend des 30. November 2019 be-kannt wurde, dass sich Saskia Esken und

Norbert Walter-Borjans in der Stichwahl um die Parteispitze durchgesetzt hatten, ließ das Medienecho nicht lange auf sich warten. Dabei sprach aus den meisten Zeitungskommentaren große Skepsis bis offene Abneigung gegenüber dem neu-en Führungsduo und seiner politischen Ausrichtung. Man konnte von einem unvernünftigen „Linksruck“, einer be-sorgniserregenden „Selbstzerstörungs-mechanik“ und „ideologischem Funda-mentalismus“ lesen. Diese Reaktionen bezogen sich vor allem auf die vertei-lungspolitischen Forderungen des Duos. So hatten die beiden unter anderem eine höhere Besteuerung von Spitzeneinkom-men und Vermögen sowie die Anhebung des Mindestlohns gefordert.

Anders als die mediale Berichterstat-tung vermuten lässt, halten die Bürge-rinnen und Bürger diese neuen sozial-demokratischen Forderungen nicht für abwegig. Mehr als 50 Prozent der Men-schen in Deutschland befürworten bei-spielsweise die Besteuerung hoher Ver-mögen, und das nicht erst seit der gera-de aufgeflammten Debatte. In repräsen-tativen Bevölkerungsumfragen hat sich seit Jahren regelmäßig eine Mehrheit für die Wiedereinführung einer Vermögens-steuer ausgesprochen. Ähnlich ist es mit dem Mindestlohn. Schon lange vor sei-ner Einführung unterstützte die Bevöl-kerungsmehrheit das Vorhaben – und

findet auch jetzt eine Erhöhung auf zwölf Euro richtig. Dies gilt in besonderem Maß für die (frühere) Kernklientel der Sozialdemokratie: Die Arbeiterschaft, einfache Angestellte oder Menschen mit geringem Einkommen befürworten um-verteilende Maßnahmen stärker als Bes-serverdienende.

Viele der jüngst aufgebrachten Vorschlä-ge des neuen SPD-Spitzenduos können also weniger als radikaler Linksruck, sondern vielmehr als eine Art (Wieder-)Annäherung an die politischen Anliegen derjenigen betrachtet werden, deren Für-sprecherin die SPD zu sein beansprucht. Gerade in verteilungspolitisch relevan-ten Fragen wurden die politischen An-

liegen der sozial Schlechtergestellten in den letzten Jahrzehnten häufig übergan-gen – nicht nur, aber eben auch unter Re-gierungsbeteiligung der SPD. In meiner Forschungsarbeit zu den großen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen der letzten dreißig Jahre habe ich unter-sucht, welche Bevölkerungsgruppen sie befürwortet beziehungsweise abgelehnt haben. Natürlich waren nicht alle Vor-schläge umstritten, und viele Reformen wurden von einer breiten Bevölkerungs-mehrheit unterstützt – so zum Beispiel der Ausbau von Kita-Plätzen oder eben auch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Gingen die Meinungen

StandpunktÜber Verteilungsfragen darf gesprochen werden

Lea Elsässerist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwis-senschaft der Universität Münster und am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen. Derzeit ist sie Gastwissenschaftlerin am MPIfG. Promoviert wurde sie mit ihrer Arbeit zur politischen Repräsentation in Deutschland.

Forschungsschwerpunkte: Soziale und politische Ungleichheit, politische Repräsentation, politische Ökonomie, vergleichende Wohlfahrtsstaatsfor-schung

Die systematische Schieflage politischer Entscheidungen untergräbt das Gleichheits­versprechen der Demokratie.

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Zentralbanken sind zu den dominanten Akteuren der Wirtschaftspolitik in allen hochentwickelten Ökonomien gewor-den. Kennzeichen dieser Dominanz sind ihre starke Unabhängigkeit, ihre enor-men Bilanzen, die zunehmende Auf-merksamkeit der Medien und ihre ein-deutige Führungsrolle, wenn es um die Bekämpfung finanzieller und konjunk-tureller Krisen geht. Diese Führungs-rolle steht spätestens seit dem Gipfel der G20-Staaten in Toronto 2010 außer Zweifel, als die Regierungschefs ihre fis-kalpolitischen Interventionen weitestge-hend einstellten. Innenpolitische Aus-einandersetzungen (wie in den USA) oder zwischenstaatliche Konflikte über

Krisenverantwortung und Kostenlasten (wie in der Eurozone) hatten dazu ge-führt. Seitdem haben Zentralbanken in mehreren Wellen Zinssenkungen, An-leihekäufe und „Forward Guidance“, eine Selbstverpflichtung zu langfristig expansiven Maßnahmen, durchgeführt. Diese Maßnahmen haben das Ziel, Wachstum zu stimulieren, Deflation zu vermeiden und die Kreditmärkte zu sta-bilisieren.

Die öffentliche Debatte und die sozial-wissenschaftliche Forschung zu den tie-feren Ursachen und Konsequenzen die-ser Zentralbankdominanz in der Wirt-schaftspolitik haben gerade erst be-

gonnen. Über die Ursachen wissen wir deshalb so wenig, weil das konventionel-le Verständnis der politischen und öko-nomischen Bedeutung von Geldpolitik nur bedingt zur Analyse der Entwick-lung von central banking in den vergan-genen zwanzig bis dreißig Jahren taugt. So ging man lange davon aus, dass Geld-politik seit den 1980er-Jahren an Ge-wicht gewonnen habe, weil mächtige In-teressengruppen die hohen Inflationsra-ten der 1970er-Jahre nicht länger tolerie-ren wollten und deshalb dafür sorgten, dass mit unabhängigen Zentralbanken eine Instanz geschaffen wurde, die losge-löst von Wähler- und Regierungsinteres-sen für „hartes Geld“ sorgen konnte.

Standpunkt„The only game in town“ Mächtige Zentralbanken und Defizite in der Wirtschaftspolitik

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Standpunkt GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

in der Bevölkerung allerdings auseinan-der, so waren die Entscheidungen syste-matisch zugunsten der Bessergestellten verzerrt. Seit Anfang der 1980er-Jahre wurde in der Arbeitsmarkt- und Sozial-

politik keine einzige größere Reform be-schlossen, die nur von unteren Einkom-mens- und Berufsgruppen befürwortet wurde, von den oberen aber abgelehnt. Andersherum dagegen gibt es viele Bei-spiele. Ob Riester-Reform, Lockerung des Kündigungsschutzes oder Hartz IV – viele Einschnitte ins Sozialnetz wurden mit Zustimmung der Einkommensstar-ken und gegen den Willen der ärmeren Bevölkerungsteile beschlossen.

Diese systematische Schieflage politi-scher Entscheidungen untergräbt nicht nur das Gleichheitsversprechen der De-

mokratie insgesamt, sondern auch das Ansehen von Parteien, deren selbst er-klärtes Ziel soziale Gerechtigkeit ist. Ob der SPD ein glaubwürdiger Kurswechsel gelingen wird, ist trotz des neuen Füh-rungsduos völlig offen. Zumindest aber hat die durch sie ausgelöste Diskussi-on dazu geführt, dass Verteilungsfragen stärker öffentlich diskutiert werden. Das mag nicht allen gefallen. Gesellschaft-liche Auseinandersetzungen über Ver-teilungsgerechtigkeit sind deshalb aber noch kein „ideologischer Fundamenta-lismus“, sondern notwendige Debatten in pluralistischen Demokratien.

Zum Weiterlesen

Elsässer, L.:Wessen Stimme zählt? Soziale und politi-sche Ungleichheit in Deutschland. Campus, Frankfurt a.M. 2018.

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Doch schon seit geraumer Zeit – in den USA seit Mitte der 1980er-Jahre – hat sich der Problemfokus in den entwickel-ten Ökonomien verschoben: Nicht sich zuspitzende Verteilungskonflikte in den industriellen Beziehungen und dadurch ausgelöste Inflation, sondern Deindus-trialisierung, sinkende Realzinsen und „Finanzialisierung“ (hohes Kreditwachs-tum, Expansion des Finanzsektors) prä-gen diese Ökonomien. Die Rolle von Zentralbanken in solchen Konstellatio-nen ist eine ganz andere als im Ausgang der Hochinflationsphase. Ihre Stabilisie-rungspolitik besteht heute vor allem da-rin, den wachsenden Finanzsektor gegen seine inhärenten Instabilitäten abzusi-chern und Finanzialisierungsprozesse in Krisenphasen am Laufen zu halten. Das leisten Zentralbanken, indem sie Unsi-cherheiten in den Märkten eindämmen, vor allem durch die Vorgabe gegenwär-tiger und zukünftig erwartbarer Zinsen sowie durch das Umwandeln von privat geschöpften Krediten in hoheitliche Zah-lungsmittel („Reserven“). Je mehr unsere Ökonomien durch beschleunigtes Kre-ditwachstum und die damit zusammen-

hängenden Instabilitäten geprägt sind, desto mehr gewinnen demnach Zentral-banken als auf Finanzmärkte orientier-te Steuerungsinstanzen an Einfluss auf Wirtschaftspolitik.

Allmählich zeichnen sich die Folgen die-ser finanzmarktorientierten Wirtschafts-politik ab. Auch hier ist die Forschung noch spärlich, doch finden sich in der Li-teratur bereits zwei überzeugende Argu-mente. Einerseits befinden sich die west-lichen Ökonomien in einer Situation von „too much finance“. Soll heißen, mehr Kredit und Kapital, nicht zuletzt ermög-licht durch die gegenwär tige Zentral-bankpolitik, führt eben nicht zu mehr produktiven Investitionen, weil hierfür die Absatzchancen gar nicht vorliegen. Stattdessen beobachten wir sich selbst ver-stärkende Bewertungsspiralen auf Märk-ten für existierendes Kapital, wie etwa im Immobiliensektor oder auf Aktienmärk-ten. Darüber hinaus wirken die Zentral-bankmaßnahmen tendenziell regressiv und so umverteilend zugunsten der Ver-mögenden. Diese Entwicklung verschärft das Verteilungsproblem, das eng mit den Wachstums- und Produktivitätsproble-men westlicher Ökonomien verknüpft ist.

So wichtig aber eine genauere Analyse der Ursachen und Folgen einer zentral-bankdominierten Wirtschaftspolitik ist, so wenig hilfreich ist es, bei einer Kri-tik von Geldpolitik oder bei Forderun-gen für ihre stärkere demokratische Kon-trolle stehen zu bleiben. Es sind ja gerade die strukturellen Handlungsbedingungen von Zentralbanken – und nicht ihre will-kürliche Parteinahme für bestimmte In-teressengruppen –, die eine Erklärung für die Entscheidungen der Geldpolitiker und ihre problematischen Folgen bieten. Das tieferliegende Problem ist bei den na-tionalen Parlamenten und Regierungen zu suchen und in der Frage, warum diese Organe ihre Autorität und Handlungs-kompetenz in der Wirtschaftspolitik auf-gegeben haben. Denn eigentlich liegt bei diesen Akteuren die Macht, Ziele der Wirtschaftspolitik zu setzen und über die Gewichtung verschiedener wirtschafts-politischer Maßnahmen zu entscheiden.

Die Selbstentmachtung der Parlamente und Regierungen wird am deutlichsten im Bereich der Fiskalpolitik: Diese wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger zu Umverteilungszwecken ge-nutzt, spielte bei der jüngsten Krisenbe-kämpfung lediglich eine marginale Rolle und bleibt als Instrument politischer Ge-staltung weitestgehend ungenutzt.

Viele Anzeichen deuten jedoch darauf hin, dass Zentralbanken heute mit ihren Konzepten wirtschaftlicher Steuerung und ihren konkreten Interventionen an Legitimations- und Effektivitätsgrenzen stoßen, sodass ihre bald fünfzigjährige Phase der Einflussexpansion in den 2020er-Jahren zu Ende gehen könnte. Es ist die Aufgabe demokratischer politi-scher Institutionen, die experimentelle Suche nach neuen Zugängen und Instru-menten wirtschaftspolitischer Steuerung anzuleiten.

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Leon Wanslebenist seit 2019 Leiter der Forschungs-gruppe „Soziologie öffentlicher Finan-zen und Schulden“ am MPIfG. Zuvor war er Assistenzprofessor am Depart-ment of Sociology der London School of Economics and Political Science.

Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Finanzmärkte und Finanzialisie-rungsprozesse; politische Soziologie und Theorien des Staates; soziologi-sche Theorie

Zum Weiterlesen

Braun, B.:Central Banking and the Infrastruc-tural Power of Finance: The Case of ECB Support for Repo and Securi-tization Markets. Socio-Economic Review, online seit 20. Februar 2019. https://tinyurl.com/braun-ser19

Ricks, M.: The Money Problem: Rethinking Financial Regulation. The University of Chicago Press, Chicago 2016.

Schularick, M., and A. M. Taylor:Credit Booms Gone Bust: Monetary Policy, Leverage Cycles, and Finan-cial Crises, 1870–2008. American Economic Review 102 (2): 1029–1061 (2012).

Walter, T., and L. Wansleben:How Central Bankers Learned to Love Financialization. Socio-Eco-nomic Review, online veröffentlicht 21. März 2019.https://tinyurl.com/walter-wansleben-19

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Sebastian KohlA History: How Housing Became the World’s Biggest Asset ClassThe Economist | 16.01.2020In a special report The Economist ex-plains how warped housing policies that date back to the Second World War and which are intertwined with an infatua-tion with home ownership have caused one of the world’s most serious and lon-gest-running economic failures. Accord-ing to MPIfG researcher Sebastian Kohl over time, the notion that owneroccupa-tion was superior to renting became common, even apparently self-evident.https://tinyurl.com/economist-kohl

Armin Schäfer Ungleichheit spiegelt sich in Parlamenten widerDeutschlandfunk | 30.11.2019Menschen mit geringerer formaler Bil-dung oder Menschen mit geringem Ein-kommen sind bei politischen Entschei-dungen auch in Deutschland zuneh-mend unterrepräsentiert. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärt MPIfG Scholar in Residence Armin Schäfer, in-wiefern diese Schieflage unserer Demo-kratie auf Dauer schadet.https://tinyurl.com/dlf-schaefer

Jens BeckertDie Milliarden der kalten Hand – Zeit für eine neue Debatte über die ErbschaftssteuerWDR 5, Dok 5 – Das Feature 17.11.2019Wie könnte eine gerechte Erbschafts-steuer aussehen? Zurzeit wechseln so große Vermögenswerte den Besitzer wie noch nie. Im Beitrag des WDR 5 vertritt MPIfG-Direktor Jens Beckert die Mei-nung, dass „wir […] dieses leistungslos erlangte Vermögen, Erbschaften, zumin-dest so hoch besteuern [sollten], wie wir Arbeit auch besteuern“.https://tinyurl.com/wdr5-beckert

Matías Dewey, Nina EngwichtLeben und arbeiten in der Schatten-wirtschaftDeutschlandfunk Kultur | 06.11.2019 Arbeitende weltweit verdienen ihr Geld mehrheitlich in der sogenannten Schat-tenwirtschaft: Sie zahlen weder Steuern noch Sozialabgaben. Aber obwohl dieser Bereich am Rande der Legalität gedeiht, ist er doch kein vollkommen ungeregel-tes Terrain. Caspar Dohmen thematisiert in seinem Beitrag die Forschungsergeb-nisse von MPIfG-Wissenschaftler Matías Dewey und MPIfG-Alumna Nina Eng-wicht zum Thema illegale Märkte.https://tinyurl.com/dlfkultur-dewey-engwicht

Colin Crouch„Gig Economy“Deutschlandfunk, Andruck 08.10.2019 Viele Internetplattformen versprechen Dienstleistungen zum günstigen Preis. Dahinter verbergen sich oft prekäre Ar-beitsbedingungen. Diese Spielart neo-liberaler Wirtschaftsgestaltung ist für Colin Crouch, Auswärtiges Wissenschaft-liches Mitglied am MPIfG, ein Symptom für das Ende des Normalarbeitsverhält-nisses. Anne-Kathrin Weber stellt im Deutschlandfunk sein aktuelles Buch „Gig Economy“ (Suhrkamp) vor.https://tinyurl.com/dlf-crouch

Renate MayntzOst-Westdeutsche Wissenschaft nach der WendeDeutschlandfunk | 03.10.2019Im Deutschlandfunk berichten Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler über ihre Erlebnisse an Forschungseinrichtun-gen nach der Wiedervereinigung. Ne-ben MPIfG-Direktorin emerita Renate Mayntz kommen weitere Persönlichkei-ten aus der Wissenschaft zu Wort, wie Dieter Simon, Horst Klinkmann oder Tom Rapoport.https://tinyurl.com/dlf-mayntz

forschung des MPIfG in den Medien

Presseschau GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20 Presseschau

Diese und weitere aktuelle Beiträge unter www.mpifg.de/aktuelles/mpifg_medien_de.asp.

Armin SchäferWas Deutschland bewegt: Wer beherrscht Deutschland?Das Erste | 30.09.2019Die Dokumentation „Was Deutschland bewegt: Wer beherrscht Deutschland?“ von Regisseur Jan Lorenzen hinterfragt die Machtstruktur in der deutschen Poli-tik. MPIfG Scholar in Residence Armin Schäfer gibt Einblicke in die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit zur Verände-rung der Wahlbeteiligung und Repräsen-tativität der Bevölkerung.https://tinyurl.com/daserste-schaefer

Sebastian KohlDie Deutschen müssen zusammen-rückenFrankfurter Allgemeine Sonntags-zeitung | 25.08.2019Immer mehr Menschen drängen in die Stadt, immer höher steigen die Mieten. Patrick Bernau bespricht in der Frank-furter Allgemeinen Sonntagszeitung die Ergebnisse der FGW-Studie „Mangel-ware Wohnraum: Ökonomische Folgen des Mietpreisbooms in deutschen Groß-städten“, die MPIfG-Wissenschaftler Sebastian Kohl gemeinsam mit For-schern des Instituts der deutschen Wirt-schaft durchgeführt hat. „Eine große Rolle spielt […], dass klassische Weg-marken des Lebens in großen Städten heute nicht mehr mit einem Wohnungs-wechsel verbunden sind. Umziehen ist aus der Mode gekommen.“https://tinyurl.com/fasz-kohl-wohnflaeche

Cornelia WollFinanzunternehmen zwischen Recht und StaatBörsen-Zeitung | 25.09.2019 Kann Politik die größten Unternehmen der Finanzwirtschaft überhaupt noch kontrollieren? Cornelia Woll, Kodirek-torin am MaxPo, betrachtet im Beitrag der Börsen-Zeitung die Entwicklung der Sanktionsmacht von Staaten gegenüber (Finanz-)Unternehmen. So haben sich viele Staaten der amerikanischen Ver-handlungsjustiz angepasst und außerge-richtliche Vereinbarungen mit Unterneh-men rechtlich möglich und damit zu ei-nem Finanzinstrument gemacht.https://tinyurl.com/boersenzeitung-woll

Sebastian KohlMietendeckel schadet den MieternFrankfurter Allgemeine Zeitung 17.09.2019Eine aktuelle Studie zum Wohnungs-markt von MPIfG-Wissenschaftler Se-bastian Kohl und Konstantin Kholodilin vom Deutschen Institut für Wirtschafts-forschung Berlin wird in der FAZ aufge-griffen. „Die Mietpreisregulierung hat Mietwohnungen verdrängt“, so das Fazit. Auch der Mietendeckel schadet letztend-lich den Mietern, denn je mehr der Staat regulierend in den Mietmarkt eingreift, desto unattraktiver wird das Vermieten für Immobilieneigentümer.https://tinyurl.com/faz-kohl-mietendeckel

Lucio BaccaroExpect the new Italian government to be as short-lived as the last one. Here’s why.The Washington Post | 10.09.2019In their analysis, MPIfG director Lucio Baccaro and Julia Lynch discuss the recent government change in Italy. Al-though Matteo Salvini, leader of the Lega party, pulled out of government, the move back into opposition might even be of advantage for him. “Unless the economy miraculously turns around, Salvini will likely rise again,” Baccaro and Lynch write.

Wolfgang StreeckPolitische Stagnation. Reflexionen über einen unhaltbaren ZustandSWR, tele-akademie | 01.09.2019 Infolge der internationalen Finanzkrise 2008 rückt der Nationalstaat zunehmend ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Debatte. Politische Strömungen von rechts wie von links wenden sich von der Idee selbstregulierender, unbegrenz-ter Märkte ab. In der SWR tele-akademie erörtert MPIfG-Direktor Emeritus Wolf-gang Streeck das schwierige Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie sowie die politische Stagnation im Westen.https://tinyurl.com/swr-streeck

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SchwerpunktKapitalismus braucht Wachstum – aber es gibt kein Patentrezept

Die europäischen Länder unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Wohlstandsniveaus. Auch die Art und Wei-se, wie etwa die Institutionen des Wohlfahrtsstaats oder der Arbeitsbeziehungen auf die Wirtschaft einwirken, un-terscheidet sich von Land zu Land. Der neue Forschungsbereich „Politische Ökonomie von Wachstumsmodellen“ am MPIfG untersucht, wie in den europäischen „Spielarten des Kapitalismus“ Wachstum erzeugt wird. Ein Vergleich zwischen Deutschland, Großbritannien, Schweden und Italien legt die Strategien offen, mit denen sich die für wirt-schaftliches Wachstum notwendige Nachfrage generieren lässt.

Bis etwa 1990 basierte das Wachstum der großen europäischen Länder auf stetem Lohnwachstum. Gemäß die-sem Modell wuchsen die Reallöhne im gleichen Maße (oder teilweise so-gar schneller) als die Arbeitsprodukti-vität und beförderten damit den Kon-sum privater Haushalte. Die Aussicht auf eine expandierende Nachfrage reg-te wiederum Unternehmen zu Inves-titionen an. Dies führte tendenziell zu weiteren Produktivitätssteigerun-gen, da neue Investitionen den Einsatz inno vativer technologischer Lösungen begünstigten. Darüber hinaus ergaben sich Skaleneffekte durch die wachsen-de Nachfrage – ein weiterer Mechanis-

mus, durch den die Arbeitsproduktivi-tät stei gen konnte.

In seiner ursprünglichen Form exis-tiert das lohnorientierte Wachstums-modell heute nicht mehr. Es wurde so-wohl durch nationale als auch durch in-

ternationale Entwicklungen untergra-ben. Zum einen neigte der Lohndruck dazu, Inflation zu erzeugen. Der Kampf gegen die Inflation führte schließlich zu einer Reihe von politischen und insti-tutionellen Reformen, die in der Folge einen gleichmäßigen Anstieg von Real-löhnen und Produktivität erschwerten. Die Einführung unabhängiger Zentral-banken, die Inflationsziele vorgeben, ge-hörte dazu. Darüber hinaus machte es die Liberalisierung des Kapitalverkehrs den nationalen politischen Entschei-dungsträgern unmöglich, die nationa-len Zinssätze unter das Zinsniveau der internationalen Märkte zu senken. Da-durch wurden Investitionen empfindli-

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Aus der Forschung GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

Das lohnorientierte Wachstumsmodell in seiner ursprünglichen form existiert nicht mehr.

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20 Aus der Forschung

cher gegenüber den Gewinnraten. Und schließlich erhöhte die Ausweitung des internationalen Handels die systemische Bedeutung der Lohnzurückhaltung.

In einem lohnorientierten Wachstums-modell verlangsamt die Reallohnzu-rückhaltung tendenziell die Wirtschaft. Die nominale Lohnzurückhaltung (oh-ne Berücksichtigung der Kaufkraft) hin-gegen begünstigt die Exporte gegenüber den Importen, wenn sie zu einer gerin-geren inländischen Inflation als bei den Handelspartnern führt und nicht durch eine nominale Wechselkursaufwertung wieder wettgemacht wird. Bei hinrei-chend offenen Volkswirtschaften wirkt sich die Lohnzurückhaltung expansiv aus, das heißt, der dämpfende Effekt auf die Inlandsnachfrage wird durch den expansiven Effekt auf den Außenhandel mehr als ausgeglichen.

Wachstumsmodelle im UmbruchEntwickelte kapitalistische Volkswirt-schaften sind seit mehreren Jahrzehnten

drei bedeutenden ökonomischen Trends unterworfen: erstens der Liberalisierung von wirtschaftlichen Institutionen des Arbeitsmarkts wie etwa gewerkschaft-liche Organisation oder Arbeitnehmer-schutz; zweitens einer Verschiebung in der funktionalen Einkommensvertei-lung weg vom Arbeitseinkommen hin zum Kapitaleinkommen; sowie drittens der zunehmenden Schwierigkeit, ein an-gemessenes Niveau der Gesamtnachfra-ge zu erzeugen, um Produktionsfakto-ren, insbesondere Arbeit, wirkungsvoll zu nutzen. Letzteres ist eine Entwick-lung, die als „säkulare Stagnation“ be-zeichnet wird und der vom US-amerika-nischen Ökonomen Larry Summers vor wenigen Jahren international zu neuer Popularität verholfen wurde.

Diese drei Trends überschneiden sich nicht nur zeitlich, sondern stehen auch in einem kausalen Zusammenhang: Die Liberalisierung der Arbeitsmarktinsti-tutionen führt zu einem Rückgang der Lohnquote, des Anteils der Arbeitneh-mereinkommen am Volkseinkommen. Das wiederum dämpft die Gesamtnach-frage, indem die Nachfrage nach Kon-sumgütern und Dienstleistungen ten-denziell stagniert, während die Nach-frage nach Finanzanlagen und das damit verbundene Streben nach Rendite zu-nimmt. Diese Entwicklungen beeinflus-sen die Wachstumsmodelle kapitalisti-scher Volkswirtschaften erheblich, da sie die Tragfähigkeit des lange vorherr-schenden lohnorientierten Wachstums-modells schwächen.

Um dem Problem einer unzureichenden Gesamtnachfrage zu begegnen, suchen die politischen Akteure auf nationa-ler Ebene heutzutage nach alternativen Nachfragetreibern. Hierbei sind zwei al-ternative Strategien zu beobachten: Ent-weder wird die Wirtschaft weiterhin wie im alten lohnorientierten Modell vom Konsum der Haushalte angetrieben. Der Konsum wird in diesem Fall jedoch we-niger durch die Reallöhne, sondern viel-mehr durch einen leichteren Zugang der Haushalte zur Verschuldung finan-ziert. Bei der zweiten Alternative wird

die Nachfrage aus dem Ausland zum Wachstumstreiber, was die Exporte sti-muliert und häufig zu hohen Handels-überschüssen führt. Es ist jedoch auch durchaus möglich, dass kein alternati-ver Wachstumstreiber gefunden wird. Dann kommt es zu einer lang anhalten-den Stagnation.

Die Entstehung neuer Wachstums-modelle in der VorkrisenzeitBlickt man auf die fünfzehn Jahre vor der Weltfinanzkrise im Jahr 2008, so lassen sich vier neue Wachstumsmo-delle erkennen, die das lohnorientier-te Wachstumsmodell ersetzt haben und die von vier europäischen Ländern pro-totypisch repräsentiert werden: ein kon-sumorientiertes Modell, wie es Groß-britannien verkörpert, ein exportorien-tiertes Modell, wie es von Deutschland verfolgt wird, ein export- und konsum-orientiertes Modell in Schweden und das weder export- noch konsumorien-tierte Modell Italiens.

In Großbritannien erleichterte der Zu-gang zu Krediten in der Vorkrisenzeit ein „konsumorientiertes“ Wachstum. Eine Besonderheit war hier die Tendenz zur Anhäufung von Leistungsbilanzde-fiziten. Das heißt, es wurden mehr Gü-ter importiert als exportiert. Unter nor-malen Umständen hätten diese Defizite durch eine Verringerung der Binnen-nachfrage und der Einfuhren korrigiert werden müssen. Wenn die übrige Welt jedoch bereit ist, das Leistungsbilanzde-fizit zu finanzieren, dann kann es über viele Jahre hinweg beibehalten werden. Ein großes und liquides Finanzzentrum

Lucio Baccaroist seit 2017 Direktor am MPIfG. Er gehört zu den renommiertesten Repräsentanten der soziologisch und politikwissenschaftlich ausgerichteten, international vergleichenden Politi-schen Ökonomie. Baccaro promovierte 1997 an der Universität Pavia in Italien und 1999 am MIT in den USA. Nach weiteren Forschungsjahren am MIT und bei der International Labour Orga-nization (ILO) forschte und lehrte er ab 2009 als Professor für Soziologie an der Universität Genf in der Schweiz.

Vier neue Wachstums­modelle haben das lohnorientierte Modell ersetzt.

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Aus der Forschung GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

wie die City of London trägt dazu bei, ausländisches Kapital anzuziehen und damit die Leistungsbilanzrestriktionen für das Wachstum zu lockern. Denn es produziert Finanzanlagen, die der Rest der Welt in seinem Portfolio halten will.

Das exportorientierte Wachstumsmo-dell Deutschlands war beinahe das Ge-genteil des konsumorientierten Mo-dells. Es beruhte auf drei Elementen: ei-nem Exportsektor, der groß genug war, um als Lokomotive für die Gesamtwirt-schaft zu fungieren, einer institutionali-sierten Lohnzurückhaltung und einem festen Wechselkurssystem. Die beiden letztgenannten Elemente führten zu ei-ner Unterbewertung des realen Wech-selkurses, was tendenziell die Exporte stimulierte und die Importe drückte.

Schwedens Wachstumsmodell konnte bis vor der Krise die beiden Wachstums-treiber Konsum und Export kombinie-ren, während es nach der Krise konsum-orientierter wurde. Anders als in der deutschen Wirtschaft, in der das verar-beitende Gewerbe eine vorherrschen-de Stellung hatte, wurden die schwedi-schen Exporte vielfältiger, wobei der IT-Sektor sowie wertschöpfungsinten-sive Dienstleistungssektoren an Bedeu-tung gewannen. Diese Sektoren waren weniger preissensitiv als das verarbei-tende Gewerbe. Gleichzeitig waren die Reallohnzuwächse nicht nur höher als in Deutschland, sondern verteilten sich auch gleichmäßiger auf das wertschöp-fungsintensive verarbeitende Gewerbe und den weniger ertragreichen Dienst-leistungssektor. Zusammen mit einer

wachsenden Verschuldung der Haushal-te stimulierte dies auch den Konsum in Schweden.

Es ist allerdings möglich, dass ein Land keinen tragfähigen Ersatz für ein lohnorientiertes Wachstum findet und daher in die Stagnation gerät. Dies illus-triert der Fall Italiens seit den Neunzi-gerjahren. Der Wachstumsbeitrag der privaten Haushalte ist in Italien im Lauf der Zeit zurückgegangen. Der Beitrag der Exporte hat sich in letzter Zeit zwar erhöht, aber der italienische Exportsek-tor ist nach wie vor zu klein, um ein be-deutender Wachstumstreiber zu sein. Und die Nettoexporte werden durch ei-nen realen Wechselkurs belastet, der für die Bedürfnisse des Landes aufgrund des Euros zu hoch ist.

Das Wirtschaftswachstum Großbritanniens basiert auf einem konsumorientierten Modell. Die starke nationale Nachfrage wird auch durch einen erleichterten

Zugang zu Krediten und einer daraus resultierenden Verschuldung von privaten Haushalten ermöglicht.

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20 Aus der Forschung

Gesellschaftliche Koalitionen und ParteipolitikEs wird angenommen, dass sogenannte dominante gesellschaftliche Koalitionen das Wachstumsmodell des betreffenden Landes stützen. Zu den Koalitionen ge-hören insbesondere Repräsentanten der jeweiligen Schlüsselsektoren inklusive der betreffenden Wirtschafts- und Ar-beitgeberverbände sowie der Gewerk-schaften. Diese Schlüsselsektoren, etwa in Deutschland der Maschinenbau und die Automobilindustrie, sind für die je-

weiligen Länder von systemischer Be-deutung. Ein Merkmal von dominanten gesellschaftlichen Koalitionen ist, dass ihre Mitglieder einen legitimierenden Diskurs vorgeben, das heißt, sie sind in der Lage, ihre Interessen als mit dem nationalen Interesse übereinstimmend darzustellen.

Solche Schlüsselsektoren haben spezi-elle wirtschaftspolitische Anforderun-gen. Und diese Anforderungen werden, soweit Angehörige dieses Sektors maß-

geblicher Teil einer dominanten gesell-schaftlichen Koalition sind, von poli-tischen Entscheidungsträgern, insbe-sondere bei der Gestaltung makroöko-nomischer Politik, berücksichtigt. Zu unterscheiden sind hier Sektoren, die dem internationalen Wettbewerb aus-gesetzt sind, und solche, die für den Binnenmarkt produzieren. Diese bei-den Sektoren sind mit zwei sehr un-terschiedlichen Nachfragequellen kon-frontiert: im ersten Fall mit der Aus-lands- und im zweiten mit der Bin-nennachfrage. Eine weniger beachtete sektorale Unterscheidung ist die zwi-schen etwa dem Baugewerbe und eini-gen Teilen des verarbeitenden Gewer-bes. Bei Ersterem führt eine höhere In-flation unter ansonsten gleichen Bedin-gungen zu niedrigeren Realzinsen, die

Das deutsche Wachstumsmodell beruht auf einem Exportsektor, der groß genug ist, um als Lokomotive für die Gesamtwirtschaft zu fungieren. Insbesondere die

verarbeitende, exportorientierte Automobilindustrie leistet hier einen großen Beitrag.

Schweden konnte die beiden Wachstumstreiber Konsum und Export kombinieren.

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die Nachfrage nach der Produktion des Sektors stimulieren. Für die Letzteren ist eine höhere Inflation hingegen nach-teilig, weil sie Importe verbilligt und die Exporte verteuert. Daher ist zu erwar-ten, dass die sektoralen Akteure unter-schiedliche Präferenzen hinsichtlich der Geld-, Steuer-, Wechselkurs- und Lohn-politik haben, die sich auf die Inflation auswirken.

Die Parteipolitik spielt in der Politik der Wachstumsmodelle eine wichtige Rolle, da die dominante gesellschaft-liche Koalition in den meisten Fällen über keine Mehrheit der Stimmen ver-fügt und daher eine Wahlmehrheit um jene Politik herum aufbauen muss, die ihren Interessen nützt. Die Annahme lautet somit, dass die großen Partei-en in Wettstreit stehen, das gegebene

Wachstumsmodell und die damit ver-bundene vorherrschende gesellschaftli-che Koalition bestmöglich zu managen. Die wirtschaftspolitische Konkurrenz der Parteien besteht somit nicht dar-in, grundlegend verschiedene System-alternativen anzubieten – zumindest dann nicht, wenn das Wachstumsmo-dell klar definiert ist. Es wird vielmehr erwartet, dass sich die großen Parteien auf politische Maßnahmen, die der vor-herrschenden gesellschaftlichen Koali-tion zugutekommen, einigen. Parteien tragen in zweierlei Weise zur Stabilisie-rung der dominanten gesellschaftlichen Koalition bei. Zum einen gehen sie in-teressenbasierte Bündnisse mit gesell-schaftlichen Gruppen außerhalb des

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Aus der Forschung GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

Wachstumsmodelle im Überblick. Große ökonomische Trends wie die Liberalisierung von wirtschaftlichen Institutionen

des Arbeitsmarkts, die Verschiebung in der funk tio nalen Einkommensverteilung weg vom Arbeitseinkommen hin zum

Kapitaleinkommen und die zunehmende Schwierigkeit, ein angemessenes Niveau der Gesamtnachfrage zu erzeugen,

beeinflussen die Wachstumsmodelle kapitalistischer Volkswirtschaften erheblich. Das bis 1990 in Europa vorherrschen-

de lohnorientierte Wachstumsmodell wurde infolge dieser Entwicklungen durch vier neue Modelle ersetzt. Die Wachs-

tumsmodelle Deutschlands, Großbritanniens, Italiens und Schwedens zeigen prototypisch, welche neuen Strategien

angewandt wurden, um die für wirtschaftliches Wachstum notwendige Nachfrage zu erzeugen.

GroßbritannienKonsumorientiertes Wachstumsmodell

– Leistungsbilanzdefizite

– wachsende Haushaltsverschuldung

– großer und liquider Finanzmarkt, der grenz über-schreitende Finanzströme anzieht

– starke Nachfrage nach mittel- und geringqualifizier-ten Arbeitskräften im Dienstleistungsbereich, die ein gesundes Reallohnwachstum ermöglichen

SchwedenKonsum- und exportorientiertes Wachstumsmodell

– kein Zielkonflikt zwischen Export- und Konsum-wachstum

– Exporte sind preisunempfindlich (Verlagerung des Schwerpunkts auf Informations- und Kommunika-tionstechnologien sowie Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung)

– Reallöhne wachsen schneller als in anderen Ländern; die Löhne im Dienstleistungssektor wachsen im Ein-klang mit den Löhnen im verarbeitenden Gewerbe

ItalienWeder konsum- noch exportorientiertes Wachstumsmodell

– geringes Reallohnwachstum, unzureichende Aus-weitung der Verschuldung, fiskalische Korrekturen (Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen)

– Exportsektor zu klein; Exporte preisempfindlich; realer Wechselkurs nicht wettbewerbsfähig

DeutschlandExportgestütztes Wachstumsmodell

– großer und wachsender Exportsektor

– strukturell bedingte und anhaltende Leistungs-bilanz überschüsse

– Zielkonflikt zwischen Konsum und Export aufgrund der Preissensibilität der Exporte

– Geringes Lohnwachstum und atypische Beschäf-tigung im Dienstleistungssektor

EXPORTORIENTIERUNG

KON

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akteure aus der automobilindustrie bilden in Deutschland eine starke gesellschaftliche Koalition.

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20 Aus der Forschung

Kerns der gesellschaftlichen Koalition ein. An diese wird ein Teil der Wachs-tumsprozesse umverteilt. Vor allem aber werden individuelle und Grup-penpräferenzen durch sie kulturell neu interpretiert.

Eine These, die im Zuge künftiger For-schung getestet werden soll, lautet, dass

die wirtschaftspolitischen Präferenzen ökonomischer Akteure nicht nur von den Merkmalen des jeweiligen Sektors, sondern auch von der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Wachstumsmodellen abhängen. So sollten sich beispielsweise die Haltungen von Repräsentanten der Bauindustrie, etwa die lohnpolitischen Präferenzen von Bauarbeitnehmern, da-

nach unterscheiden, ob sie sich im Kon-text eines exportorientierten oder eines binnenorientierten Leitdiskurses bewe-gen.

In Deutschland setzten Arbeitgeber und Politik in den 1990er- und 2000er-Jahren eine Lohnzurückhaltung durch, die auch von Gewerkschaften mitgetragen

wurde. Diese versuchten durch den Verzicht auf Lohnerhöhungen Arbeitsplätze zu erhalten, was überwiegend der Exportindustrie zugutekam.

Zum Weiterlesen

Baccaro, L., and J. Pontusson:Rethinking Comparative Political Econ-omy: The Growth Model Perspective. Politics & Society 44 (2): 175–207 (2016). https://tinyurl.com/baccaro-pontusson-2016

Baccaro, L., and J. Pontusson:Social Blocs and Growth Models: An An-alytical Framework with Germany and Sweden as Illustrative Cases. Unequal Democracies, Working Paper 7. Université de Genève, Genève 2019.https://tinyurl.com/geneve-wp7

Baccaro, L., and J. Pontusson: Shifting Focus: Why CPE Should Engage (again) with the Politics of Growth. New Approaches to Political Economy (with B. Amable, A. Regan, S. Avdagic, N. van der Zwan). Socio-Economic Review, published online March 18, 2019.https://tinyurl.com/SER19-Baccaro-Pontusson

Baccaro, L., and Ch. Benassi: Throwing out the Ballast: Growth Mod-els and the Liberalization of German Industrial Relations. Socio-Economic Review 15 (1): 85–115 (2017).https://tinyurl.com/SER17-Baccaro-Benassi

Baccaro, L., and J. Pontusson: Comparative Political Economy and Varieties of Macroeconomics. MPIfG Dis-cussion Paper 18/10. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2018.https://tinyurl.com/dp18-10

Zum Nachhören

Capitalism Unhinged: Liberalization, Growth Models, and Secular Stagnation.Institutstag 2017 des MPIfG, Eröffnungs-vortrag von Lucio Baccaro.https://tinyurl.com/baccaro-eroeffnung17

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Interview GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

Herr Schäfer, Ihr Thema ist die span-nende Frage der politischen Ungleich-heit, über die Sie viel geforscht haben. Hat wachsende Ungleichheit etwas mit dem Aufstieg des Populismus zu tun?Armin Schäfer: Mich hat in den letzten Jahren besonders beschäftigt, welche Personengruppen sich an Politik beteili-gen und ob sich ungleiche Beteiligung auf das auswirkt, was politisch entschie-den wird. Mein Forschungsteam hat festgestellt, dass politische Entscheidun-gen des Bundestags zulasten von Men-schen mit geringerem Einkommen, ge-ringerer Bildung oder Berufsgruppen mit niedrigerer Bezahlung verzerrt sind. Das wiederum kann tatsächlich eine Triebfeder für Protestverhalten sein: Weil sie sich nicht mehr vertreten füh-len, wenden sich die Menschen von der Politik ab und bleiben zu Hause oder sie geben ihre Stimme populistischen Par-teien.

Beteiligung hat etwas mit sozialem und ökonomischem Status zu tun. Nehmen wir das Beispiel Essen: Da gibt es Wahl-bezirke wie Essen-Mitte, sozial stark be-nachteiligt, dort liegt die Wahlbeteili-gung nur noch bei 10 Prozent. Im Esse-ner Süden ist man durchaus noch bei 80 bis 90 Prozent. Kann man dieses Bei-spiel auf andere Städte übertragen?Das ist das Muster, das wir uns für drei Bundestagswahlen, also 2009, 2013, 2017 angeschaut haben. Und in allen deut-schen Großstädten, für die es diese Da-ten gibt, ist das Ergebnis eindeutig: Je är-mer ein Stadtteil ist, je höher die Arbeits-losenquote in einem Stadtteil ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. Das gilt überall, also nicht nur in Essen oder im Ruhrgebiet, sondern auch in Städten wie Hamburg, München oder Leipzig.

Wenn wir mal in die USA schauen: Kann man Donald Trump auch so er-

klären, dass Partizipation und Wahlbe-teiligung etwas zu tun haben mit sozia-lem Status?In den USA ist die Wahlbeteiligung eben-falls sehr ungleich. Dort hat Trump aller-dings bestimmte Gruppen wieder mobi-lisiert und für Politik interessieren kön-nen, die vorher politikfern waren. Er hat Menschen aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse zurückgeholt, die in Regi-onen leben, die über einen längeren Zeit-raum einen Niedergang erlebt haben. Das sind ehemalige Industrieregionen, die zum Teil schon über Jahrzehnte abgestie-gen sind. Er hat durch Unterstützung in diesen Regionen Staaten im mittleren

„Ich sehe eine gefahr für die Demokratie“

Armin Schäfer, Professor für Vergleichende Politikwissen-schaft an der Universität Münster und Alumnus des MPIfG, ist im Wintersemester 2019/20 Scholar in Residence am MPIfG. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Vergleichender Politischer Ökonomie und empirischer Demokratieforschung. In den vergangenen Jahren hat er sich mit dem Zusammenhang von sozialer und politischer Un-gleichheit und den Ursachen des Nichtwählens befasst. Den schwindenden Einfluss der Volksparteien, das nachlassende politische Interesse in Teilen der Bürgerschaft und Protest-wahlverhalten führt er auf eine wesentliche Ursache zurück: das Gefühl einiger Bevölkerungsgruppen, politisch nicht mehr repräsentiert zu werden. Mit seiner Forschung zeigt er, dass dieses Gefühl nicht täuscht, sondern tatsächlich berech-tigt ist. Ein wichtiges Prinzip der Demokratie gerät damit ins Wanken: das Versprechen, sich um alle zu kümmern.

Das Interview führte Jürgen Zurheide

Je ärmer ein Stadtteil ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung.

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Westen gewonnen und sich so eine Mehr-heit an Stimmen im Wahlkollegium, dem Electoral College, sichern können.

So etwas gelingt der AfD in Deutsch-land auch. Die AfD mobilisiert einen Teil der frühe-ren Nichtwählerinnen und Nichtwähler.

Der größere Teil bleibt allerdings weiter-hin zu Hause. Durch die stärkere Polari-sierung beteiligen sich insgesamt mehr Menschen, manche wollen einen Denk-zettel verteilen, andere wollen aber Wahl-erfolge von Populisten gerade verhin-dern. Insofern ist das Bild ein bisschen komplizierter. Aber vermehrte Protest-wahl zeigt uns, dass es in der Bevölke-rung Gruppen gibt, die das Gefühl ha-ben, bislang nicht repräsentiert zu sein. Sie haben nicht den Eindruck, dass die etablierten Parteien zu ihnen sprechen, ihnen etwas anbieten und dass sich ihre eigene Lage dadurch verändern könnte.

Die entscheidende Frage für mich lau-tet: Warum verzichten Menschen dar-auf zu wählen? Tragen sie nicht selbst die Verantwortung dafür, wenn sie zu Hause zu bleiben?Zunächst einmal wissen wir: Wählen und Nichtwählen sind ansteckend. Man entscheidet also nicht rein individuell,

ob man wählen geht oder nicht, sondern das hat auch etwas zu tun mit der Fami-lie, dem Freundeskreis, vielleicht auch mit der Gegend, in der man lebt.

Ob Politik überhaupt ein Thema ist?Genau. Ob jemand sonntags beim Bä-cker fragt: Hast du schon gewählt? Oder

ob niemand auf die Idee kommt, eine solche Frage zu stellen. Das hängt da-von ab, wer man ist und mit wem man zu tun hat. Ein zweiter Aspekt ist: Wenn Politik ungleich auf unterschiedliche Gruppen reagiert, dann droht ein Teu-felskreis. Wer sich nicht vertreten fühlt, wählt nicht – und wer nicht wählt, wird schlechter repräsentiert. Im Ergebnis verzerrt dieses Wechselspiel politische Entscheidungen noch stärker zugunsten derjenigen, die sich beteiligen und denen es ohnehin besser geht.

Das heißt, die Repräsentation in den Parteien und damit die Repräsentation in den Parlamenten entsprechen immer

weniger dem Querschnitt der Bevölke-rung?Richtig, die Aktiven unterscheiden sich re-lativ stark von der Bevölkerung insgesamt. Mehr als 80 Prozent der Abgeordneten des Bundestags haben studiert, in der Bevöl-kerung sind es weniger als 20 Prozent. Auch Beamte, Unternehmer oder Juristen

sind in den Parlamenten weit häufiger als in der Bevölkerung anzutreffen. Das zeigt: Zwischen denen, die die politischen Ent-scheidungen treffen, und denen, die von den politischen Entscheidungen betroffen sind, gibt es deutliche Unterschiede.

Was heißt das für die politischen Ent-scheidungen?Wir haben versucht, dieser Frage syste-matisch nachzugehen. In unserem For-schungsprojekt haben wir alle Sachfra-gen erfasst, die in Umfragen erhoben wurden – von 1980 bis in die Gegenwart. Für jede einzelne dieser Fragen, insge-samt über 700, haben wir festgehalten, wer für eine Politikveränderung und wer dagegen war, kategorisiert nach Einkom-men, Bildung, Berufsgruppe etc. In ei-nem zweiten Schritt haben wir erhoben, was am Ende entschieden wurde. Wenn man diese beiden Informationen zusammenbringt, zeigt sich ein sehr kla-res Muster: Die Entscheidungen des Bun-

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20 Interview

Wählen und Nichtwählen sind ansteckend.

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destags haben in den letzten dreißig Jah-ren sehr viel häufiger mit den Präferen-zen von Menschen übereingestimmt, die hohe Einkommen haben oder denen es insgesamt besser geht. Sehr viel seltener gab es Übereinstimmungen mit den Prä-ferenzen der Ärmeren. Und diese Diskre-

panz ist dann besonders groß, wenn Arm und Reich verschiedene Dinge wollen.

Spielt Lobbyismus da eine Rolle? Oder ist es ein kulturell-ökonomisches Phä-nomen, wie Sie es gerade beschrieben haben? Denn am Ende haben die wirk-

mächtigeren Gruppen immer automa-tisch auch mehr Geld und beeinflussen die Politik stärker?Wir konnten das nicht bis ins letzte De-tail klären, einfach aufgrund der Fülle von Fragen. Aber ich vermute, dass beide Faktoren wichtig sind. Einerseits haben

In Thüringen wurde ein FDP-Kandidat mithilfe der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Das löste ein politisches Erdbeben aus, das die CDU schwer erschüt-tert hat. Erleben wir das Ende der Volksparteien?Ein Kommentar von Armin Schäfer

Die Zeit, in der eine der großen Parteien mehr als 40 Prozent der Stimmen holen und anschließend in einer Zweierkoalition regieren kann, scheint endgültig vorbei zu sein. Die Lage von CDU/CSU und SPD ist noch nicht so dramatisch wie in anderen europäischen Ländern. Aber durch die Etablierung von Grü-nen, Linkspartei und, zuletzt, der Alternative für Deutschland haben wir ein sehr viel stärker fragmentiertes und polarisiertes Parteiensystem, in dem die Regierungsbildung erschwert wird. Die Gelegenheit, Thomas Kemmerich zu wählen, entstand ja deshalb, weil keine der politisch tragfähigen Koalitionsvarian-ten eine Mehrheit der Abgeordneten stellen konnte.

Diese Situation wurde von der AfD genutzt, um die anderen Parteien der Lächerlichkeit preiszugeben und sich als Teil einer „bürgerlichen Mehrheit“ zu inszenieren. Zumindest in Teilen von CDU und FDP wurde dies billigend in Kauf genommen, um Bodo Ramelows Wiederwahl zu verhindern.

Die AfD – eine „bürgerlich-konservative Partei“?

In ihrer Entstehungsphase war die AfD ganz anders politisch ausgerichtet. Das zentrale Thema der AfD – anfangs als „Pro-fessorenpartei“ verspottet – war 2013 die Ablehnung des Euro. Migrationspolitik oder der Klimawandel spielten keine Rolle. Mehrere Studien zeigen, dass die AfD damals noch nicht als rechtspopulistische Partei einzuordnen war.

Das hat sich seitdem jedoch grundlegend geändert. Es besteht in der Forschung kein Zweifel darüber, dass die AfD alle Merk-male des Rechtspopulismus erfüllt: Sie stellt einem vermeintlich homogenen Volk die korrupte Elite gegenüber, bestreitet, dass in einer pluralistischen Demokratie legitimerweise unterschied-liche Interessen bestehen und mobilisiert vor allem mit dem Thema Migration.

Mit jedem Führungswechsel hat sich die Partei zudem weiter radikalisiert. Der sogenannte Flügel um Björn Höcke, der durch

Thüringer PR-Erfolg gestärkt wurde, vertritt in Teilen offen rechtsextreme Einstellungen, die sicher nicht mehr als bürger-lich-konservativ gelten können.

Der Blick auf andere Länder zeigt, dass rechtspopulis-tische Parteien nicht einfach wieder verschwinden.

Erfolg haben rechtspopulistische Parteien wie die AfD einerseits, weil Teile der Bevölkerung migrationsskeptische bis -feindliche Einstellungen haben, die durch diese Parteien bedient werden. Andererseits gibt es tatsächlich eine Kluft zwischen politischer Elite und Bevölkerung. Gelänge politische Repräsentation bes-ser, wäre auch die AfD weniger erfolgreich.

Beide Erfolgsbedingungen des Rechtspopulismus werden nicht kurzfristig verschwinden und insofern spricht wenig da-für, dass die AfD rasch an Bedeutung verlieren wird. Allerdings ist es schwieriger für rechtspopulistische Parteien, erfolgreich zu sein, wenn die öffentliche Debatte nicht von gesellschafts-politischen Fragen dominiert wird, sondern beispielsweise Themen wie Steuer- oder Sozialpolitik im Zentrum stehen – hier hat die AfD nicht nur wenig zu sagen, sondern zeigt zudem eine relativ große Diskrepanz zu den Einstellungen der eigenen Wählerinnen und Wähler.

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20Interview

FDP-Politiker Thomas Kemmerich (links) empfängt Glückwünsche von

Thüringens AfD-Fraktionsvorsitzendem Björn Höcke. Mit den Stimmen

der AfD, der CDU und seiner fünf FDP-Abgeordneten wurde Kemmerich

am 5. Februar 2020 zum neuen Ministerpräsidenten des Freistaates Thü-

ringen gewählt. Drei Tage später trat er von diesem Amt zurück.

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wir dieses immer homogener werdende Parlament, und wir wissen, dass die poli-tischen Einstellungen der Abgeordneten stärker mit denen von Menschen über-einstimmen, die ihnen ähnlich sind: Menschen mit hoher Bildung und ho-hem Einkommen.

Andererseits ist Politik nicht frei von Einflussnahme, Lobbyismus ist wichtig. Bestimmte Interessengruppen wie Groß-unternehmen oder wichtige Industrie-zweige finden natürlich leichter Gehör in der Politik als „normale“ Menschen, die im Zweifel gar nicht wissen, an wen sie sich wenden sollten oder wie sie das tun können.

Ich könnte jetzt das Stichwort Diesel-krise nennen oder ich könnte sagen, bei der Finanztransaktionssteuer ist grade der Hochfrequenzhandel aus den Pa-pieren verschwunden. Das sind typi-sche Beispiele für aktiven Lobbyismus und den Einfluss kleiner, finanzkräfti-ger Gruppen.Ja. Ohne dass sich das im Einzelfall im-mer nachweisen ließe, kann man anneh-men, dass bestimmte Interessengruppen dafür sorgen, dass keine Politik gegen sie gemacht wird, oder dass sie sich zumin-dest Zeit erkaufen, indem Entscheidun-gen verzögert werden.

Wir haben eine sozial und ökonomisch und am Ende politisch gespaltene Ge-sellschaft. Das ist Ihr Befund. Wie kön-nen wir aus diesem Teufelskreis heraus-kommen und verhindern, dass die De-mokratie weiter gefährdet wird? Welche Möglichkeiten sehen Sie als Politikwis-senschaftler?Demokratie beinhaltet das Versprechen, dass eben nicht nur Interessen von be-stimmten Gruppen berücksichtigt wer-den, sondern dass sehr viele unterschied-liche Gruppen zumindest die Chance ha-

ben, dass ihre Anliegen sich in politische Entscheidungen übersetzen. Und wenn das systematisch nicht der Fall ist, dann wird das Versprechen der Demokratie, dass man sich um alle kümmert, gebro-chen. Und deswegen sehe ich darin eine Gefahr für die Demokratie.

Die zweite Frage wäre jetzt: Wie kann man diesen Mechanismus brechen, wel-che Ideen gehen Ihnen durch den Kopf?Die Parteien könnten sich selbst anpas-sen, durch veränderte Rekrutierungs-muster. Wir wissen, dass Menschen sich nicht einfach spontan politisch beteili-gen, sondern dies eher tun, wenn sie ak-tiv angesprochen und zur Mitgliedschaft ermutigt werden. Die Parteien müssen genauer darauf achten, wen sie ermuti-gen. Das geschieht ja bereits teilweise mit Blick auf Frauen oder, in geringerem Ausmaß, mit Blick auf Migranten. Par-teien sollten nicht ausschließlich diejeni-gen zur Kandidatur ermuntern, die einen Universitätsabschluss haben. Diesen Me-chanismus können die Parteien selbst angehen und müssten dafür keine Ge-setze ändern.

Ein weiterer Punkt könnte das Wahl-recht sein. Unser Wahlrecht führt zu ei-ner großen Konsensmaschine, zumal der Föderalismus die mögliche Große Koalition noch größer macht. Welche Zusammenhänge sehen Sie da?Wir unterscheiden zwischen Mehrheits-demokratien, in denen oft eine Partei al-leine regieren kann, und Konsensdemo-kratien, in denen es zahlreiche Zwänge gibt, miteinander zu verhandeln und zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. In Deutschland erzwingt das Wahlsystem eigentlich immer, dass sich eine Koali-tionsregierung aus mehreren Parteien bildet. Gleichzeitig haben wir ein föderales Sys-tem, das bei vielen politischen Entschei-dungen bewirkt, dass die Verhandlungen noch auf weitere Parteien ausgeweitet werden müssen. Die Regierungsparteien müssen sich nicht nur untereinander ei-nigen, sondern müssen in vielen Fällen zusätzlich die Grünen oder die FDP ge-winnen, weil diese in Landesregierungen

vertreten sind. Viele Entscheidungen sind im Ergebnis ein Kompromiss über vier, fünf Parteien hinweg. Am Ende ist nur noch schwer zu erkennen, wer wofür ver- antwortlich war, wer seine eigene Linie durchsetzen konnte. Das ist in anderen politischen Systemen weniger stark aus-geprägt.

Noch einmal zurück in die USA: Wird Trump die Wahl wieder gewinnen oder nicht, wagen Sie eine Prognose?Darauf kann es hinauslaufen. Ja.

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20 Interview

Zum Weiterlesen

Elsässer, L., und A. Schäfer: Nur wer wählt, zählt? Die politischen Entscheidungen des Bundestags sind zulasten der Armen verzerrt. Gesellschaftsforschung 1/2017. Max-Planck-Institut für Gesellschafts-forschung, Köln 2017, 8–12.

Schäfer, A., L. Elsässer und S. Hense: „Dem Deutschen Volke?“ Die unglei-che Responsivität des Bundestags. Zeitschrift für Politikwissenschaft 27, 161–180 (2017).

Schäfer, A.:Der Verlust politischer Gleichheit: Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Campus, Frankfurt am Main 2015.https://tinyurl.com/AS-campus-2015

Zum Nachhören

Der Wandel des Parteiensystems und die Krise der Sozialdemokratie.Institutstag 2018 des MPIfG – Eröff-nungsvortrag von Armin Schäferhttps://tinyurl.com/schaefer2018

MPIfG Scholar in Residence Lectures 2019 „In Defense of Democracy.” https://tinyurl.com/SiR-podcasts

Interessen ärmerer Menschen werden weniger berücksichtigt.

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Nachrichten

Marion fourcade ist auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied des MPIfG

Marion Fourcade, Professorin am De-partment of Sociology der University of California, Berkeley, hat den Ruf der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaft-lichen Sektion der Max-Planck-Gesell-schaft (MPG) zum Auswärtigen Wissen-schaftlichen Mitglied des MPIfG ange-nommen. Fourcade ist Gründungs direk-torin des Max Planck Sciences Po Center

on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo), des gemeinsamen Forschungscenters von MPIfG und Sciences Po, das die Auswirkungen zunehmender Liberalisierung, techni-schen Fortschritts und kultureller Veränderungen auf westliche Industriegesellschaften erforscht. Seit 2013 ist Marion Fourcade Associate Fellow am MaxPo; im akademischen Jahr 2019/2020 ist sie Gastprofessorin am Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey.

Nachrichten GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

MPIfG gründet Partnergruppe in chile

Das MPIfG hat gemeinsam mit der Universidad Central de Chile eine internatio nale Max-Planck-Partnergruppe in Chile gegründet. Die Leitung übernimmt Felipe González, der von 2011 bis 2015 Doktorand an der IMPRS-SPCE war. Die Part-nergruppe soll eine Plattform für Austausch und Vernetzung mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Region werden und die Institutionalisierung der Wirtschaftssoziologie in Chile vorantreiben. Die Max-Planck-Partnergruppen sind ein Förderinstrument für herausragende Nachwuchswissen-schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, die an Max- Planck-Instituten geforscht haben und wieder in ihr Herkunfts-land zurückkehren. Die Max-Planck-Gesellschaft kooperiert hierbei mit Ländern, die ihre Forschung durch internationale Zusammenarbeit stärken wollen.

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GESELLSchaftSForSchuNg 1.20 Nachrichten

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cornelia Woll ist Kodirektorin am MaxPo

Die Politikwissenschaftlerin Cornelia Woll ist neue Kodirektorin am Max Planck Sciences Po Center on Coping with Insta-bility in Market Societies (MaxPo) in Pa-ris. Zuvor war Woll Professorin an der Sciences Po und forschte am Center for European Studies and Comparative Pol-itics (CEE). Ihre Forschungsschwer-punkte liegen in der Vergleichenden und Internationalen Politischen Ökonomie.

Am MaxPo wird sie ihre Arbeiten zur Finanzpolitik fortsetzen und die Dynamik der Finanzmarktregulierung untersuchen. Cornelia Woll war bereits von 2012 bis 2015, in der Grün-dungsphase des MaxPo, Kodirektorin an dem Forschungscen-ter, das gemeinsam von der Sciences Po und dem MPIfG ge-tragen wird. Es erforscht die Auswirkungen zunehmender Li-beralisierung, technischen Fortschritts und kultureller Verän-derungen auf westliche Industriegesellschaften. Cornelia Woll folgt auf Jenny Andersson und wird das Center gemeinsam mit Olivier Godechot leiten.

Jenny andersson erhält umfangreiche forschungsförderungJenny Andersson, Associate Fellow am Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo), hat vom Riksbankens Jubileumsfond, der schwedischen Stif-tung für Geistes- und Sozialwissenschaften, eine Förderungs-summe von 33.100.000 SEK (ca. 3 Millionen Euro) erhalten. Mit diesem Stipendium wird sie ein Forschungsprogramm mit dem Fokus „Neoliberalismus in den nordischen Ländern: Er-schließung eines nichtdiskutierten Themas“ aufbauen. Jenny Andersson war von 2015 bis 2019 Kodirektorin am MaxPo und ist derzeit Gastprofessorin an der Universität Uppsala.

MPIfG Journalist in Residence: christopher SchraderDer freie Wissenschaftsjournalist Christopher Schrader ist im November und Dezember 2019 als Journalist in Residence am MPIfG. Er beschäftigt sich während seines Aufenthalts mit der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Klimakrise. Christopher Schrader wird seinen Aufenthalt im Mai 2020 fortsetzen. Mit dem Journalist in Residence Fellow-ship bietet das MPIfG Journalistinnen und Journalisten die Möglichkeit eines Gastaufenthalts von bis zu drei Monaten. Ziel ist es, den Dialog zwischen Sozialwissenschaften und Ge-sellschaft zu stärken und die journalistische Arbeit zu gesell-schaftspolitischen Fragestellungen zu fördern.

Simone Leiber ist neues VorstandsmitgliedVerein der Freunde und Ehemaligen des MPIfG

Die Mitgliedersammlung des Vereins der Freunde und Ehemaligen des MPIfG hat Simone Leiber am 14. November 2019 in ihren Vorstand gewählt. Sie folgt auf Jür-gen Beyer, der seit 2013 Mitglied im Vor-stand des Vereins war. Simone Leiber ist Professorin für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpolitik am Insti-tut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik

der Universität Duisburg-Essen und dem MPIfG seit vielen Jahren verbunden. Weitere Vorstandsmitglieder sind Werner Eichhorst (Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit), Nor-bert Kluge (Hans-Böckler-Stiftung) sowie Susanne K. Schmidt (Universität Bremen).

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Matías Dewey wechselt an die Universität St. GallenIm Februar hat Matías Dewey eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Soziologie der Universität St. Gal-len angetreten. Zuvor war er mehr als acht Jahre lang als wis-senschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG in Jens Beckerts Projekt-bereich „Soziologie der Märkte“ tätig. Schwerpunkt seiner Forschung waren illegale Märkte, und insbesondere die Mecha-nismen, die den Austausch illegaler Güter im Kontext einer Wirtschaftskrise vorantreiben. Im Zentrum seiner Untersu-chungen stand der Textilmarkt La Salada in Buenos Aires. Im Juni erscheinen die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit in ei-nem Buch mit dem Titel „Making It at Any Cost: Aspirations and Politics in a Counterfeit Clothing Marketplace“.

Buchveröffentlichunghttps://tinyurl.com/dewey-la-salada

David Pinzur wechselt an die LSEAb Januar 2020 wird David Pinzur Assistenzprofessor für Sozio-logie an der London School of Economics and Political Science (LSE). Seit 2018 ist er Postdoktorand in Jens Beckerts Projektbe-reich „Soziologie der Märkte“. In seinem derzeitigen For-schungsprojekt arbeitet Pinzur an der Entwicklung einer theo-retischen Perspektive auf Märkte nicht nur als Empfänger, sondern auch als soziotechnische Mediatoren wirtschaftlicher Prognosen. Die LSE ist eine der international renommiertesten Universitäten für Sozialwissenschaften, sie hat sich die umfas-sende Erforschung von Gesellschaften zum Ziel gesetzt.

Lea Elsässer erhält Wilhelm­Liebknecht­Preis

MPIfG-Alumna Lea Elsässer hat im November 2019 den Wilhelm-Lieb-knecht-Preis der Stadt Gießen erhalten. Ausgezeichnet wird sie für ihre Untersu-chung zur politischen Repräsentation, die zeigt, dass Entscheidungen des Deut-schen Bundestags seit den 1980er-Jahren zugunsten oberer Berufs- und Einkom-mensgruppen verzerrt sind. Die Studie

erschien 2018 unter dem Titel „Wessen Stimme zählt? Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ (Campus). Der mit 2.500 Euro dotierte Preis erinnert an den 1826 in Gießen geborenen Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Wilhelm Liebknecht. Die Auszeichnung wird für hervorragende geschichtliche und sozialwissenschaftliche Publikationen verliehen, die sich den sozialen Grundlagen zum Aufbau und zur Sicherung demokratischer Gemeinwesen widmen. Lea Elsässer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Universi-tät Münster und am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen. Standpunkt S. 3

Sidney Rothstein wird assistenzprofessor am Williams collegeSidney Rothstein erhält ab Januar 2020 eine Assistenzprofessur am Political Science Department des US-amerikanischen Wil-liams College. Er ist seit 2018 Postdoktorand in Lucio Baccaros Projektbereich „Politische Ökonomie von Wachstumsmodel-len“. Sein Forschungsprojekt am MPIfG befasst sich mit dem Zusammenhang von High-Tech-Unternehmen und Langzeit-arbeitslosigkeit in Europa. Das Williams College ist eine nam-hafte private Universität in Williamstown, Massachusetts.

Nachrichten GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

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NachrichtenGESELLSchaftSForSchuNg 1.20

Sebastian Billows wird wissenschaftlicher Mitarbeiter am INRaIm Oktober 2019 hat Sebastian Billows eine neue Stelle als wis-senschaftlicher Mitarbeiter für Soziologie am French National Institute for Agricultural Research (INRA) angetreten. Das INRA ist eine der größten Forschungseinrichtungen Frankreichs und untersucht Fragestellungen aus den Bereichen Umwelt, Land-wirtschaft und Ernährung. Billows wird am Institut de recherche interdisciplinaire en sciences sociales (IRISSO) tätig sein, einer gemeinsamen Forschungseinrichtung des INRA mit dem Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und der Université Paris-Dauphine. Sebastian Billows war von 2017 bis 2019 Post-doktorand am MPIfG im Projektbereich „Soziologie der Märkte“.

Düzgün arslantaş promoviert

Düzgün Arslantaş wurde im September 2019 an der Universität zu Köln promo-viert. Der Titel seiner Dissertation lautet „Clientelism and Dominance: Evidence from Turkey“. Arslantaş argumentiert, dass die Vormachtstellung nur einer Par-tei dann entsteht, wenn sie mindestens drei auf einanderfolgende Wahlen in ei-nem wettbewerbsfähigen politischen

Umfeld mit einem Stimmenvorsprung von zehn Prozent ge-winnt und alleine die Regierung stellt. In seiner Analyse entwi-ckelt er basierend auf dem Parteiensystem in der Türkei unter der Regierung der AKP einen theoretischen Ansatz zur Entste-hung hegemonialer Parteiensysteme. Düzgün Arslantaş war von 2016 bis 2019 Doktorand an der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE).

Donato Di carlo promoviert

Donato Di Carlo wurde im Juni 2019 an der Universität zu Köln promoviert. In seiner Dissertation „Together We Rule, Divided We Stand: Public Employers as Semisovereign State Actors and the Po-litical Economy of Public Sector Wage Restraint in Germany“ untersucht er die Bedingungen und Prozesse der unter-schiedlichen Lohnfindung im deutschen

öffentlichen Sektor während der euro päischen Währungsinte-gration. Die Arbeit nutzt einen historisch-vergleichenden Ana-lyseansatz und führt Erkenntnisse der Vergleichenden Politi-schen Ökonomie, der Finanzsoziologie und der Theorie der industriellen Arbeitsbeziehungen zusammen. Donato Di Car-lo war von 2015 bis 2019 Doktorand an der International Max Planck Research School on the Social and Political Constituti-on of the Economy (IMPRS-SPCE) und ist zurzeit Postdokto-rand am MPIfG.

Sebastian Kohl erhält aSI­NachwuchspreisFür seinen Artikel „The Political Economy of Homeownership“ in der Zeitschrift Socio-Economic Review erhält Sebastian Kohl den ASI-Nachwuchspreis 2019. Der Preis wird jährlich von der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V. (ASI) verliehen und ist mit 500 Euro dotiert. Geehrt wer-den Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissen-schaftler, die mit ihrer Forschung herausragende Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung geleistet haben. Die Aus-zeichnung wird im Rahmen der gemeinsamen Jahrestagung der ASI und der DGS-Sektion „Methoden der empirischen So-zialforschung“ im November 2019 in Köln übergeben. Sebasti-an Kohl ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG.

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MPIfG Bücher

Matías Dewey, Caspar Dohmen, Nina Engwicht und Annette HübschleSchattenwirtschaft: Die Macht der illegalen Märkte.Berlin: Wagenbach, 2019 | 176 SeitenISBN 978-3-8031-3690-9 | 20,00 Euro

Die Mehrheit der Weltbevölkerung ar-beitet in Schattenmärkten. Mit zuneh-mender Tendenz. Das Buch zeigt, wie solche illegalen Märkte funktionieren, wie Menschen dort leben und arbeiten. Die Analyse überrascht und verändert den Blick auf dieses Wirtschaften.

Die Autoren spannen außerdem den Bogen zu den allgemeinen Arbeitsver-hältnissen im 21. Jahrhundert, denn die

Grenzen zwischen Legalität und Illegalität verschwimmen zusehends. Den Anspruch menschenwürdiger Arbeitsver-hält nisse für alle aufrechterhalten zu wollen, ist eine gewaltige Aufgabe für die Zukunft.

Johannes M. Kiess und Martin Seeliger (Hg.)Trade Unions and European Integration: A Question of Optimism and Pessimism? Routledge Advances in Sociology, Band 266. London: Routledge, 2019 | 274 SeitenISBN 978-0-367-18885-6 | £92.00 (hardcover) ISBN 978-0-429-19901-1 | £17.50 (ebook)

Matías DeweyMaking It at Any Cost: Aspirations and Politics in a Counterfeit Clothing Marketplace. Austin: University of Texas Press, 2020 | 272 SeitenISBN: 978-1-4773-2105-8 | $45.00

La Salada is South America’s largest mar-ketplace for fraudulently labeled cloth-ing, a sprawling and dangerous bazaar on the fringes of Buenos Aires where coun-terfeit goods are bought and sold, armed thieves roam the nearby streets, and cor-rupt police and politicians turn a blind eye to widespread unlawful behaviors. Despite conditions traditionally consid-ered inhospitable to economic growth –

including acute interpersonal distrust, pervasive personal inse-curity, and rampant violence – business in La Salada is boom-ing under an established order completely detached from the state.

Matías Dewey dives deep into the world of La Salada to ex-amine how market exchanges function outside the law and how agreements and norms develop in the economy for counterfeit clothing. Drawing on seven months of ethnographic research and more than a hundred interviews, Dewey argues that aspira-tions for a better future shape garment workers’ everyday prac-tices, from their home-based sweatshops to the market stalls. The book unearths a new configuration of garment production and commercialization detached from global supply chains, submerged in the shadows of informality and illegality, and rooted in aspiration and opportunity.

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Neuerscheinungen GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

Bücher, Journal articles und Discussion Papers

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NeuerscheinungenGESELLSchaftSForSchuNg 1.20

Marina HübnerWenn der Markt regiert: Die Politische Ökonomie der Europäischen Kapitalmarktunion. Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Band 92. Frankfurt a.M.: Campus, 2019 | 287 Seiten ISBN 978-3-593-51154-2 | 39,95 Euro (broschiert) ISBN 978-3-593-44318-8 | 35,99 Euro (E-Book, PDF)

Schattenbanken und Kreditverbriefung haben die globale Finanzkrise ausgelöst. Dennoch fördert die Europäische Kom-mission mit dem nur wenige Jahre später aufgelegten Projekt einer Europäischen Kapitalmarktunion aktiv marktbasierte Finanzpraktiken. Marina Hübner zeigt, dass dies nicht etwa das Ergebnis erfolg-reichen Lobbyings ist. Die Ursache der

Rehabilitation dieser Finanzpraktiken liegt vielmehr in der un-vollendeten Struktur der Europäischen Währungsunion. Re-formen in der Governance-Architektur des Euro sind anfällig für Blockaden, sobald sie Umverteilung zwischen den Mit-gliedsländern der Eurozone hervorzurufen drohen. Im Gegen-satz zu neuen Formen fiskalischer Risiko- und Kostenvertei-lung versprechen Umverteilungen von Risiken über den Markt-mechanismus einen konfliktarmen Lösungsweg.

MPIfG Journal articlesAbstracts und Download www.mpifg.de/pu/journal_articles_de.asp

Alexandre Afonso und Fabio BulfoneElectoral Coalitions and Policy Reversals in Portugal and Italy in the Aftermath of the Eurozone Crisis. In: South European Society and Politics 24(2), 2019, 233–257.

H. Lukas R. Arndt Varieties of Affluence: How Political Attitudes of the Rich Are Shaped by Income or Wealth. In: European Sociological Review 36 (1), 2019, 136–158.

Jens Beckert Markets from Meaning: Quality Uncertainty and the Intersubjective Construction of Value. In: Cambridge Journal of Economics, published online August 16, 2019.

Benjamin Braun, Sebastian Schindler und Tobias WilleRethinking Agency in International Relations: Performa-tivity, Performances and Actor-Networks. In: Journal of International Relations and Development 22 (4), 2019, 787–807.

Björn Bremer, Philipp Genschel und Markus JachtenfuchsJuncker’s Curse? Identity, Interest and Public Support for the Integration of Core State Powers. In: Journal of Common Market Studies, 58 (1), 2019, 56–75.

Fabio Bulfone und Alexandre AfonsoBusiness against Markets: Employer Resistance to Collec-tive Bargaining Liberalization during the Eurozone Crisis. In: Comparative Political Studies, published online October 6, 2019.

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Martin Höpner und Martin SeeligerNeither Existing nor Emerging: Euro Stabilization by Means of European Wage Coordination. In: Journal of Economic Policy Reform, published online August 14, 2019.

Alexander Kalyukin und Sebastian KohlContinuities and Discontinuities of Russian Urban Hous-ing: The Soviet Housing Experiment in Historical Long-Term Perspective. In: Urban Studies, published online July 10, 2019.

Marcin Serafin Cabdrivers and Their Fares: Temporal Structures of a Linking Ecology. In: Sociological Theory 37(2), 2019, 117–141.

MPIfG Discussion PapersAbstracts und Download www.mpifg.de/pu/discpapers_de.asp

Jens Beckert und Richard BronkUncertain Futures: Imaginaries, Narratives, and Calcula-tive Technologies. MPIfG Discussion Paper 19/10.

Javier Garcia-Bernardo und Arjan ReurinkCompeting with Whom? European Tax Competition, the “Great Fragmentation of the Firm,” and Varieties of FDI Attraction Profiles. MPIfG Discussion Paper 19/9.

Sidney A. Rothstein Innovation and Precarity: Workplace Discourse in Twenty-First Century Capitalism. MPIfG Discussion Paper 19/8.

Moisés Kopper A Politics of Hope: The Making of Brazil’s Post-Neoliber-al New Middle Class. MPIfG Discussion Paper 19/7.

MaxPo Discussion PapersAbstracts und Download www.maxpo.eu/publications.asp

Jenny PreunkertPrimary Dealer Systems in the European Union. MaxPo Discussion Paper 20/1.

Kai Koddenbrock und Ndongo Samba SyllaTowards a Political Economy of Monetary Dependency: The Case of the CFA Franc in West Africa. MaxPo Discussion Paper 19/2.

IMPRS­SPcE Dissertation SeriesStudies on the Social and Political Constitution of the Economy

Abstracts und Download imprs.mpifg.de/imprs_dissertation_series.asp

Alexander SpielauDie Politische Ökonomie von Wechselkursanpassungen: Auf- und Abwertungen in Deutschland und Frankreich.Studies on the Social and Political Constitution of the Economy. IMPRS-SPCE, Cologne 2018.DOI: 10.17617/2.2376519

Aktuelle Publikationen des MPIfG www.mpifg.de/pu/mpifg_pub_de.asp

Neuerscheinungen GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

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armin Schäfer: „In Defense of Democracy“

Scholar in Residence Lectures 201919. / 26. November und 3. Dezember 2019

Zahlreiche etablierte westliche Demo-kratien befinden sich in einem Zustand der Krise. Diese zeigt sich in einer wach-senden Demokratieunzufriedenheit und im Erstarken rechtspopulistischer Par-teien. Solche Phänomene in erster Line als Krise sozial ungleicher politischer Repräsentation zu verstehen, ist ein erster nötiger Schritt zur Verteidigung der Demokratie. Dies war die Kern-botschaft der dreiteiligen Vortragsreihe von Armin Schäfer, MPIfG Scholar in Residence 2019.

Schäfer, von 2001 bis 2014 zunächst Dok-torand und dann wissenschaftlicher Mit-arbeiter am MPIfG, ist mittlerweile Pro-fessor für Vergleichende Politikwissen-schaft an der Universität Münster. Mit seiner Scholar-in-Residence-Vortrags-reihe In Defense of Democracy gab er Einblicke in seine langjährige Forschung zum Zusammenwirken sozialer und po-litischer Ungleichheit.

Im ersten Teil zeigte Schäfer, dass sich die Diagnose eines Krisenzustands, die der Demokratie in zahlreichen jüngeren wissenschaftlichen und populärwissen-schaftlichen Beiträgen ausgestellt wird, empirisch belegen lässt. Entgegen Erwar tungen eines weltweiten Sieges-zugs der Demokratie nach Ende des Kal-ten Krieges, gestützt durch freie Märkte, sei in den letzten Jahren in einigen west-lichen entwickelten Demokratien ein Rückgang in der Qualität partizipatori-scher Demokratie und der Demokratie-zufriedenheit festzustellen. Schäfer ar-gumentierte, dass die Wählerinnen und Wähler sich allerdings nicht von der De-mokratie als solcher abwendeten, son-

dern ihre Unzufriedenheit aus dem Ge-fühl ent stehe, keine Mitsprache im poli-tischen Prozess zu haben. Die Krise der Demokratie könne daher als Krise un-gleicher politischer Repräsentation ver-standen werden.

Wie konnte es dazu kommen? In seinem zweiten Vortrag unterstrich Schäfer die Bedeutung deskriptiver politischer Re-präsentation: Die auf verschiedenen so-ziodemografischen Merkmalen beru-hende Ähnlichkeit zwischen Wählerin-nen und Wählern einerseits sowie Par-lamentarierinnen und Parlamentariern andererseits ist von großer Bedeutung für politische Prozesse und deren Ergeb-nisse. Hierzu stellte er fest, dass kaum Abgeordnete aus Berufsgruppen mit niedrigerem Einkommen und Bildungs-hintergrund im Deutschen Bundestag vertreten sind. Politische Meinungen und Einstellungen unterscheiden sich je-doch über Berufsgruppen hinweg, wobei eine höhere Übereinstimmung der Mei-nungen von Abgeordneten und Angehö-rigen sozial höhergestellter Berufsgrup-pen bestehe. Es sei demnach zu erwar-ten, dass sich die geringe Stellvertretung von Arbeiterinnen und Arbeitern im Parlament negativ auf ihre politische Re-präsentation auswirkt.

Im dritten Teil der Vorlesungsreihe leg-te Schäfer dar, dass eine solche ungleiche politische Repräsentation zur Stärkung rechtspopulistischer Parteien beiträgt. Für den deutschen Fall zeigte er auf, dass politische Entscheidungen systematisch zugunsten sozial bessergestellter Ein-kommens- und Berufsgruppen verzerrt sind. Diese objektive ungleiche Respon-

sivität spiegele sich in hohem Maße in wahrgenommener ungleicher Respon-sivität wider: Wählerinnen und Wäh-ler aus sozial schlechter gestellten Grup-pen berichteten öfter, dass ihre Meinung von Politikerinnen und Politikern nicht berücksichtigt werde. Die Wahrneh-mung ungleicher Responsivität gehe in Deutschland (ebenso wie in einer grö-ßeren Stichprobe europäischer Länder) mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einher, rechtspopulistische Parteien zu wählen.

Mit seinem Ansatz, die gegenwärtige Krise der Demokratie als Krise sozial ungleicher politischer Repräsentation zu begreifen, leistet Armin Schäfer einen bedeutsamen Beitrag zur gesellschaftli-chen und sozialwissenschaftlichen Aus-

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einandersetzung mit dem Erstarken des Rechtspopulismus. Anders als Ansätze, die das Wählerpotenzial populistischer Parteien je nach Lesart bei Verliererin-nen und Verlierern von Modernisie-rungs- oder Globalisierungsprozessen

sehen, zeigt Schäfer eine explizit politi-sche Perspektive auf. Aus dem Blickwin-kel ungleicher politischer Repräsentati-on erscheinen Vorschläge wie ein Weni-ger an Demokratie ebenso wie ein Mehr an direkter Demokratie als Lösungen

ungeeignet. Lösungsansätze seien eher in institutionellen Reformen sowie der Reduzierung des politischen Einflusses finanzstarker Partikularinteressen zu su-chen. Die Schwächen demokratischer Entscheidungsprozesse zu erkennen und anzuerkennen, eröffnet laut Schäfer die Möglichkeit, diesen Tendenzen entge-genzuwirken und einer Lagerbildung zwischen „Establishment“ auf der einen und „Populisten“ auf der anderen Seite zu begegnen.

Erik Neimanns

Podcasts der Vortragsreihehttps://tinyurl.com/SiR-podcasts

Interview mit Armin Schäfer S. 14

Die Einführung des Euro hat die Auf-merksamkeit für die Lohnpolitik in den öffentlichen Sektoren der Mitglieds-länder erhöht. Der Grund dafür: In Währungsunionen sind Wechselkursan-passungen zum Ausgleich unterschiedli-cher Inflationsraten nicht mehr möglich. Wo immer die Löhne und Preise seit der Gründung der Gemeinschaftswährung im Jahr 1999 über das Infla tionsziel der Europäischen Zentralbank hinausschos-sen, ging der Lohndruck von den öffent-lichen Sektoren aus. In Deutschland, das seit Jahren das Infla tionsziel in erheb-lichem Maße nach unten verfehlt, ist hingegen Lohnzurückhaltung im öffent-lichen Sektor besonders ausgeprägt.

Wie genau erfolgen Lohnverhandlungen für die öffentlich Beschäftigten in den eu-

ropäischen Ländern? Wo gibt es Gemein-samkeiten, wo Unterschiede? Wie werden die Arbeitsstandards öffentlich Beschäf-tigter ausgehandelt? Werden sich die Län-der im Hinblick auf die Arbeitsbeziehun-gen im Staatssektor immer ähnlicher oder bleiben die Unterschiede bestehen?

Zur Diskussion des Forschungsstands über diese Fragen lud das MPIfG im Sep-tember 2019 zu einer internationalen Konferenz. Teilnehmerinnen und Teil-nehmer aus Dänemark, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien, Irland, Schweden, der Slowakei, der Schweiz, Spanien und den USA berichte-ten über aktuelle Vorgänge in ihren je-weiligen Herkunftsländern und präsen-tierten vergleichende Studien. Auch in disziplinärer Hinsicht konnten die Orga-

nisatorinnen und Organisatoren aus der MPIfG-Forschungsgruppe „Die Politi-sche Ökonomie der europäischen Inte-gration“ das Interesse einer heterogenen Teilnehmerschaft wecken: Die Referen-tinnen und Referenten brachten Exper-tise aus der politikwissenschaftlich orien-tierten Vergleichenden Politischen Öko-nomie, aus der soziologischen Forschung über Arbeitsbeziehungen und aus der Ökonomie des Euroraums ein. Insgesamt wurden dreizehn Vorträge diskutiert, die sich über sechs Panels verteilten.

Deutlich wurde, dass mit einer Konver-genz der Lohnfindungsmodi in den öffent lichen Sektoren der Europäischen Union und der Eurozone weder kurz- noch mittelfristig zu rechnen ist. So ha-ben die öffentlichen Sozialpartner in

the Political Economy of Public Wage Setting in EuropeKonferenz16. bis 18. September 2019

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einigen Ländern die Lohnführerschaft inne, die Sozialpartner in der Privat-wirtschaft orientieren sich also an den öffentlichen Abschlüssen. Das gilt ins-besondere für südeuropäische Länder, während die Lohnführerschaft in vielen nordeuropäischen Ländern im Export-sektor liegt. Untermauert wurde dies durch Beiträge von Stephan Bach (King’s College London) und Lorenzo Bordogna (Università degli Studi di Milan), Chris-tos A. Ioannou (OMED & SEV, Athen), Erik Bengtsson (Universität Lund), Christian Lyhne Ibsen (Michigan State University), Oscar Molina (Universitat Autònoma de Barcelona) und Donato Di Carlo (MPIfG).

Die öffentlichen Arbeitsbeziehungen der vertretenen Länder unterscheiden sich zudem in einer Vielzahl weiterer Dimen-sionen. So ist der Beamtenstatus eine deutsche Eigenart, wie der Beitrag von Berndt Keller (Universität Konstanz) auf-zeigte. Josef Hien (Universität Stock-holm) unterstrich, dass eine andere deut-sche Besonderheit in der wachsenden Bedeutung kirchlicher Träger wie Cari-tas und Diakonie als öffentliche Arbeit-geber besteht. Es lassen sich zwar übergreifende Trends identifizieren, von denen die öffentlichen Sektoren der je-weiligen Länder und Ländergruppen al-lesamt betroffen sind – dazu gehören et-wa neue Statuskämpfe im Kontext der

Digitalisierung, wie Imre Szabo (Univer-sity College Dublin) analysierte, oder das Outsourcing einfacher Tätigkeiten an private Dienstleister, wie der Beitrag von Anna Mori (Università degli Studi di Mi-lano) zeigte –, diese Impulse treffen aber auf höchst verschiedene Spielarten der öffentlichen Arbeitsbeziehungen in den jeweiligen Ländern und werden dort da-her ganz unterschiedlich verarbeitet.

Die Organisatorinnen und Organisato-ren planen, die Ergebnisse der Tagung in einem Sonderheft eines Fachjournals zur Diskussion zu stellen.

Donato Di Carlo und Martin Höpner

Das Phänomen der Rechtsdurchsetzung ist bisher in der sozialwissenschaftli-chen Litera tur nur wenig behandelt worden. Obwohl etwa in der Politik-wissenschaft uneinheitliche staatliche Maßnahmen auf rechtswidrige Hand-lungen in Ländern Lateinamerikas, Af-rikas und Asiens untersucht wurden, ist es nicht übertrieben zu sagen, dass es sich insgesamt um ein randständi-ges und untertheoretisiertes Phäno-men handelt. Im November 2019 luden

Matías Dewey (MPIfG) und Lucas Ron-coni (CIAS – Center for Research and Social Action und CONICET, Argenti-nien) zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum interdisziplinären Workshop „The Political Economy of Law Enforcement“ ans MPIfG ein, um begriffliche und theoretische Fragen im Themenfeld zu diskutieren, empirische Studien vorzustellen und Möglichkei-ten für zukünftige Forschungen auszu-loten.

Der zweitägige Workshop gliederte sich in fünf thematische Schwerpunkte: „Law Enforcement, Labor, and Migration“, „Law Enforcement and Finance“, „Law Enforcement, Corruption, and State Ca-pacity“, „Law Enforcement and Police Forces“ und „Law Enforcement and Tax-ation“. Dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Expertise aus Anthropolo-gie, Soziologie, Politikwissenschaft, Ge-schichte und Wirtschaftswissenschaften mitbrachten, kam dem Austausch zugu-

the Political Economy of Law EnforcementWorkshop12. und 13. November 2019

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te und führte zur Identifizierung von dis-ziplinübergreifenden Forschungsanlie-gen. Und auch unterschiedliche Begriffs-verständnisse wurden erkannt: So gehen Sozialwissenschaftlerinnen und Sozial-wissenschaftler oftmals davon aus, dass gesetzliche Bestimmungen durchgesetzt werden, sobald sie formal beschlossen wurden. Hinzu kommt die Annahme, dass deren Nichtdurchsetzung ein Merk-mal für schwache Staatlichkeit oder Kor-ruption ist. Diese vereinfachte Sichtweise geht mit der Vorstellung einher, dass Re-gierungen in der Regel per se ein eindeu-tiges Interesse an der effektiven Durchset-zung des Rechts haben. Sie berücksichtigt jedoch weder die Komplexität und Viel-falt von Mechanismen der Rechtsdurch-setzung noch die Möglichkeit, dass Re-gierungen oder staatliche Behörden nicht notwendi gerweise an der Durchsetzung von Vorschriften interessiert sind.

Besonderes Interesse fanden daher Bei-spiele, bei denen eine bewusste Nicht-durchsetzung des Rechts zu beobach-ten ist, etwa im Fall von Staaten, die Ar-beitsgesetze nicht durchsetzen, weil sie die Wirtschaftslage nicht beeinträchti-gen oder ungewollte Konsequenzen ver-meiden wollen. In weiteren Beiträgen zur Durchsetzung von Einwanderungs-, Fi-nanz- oder Steuergesetzen wurde heraus-gearbeitet, welche spezifischen Akteure ein Interesse an der Durchsetzung oder

Nichtdurchsetzung des Rechs haben und welche wirtschaftlichen, politischen und sozialen Effekte mit Entscheidungen in diesem Zusammenhang verbunden sind.

Indem infrage gestellt wurde, dass Regie-rungen grundsätzlich immer ein Inter esse an der Durchsetzung des Rechts haben, wurden die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer zum Nachdenken über tief sitzende Annahmen in den Sozialwis-senschaften angeregt: Kann von institutio-neller Schwäche gesprochen werden, wenn eine Regierung, die Einfluss auf die Voll-zugsbehörden hat, bewusst beschließt, Recht nicht durchzusetzen? Wie ist es zu bewerten, wenn staatliche Behörden Ar-beitsgesetze nicht durchsetzen, um infor-melle Arbeitsplätze nicht zu gefährden? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit überhaupt von einer Nicht-durchsetzung des Rechts die Rede sein kann?

Die Beschäftigung mit diesen Fragen zeigte die vielen Facetten von Rechts-durchsetzung und von politischen und wirtschaftlichen Interessen, die hiermit einhergehen. In diesem Sinne ist die Ver-anstaltung als der Beginn einer vertief-ten Auseinandersetzung mit dem Thema und als ein Auftakt für künftige Koope-rationen zu sehen.

Matías Dewey

Veranstaltungen GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

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the financialization of the city: Making Space for cities in Economic Sociology and Political EconomyWorkshop12. und 13. Dezember 2019

Im Dezember 2019 kamen am MPIfG Wirtschaftssoziologen, Ökonomen und Geografen zum Workshop „The Finan-cialization of the City: Making Space for

Cities in Economic Sociology and Politi-cal Economy“, organisiert von Mikell Hy-man, Sebastian Kohl und Marie Piganiol, zusammen. Die Motivation hierfür war

die Beobachtung, dass die Wirtschaftsso-ziologie und die Politische Ökonomie am MPIfG städtische Phänomene sowie die Stadt als Analyseebene bisher vernach-

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lässigt haben. In den vier Panels des Workshops wurde diskutiert, wie der zu-nehmende Einfluss von Finanzmärkten und Verschuldung auf städtische Phäno-mene wirkt, insbesondere auf den städti-schen Haushalt, die Finanzen privater Haushalte und den Wohnungsmarkt.

Das erste Panel zu Stadtfinanzen begann Mikell Hyman (MPIfG) mit einem Ein-blick in die Pensionsreform der Stadt Detroit während der letzten Phase städ-tischer Zahlungsunfähigkeit. Am Fall-beispiel veranschaulichte sie, wie die Be-rechnung des Gegenwertes zukünftiger Pensionen zu einem zentralen Streit-punkt im Kampf von städtischen Ange-stellten und Rentnern um ihre Bezüge wurde. Josh Pacewicz (Brown University) diskutierte am Fallbeispiel Chicago das Zusammenspiel von innerstädtischer Se-gregation und Prozessen kommunaler Finanzierung. Leon Wansleben (MPIfG) erklärte mithilfe des Konzepts der „en-trenched austerity“ das angesammelte Investitionsdefizit Kölns in den letzten zwei Jahrzehnten mit Zwängen des deut-schen Fiskalföderalismus und korrupter Lokalpolitik.

Manuel Aalbers (Universität Leuven) verwies darauf, dass es in der geografi-schen Forschung zwar viele Einzelfall-studien zur Finanzialisierung der Städte gebe, allerdings wenig vereinheitlichende Konzepte. Er schlug daher eine induktive Typologie verschiedener Reaktionen von Städten auf Finanzialisierungsdruck vor. Rebecca Elliot (LSE) befasste sich in ih-rem Vortrag mit der Reaktion von Städ-

ten auf Probleme, die schwer quantifi-zierbar sind, wie etwa der Klimawandel. Dies erläuterte sie am Beispiel der staatli-chen Flutversicherung und deren Um-verteilungsfolgen in New York City nach Hurrikan Sandy. Im Anschluss daran be-schrieb Marie Piganiol (IRISSO, Uni-versité Paris-Dauphine) den Privatisie-rungsprozess in Griechenland nach der Schuldenkrise. Sie zeigte auf, wie entge-gen den Versprechungen der linken Re-gierung in Athen sensible Infrastruktur-objekte privatisiert wurden.

In seiner Keynote am Abend stellte Brett Christophers (Uppsala University) sein jüngstes Buch „The New Enclosures“ über die Privatisierung von Land im Ver-einigten Königreich seit der Thatcher-Ära vor. Der Wirtschaftsgeograf sieht in dem vorherrschenden neoliberalen Dis-kurs die Hauptursache für die schlei-chende und größte Privatisierung in der Geschichte des Landes. In seinem Vor-trag sprach er die verengten staatlichen Handlungsspielräume an, die dieses Erbe etwa in der Wohnungspolitik hinterlas-sen habe.

Am zweiten Tag widmete sich Debbie Be-cher (Barnard College) dem Phänomen von Enteignungen („eminent domain“) in den USA. Dabei argumentierte sie ge-gen die verbreitete Ansicht, dass Landei-gentümer im Fall von Infrastrukturpro-jekten immer gegen Eingriffe des Staates in ihre Eigentumsrechte seien. Anschlie-ßend stellten Mateusz Halawa und Mar-ta Olcon-Kubicka (Max Planck Partner Group for the Sociology of Economic

Life) ihre Arbeiten zu Wohneigentum im Großraum Warschau in Zeiten des anhaltenden Immobilienbooms dar. Ihr Fokus lag auf der Rolle von Transfers von Eltern an ihre Kinder, durch die sich Fa-milienträume erfüllten, aber auch so ziale Ungleichheit verfestige. Jeanne Lazarus (Sciences Po) erörterte in ihrem Bei-trag, warum gerade Regionen mit hohen Hauspreisen wie Paris eine unterdurch-schnittliche Haushaltsverschuldung pro Kopf aufweisen.

Das abschließende Panel eröffnete Sebas-tian Kohl (MPIfG) mit einem Vortrag zur aktuellen Wohnungsfrage in deut-schen Städten. Er zeigte, dass Mieterhö-hungen und Segregationsanstiege dort in keinem Zusammenhang stehen und dass neue Ungleichheiten sich eher in der Wohnkostenbelastung im Haushalts-budget und dem Stadt-Peripherie-Ge-gensatz ausdrücken. Olivier Godechot (Sciences Po) legte dar, dass die zuneh-mende Einkommensungleichheit in glo-balen Städten fast ausschließlich auf das Konto des Finanzsektors geht. Zum Ab-schluss präsentierten Filip Novokmet und Luis Baulúz (Universität Bonn) langfris-tige Daten zur Entwicklung und Vertei-lung des Wohnungsvermögens: Dieses sei insbesondere ab den 1970er-Jahren in allen Ländern erheblich gestiegen und habe durch eine frühe Verbreitung von Wohneigentum zu einem Sinken der all-gemeinen Vermögensungleichheit beige-tragen.

Sebastian Kohl und Konrad Schenk

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Freunde und Ehemalige GESELLSchaftSForSchuNg 1.20

Gender Inequality in academic careers

Diskussionsrunde14. November 2019

Warum sind Frauen in den oberen Rän-gen der deutschen Hochschullandschaft unterrepräsentiert und was kann man

tun, um diesem Ungleichgewicht ent-gegenzuwirken? Das war das Thema der Diskussionsrunde „Gender Inequality in Academic Careers“ im Vorprogramm zum Institutstag 2019 des MPIfG. Ein Geschlechterungleichgewicht in akade-mischen Institutionen besteht zwar in den meisten westlichen Demokratien, ist aber in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Drei Referentinnen – alle-samt Alumnae des MPIfG – hatten eine Fülle von Daten aufbereitet, um zu zei-gen, dass die Repräsentation von Frau-en in akademischen Positionen auf je-der Stufe der akademischen Karrierelei-ter deutlich abnimmt. Das MPIfG ist da keine Ausnahme. Auch hier sind Frauen auf der Postdoc-Ebene und darüber hin-aus unterrepräsentiert.

Cornelia Woll (MaxPo) präsentierte empirische Trends zum Thema. Sie er-

öffnete ihren Vortrag mit einer interak-tiven Online-Umfrage unter den Teil-nehmerinnen und Teilnehmern im

Raum, die in Echtzeit ausgewertet wurde. Die Fragen entstammten einer Längsschnittstudie, die ursprünglich mit Studierenden der Harvard Business School durchgeführt wurde. In der ur-sprünglichen Umfrage zeigten die Er-gebnisse, dass die Erwartungen gut ausgebildeter Frauen im Hinblick auf eine langfristige Work-Life-Balance so-wie geteilte Hausarbeit und Kinderbe-treuung seltener erfüllt werden als die von Männern. Woll unterschied für die Erklärung des abnehmenden An-teils von Frauen in höheren akademi-schen Positionen zwischen umfeldbe-zogenen Erklärungen (etwa impliziten Vorurteilen) und individuellen Erklä-rungen (etwa der, dass Frauen weniger Zeit für karrierebezogenes Netzwerken aufbringen) und diskutierte, wie sich Erklärungsmuster im Laufe der Zeit ge-wandelt haben.

Miriam Hartlapp (Freie Universität Ber-lin) lieferte weitere empirische Belege für den sinkenden Anteil von Frauen in hö-

heren akademischen Positionen, speziell in Deutschland. Sie bezog sich auf Zah-len der Deutschen Forschungsgemein-schaft (DFG), die zeigen, dass Frauen unter den Antragstellenden unterreprä-sentiert sind, was die Frage aufwarf, wa-rum Frauen weniger dazu geneigt sind, sich zu bewerben. Hartlapperläuterte ei-nige der Vorteile akademischer Karri-eren für Frauen, wie etwa die alltäglich gelebte Flexibilität, und argumentier-te, dass auf vier bis fünf Jahre angelegte Verträge dazu beitragen könnten, Frau-en nach der Promotion in der Wissen-schaft zu halten.

Annina Hering (Indeed Hiring Lab) stell-te ihre Arbeit beim Jobportal indeed.com vor, wo sie Daten über Stellengesu-che und Stellenbesetzungen analysiert. Mit Blick auf das Thema Frauen und Be-schäftigung sieht sie unterschiedliche

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Trends. Einerseits wird eine Berufstätig-keit für Frauen immer wichtiger und der Anteil an Frauen unter Arbeitssu-chenden nimmt zu. Andererseits kommt das Beschäftigungswachstum bei Frau-en vornehmlich durch einen Zuwachs von Teilzeitarbeitsplätzen zustande. Die Hälfte aller Frauen ist in Teilzeit tätig. Diese Beobachtungen führten zu einer Diskussion darüber, wie die Repräsen-tation von Frauen in Vollzeitstellen ver-bessert werden kann.

Der anschließende Austausch der Refe-rentinnen mit dem Publikum umfasste

viele Facetten der Erwerbstätigkeit von Frauen. Zunächst wurde dargelegt, in-wiefern Flexibilität für die Familien manchmal mehr Fluch als Segen sein kann: Reisepläne abstimmen, Ad-hoc- Arrangements treffen und klare Grenz-

ziehungen zwischen Arbeit und Privat-leben werden zur täglichen Herausfor-derung. Thematisiert wurden auch ge-setzliche Regelungen – wie zum Bei-spiel beim Mutterschaftsurlaub –, die geschlechtsspezifische Ungleichgewich-te in einigen Ländern wie Deutschland noch verschärfen.

Darüber hinaus wurden mögliche Maß-nahmen erörtert, um diese strukturelle Ungleichheit abzufedern, etwa die Schaffung einer größeren Bandbreite an Stellen, die längerfristige Sicherheit über vier bis fünf Jahre bieten können. Auch

die kollektiv gehegten Erwartungen an akademische Exzellenz gelte es anzupas-sen: Eine Akademikerin, die ihre Kinder betreut und zugleich hervorragende Pu-blikationen produziert, sollte nicht nega-tiver beurteilt werden, wenn sie weniger

veröffentlicht als ihre kinderlosen Kon-kurrentinnen und Konkurrenten. Auch brauchen Wissenschaftlerinnen Zugang zu weiblichen Vorbildern und männli-chen Fürsprechern. Für sie ist es wichtig, sich in der Anfangsphase ihrer Karriere so gut wie möglich zu vernetzen. Wis-senschaftliche Einrichtungen sollten ihre Forscherinnen und Forscher konsequent über implizite Vorurteile aufklären und Bottom-up-Diskussionen dazu fördern. Letztlich müssen wir uns immer wie-der fragen, wie ernsthaft wir den Anteil von Forscherinnen und die strukturel-le Diskriminierung in der Wissenschaft

im Blick haben und was wir tun können, um die Situation zu verbessern.

Lukas Arndt und Mikell Hyman

Werden Sie Mitglied im Verein der Freunde und Ehemaligen des Max- Planck-Instituts für Gesellschaftsfor-schung e.V. Der Verein ist das Netzwerk der Ehemaligen, der Kooperationspart-ner und der Unterstützer des MPIfG.

Sein Anliegen ist es, den Gedankenaus-tausch zwischen Freunden und Ehema-ligen des MPIfG zu fördern und die Möglichkeit zu schaffen, untereinander und mit ihrem Institut in Verbindung zu bleiben.

Verein der freunde und Ehemaligen des MPIfG

[email protected] | www.mpifg.de/friends

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Mehr als nur eine technologie: Wie die Digitalisierung das Individuum und den Kapitalismus herausfordert

12. Institutstag des MPIfG am 14. und 15. November 2019

An Veranstaltungen, Diskussionsrun-den und Tagungen zur Digitalisierung und ihren Folgen mangelt es nicht. Auch der Institutstag 2019 des Max-Planck-Insti tuts für Gesellschaftsforschung hat sich dieses Themas angenommen – und den Bogen gleich weit gespannt: Die Vorträge reichten von digitaler Risiko-(in)kompetenz und der Bedeutung kri-tischen Denkens im digitalen Zeital-ter (Gerd Gige renzer) bis zur Identifi-zierung eines neuen Geistes des digi-talen Ka pitalismus (Oliver Nachtwey), von der Digitalisierung der Bürokratie in internationalen Organisationen (Ma-ria Sapig noli) und den noch begrenzten Möglichkeiten einer prädiktiven Poli-zeiarbeit (Dominik Gerstner) bis hin zur Diskussion neuer Formen sozialer Un-gleichheit im Zuge des digitalen Um-bruchs (Melanie Arntz, Stefan Kirchner, Ulrich Samm und Thomas Würdinger). Typisch für alle Vorträge und Debatten an diesen zwei Tagen war, dass die der Digitalisierung zugeschriebenen Hoff-nungen und Versprechen durchweg kri-tisch reflektiert und zum Teil radikal de-konstruiert wurden.

Ein erstes großes Thema war die Allge-genwärtigkeit des Bewertens und Über-wachens in der digitalen Gesellschaft  – sowohl von staatlicher als auch von privatwirtschaftlicher Seite – und die bemer kenswerte Bereitschaft vieler Men-schen, das nicht nur klaglos über sich ergehen zu lassen, sondern aktiv an der eigenen digitalen Vermessung mitzuwir-ken. Gerd Gigerenzer, Direktor emeritus

am Max-Planck-Institut für Bildungsfor-schung, wies entlang zahlreicher Studien und Beispiele darauf hin, dass die neue Welt der lückenlosen Überwachung und Prämierung gewünschten Sozialverhal-tens keineswegs erst im fernen China beginnt, sondern als Überwachungska-pitalismus auch die Lebenszusammen-hänge der westlichen Gesellschaften zu-nehmend prägt: Payback, Smartphone, Smart-TV oder virtuelle Assistenten wie Alexa, die die Privatsphäre der Bürger bis in die hintersten Winkel der eigenen Wohnung vollständig ausleuchten, er-freuen sich großer Beliebtheit. Demge-genüber gibt es nach wie vor so gut wie keine Bereitschaft, Geld für den Schutz persönlicher Daten auszugeben.

Aufgeworfen wurde auch die daran an-schließende und ebenso große Frage nach der Zukunft der Demokratie unter den Bedingungen sich rasant verbrei-tender Möglichkeiten automatisierter sozia ler Bewertungs-, Strukturierungs- und Entscheidungssysteme. Wiederum mit Blick auf China erscheint die Per-spektive einer auf demokratische Ent-scheidungsfindungen weitgehend ver-zichtenden und stattdessen algorith-misch durchstrukturierten Gesellschaft und Regierungsform nicht unrealistisch zu sein – zumal es, so Gigerenzer, dafür in der chinesischen Bevölkerung kei-neswegs an Akzeptanz fehlt. Auch im Westen gibt es freilich, darauf wies Oli-ver Nachtwey von der Universität Basel in seinem Vortrag hin, ein verbreitetes und heute insbesondere durch die füh-

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Zeitschriftenpreis 2019

Eines der Highlights des Institutstags ist die alljährliche Ver-leihung des Zeitschriftenpreises, den der Verein der Freunde und Ehemaligen des MPIfG vergibt. Den Zeitschriftenpreis 2019 erhielt Matías Dewey für seinen Artikel „The other taxation: An ethnographic account of ‘Off-the-Books‘ state financing“, 2018 erschienen in der Zeitschrift Latin American Research Review. Der Beitrag verbindet eine tiefgehende em-pirische Analyse mit originellen theoretischen Überlegungen und spricht zugleich zu gesellschaftspolitisch drängenden Fragen in vielen Ländern des Globalen Südens.

Dewey untersucht kritisch eine in Staatstheorien weitver-breitete Annahme, nämlich inwiefern rechtmäßig erhobene Steuern die zentrale Ressourcenbasis des Staates bilden. Im Mittelpunkt des Artikels steht demgegenüber die Frage, ob und wie informell und zum Teil illegal extrahierte Ressourcen systematisch in die Erbringung staatlicher und öffentlicher Dienstleistungen fließen. Anhand von Fallbeispielen aus Argentinien arbeitet der Artikel bislang vernachlässigte Zusammenhänge zwischen illegalen Märkten, Staatstätigkeit und Wohlfahrt heraus. Er eröffnet vielversprechende Brücken-schläge zwischen bisher getrennt verlaufender Forschung zur Soziologie illegaler Märkte, zur politischen Ökonomie sogenannter „schwacher Staaten“ und der Politik informeller Wohlfahrtsstaaten in Lateinamerika und anderen Weltregio-nen. Laudatorin Sigrid Quack hob hervor, dass die vorgelegte Studie wichtige Pionierarbeit für eine fundierte Diskussion

der Entwicklung von Staatlichkeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit jenseits der OECD-Welt leistet, welche über Antikorruptions- und Rule-of-Law-Politiken hinaus die Komplexität informeller Ökonomien und die sich daraus ergebenden Pfadabhängig-keiten berücksichtigt.

Der Zeitschriftenpreis des Vereins der Freunde und Ehemali-gen wird für den besten Artikel einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters des MPIfG in einer begutachteten Fachzeitschrift vergeben und ist mit 750 Euro dotiert. Matías Dewey war von 2011 bis 2019 Wissenschaftler am MPIfG und arbeitete im Forschungsbereich „Soziologie der Märkte“.

renden US-amerikanischen Techkonzer-ne vorgebrachtes Computational Think-ing, das auf die vornehmlich technische Erfassung und Lösung der wichtigen ökologischen, sozio ökonomischen und gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit setzt. Der in diesen Vorstellungen zum Ausdruck kommende neue Geist des digitalen Kapitalismus sei, so Nacht-wey, im Kern solutionistisch, der neue Kapitalismus selbst als postpolitische di-gitale Technokratie angelegt.

Sowohl im Referat von Dominik Gerst-ner (SoFFI Freiburg) zu den Schwierig-keiten prädiktiver Polizeiarbeit als auch entlang zahlreicher Beispiele im Vor-trag von Gerd Gigerenzer wurden aller-

dings auch die Grenzen von Big Data und Algorithmen deutlich. Die mit gro-ßen Datenmengen ausgestatteten und über komplexe Algorithmen operieren-den Rechner funktionieren in der Regel sehr gut in stabilen Umgebungen – etwa beim Schach und bei anderen Spielen, in der Sprach- oder Gesichtserkennung, wo sie dem Menschen teilweise schon über legen sind. Hingegen bleiben sie in unübersichtlichen, dynamischen und volatilen Umgebungen ausgesprochen fehleranfällig – wie etwa bei der Vorher-sage von Grippewellen oder der Steue-rung autonomen Fahrens in Innenstäd-ten. Gigerenzer machte sich für eine umfassende Offenlegung der Algorith-men, auf deren Basis die Techkonzer-

ne ihr Geschäft betreiben, gegenüber Aufsichts behörden und Verbrauchern stark – auch weil man dann sehen könn-te, wie schlecht sie eigentlich funktionie-ren. Das wäre in der Tat ein kleiner Sil-berstreif am digitalen Horizont.

Ulrich Dolata (Universität Stuttgart)

Programm des Institutstags (PDF)https://tinyurl.com/PDF-Institutstag-2019

Podcasts der Vorträgehttps://tinyurl.com/PodcastsInstitutstag

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Es ist neun ereignisreiche Jahre her, seit ich das MPIfG und mein kleines keilför-miges Büro im dritten Stock verlassen habe! Als ich vier Jahre zuvor, am 6. Sep-tember 2006, durch die Tür trat, war es nur in der Absicht, hier die neun Mo-nate meines Fellowships zu verbringen, die Überarbeitung meines ersten Buch-manuskripts abzuschließen und dann in meine Heimat USA zurückzukehren. Wie sich herausstellen sollte, war dies der Anfang einer zwölfjährigen Tätigkeit in Europa, die zur Produktion dreier Bü-cher und der Geburt eines Babys führte. Rückblickend betrachtet erwies sich mei-ne Reise nach Köln als einer der größten Glücksfälle in meiner Laufbahn.

Für mich war das Institut nicht nur ein großartiger Ort, um mein Buch abzu-schließen, sondern auch der Ausgangs-punkt für ein ambitioniertes Forschungs-vorhaben, über das ich schon seit Jahren nachgedacht hatte. Die Förderung derar-tiger Forschung gehört zu den Dingen, die das MPIfG einzigartig gut macht. Es gibt nur sehr wenige Institutionen auf der Welt, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern tatsächlich die Frei-heit geben, neuartige Ideen zu verfol-gen – vor allem, weil die meisten echten Innovationen das Überschreiten institu-tionalisierter Grenzen erfordern. Prak-

tisch alle akademischen Institutionen und Förderorganisationen sagen zwar, dass sie wissenschaftliche Durchbrüche fördern wollen, lösen dieses Versprechen aber oft nicht ein. Ich war inzwischen an verschiedenen Universitäten und For-schungseinrichtungen auf der ganzen Welt tätig und musste erkennen, dass diese Einrichtungen meist einfach zu un-flexibel sind, um echte Durchbrüche zu ermöglichen. Es ist schwer vorstellbar, wo ein moderner Max Weber – dessen Expertise das umfasst hat, was wir der-zeit als die getrennten Disziplinen des Rechts, der Politikwissenschaft, der Reli-gionswissenschaften und der Volkswirt-schaft betrachten – heute eine andere in-tellektuelle Heimat finden könnte als an einem Ort wie dem MPIfG.

In meinem Fall war die Untersuchung, die ich über die Profession der Vermö-gensverwalter und Offshore-Finanzplät-ze durchführen wollte, so riskant und ambitioniert, dass klar war, dass die För-

derstellen in den USA sie nicht finanzie-ren würden; sie verfügen über weitaus weniger Ressourcen als ihre Pendants in Deutschland und sind weitaus kon-servativer. Bis heute ist es praktisch un-möglich, in den USA Forschungsmittel für sozialwissenschaftliche Projekte zu erhalten, die eine internationale Daten-erhebung oder die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen an außerame-rikanischen Institutionen erfordern. So war es eine sehr angenehme Überra-schung, dass das MPIfG in seinem so-zialwissenschaftlichen Ansatz wesentlich aufgeschlossener war. Die Finanzierung einer länder- und disziplinenübergrei-fenden Forschung wurde dort viel be-reitwilliger gewährt, und – was am wich-tigsten war – es bestand bereits Interesse an meinem Thema. Im Jahr meiner An-kunft war Jens Beckert, einer der Direk-toren des Instituts, gerade dabei, ein ei-genes Buch über Vermögensvererbung zu veröffentlichen: die englische Über-setzung von Unverdientes Vermögen.

Es war Jens Beckerts Engagement, das es mir ermöglichte, meine Ideen in die Tat umzusetzen. Dies führte zu einer Reihe von Stipendien und Publikationen, die mit der Veröffentlichung von Capital without Borders: Wealth Managers and the One Percent (Harvard University

Was macht eigentlich …

Brooke harrington

Professorin für Soziologie am Dartmouth College, USA

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am MPIfG von 2006 bis 2010

Meine Reise nach Köln war einer der größten Glücksfälle meiner Laufbahn.

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Press, 2016) ihren Höhepunkt erreichte. Die Finanzierung durch das MPIfG ver-setzte mich in die Lage, in die verschwie-gene Welt der Vermögensverwalter ein-zutreten. Indem ich mich in ihr Ausbil-dungsprogramm einschrieb, kam ich in persönlichen Kontakt mit Fachleuten, die normalerweise nicht auf meine Inter-viewanfragen reagiert hätten. Durch die Ausbildung zur Vermögensverwalterin konnte ich in diese Welt eintauchen und die ersten Schritte zur Erhebung von Da-ten unternehmen, die anderenfalls fast unmöglich zu erheben gewesen wären. Und die wiederum Türen zu einer Welt aufstießen, die bis zu diesem Zeitpunkt für Wissenschaftlerinnen und Entschei-dungsträger gleichermaßen undurch-sichtig war.

Und als dann ein globales Großereignis eintrat – die Affäre um die Panama Pa-

pers –, stand meine Forschungsarbeit be-reit, um mitzuerklären, was dieses kom-plexe Datenleck bedeutete und was in Reaktion getan werden konnte. Nach wie vor bin ich in diesem Forschungs-feld tätig, denn es gibt immer noch so vieles an der Offshore-Welt, das kaum verstanden wird. Heute arbeite ich mit Volkswirtschaftlern und Netzwerkana-lysten zusammen, um die Geografie der Offshore-Vermögensströme nachzuvoll-ziehen, ganz ähnlich den Methoden, die

Forscherinnen und Forscher am MPIfG genutzt haben, um die Wege des illegalen Handels mit Drogen, Waffen und Kunst-gegenständen nachzuzeichnen.

Capital without Borders hat seit Erschei-nen mehrere Auszeichnungen erhalten, wurde in vier Sprachen übersetzt (leider noch nicht ins Deutsche!) und hat mir eine regelrechte Nebenbeschäftigung als Beraterin nationaler Regierungen und internationaler Einrichtungen in Fragen der Steuerpolitik verschafft. Die Reise, die in der Paulstraße 3 begann, führte zu einer wunderbar erlebnisreichen Kar-riere, mit Aufenthalten zum Zweck der

Datensammlung und mit Einladungen zu Vorträgen in zwei Dutzend Ländern, von Russland und Israel bis hin zu win-zigen Inseln mitten im Südpazifik und im Indischen Ozean. Erst im vergange-nen Sommer habe ich sechs Wochen in Neuseeland verbracht, um den Steuer-behörden des Landes mein Wissen über Offshore zu vermitteln und parallel an der University of Canterbury Seminare zur politi schen Ökonomie der Besteue-rung zu geben. Und – ganz unverhofft –

hat eine Filmproduktionsfirma gerade einen Vertrag unterzeichnet, um mein Buch in eine fiktionale Fernsehserie um-zusetzen!

Als wir uns zuletzt am MPIfG sahen, hielt ich ein fünf Monate altes Baby auf dem Arm und war dabei, in ein Auto zu stei-gen, das mich nach Kopenhagen bringen sollte. Das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal die Bedeutung des deut-schen Wortes „Abschiedsschmerz“ ge-spürt habe! Meine Zeit als Professorin an der Copenhagen Business School dauer-te acht Jahre, und vor Kurzem – im Janu-ar 2019 – bin ich in die USA zurückge-kehrt, um am Department für Soziologie am Dartmouth College zu forschen und zu lehren. Das Baby ist mittlerweile ein großer Junge, der Klavier spielt und „Spi-der Man“ liebt, und ich bin heute eine or-dentliche Professorin, aber ich vermis-se das akademische Umfeld des MPIfG immer noch. Sollte ich selbst jemals die Leiterin eines Forschungsinstituts wer-den, dann werde ich es nach dem Vor-bild meiner vier Kölner Jahre aufbauen.

Mehr zur Personhttps://tinyurl.com/b-harrington

Brooke Harrington in der WDR- Dokumentation „Ungleichland“https://tinyurl.com/ungleichland

Durch die vom MPIfG geförderte ausbildung konnte ich in die verschwiegene Welt der Vermögensverwalter eintreten.

Zum Weiterlesen

Harrington, B.:Inside the Secretive World of Tax-Avoidance Experts. The Atlantic, 26. Oktober 2015.https://tinyurl.com/secretive-world

Harrington, B.:Capital without Borders: Wealth Managers and the One Percent. Harvard University Press, Cambridge, MA, 2016.

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Öffentliche Vorträge im Sommersemester 2020Cornelia Woll, Sciences Po: „The Moral Economy of Corporate Misconduct” (22. April 2020, 17 Uhr) Julia Lynch, University of Pennsylvania: tbd (20. Mai 2020, 17 Uhr) Andreas Nölke, Goethe-Universität Frankfurt a. M.: „The Growth Model Perspective and Emerging Markets“ (3. Juni 2020, 17 Uhr) Catherine E. De Vries, Bocconi University: „Political Entrepreneurs“ (8. Juli 2020, 17 Uhr)

Max-Planck-Forum in Kooperation mit dem MPIfG und der Stadt bibliothek Köln SchattenarbeitPodiumsdiskussion mit Matías Dewey, Wissenschaftlicher Mit arbeiter am Seminar für Soziologie, Universität St. Gallen | Caspar Dohmen, freier Journalist | Stefan Lux, stellv. Vorsitzender des Bundesverbands häusliche SeniorenBetreuung e.V. (BHSB) | Moderation: Monika Seynsche, freie Wissenschaftsjournalistin

14. Mai 2020, 19 Uhr, Stadtbibliothek Köln, Josef-Haubrich-Hof 1, 50676 Köln

WiR – Wissenschaft im RathausEssgewohnheiten: Fleischkonsum in DeutschlandLaura Einhorn

4. Mai 2020, 18 Uhr, Rathaus Spanischer Bau, Ratssaal, Rathausplatz, 50667 Köln

MPIfG Lectures zum NachhörenÖffentliche Vorträge und weitere Veranstaltungen des MPIfG als Audio-Podcastswww.mpifg.de/aktuelles/Veranstaltungen/podcasts_de.asp

Aktuelle Veranstaltungen am MPIfGwww.mpifg.de/aktuelles/veranstaltungen_de.asp

VeranstaltungenVorschau frühjahr/Sommer 2020